Gastrede 2023 der Parlamentarischen Staatssekretärin Kerstin Griese, MdB

zeigt ein BAGFW-Foto der ParlamentarischenStaatssekretärin Kerstin Griese, MdB während der Gastrede

Es gilt das gesprochene Wort!

 

Rede von Kerstin Griese

Parlamentarische Staatssekretärin beim Bundesminister für Arbeit und Soziales

 

Leitfrage: Deutschland in Europa - Lassen sich soziale Fragen auf europäischer Ebene lösen?

 

Lieber Michael Groß,

liebe Präsidentinnen und Präsidenten, liebe Vorsitzende und liebe Mitglieder und Mitarbeitenden der Wohlfahrtsverbände,
liebe Preisträgerinnen und Preisträger, meine Damen und Herren,

vielen Dank für die Einladung zu diesem besonderen Anlass.

 

Der Deutsche Sozialpreis würdigt herausragenden Journalismus zu sozialen Themen. Und das ist wichtig.

Journalistische Arbeit schafft Sichtbarkeit, sie informiert, sie klärt auf. In Zeiten von Fake-News ist Qualitätsjournalismus wichtiger denn je.

Sie, liebe Preisträgerinnen und Preisträger, erfüllen eine wichtige gesellschaftliche Aufgabe.

Mit Ihrer Arbeit rücken sie die besonderen Herausforderungen von Not leidenden und sozial benachteiligten Menschen in den Fokus.

Sie zeigen Schicksale auf.

Sie nehmen uns mit in die Lebenswirklichkeiten von Menschen, die oftmals fast unsichtbar sind. Und Sie machen uns die gesamtgesellschaftliche Dimension dieser Probleme bewusst.

Diese wertvolle Arbeit verdient Aufmerksamkeit und Wertschätzung!

Und wenn auch heute nicht alle auf dem „Treppchen“ stehen. Sie alle sind ein großer Gewinn für unsere Gesellschaft. Und ich möchte Sie hier auch persönlich zu Ihrer tollen Arbeit beglückwünschen.

Einen herzlichen Dank an dieser Stelle auch an die gesamte Familie der Freien Wohlfahrtspflege, die diesen Preis seit 1971 vergibt.

 

Mit Blick auf die gesamtwirtschaftliche Lage dürfen wir nicht den Blick darauf verstellen, dass es zwar nach wie vor vielen Menschen in diesem Land gut geht, aber eben nicht allen. Wir wissen auch, dass sich bei vielen Menschen Sorgen und Ängste breitmachen, dass sich Zukunftsängste in diese Gesellschaft fressen. Rechtsextremisten, Rechtspopulisten und andere politische Scharlatane versuchen, aus diesen Ängsten ein Geschäftsmodell zu machen. Wer das nicht will, der muss dafür sorgen, dass die Menschen sich auf einen starken Sozialstaat verlassen können, und genau dafür arbeiten wir.

 

Ich denke, uns alle hier im Raum vereint ein gemeinsames Ziel und ein Grundgedanke.

Im Kern geht es darum, diese Gesellschaft Stück für Stück gerechter zu machen, und Chancen für alle Menschen zu ermöglichen.

Und dafür braucht es ein starkes soziales Deutschland. Und ein starkes soziales Europa.

Wir leben in stürmischen Zeiten, in denen immer wieder neue Krisen aufkommen.

Wir haben eine weltweite Pandemie durchlebt. Furchtbare Kriege toben unweit unserer Grenzen.

Missstände in den globalen Lieferketten haben unsere Volkswirtschaften auf die Probe gestellt.

Wir stehen vor weitreichenden Transformationsprozessen, bedingt durch den demographischen, digitalen und ökologischen Wandel.

Diese Entwicklungen betreffen uns alle. Sie machen nicht halt an nationalen Grenzen.

Deswegen ist und muss die EU wichtiger Treiber in der Gestaltung des Wandels sein.

Wenn die Krisen der letzten Jahre eines gezeigt haben, dann dieses: Es ist noch offensichtlicher geworden, dass soziale Gerechtigkeit und wirtschaftlicher Erfolg zusammengehören.

Gute Arbeit und sozialer Friede sind die Grundlage wirtschaftlichen Erfolgs in Europa.

Die Frage ist jedoch, wie gestalten und festigen wir das soziale Europa?

Tatsache ist: wir haben viel erreicht in den letzten Jahren. Hier in Deutschland. Und auf europäischer Ebene.

Ein wichtiger Schritt für mehr soziale Gerechtigkeit hierzulande war die Mindestlohnerhöhung auf 12 Euro letztes Jahr.

Das hat Millionen Menschen ganz konkret geholfen. Für viele war es die größte Lohnerhöhung ihres Lebens.

Mit der Einführung des Bürgergeldes haben wir den Fokus auf Weiterbildung und nachhaltige Beschäftigungsaufnahmen verstärkt und Chancen und gesellschaftliche Teilhabe in unserem Land ausgebaut. Das Bürgergeld ist ein Meilenstein, um Menschen dauerhaft den Einstieg oder die Rückkehr in Arbeit zu ermöglichen. Mit dem Gesetz für einen inklusiven Arbeitsmarkt, haben wir uns zudem dafür eingesetzt, dass Menschen mit Behinderung mehr Chancen im Berufsleben bekommen.

Und wir haben Pflöcke eingeschlagen für die Fachkräftesicherung mit dem Aus- und Weiterbildungsgesetz und dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz.

Damit sorgen wir dafür, dass die Beschäftigten von heute auch die Arbeit von morgen machen können und ausländische Talente leichter auf unseren Arbeitsmarkt Fuß fassen können.

Aktuell kümmern wir uns mit einem Jobturbo darum, dass auch die vielen geflüchteten Menschen aus der Ukraine und anderswo besser Arbeit finden.

All diese Maßnahmen hier in Deutschland stehen aber auch im Lichte wichtiger Entwicklungen auf europäischer Ebene.

Im Jahr 2017 wurde in Göteborg die Europäische Säule sozialer Rechte verabschiedet.

Sie dient seitdem mit ihren Grundprinzipien als Kompass für die Sozialpolitik der EU.

Auf dieser Basis haben wir die EU-Mindestlohn- Richtlinie eingeführt und die Europäische Arbeitsbehörde etabliert.

Beides leistet einen wichtigen Beitrag, dass Menschen überall in der EU angemessen von ihrem Lohn leben können und für mehr Fairness bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit.

Eine zentrale Frage ist in diesem Zusammenhang: Wie können Sie - die Wohlfahrtsverbände - in dem europäischen Prozessen mitwirken?

Während wir in nationalen Prozessen etablierte Beteiligungsverfahren haben, kann es in dem großen und vielstimmigen Konzert der EU deutlich schwieriger sein, sich Gehör zu verschaffen.

Ich bin davon überzeugt, dass Ihre Expertise für die Gestaltung des sozialen Europas von großer Bedeutung ist. Es ist daher richtig, dass Sie sich über Ihre Dachverbände direkt auf EU-Ebene einbringen.

Als Bundesregierung ist es uns wichtig, dass wir Sie in europäische Prozesse einbeziehen, soweit sie in unserer Hand liegen. Das gilt zum Beispiel für das Europäische Semester mit den neuen ehrgeizigen arbeits- und sozialpolitischen Zielen für 2030, die wir uns gesetzt haben.

Wir haben in dieser Legislaturperiode wichtige Fortschritte für das soziale Europa erreicht. Doch darauf dürfen wir uns nicht ausruhen.

Es geht es jetzt darum, frühzeitig Impulse für die anstehende EU-Wahlperiode zu setzen.

Genau dafür hat Minister Hubertus Heil Anfang des Monats zu einer hochrangigen europapolitischen Konferenz geladen.

Die Sozialpartner, die Wissenschaft und mit der Social Platform eine wichtige europäische Stimme der Wohlfahrtverbände waren dabei.

Gemeinsam haben wir uns zu zentralen Themen des sozialen Europas ausgetauscht. Einige von Ihnen waren dabei und haben sich aktiv in die Workshops eingebracht.

Wichtig ist, dass wir alle zusammenarbeiten, um Lösungen für die drängenden sozialen Fragen zu finden.

Aus meiner Sicht gibt vor allem drei Bereiche, die wir in Europa weiter anpacken müssen.

Ein Bereich ist die Arbeitnehmerfreizügigkeit.

Es geht darum, für faire Mobilität zu sorgen und Betrug und Sozialdumping zu verhindern.

Vor einigen Wochen ging ein erschreckender Fall durch die Presse:

Ich spreche von den streikenden LKW-Fahrern im hessischen Gräfenhausen, die wochenlang auf einer Autobahnraststätte um ihre Löhne gekämpft haben.

Leider ist „Gräfenhausen“ kein Einzelfall.

Überall in Europa sind Fahrerinnen und Fahrer unter schlechten Bedingungen unterwegs und bekommen nicht den Lohn, der ihnen zusteht.

Diese Form von Ausbeutung und Sozialdumping ist inakzeptabel!

„Gräfenhausen“ hat uns aber auch gezeigt, dass wir gemeinsam etwas für die betroffenen Fahrer erreichen können.

 

Ganz wichtig war, dass an der Seite der Fahrer die Beraterinnen und Berater von „Faire Mobilität“ und „Faire Integration“ und die Gewerkschaften standen.

In Deutschland haben wir mit dem DGB-Beratungsangebot „Faire Mobilität“ eine Struktur geschaffen, die sich seit vielen Jahren für faire Arbeitsbedingungen und gerechte Löhne mobiler Arbeitskräfte in Europa einsetzt.

Das ist eine große Erfolgsgeschichte!

Solche Strukturen sollten wir europaweit aufbauen und dauerhaft aus EU-Mitteln finanzieren.

Wir brauchen ein europäisches Projekt „Faire Mobilität“!

Und wir brauchen Sie, liebe Medienvertreterinnen und -vertreter, liebe Preisträgerinnen und Preisträger, um die Öffentlichkeit auf vorhandene Missstände aufmerksam zu machen.

 

Der zweite Bereich, in dem wir aus meiner Sicht ein starkes soziales Europa brauchen, ist die Sozialpartnerschaft.

Hierbei geht es um Mitbestimmung und es geht um Tarifbindung.

Wir alle wissen: Faire Arbeitsbedingungen und gute Löhne herrschen vor allem da, wo ein Tarif gilt.

Deswegen müssen wir etwas tun gegen die sinkende Tarifbindung.

In Deutschland und in ganz Europa.

Heute gilt Tarifbindung nur noch für knapp die Hälfte der Beschäftigten hierzulande. Ende der 90er waren es noch über 70 Prozent.

Wir brauchen wieder mehr Tarifbindung, und dafür werden wir ein Tarifpaket auf den Weg bringen.

Um Tarifbindung und Sozialpartnerschaft zu stärken, braucht es aber auch gute betriebliche Mitbestimmung.

Mitbestimmung ist zentrales Element einer lebendigen Sozialpartnerschaft und der Demokratie am Arbeitsplatz.

Deshalb müssen wir Mitbestimmung überall in Europa fördern. Als Bundesregierung setzen wir uns ein für starke Mindeststandards auf EU-Ebene für die Unternehmensmitbestimmung; konkret: eine Rahmenrichtlinie für Information, Konsultation und Unternehmensmitbestimmung sowie eine Stärkung der Europäischen Betriebsräte und umfassende Betätigungsfreiheit für die Gewerkschaften in allen Betrieben Europas.

 

Der dritte Bereich ist die Stärkung der sozialen Sicherheit.

Starke soziale Sicherungssysteme sind ein unverzichtbarer Baustein für dauerhaften Wohlstand in Europa.

Eine große Herausforderung für die nächste Kommission wird darin bestehen, zur Stärkung der jeweiligen Sozialsysteme in den Mitgliedsländern beizutragen und sie widerstandsfähiger zu machen.

Die Arbeit der "Hochrangigen Gruppe für die Zukunft des Sozialschutzes und des Wohlfahrtsstaates" in der EU hat dazu für diese Diskussion eine wertvolle Grundlage geliefert, auf der wir aufbauen können.

Diese Diskussion werden wir in den kommenden Wochen noch vor der Europawahl führen, wenn es um die Reform der sogenannten „Economic Governance“ der EU geht.

 

All diese Entwicklungen zeigen: Wir brauchen ein starkes Europa und auch starke nationale Maßnahmen, um die drängenden sozialen Fragen anzugehen.

Sie zeigen aber auch: es braucht uns alle - Politik, Sozialpartner, Zivilgesellschaft.

Zu den starken Partnern in sozialen Fragen gehören vor allem auch Sie, liebe Freie Wohlfahrtspflege.

Sie leisten unverzichtbare Arbeit - mit Ihrer Tätigkeit vor Ort und durch Ihre Vorschläge und Ideen an die Politik. Es braucht Ihre Stimme - auch in den europäischen Prozessen.

Und natürlich auch Sie, liebe Preisträgerinnen und Preisträger, sind wertvolle Partner.

Ich freue mich daher nun sehr auf die Preisverleihung. Und auf den Austausch mit Ihnen allen.

 

Vielen Dank.