Die Freie Wohlfahrtspflege appelliert an Bundesminister Heil, eine bessere Erreichbarkeit von Jobcentern für alle Leistungsberechtigten und angemessene Corona-Schutzvorkehrungen für den Winter sicherzustellen. Vor dem Hintergrund der aktuellen Energiekrise müsse gewährleistet sein, dass Hilfesuchende nicht vor verschlossenen Türen stehen oder lange auf Termine warten müssen.
Viele Jobcenter und Arbeitsagenturen haben im Zuge der coronabedingten Kontaktbeschränkungen ihre Erreichbarkeit stark eingeschränkt und sind auch heute für Hilfesuchende nur eingeschränkt erreichbar, zum Teil mit gravierenden Folgen: Problemlagen für Hilfesuchende verschärfen sich und es kommt zu verspätetem Bezug von Leistungen der Existenzsicherung, was bis zum Verlust der Wohnung führen kann. Das geht aus einer Umfrage der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) unter fast 1.000 Mitarbeitenden aus über 600 ihrer gemeinnützigen sozialen Beratungsstellen aus dem Sommer 2022 hervor.
Knapp 8 Prozent der Befragten gaben an, dass keine persönliche Beratung im Jobcenter vor Ort möglich ist. Rund 31 Prozent sagten, dass es keine frei zugängliche Eingangszone, z.B. zur Abgabe von Unterlagen gegen eine Empfangsbestätigung gibt und rund 28 Prozent, dass das Jobcenter keine regulären Öffnungszeiten hat.
Die Bundesregierung will mit dem neuen Bürgergeld das vertrauensvolle Miteinander und die Zusammenarbeit auf Augenhöhe in den Jobcentern in den Mittelpunkt rücken. Mehr Bürgerfreundlichkeit und weniger Bürokratie sollen einkehren, lautet ein Versprechen aus dem Koalitionsvertrag.
BAGFW-Präsident Ulrich Lilie: „All das setzt voraus, dass alle Leistungsberechtigten ihr Jobcenter unkompliziert erreichen können, das ist eben nicht der Fall. Menschen, die auf das Jobcenter angewiesen sind, müssen sich darauf verlassen können, dass sie dort kompetent und zeitnah beraten werden und ihre Ansprechpersonen erreichbar sind. Wegen der starken Inflation drohen immer mehr Menschen finanziell abzurutschen. Ihnen muss aber besonders schnell geholfen werden.“
Digitale Angebote und Telefon-Hotlines sind wichtige Zugänge, die die Erreichbarkeit in digitalen Zeiten verbessern. Sie können das persönliche Gespräch und die Beratung jedoch nicht ersetzen. „Vor allem Menschen, die ihre Anliegen nicht digital oder telefonisch vorbringen können – weil sie nicht gut Deutsch sprechen, mit den digitalen Zugängen nicht zurechtkommen oder nicht richtig lesen und schreiben können – sind auf das persönliche Gespräch vor Ort angewiesen“, so Lilie weiter.
Die sozialen Beratungsstellen benennen als Folge der eingeschränkten Erreichbarkeit am häufigsten, dass Klientinnen und Klienten Hilflosigkeit erleben (76 Prozent) und sich Probleme verschärfen, weil eine schnelle persönliche Klärung nicht möglich ist (64 Prozent). Ebenso häufig (63 Prozent) kommt es laut der Befragten aufgrund der eingeschränkten Erreichbarkeit zu keinem oder verspäteten Bezug von existenzsichernden Leistungen. Rund 60 Prozent der Befragten geben an, dass zugesandte oder eingeworfene Unterlagen nicht oder deutlich verspätet die zuständigen Bearbeitenden erreichen und wie Wahrung von Fristen erschwert ist (49 Prozent). Insgesamt fehlen Hilfesuchenden relevante Informationen, sagen 57 Prozent. (Drohenden) Wohnungsverlust bzw. anhaltende Wohnungslosigkeit benennen 37 Prozent als Folge.
Als konkrete Vorschläge für vor Ort umsetzbare Maßnahmen, die zu einer guten Erreichbarkeit auch in Pandemiezeiten beitragen können, nannten die sozialen Beratungsstellen u.a. die Nennung von Ansprechpersonen mit Telefonnummer und E-Mail-Adresse auf Bescheiden, die Einrichtung eines Notfalltresens, an dem täglich Dokumente gegen Empfangsbestätigung abgegeben werden können, die Einrichtung einer täglichen, persönlichen Notfallsprechzeit sowie einen Scanservice für Unterlagen, die direkt in die Fallakten eingepflegt werden.
Für die sozialen Beratungsstellen selbst resultiert aus der eingeschränkten Erreichbarkeit von Jobcentern und Arbeitsagenturen ein erhöhter Zeitaufwand für die Kommunikation mit diesen Behörden (80%), ein erhöhter Zeitaufwand pro Beratung (76%), eine erhöhte Beratungsfrequenz (55%), mehr Kriseninterventionen (53%) und insgesamt mehr Klientinnen und Klienten (52%).
An der Befragung haben sich bundesweit 990 Mitarbeitende aus über 600 Beratungsstellen der Freien Wohlfahrtspflege beteiligt. Die Ergebnisse sind nicht repräsentativ, geben aber einen guten Einblick in die Problematiken in der Praxis. Die meisten Befragten kommen aus Beratungsstellen im Bereich der Migrations- und Flüchtlingsberatung, gefolgt von der Allgemeinen Sozialberatung und der Wohnungsnotfallhilfe. Der überwiegende Teil der Beratungsstellen ist in Nordrhein-Westfalen ansässig, gefolgt von Baden-Württemberg und Bayern.