Die BAGFW begrüßt die Initiative der EU-Kommission für eine Empfehlung des Rates zu angemessenen Mindesteinkommensregelungen in der EU. Die anhaltende Corona-Pandemie belegt erneut die Notwendigkeit funktionierender Sozialleistungssysteme, um die sozioökonomischen Auswirkungen von Krisensituationen besser bewältigen zu können. Doch schon vor der Pandemie verfügten die allermeisten EU-Mitgliedstaaten über keinen ausreichenden Mindestsicherungsschutz.
Da gemeinsame Standards entscheidend sind, um die soziale Aufwärtskonvergenz zwischen den EU-Mitgliedstaaten zu verwirklichen, muss das mittelfristige Ziel jedoch weiterhin sein, einen rechtsverbindlichen (!) EU-Rahmen für Mindestsicherungssysteme zu schaffen, zum Beispiel in Form einer EU-Richtlinie.
Bereits in der Vergangenheit wurden mehrere unverbindliche Initiativen zur Unterstützung von angemessenen Mindesteinkommensregelungen angestoßen. Zuletzt durch die Ratsschlussfolgerungen vom 9. Oktober 2020 zur „ Stärkung der Mindestsicherung in der COVID-19-Pandemie und darüber hinaus “. Die im November 2017 verabschiedete Europäische Säule sozialer Rechte beinhaltet als 14. Grundsatz zudem, dass „jede Person, die nicht über ausreichende Mittel verfügt, […] in jedem Lebensabschnitt das Recht auf angemessene Mindesteinkommensleistungen, die ein würdevolles Leben ermöglichen, und einen wirksamen Zugang zu dafür erforderlichen Gütern und Dienstleistungen […] “ hat. Keines dieser Instrumente ist für die EU-Mitgliedstaaten rechtsverbindlich, weshalb ihre Auswirkungen auf die Verbesserung der Mindesteinkommensregelungen in der EU sehr begrenzt geblieben sind. Nur wenn jeder Mitgliedstaat verpflichtet wird, ein angemessenes, befähigendes und zugängliches Mindestsicherungssystem zu schaffen, kann Armut und soziale Ausgrenzung in der Europäischen Union wirksam bekämpft werden. Starke Mindestsicherungssysteme können Chancengleichheit, Teilhabe, Zukunftsperspektiven und ein Leben in Würde ermöglichen. Menschen werden vor verfestigter Armut und sozialer Ausgrenzung geschützt und sozialer Zusammenhalt wird gefördert.
Der Vorschlag für die geplante Ratsempfehlung sollte daher insbesondere eine möglichst zeitnahe Festlegung auf einen rechtsverbindlichen Rahmen in Form einer Richtlinie beinhalten, ohne die nationalen Mindestsicherungssysteme zu harmonisieren. Ein rechtlicher Rahmen für nationale Mindestsicherungssysteme sollte lediglich dazu dienen, Mindeststandards zu setzen, die weniger leistungsfähige Mitgliedsstaaten nicht überfordern, leistungsstarke Mitgliedstaaten aber nicht daran hindern, ein höheres Schutzniveau zu gewährleisten. Weniger leistungsfähige Mitgliedstaaten sollten für die Schaffung bzw. Stärkung sozialer Mindestsicherungssysteme zudem Unterstützung, gegebenenfalls auch finanziell, erhalten.
Ein verpflichtender Rahmen sollte insbesondere Kriterien für die hinreichende Ermittlung, Finanzierung und Gewährleistung des Existenzminimums beinhalten. Der Maßstab für die Existenzsicherung muss die individuelle Teilhabe in sozialer, kultureller und wirtschaftlicher Hinsicht sein. Bei der Festlegung der Höhe muss zudem berücksichtigt werden, dass eine existenzsichernde Mindestsicherung ausreichend bemessen sein sollte, um in besonderen Krisensituationen besondere Härten abfedern zu können. Arbeitsförderung und eine auskömmliche Existenzsicherung müssen als gleichberechtigte Ziele behandelt werden, um auch für Menschen, die nicht mehr oder noch nicht in die Arbeitswelt einbezogen sind, das Recht auf Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu sichern. Eine rechtliche Absicherung der existenzsichernden Grundlagen ist eine geeignete Maßnahme zur Armutsbekämpfung und essentiell, um die selbstgesetzte Zielvorgabe zu erreichen, die von Armut betroffenen Menschen in der EU bis 2030 um 15 Millionen zu senken. Die sozialen Mindestsicherungssysteme in den Mitgliedstaaten sollten an der Europäischen Grundrechtecharta ausgerichtet werden.