Die BAGFW bedankt sich für die Möglichkeit, zum vorliegenden Gesetzentwurf Stellung zu nehmen. Eine Anpassung des Rechts der Kostenerstattung junger Menschen in der Kinder- und Jugendhilfe mit Blick auf die Abschaffung der Kostenheranziehung begründet sich aus Sicht der BAGFW wesentlich in den Rechten der betroffenen jungen Menschen sowie auch in den Zielen der Kinder- und Jugendhilfe. Darüber hinaus besteht im Rahmen der aktuellen Rechtslage eine erhebliche Disparität und Rechtsunsicherheit bei der Umsetzung des geltenden Rechts der Kostenheranziehung.
Die BAGFW teilt die Auffassung des Gesetzgebers, von der einkommensabhängigen Kostenheranziehung von jungen Menschen und Leistungsberechtigten nach § 19 SGB VIII im Rahmen der stationären und teilstationären Kinder- und Jugendhilfe abzusehen und den Tatbestand der Kostenheranziehung von Ehegatten und Lebenspartnern entsprechend ganz aufzuheben. Dadurch besteht die Möglichkeit, dass junge Menschen und Leistungsberechtigte nach § 19 SGB VIII sowie Ehegatten und Lebenspartner vollständig, zumindest über ein selbst erzieltes Einkommen, verfügen. Die Abschaffung des Kostenbeitrags junger Menschen entspräche im Übrigen einer Anregung der BAGFW in der Stellungnahme[1] zum KJSG-RefE.
Insofern ist zu beachten, dass die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe der Förderung der Entwicklung junger Menschen zu einer selbstbestimmten, eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit dienen (vgl. § 1 Abs. 1 SGB VIII). Die Eigenverantwortung als Leitziel der Kinder- und Jugendhilfe enthält damit die Vorgabe, auf eine Verselbständigung hinzuwirken. Dieser Aspekt wird zudem im Regelungsbereich der Leistungen der stationären Kinder- und Jugendhilfe an mehreren Stellen im SGB VIII besonders hervorgehoben. Zur eigenverantwortlichen Lebensführung gehören vor allem die Fähigkeiten und Möglichkeiten den Lebensunterhalt selbst zu bestreiten und mit dem eigenen Einkommen zu wirtschaften. Das eigene Einkommen stellt eine wesentliche Motivation junger Menschen dar, sich in den Arbeitsmarkt zu integrieren.
Des Weiteren müssen junge Menschen die Möglichkeit haben mit dem eigenen Einkommen, bspw. für die Zeit nach der stationären Kinder- und Jugendhilfe, Rücklagen zu bilden. Relevant dürften an dieser Stelle finanzielle Aufwendungen für beispielsweise einen Führerschein, eine Mietkaution und die Verauslagung von Kosten für eine Erstausstattung der Wohnung sein. Zwar können solche Mittel im Rahmen von Jugendhilfeleistungen übernommen oder bezuschusst werden. Jedoch gestaltet sich die Gewährungspraxis von Kostenübernahmen und Zuschüssen nicht einheitlich und verlässlich. Indes ergibt sich daraus auch, dass die Situation junger Menschen, die sich in stationärer Unterbringung befinden, gerade nicht vergleichbar ist mit der Lage junger Menschen, die bei ihren Eltern leben. Daher dürfte es mit Blick auf den Gleichbehandlungsgrundsatz im letztgenannten Fall gerechtfertigt sein, dass sich Unterhaltsansprüche gegen die Eltern und damit der Anspruch auf Versorgung durch Dritte reduzieren kann, wenn junge Menschen, die bei ihren Eltern leben, eigenes Arbeitseinkommen erzielen. Die bedingt sich mithin durch die bessere Absicherung von jungen Menschen im Haushalt der Eltern.
Im Übrigen dürften in der Vergangenheit präsente Rechtsstreitigkeiten, insbesondere zur Berechnung der Kostenheranziehung in Härtefällen im Rahmen von Ermessensregelungen, mit dessen einkommensunabhängiger Ausgestaltung bzw. Aufhebung in dieser Form obsolet werden.
Die BAGFW begrüßt daher die im vorliegenden Referentenentwurf getroffenen Regelungen. Hier ist vor allem auch der Wegfall der Heranziehung junger Menschen aus ihrem Vermögen zu nennen. Außerdem entfallen die Regelungen zur Rangfolge der kostenbeitragspflichtigen Personen und die entsprechenden Bestimmungen zum Umfang der Kostenheranziehung sowie auch die Auskunftspflicht über Einkommens- und Vermögensverhältnisse gegenüber dem öffentlichen Leistungsträger.
Die BAGFW weist zusätzlich noch auf eine weitere Zielgruppe junger Menschen im SGB VIII hin, die von dieser Gesetzesänderung nicht profitieren würde und es daher weiteren Regelungsbedarf gäbe, der in dieses Gesetzesvorhaben integriert werden sollte:
Nachbesserungsbedarf besteht beim „Ausbildungsgeld“. Das Ausbildungsgeld steht jungen Menschen während der Teilnahme an berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahmen (einschließlich einer Grundausbildung), einer individuellen betrieblichen Qualifizierung im Rahmen der unterstützten Beschäftigung (nach § 55 SGB IX), einer Maßnahme im Eingangsverfahren oder Berufsbildungsbereich einer anerkannten Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) oder während einer beruflichen Erstausbildung zur Sicherstellung des Lebensunterhalts zu, wenn kein Anspruch auf Übergangsgeld existiert. Dies betrifft zum einen jungen Menschen mit Behinderung nach § 122 SGB III und junge Menschen, die keine Behinderung haben, aber auf Grund ihrer individuellen Situation, wenn sie nicht sofort in den ersten Ausbildungsmarkt einmünden, entsprechende (berufsvorbereitende) Bildungsmaßnahmen nach SGB III erhalten.
Mit dem aktuellen Gesetzesentwurf soll die Kostenheranziehung für junge Menschen entfallen. Für alle jungen Menschen, die eine Ausbildung auf dem ersten Arbeitsmarkt machen, würde sich damit die Situation deutlich verbessern, weil keine Kostenheranziehung in Bezug auf die Ausbildungsvergütung erfolgt. Aber nicht wenige junge Menschen, die in Pflegefamilien oder sonstigen stationären Formen der Hilfe zur Erziehung (§ 34 SGB VIII) oder Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII leben, hat diese Regelung keine Auswirkungen, da diese jungen Menschen eine Berufsausbildung für Menschen mit Behinderung absolvieren bzw. eine geförderte Ausbildung über das Arbeitsamt oder Jobcenter sowie als berufsvorbereitende Bildungsmaßnahme. Diese jungen Menschen bekommen keine sozialversicherungspflichtige Ausbildungsvergütung, sondern eine Netto-Unterhaltszahlung. Tatsächlich wird dieser Unterhaltsbetrag aber als Ausbildungsgeld bezeichnet, so für junge Menschen mit Behinderung in § 122 SGB III aber auch in Zusammenhang mit den Unterhaltszahlungen gemäß §§ 61, 62 SGB III.
Im § 93 Absatz 1 Satz 3 SGB VIII wird festgelegt, dass Geldleistungen, die dem gleichen Zweck dienen, nicht als Einkommen anzusehen sind und unabhängig vom Kostenbeitrag zur Finanzierung der Kinder- und Jugendhilfeleistung einzusetzen sind. Für viele junge Menschen, die in stationären Formen der Jugendhilfe (§§ 33, 34, 35a, 13 SGB VIII) leben, wird somit der gesamte Betrag des Unterhalts von der Jugendhilfe einbehalten. Die jungen Menschen sehen sich in hohem Maße benachteiligt, zumal diese Unterhaltszahlungen als Ausbildungsgeld tituliert werden. Hier sehen wir hier einen Nachbesserungsbedarf und schlagen folgende Regelungsmöglichkeiten vor:
Möglich wäre, dass „Ausbildungsgeld“, welches für die benannten Adressat:innen gemäß SGB III gezahlt wird, statt eines Unterhalts zumindest teilweise als Ausbildungsvergütung analog zu anderen Ausbildungsvergütungen zu definieren. Die Ausbildungsvergütung ist dann gemäß SGB VIII Einkommen und wird durch die Streichung der Kostenheranziehung nicht mehr berührt.
Auch eine Ergänzung des § 93 Abs.1 S.3 SGB VIII ist denkbar. Demnach zählen Geldleistungen, die dem gleichen Zweck wie die jeweilige Leistung der Jugendhilfe dienen, nicht zum Einkommen und sind unabhängig von einem Kostenbeitrag einzusetzen. Eine Ausnahme könnte zumindest teilweise für den Unterhalt bzw. das Ausbildungsgeld nach SGB III für die genannten Adressat*innen formuliert werden, in dem dieser Teil als nicht zweckgleich definiert wird und der Motivation der jungen Menschen im Rahmen ihrer Ausbildung dient.
Oder es könnte eine Ergänzung in § 92 Abs.5 S. 1 SGB VIII erfolgen, wonach von der Heranziehung im Einzelfall ganz oder teilweise abgesehen werden soll, wenn sonst Ziel und Zweck der Leistung gefährdet würden oder sich aus der Heranziehung eine besondere Härte ergäbe. Dies wäre anzunehmen, wenn Unterhalt bzw. Ausbildungsgeld für die genannten Adressat*innen nach SGB III vollständig angerechnet werden und den jungen Menschen keinerlei Vergütung ihrer Ausbildung als Motivation verbleibt.
In allen drei Varianten erhält das „Ausbildungsgeld“ motivierenden Charakter und wird von den jungen Menschen analog zur Ausbildungsvergütung als Anerkennung der Ausbildungsleistung verstanden.
Berlin, 27.06.2022
Bundesarbeitsgemeinschaft
der Freien Wohlfahrtspflege e. V.
Dr. Gerhard Timm
Geschäftsführer
Kontakt:
Angelika Wolff (angelika.wolff(at)diakonie.de)
Carsten Saremba (carsten.saremba(at)diakonie.de)
[1] BAGFW-Stellungnahme v. 26.10.2020 zum KJSG RefE, S.34, www.bagfw.de/fileadmin/user_upload/Veroeffentlichungen/Stellungnahmen/2020/2020-10-26_Stellungnahme_St%C3%A4rkung_von_Kindern_und_Jugendlichen_KJSG.PDF