Kommentierung der BAGFW zum Gesetzentwurf der Bundesregierung „Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung von Kindern und Jugendli-chen (Kinder- und Jugendstärkungsgesetz – KJSG)“ (Stand 17.12.2020)

Die BAGFW hat ausführlich zum Referentenentwurf (im Folgenden RefE) für ein Gesetz zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen (KJSG) am 26.10.2020 Stellung genommen.

Diese Kommentierung bezieht sich auf den vom Bundeskabinett verabschiedeten Gesetzentwurf mit Stand 17.12.2020 (im Folgenden RegE) und greift die wesentlichen Ergänzungen und Änderungen im Vergleich zum Referentenentwurf auf. Außerdem geht die Kommentierung auf einige Regelungen erneut ein, zu denen eine weitere Verbesserung dringend empfohlen wird.

Behinderungsbegriff – § 7 Abs. 2 SGB VIII RegE

Mit der Einfügung der Legaldefinition des Begriffs der Behinderung, die § 2 Abs. 1 SGB IX entspricht, wird klargestellt, dass in der Kinder- und Jugendhilfe dasselbe Verständnis von Behinderung gilt, das auch dem SGB IX und der UN-Behindertenrechtskonvention zugrunde liegt. Die BAGFW unterstützt diese Klarstellung.

Berufsgeheimnisträger/innen & Kinderschutz – § 8a SGB VIII RegE & § 4 KKG RegE

Die BAGFW begrüßt die im Regierungsentwurf vorgenommene Änderung zur Möglichkeit der Einbeziehung aller in § 4 Abs.1 S.1 KKG genannten Berufsgeheimnisträger/innen. Damit ist die Forderung erfüllt, die Engführung hinsichtlich medizinischer Heilberufe aufzugeben und alle Personen gem. § 4 Abs.1 S.1 KKG – je nach Erforderlichkeit – zu beteiligen. Die BAGFW betont in diesem Zusammenhang abermals, dass sie die vorgesehene Änderung des § 4 KKG hinsichtlich des Verfahrensablaufes entschieden ablehnt, und verweist an dieser Stelle auf ihre Stellungnahme vom 26.10.2020, S.6 f.

Ombudsstellen – § 9a VIII RegE

Die BAGFW unterstützt die Änderungen, die die Regelung über die Ombudsstellen im RegE erfahren hat (zu den Gründen siehe Stellungnahme vom 26.10.2020, S. 7).

Verfahrenslotsen – § 10b VIII RegE

Die BAGFW bedauert, dass die Vorschrift über die Verfahrenslotsen, abgesehen von der Korrektur eines redaktionellen Fehlers in Abs. 2, mit dem RegE keine Änderungen erfahren hat. Sie weist auf die Kritik hin, die in der Stellungnahme vom 26.10.2020 formuliert wurde (S. 11). Familien mit Kindern, die mit einer Behinderung geboren werden oder eine Behinderung erwerben, brauchen dringend Unterstützung, um schnell zu den richtigen Leistungen zu gelangen (Formulierungsvorschlag siehe S. 11 f. der Stellungnahme). Der Verfahrenslotse sollte möglichst schnell eingeführt werden und bei den freien Trägern angesiedelt sein. Ein Vorbild für eine wünschenswerte gesetzliche Regelung findet sich in § 8 Abs. 3 S. 3 SGB VIII RegE (Beratung nach § 8 SGB VIII durch freie Träger).

Inklusive Jugendarbeit – § 11 SGB VIII RegE

Die BAGFW unterstützt die Ergänzung, die mit dem KJSG in § 11 SGB VIII vorgenommen werden soll. Sie befürchtet aber, dass die Vorschrift in der jetzt vorgesehenen Fassung dahingehend verstanden werden kann, dass Ansprüche auf ergänzende individuelle Leistungen der Eingliederungshilfe für die Teilnahme an Angeboten der Jugendarbeit entfallen. Daher wird vorgeschlagen, die Vorschrift um eine entsprechende Klarstellung zu ergänzen (siehe S. 13 der Stellungnahme vom 26.10.2020). Die dort vorgeschlagene Formulierung orientiert sich an § 17 Abs. 4 Satz 2 SGB I-E, der im RegE vom 25.9.2020 für ein Gesetz zur Reform des Vormundschafts- und Betreuungsrechts (BR-Drucks. 564/20, Seite 116) vorgesehen ist.

Betreuung von Kindern in Notsituationen – Streichung von § 20 SGB VIII; § 28a SGB VIII RegE

Die Kritik der BAGFW an der avisierten Streichung von § 20 SGB VIII, verbunden mit der Ersetzung durch § 28a SGB VIII RegE, wurde nicht gehört. Der Regierungsentwurf sieht keine Änderungen vor. Die BAGFW unterstützt die Ziele, die mit der Änderung erreicht werden sollen, ist sich aber mit dem Deutschen Verein (Stellungnahme des DV vom 24.11.2020, Seite 13) und dem Deutschen Sozialgerichtstag (Stellungnahme des DSGT vom 26.10.2020, Seite 3) darin einig, dass die Vorschriften des Entwurfes nicht geeignet sind, diese Ziele zu erreichen (siehe Stellungnahme der BAGFW vom 26.10.2020, Seite 17, dort auch ein Formulierungs-vorschlag, der die Intention des § 28a SGB VIII RegE aufgreift).

Eingliederungshilfe für junge Menschen mit einer seelischen Behinderung –
§ 35a SGB VIII RegE

Mit dem Regierungsentwurf wird eine Änderung in § 35a Abs. 1 S. 2 SGB VIII vorgenommen, die mit § 7 Abs. 2 SGB VIII RegE zusammenhängt. Der Begriff der Behinderung, der § 35a SGB VIII zugrunde liegt, soll damit von dem Behinderungsbegriff aus § 7 Abs. 2 SGB VIII RegE, der mit dem Begriff aus § 2 SGB IX und aus Art. 1 UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) übereinstimmt, abgegrenzt werden
(vgl. a. Begründung der Bundesregierung zum RegE KJSG S. 75, S. 97). Dies lehnt die BAGFW entschieden ab. Der Begriff der Behinderung aus Art. 1 UN-BRK wurde mit guten Gründen in § 2 SGB IX übernommen. Nicht zuletzt kommt Deutschland damit seiner Verpflichtung aus der UN-BRK nach. Es ist unverständlich, warum ausgerechnet für Kinder und Jugendliche mit einer seelischen Behinderung von der völkerrechtlichen Vorgabe zu ihren Ungunsten abgewichen werden sollte. Die BAGFW fordert dringend, die vorgesehene Änderung im Regierungsentwurf in § 35a Abs. 1 S. 2 SGB VIII zu streichen. § 35a Abs.1 SGB VIII muss sich direkt auf den nun in § 7 SGB VIII vorgesehenen Behinderungsbegriff beziehen.

Zuständigkeitsübergänge – § 36b SGB VIII RegE

 

Mit dem RegE wurde § 36b SGB VIII RefE geändert. Insbesondere wurde die zunächst vorgesehene Verantwortlichkeit des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe für den Übergang der Zuständigkeit gestrichen. Umso mehr greift die Kritik, die die BAGFW in ihrer Stellungnahme vom 26.10.2020 formuliert hat (Seite 23). Weiterhin sieht der Entwurf vor, dass für jeden einzelnen Zuständigkeitsübergang ein öffentlich-rechtlicher Koordinierungsvertrag (Vereinbarung) zwischen dem Jugendamt und dem zuständig werdenden Sozialleistungsträger geschlossen werden soll. Das bedeutet nicht nur einen außerordentlichen Verwaltungsaufwand, sondern es ist auch nicht realistisch. Regelungen, die verhindern sollen, dass ein Zuständigkeitsübergang zu einer Leistungslücke führt, müssen klare Vorgaben für Zuständigkeit enthalten. „Bausteine“ für solche Regelungen finden sich z.B. in § 2 Abs. 3 SGB X und in
§ 15 Abs. 2 und 3 SGB IX.

Leistungen für junge Volljährige – § 41 SGB VIII RegE

Die BAGFW erneuert ihre Kritik an dem defizitorientierten Wortlaut „…solange ihre Persönlichkeitsentwicklung eine …. Lebensführung nicht gewährleistet…“ und weist auf den Vorschlag aus der Stellungnahme vom 26.10.2020 (S. 26 f.) hin, die Anspruchsvoraussetzung „…wenn und solange die Hilfe auf Grund der individuellen Situation des jungen Menschen notwendig ist…“ zu belassen. Außerdem sollte der Rechtsanspruch klarer formuliert werden. Die jetzige Formulierung im RegE in § 41 Abs. 1 S. 1 „erhalten … Hilfe“ sollte durch die Formulierung „haben Anspruch auf …“ ersetzt werden.

Einrichtungsbegriff – § 45a SGB VIII RegE

Durch den Regierungsentwurf angefügt ist mit § 45a Satz 3 SGB VIII RegE ein Landesrechtsvorbehalt hinsichtlich der Voraussetzungen, unter denen familienähnliche Betreuungsformen, welche nicht in eine erlaubnispflichtige Einrichtung eingebunden sind, zu den Einrichtungen nach dieser Norm zu zählen sind. Diesen Landesrechtsvorbehalt lehnt die BAGFW ab, da zu befürchten ist, dass so eine Regelungslücke bei Kleinsteinrichtungen entsteht, und empfiehlt, diesen wieder zu streichen. Vielmehr muss auch in Betreuungsformen, die von erlaubnispflichtigen Einrichtungen unabhängig organisiert sind, das Wohl der Kinder und Jugendlichen lückenlos – und zwar im ganzen Geltungsbereich des SGB VIII – gewährleistet werden. Insbesondere darf keine Lücke zwischen der Erlaubnis zur Vollzeitpflege nach § 44 SGB VIII und der Betriebserlaubnis nach § 45 SGB VIII verbleiben.

Prüfung – § 46 SGB VIII RegE

Zu § 46 stellt die BAGFW klar, dass der Grundsatz einer örtlichen Prüfung nicht aufgegeben werden darf. Die schriftliche Prüfung könnte im Einzelfall hinzutreten, darf aber die örtliche Prüfung nicht ersetzen. Insbesondere geben Prüfungen vor Ort die Möglichkeit der Beratung im Gespräch zwischen Träger und erlaubniserteilender Behörde.

Mitwirkung im familiengerichtlichen Verfahren – § 50 SGB VIII RegE

Hinsichtlich § 50 bekräftigt die BAGFW ihre entschiedene Ablehnung der vorgesehenen Änderungen und verweist nochmals auf die Stellungnahme vom 26.10.2020, S. 30 f. Ergänzend weist sie darauf hin, dass diese Auffassung auch von einer übergroßen Mehrheit der AG Mitreden-Mitgestalten geteilt wurde (Protokoll der Sitzung vom 12.2.2019, Seite 13 unten, 14 oben).

Kostenheranziehung – § 94 Abs. 6 S. 2 SGB VIII RegE

Der Entwurf sieht vor, die Kostenheranziehung für junge Menschen, die selbst für die Kosten einer Maßnahme aufkommen müssen, von 75% auf 25% ihres Einkommens zu senken. Die BAGFW begrüßt diesen Schritt. Doch zugleich soll mit § 94 Abs. 6 S. 2 SGB VIII RegE eine neue Sonderregelung geschaffen werden, nach der stets das Einkommen des Monats, in dem die Maßnahme erbracht wird, zugrunde zu legen ist. Grundsätzlich gilt im Kostenbeitragsrecht der Kinder- und Jugendhilfe, dass das durchschnittliche Monatseinkommen des Vorjahres zugrunde zu legen ist (§ 93 Abs. 4 S. 1 SGB VIII). Das gilt nicht nur für kostenbeitragspflichtige Eltern, sondern genauso für junge Menschen (BVerwG, Urteil vom 11.12.2020, AZ: 5 C 9.19). Nur auf Antrag der kostenbeitragspflichtigen Person wird das durchschnittliche Monatseinkommen des laufenden Jahres herangezogen (§ 93 Abs. 4 S. 2 SGB VIII). Entsprechende Vorschriften über Aktualisierungsanträge finden sich z.B. in § 24 Abs. 3 BAföG oder in § 135 Abs. 2 SGB IX.

Die vorgesehene Sonderregelung in § 94 Abs. 6 S. 2 SGB VIII RegE führt daher trotz der Reduktion des Prozentsatzes von 75% auf 25% in § 94 Abs. 6 S. 1 SGB VIII RegE in vielen Fällen zu einer Erhöhung des Kostenbeitrags! Wenn ein junger Mensch z. B. zum 1. Oktober eine Berufsausbildung aufnimmt und im ersten Ausbildungsjahr 400 € Ausbildungsgeld erhält, fällt nach aktueller Rechtslage im ersten Ausbildungsjahr kein Kostenbeitrag an, im zweiten beträgt der Kostenbeitrag 75% aus 1.200 € (je 400 € für die Monate 10 bis 12 des Vorjahres)/ 12, also 75 € monatlich. Erst im dritten Ausbildungsjahr fällt ein Kostenbeitrag von 300 € monatlich an. Nach der vorgesehenen Regelung soll der Kostenbeitrag in diesem Beispiel von Beginn an 100 € monatlich betragen. Dabei ist zu bedenken, dass die Regelung vor allem für die erste Zeit einer Berufsausbildung relevant ist, weil es häufig während der Ausbildung zu einer Beendigung der Maßnahme kommt.

Dazu kommt, dass die Berücksichtigung des laufenden Einkommens eine prospektive Entscheidung voraussetzt, die immer dann, wenn das Einkommen sich anders als vorhergesehen entwickelt, korrigiert werden muss. Das erfordert entsprechende Korrekturbescheide (kassatorische Entscheidungen nach § 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 SGB X), die mit hohem Verwaltungsaufwand einhergehen. Sie werden oft zu Nachforderungen des Jugendamtes führen. Wenn entsprechende Ansparung nicht vorhanden ist, weil der junge Mensch die Nachforderung nicht einkalkuliert hat, können daraus Schulden erwachsen, die den Übergang in die Erwachsenenphase unnötig belasten (siehe auch Stellungnahme der BAGFW vom 26.10.2020, S. 34).

Übergangsregelung und Gesetzesfolgenabschätzung – § 107 SGB VIII RegE

Grundsätzlich begrüßt die BAGFW den Ansatz der inklusiven Lösung des Entwurfes, will aber darüber hinaus die Verbindlichkeit und die Möglichkeit einer echten Weiterentwicklung der inklusiven Ausgestaltung des SGB VIII gestärkt sehen. Die Übergangsregelung, die im RefE noch als Art. 9 KJSG vorgesehen war, wurde mit dem RegE in einen neuen § 107 SGB VIII verschoben. Unverändert enthält sie eine gesetzliche Festlegung, nach der die inklusive Lösung dem Ziel unterstellt wird, „den leistungsberechtigten Personenkreis, Art und Umfang der Leistungen sowie den Umfang der Kostenbeteiligung für die hierzu Verpflichteten nach dem am 1. Januar 2023 für die Eingliederungshilfe geltenden Recht beizubehalten“ (§ 107 Abs. 2 S. 2 SGB VIII RegE). Unverändert erschließt sich nicht, aus welchen Gründen eine inklusive Lösung angestrebt werden soll, wenn damit bezweckt wird, dass sich in der Praxis hinsichtlich aller relevanten Parameter nichts ändert. Die BAGFW sieht es kritisch, einen politischen Kompromiss zu schließen, von dem bereits jetzt absehbar ist, dass er die Lösung der drängenden Probleme, denen die Reform begegnen soll, durch eine vorzeitige Festschreibung des status quo nachhaltig behindern wird.