Stellungnahme der BAGFW zur Festlegung nationaler Ziele im Rahmen der EU-2030-Ziele durch die Bundesregierung

Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) bezieht sich in ihrer Stellungnahme zur Festlegung der nationalen Ziele im Rahmen der 2030-Ziele auf die bereits anlässlich der Konsultation durch das BMAS im Juli 2021 eingebrachten Positionen.

Diese Stellungnahme kann hier abgerufen werden.

Gerne greift die BAGFW die Möglichkeit auf, zu den jetzt vom BMAS vorgelegten Zielen Stellung zu nehmen. Dabei konzentriert sich die BAGFW auf aus ihrer Sicht besonders zentrale Fragen:

Zu den einzelnen Zielen:

Das vorgeschlagene Ziel, die Erwerbstätigenquote insgesamt auf 83% zu erhöhen, ist angesichts der bereits 2020 erreichten allgemeinen Erwerbstätigenquote in Deutschland von 80% ausreichend ambitioniert.

Eine Differenzierung in drei Unterziele, die auf die Steigerung der Erwerbstätigkeit von Frauen, Älteren und Ausländer/innen fokussieren ist allerdings unzureichend, da es sich um eine sehr pauschale Kategorisierung handelt, die nicht näher ausdifferenziert wird. Insbesondere die Kategorien „Frauen“ und „Ausländer“ sind unspezifische Begrifflichkeiten, die keine Zielgruppe konkret adressieren. So fehlen in dieser Betrachtung Langzeiterwerbslose sowie Menschen mit Behinderung – die mit besonderen Hürden beim Zugang zum Arbeitsmarkt konfrontiert sind. Während der Pandemie hat sich die Langzeitarbeitslosigkeit erhöht und verfestigt. Nur wenn die konkreten sozialen Lebenslagen in Deutschland passgenau im hier relevanten Beschäftigungsziel berücksichtigt sind, kann es letztlich zu einer nachhaltigen Verbesserung der Erwerbsbeteiligung auch von Langzeitarbeitslosen, Alleinerziehenden, Älteren, Berufsrückkehrer/innen, Menschen mit Behinderung, Geflüchteten und chronisch Kranken kommen.

Die BAGFW regt deshalb an, das Beschäftigungsziel weiter zu differenzieren, denn in Deutschland ist eine Erhöhung der reinen Erwerbsbeteiligung in den letzten Jahren insgesamt bis zur Pandemie gelungen[1], jedoch nicht hinreichend in Bezug auf die genannten besonderen Gruppen. Sie muss zielgruppenspezifisch erfolgen. Zudem kann nur dann von einer wirklichen Verbesserung der Erwerbsbeteiligung gesprochen werden, wenn sie sich in der nachhaltigen Schaffung und Sicherung von qualitativ guten und existenzsichernden Arbeitsverhältnissen widerspiegelt. Beispielsweise ist es aus Sicht der BAGFW relevant, ob eine Steigerung der Erwerbsbeteiligung von Frauen zu einem Großteil auf Minijobs zurückzuführen ist. Die BAGFW schlägt daher vor, neben den rein quantitativen Quoten des Beschäftigungsziels auch qualitativ relevante Indikatoren vorzusehen, wie etwa Art und Qualität des Beschäftigungsverhältnisses, Verdienstverteilung und Geschlechterungleichheiten sowie durchschnittliche Arbeitszeit. In jedem Fall kann nur dann von einer nachhaltig gelungenen Arbeitsmarktintegration gesprochen werden, wenn Arbeitsverhältnisse sozialversicherungspflichtig sind, nicht nur kurzzeitige Beschäftigung bieten, das Qualifikationsniveau der Beschäftigten abbilden und mindestens soweit ausreichend bezahlt werden, um die wesentlichen Lebensbedürfnisse problemlos decken zu können.

Die vom BMAS vorgeschlagenen Unterziele bewertet die BAGFW hinsichtlich der gewählten quantitativen Indikatoren wie folgt:

  • Unterziel Ältere: Steigerung Erwerbstätigenquote auf 77%. (Aktuell: 71,8%)
  • Unterziel Frauen: Steigerung Erwerbstätigenquote auf 80%. (Aktuell: 76,7%)
  • Unterziel Ausländer/innen: Steigerung Erwerbstätigenquote auf 75% (Aktuell: 65,9%)

In Bezug auf die genannten Unterziele wäre eine differenziertere und qualitative Bewertung wichtig. So wäre bei der Erwerbsbeteiligung Älterer nach Männern und Frauen sowie nach unterschiedlichen Einkommens- und Qualifikationsniveaus zu differenzieren.

Bei Frauen ist insbesondere eine Steigerung der Erwerbsbeteiligung von Müttern, insbesondere mit mehreren Kindern sowie von Alleinerziehenden und Frauen mit Fluchtgeschichte erstrebenswert.

Der Begriff „Ausländer/innen“ müsste aufgegliedert werden nach EU-Bürger/innen, Drittstaatsangehörigen und die besondere Situation von Geflüchteten im Vergleich zu Arbeitsmigrant/innen berücksichtigen.

 

Weiterbildung

Das Ziel der Weiterbildungsbeteiligung von 65% ist gegenüber der Quote aus 2018 (52%) rein quantitativ betrachtet eine Verbesserung. Allerdings sind auch hier weitere Unterziele erforderlich, um den einzelnen Gruppen mit unterschiedlichen Bedarfen an Weiterbildung gerecht zu werden. So muss die relativ schlechtere Weiterbildungsbeteiligung von Personen in einkommensschwachen Haushalten, mit niedrigem Qualifikationsniveau beziehungsweise mit sozialen Problemen, insbesondere auch Frauen, Menschen mit Migrationsgeschichte, mit Behinderung, Lebensälteren oder Menschen in ländlichen Gebieten, (Langzeit-)Erwerbslosen oder sogenannten bildungsfernen Menschen in den Fokus genommen werden. Für eine bessere Weiterbildungsbeteiligung benachteiligter Personen sollten insbesondere auch die Möglichkeiten, welche EU-Programme wie Erasmus+ oder ESF+ bieten, von der Bundesregierung noch stärker genutzt werden. Die integrierte Weiterbildungsberichterstattung auf Bundesebene[2] stellt die entsprechenden Daten zusammen und sollte für ein differenziertes Unterziel zur Weiterbildungsbeteiligung herangezogen werden. Auch legt die Europäische Kompetenzagenda hierzu spezifische Indikatoren vor, die für nationale Zielsetzungen maßgeblich sind. So sollen bis 2025 beispielsweise 50% aller 25-64-Jährigen und 30% der geringqualifizierten 25-64-Jährigen in den letzten 12 Monaten an einer Weiterbildungsmaßnahme teilgenommen haben.[3] Die zentrale Bedeutung der Weiterbildung für die Erhöhung der Erwerbstätigenquote und vor allem für die Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung wird auch durch den 6. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung belegt, der die hohe Bedeutung von gezielter Weiterbildung für die Überwindung von verfestigter Langzeitarbeitslosigkeit oder von andauernden Armutslagen betont.[4] Dort wird auch auf die Bedeutung zunehmender Unterschiede in der Inanspruchnahme von Weiterbildungsmöglichkeiten zwischen Personen mit mittlerem oder höherem Bildungsniveau und denjenigen mit geringen formalen Qualifikationen, die stärker von Arbeitslosigkeit, Niedriglohn und unsicherer Beschäftigung  betroffen sind, hingewiesen.

Ebenso sollte die digitale Teilhabe im Kontext der Weiterbildungsbeteiligung eine zentrale Rolle einnehmen. Ein Unterziel, das die Digitalisierung innerhalb unterschiedlicher Weiterbildungsmaßnahmen darstellt, ist nicht zuletzt wegen der zunehmenden Digitalisierung aller Lebensbereiche während der Covid-19-Pandemie dringend erforderlich. Auch nach Ende der Pandemie werden sich digitalisierte Formate erhalten und entsprechende Kenntnisse von Erwerbstätigen und außerhalb des Arbeitsmarkts verlangen. Dies entspricht auch dem Ziel der EU-Kommission zu „digitalen Kompetenzen“ im Rahmen der digitalen Dekade der EU, demzufolge in 2030 80% der erwachsenen EU-Bevölkerung über grundlegende digitale Kompetenzen verfügen sollen im Vergleich zu 56% in 2021.[5] Diese Zielsetzung sollte an dieser Stelle Berücksichtigung finden. Schließlich ist es für die Messung von effektiver Weiterbildung unabdingbar, ein weiteres Unterziel mit qualitativem Inhalt – neben digitaler Teilhabe – vorzusehen und die Wirkung der Weiterbildung als Baustein der Verbesserung der individuellen beruflichen und sozialen Situation zu berücksichtigen. Gerade gering qualifizierte Beschäftigte und Arbeitslose müssen verstärkt Möglichkeiten zur abschlussbezogenen Nachqualifizierung erhalten, damit sie längerfristig am Arbeitsmarkt teilhaben und guter Beschäftigung nachgehen können.

Insgesamt muss umfassende Reduktion von Armutslagen ein wesentliches Ziel sein und unter anderem durch bessere Erwerbsmöglichkeiten verwirklicht werden. Doch die vorgeschlagene Zielsetzung - Reduzierung der von Armut bedrohten Menschen in Deutschland um 1,2 Mio., davon 300.000 Kinder in Haushalten mit sehr niedriger Erwerbsintensität - greift zu kurz. Bemisst man aber die Zahlen entsprechend dem EU-Durchschnittsziel ausgehend von 15 Mio. Menschen in der EU, die von Armut bedroht sind einschließlich einer Zahl von 5 Mio. Kindern, so bleibt das vom BMAS vorgeschlagene Szenario bereits weit hinter dem Ziel des Aktionsplans zur Europäischen Säule sozialer Rechte zurück, zu dessen Umsetzung sich die Bundesregierung politisch verpflichtet hat. Ausgehend von den rund 98 Mio. von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedrohten Menschen in den 27 Mitgliedstaaten der EU in 2020[6], ist das EU-Ziel zur Senkung der Armutszahlen dann erreicht, wenn diese im EU-Durchschnitt insgesamt um 15 Millionen EU-Bürger/innen und damit rund 15 Prozentpunkte zurückgehen. Wenn Deutschland in demselben Maß Armut reduzieren würde, dann wären das bei rund 12,8 Mio. von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedrohten Menschen (15,9% der Bevölkerung in Deutschland in 2019[7])[8] rund 2 Millionen Menschen (davon mindestens rund 665.000 Kinder), die aus der Armut geholt werden müssten.

Dieses Ziel muss konkret und belastbar anhand ausreichender Daten gemessen werden. Es wird deutlich, dass der Ziel-Vorschlag des BMAS wenig herausfordernd ist. Dies gilt insbesondere dann, wenn die europäische Vergleichsstatistik EU-SILC als einziger Maßstab für Erfolge der Armutsbekämpfung in Deutschland herangezogen wird. Aufgrund der relativ kleinen Stichprobe sind die Daten zur Einkommensarmut, die mit EU-SILC erhoben werden, zum einen nicht ausreichend aussagekräftig, um jahresübergreifend Effekte von Armutsbekämpfung national im Detail belegen zu können. Zum anderen bildet der gewählte Indikator der Haushalte mit sehr niedriger Einkommensintensität ein nicht hinreichend differenziertes Bild der Armutssituation ab. Denn auch die Indikatoren der relativen Einkommensarmut sowie der materiellen Deprivation sind hier zu berücksichtigen.

Es ist vor diesem Hintergrund von zentraler Relevanz, die Daten zu Armut und sozialer Ausgrenzung genauer zu betrachten. So nimmt die Altersarmut in Deutschland seit Jahren kontinuierlich zu, insbesondere bei Frauen. Von Armut und sozialer Ausgrenzung besonders betroffen sind Alleinerziehende, Alleinlebende, Arbeitslose, Menschen in Überschuldungssituationen, Menschen mit Migrationshintergrund, Menschen mit Behinderung und kinderreiche Familien. Die empirischen Daten zeigen darüber hinaus, dass bereits vor der Covid-19-Pandemie jedes fünfte Kind in Armutslagen aufgewachsen ist. In der Altersgruppe der jungen Erwachsenen zwischen 18 und 24 Jahren ist das Armutsrisiko sogar noch höher. In dieser Altersgruppe ist jede/r Vierte armutsgefährdet. Insofern muss ein Rückgang von Armutslagen auch anhand dieser besonderen Betroffenheiten gemessen werden.[9]

Ein zentrales Element zur Verringerung der Zahl der von Armut und sozialer Ausgrenzung gefährdeten Kinder um mindestens fünf Millionen ist die „Empfehlung des Rates zur Einführung einer Europäischen Garantie für Kinder“ [10] und deren ambitionierte Umsetzung in Deutschland. Für die Umsetzung der „Europäischen Kindergarantie“ in Deutschland ist zu berücksichtigen, dass die Definition der „bedürftigen Kinder“ von jedem EU-Mitgliedstaat selbst festgelegt wird, um nationale Besonderheiten zu berücksichtigen.[11] Deutschland sollte sich bei der Ausgestaltung nicht nur am Armuts- und Reichtumsbericht orientieren, sondern ebenfalls Verbände und andere Organisationen konsultieren und einbeziehen. Als Kriterien sollten neben dem Armutsrisiko auch der Transferleistungsbezug sowie weitere lebenslagenbasierte Indikatoren diskutiert werden.

Auf Grundlage einer differenzierten Datenanalyse sind beim Ziel der Bekämpfung von Armut aus Sicht der BAGFW zwingend nationale Unterziele zu bilden. Nur bei einer Berücksichtigung der unterschiedlichen von Armut betroffenen Gruppen lässt sich Armut wirklichkeitsnah darstellen und messen. Erst auf dieser Grundlage lassen sich letztlich effektive Maßnahmen zur Armutsbekämpfung gestalten und umsetzen. Dies gilt insbesondere für die Ermittlung, Finanzierung und Gewährleistung des Existenzminimums. Hier sehen die Wohlfahrtsverbände weiterhin erheblichen Verbesserungsbedarf.

 


[1] Siehe statistischer Überblick der Bundeszentrale für politische Bildung: https://www.bpb.de/nachschlagen/zahlen-und-fakten/soziale-situation-in-deutschland/61688/erwerbstaetigkeit-nach-geschlecht-und-alter

[2] Siehe https://www.bibb.de/de/129419.php sowie https://www.bibb.de/de/1656.php

[3] Europäische Kommission (2020), European Skills Agenda. For sustainable competitiveness, social fairness and resilience, abrufbar unter: https://ec.europa.eu/migrant-integration/sites/default/files/2020-07/SkillsAgenda.pdf, Seite19.

[4] 6. Armuts- und Reichtumsbericht, S. 242 ff.

[5] Factsheet “Ein Weg in die digitale Dekade“ ec.europa.eu/newsroom/dae/redirection/document/79265

[6] https://ec.europa.eu/eurostat/web/income-and-living-conditions/visualisations

[7] https://www.bpb.de/nachschlagen/zahlen-und-fakten/soziale-situation-in-deutschland/61785/armutsgefaehrdung

[8] https://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php?title=Income_poverty_statistics/de&oldid=507716

[9] Diese Schlussfolgerungen sind vor dem Hintergrund der im Indikatorentableau des 6. ARB zusammengestellten Datensätze belegt, siehe S. 489 ff.

[10] Empfehlung des Rates zur Einführung einer Europäischen Garantie für Kinder vom 4.6.2021

[11] Teil Governance und Berichterstattung, (11) b), S. 28.