Aus Sicht der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) verdeutlichen die gegenwärtigen Krisen - mit denen die Europäische Union derzeit konfrontiert ist - abermals die Notwendigkeit verbindlicher Maßnahmen für soziale Mindestsicherungssysteme. Anlässlich der Verhandlungen im Rat für Beschäftigung, Sozialpolitik, Gesundheit und Verbraucherschutz (EPSCO) zu der „Ratsempfehlung für ein angemessenes Mindesteinkommen zur Gewährleistung einer aktiven Inklusion“ am Donnerstag, 8.12.2022, in Brüssel, wiederholt die BAGFW ihre Forderung nach einer armutsfesten Existenzsicherung in der gesamten EU.
„Wir brauchen in jedem Land der EU eine einklagbare und armutsfeste Mindestsicherung, damit Armut ernsthaft und verlässlich in allen Mitgliedstaaten der EU bekämpft wird. Die zunehmende soziale Ungleichheit gibt populistischen Parteien Aufwind und gefährdet nicht zuletzt den Zusammenhalt in Europa“, sagt BAGFW-Präsident Ulrich Lilie. Um diese Herausforderungen zu bewältigen, seien armutsfeste Systeme der Mindestsicherung in jedem EU-Mitgliedstaat ein unabdingbares Mittel zur Armutsbekämpfung und Stärkung der Demokratie.
Die BAGFW fordert rechtsverbindliche Regelungen
Gut ist, dass der Vorschlag der EU-Kommission inhaltlich nahe an die Forderung einer armutsfesten Mindestsicherung heranreicht. Jedoch mangelt es an rechtsverbindlichen Maßnahmen, welche die tatsächliche Umsetzung in den Mitgliedstaaten voranbringen würden. Die BAGFW fordert aus diesem Grund, dass aufbauend auf der Ratsempfehlung eine EU-Rahmenrichtlinie für Mindestsicherung in der EU vorgeschlagen wird. Eine solche Richtlinie muss ein einklagbares, armutsfestes Leistungsniveau mindestens auf der Höhe des soziokulturellen Existenzminimums des jeweiligen Mitgliedstaates garantieren. Sie muss einen gesicherten universellen und diskriminierungsfreien Zugang zu hochwertigen, grundlegenden Dienst- und Unterstützungsleistungen wie der Gesundheitsversorgung, der Kinderbetreuung, sowie Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen schaffen, die den (Wieder-)Einstieg in den Arbeitsmarkt und den Verbleib in Beschäftigung ermöglichen bzw. fördern. Darüber hinaus muss der ununterbrochene Zugang zu Energieversorgung und Mobilität sichergestellt werden. Ebenso muss eine Richtlinie die Möglichkeit der sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Teilhabe und Befähigung von Leistungsempfänger:innen gewährleisten.
„Evaluierung 2032? – Zu spät,“ sagt die BAGFW
Die BAGFW weist darauf hin, dass das sehr spät angesetzte Monitoring 2032 zu Verzögerungen bei der Umsetzung führen wird. Das Armutsbekämpfungsziel des Aktionsplans der Europäischen Säule sozialer Rechte soll bis 2030 umgesetzt werden. Im Jahr 2024 werden außerdem die Wahlen für die neue Legislaturperiode des Europäischen Parlamentes stattfinden. Die BAGFW fordert deshalb eine Evaluierung bereits 2025 anzusetzen und weist auf die dringende Notwendigkeit einer effektiven Umsetzung der Empfehlung in den Mitgliedsstaaten hin.
Verhinderung existenzbedrohender Lebenslagen
Damit der Empfehlungsvorschlag die Angemessenheit der Einkommensunterstützung nach Vorbild der Europäischen Grundrechtecharta und der Europäischen Säule sozialer Rechte verbessert, muss ein universeller, diskriminierungsfreier Zugang zu existenzsichernden Leistungen, sowie ein nachhaltiger Zugang zu hochwertiger Arbeit, gewährleistet werden. Hindernisse für den (Wieder-)Einstieg in den Arbeitsmarkt bzw. für den Verbleib auf dem Arbeitsmarkt gilt es zu beseitigen. Hier muss sichergestellt werden, dass bei der Aufnahme einer Beschäftigung keine prekären, unter dem Mindestlohn vergüteten oder nicht angemeldete Erwerbstätigkeiten an die Betroffenen vermittelt werden.
Die BAGFW sieht die Notwendigkeit für Anreize, die zur Inklusion nicht-erwerbstätiger Menschen in den Arbeitsmarkt beitragen. Wir möchten allerdings betonen, dass mit diesen Anreizen keine Möglichkeit zur Kürzung existenzsichernder Leistungen verbunden sein darf, mit denen existenzbedrohende Lebenslagen erzeugt werden. Die Ermutigung und soziale Beteiligung der Betroffenen sollte ein wesentlicher Bestandteil integrativer Maßnahmen sein.
Finanzierungsvorschlag: „Goldene Regel“
Um nationale armutsfeste Systeme der Mindestsicherung außerhalb der geltenden Maastrichtkriterien der EU – welche Grenzen der jeweiligen Verschuldung der Mitgliedstaaten vorgeben – zu finanzieren, schlägt die BAGFW vor eine „Goldene Regel“ einzuführen. Dies würde den EU-Mitgliedstaaten erlauben bestimmte Arten der öffentlichen Investitionen von der Berechnung ihres nationalen öffentlichen Defizits abzuziehen (z. B. bei der frühkindlichen Erziehung, im Rahmen von Fortbildungsmaßnahmen und in der aktiven Arbeitsmarktpolitik, sowie bei der Schaffung von erschwinglichem und angemessenem Wohnraum). Hiermit könnten Mitgliedstaaten mit unzureichendem finanziellem Spielraum für die Erhöhung ihrer Sozialausgaben wirksam unterstützt werden.
Die umfassenden und im Detail formulierten Forderungen der BAGFW sind in der hier abrufbaren Stellungnahme zu finden.