Gemeinsame Stellungnahme zur Weiterentwicklung der Komplexleistung „Interdisziplinäre Frühförderung“

Arbeiterwohlfahrt Bundesverband e. V.,

 

Deutscher Caritasverband e. V.,

 

Der Paritätische Gesamtverband e. V.,

 

Deutsches Rotes Kreuz e. V.,

 

Diakonisches Werk der Evangelischen Kirche in Deutschland e. V.,

 

Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland e. V.

 

 

sowie

 

Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie e. V.,

Bundesverband evangelische Behindertenhilfe e. V. (BeB),

Bundesverband für Körper- und mehrfachbehinderte Menschen e. V.,

Bundesvereinigung Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung e. V.,

Verband für anthroposophische Heilpädagogik, Sozialtherapie und soziale Arbeit e. V.,

Vereinigung für Interdisziplinäre Frühförderung e. V.

 

nehmen gemeinsam wie folgt Stellung:

 

 

I.          Problemhintergrund

 

Seit mehreren Jahren befindet sich die Frühförderung behinderter oder von Behinderung bedrohter Kinder in fachlicher, politisch-rechtlicher und finanzieller Hinsicht in einer schwierigen Situation. Sieben Jahre nach der Verabschiedung des SGB IX und fünf Jahre nach der Verabschiedung der Frühförderungsverordnung stehen in den meisten Einrichtungen der Frühförderung die Organisations- und Finanzierungsstrukturen immer noch einer fachlich gebotenen interdisziplinären Arbeitsform entgegen. Nur in wenigen Bundesländern (Bayern und Sachsen) sind die Rahmenbedingungen so gestaltet, dass die Frühfördereinrichtungen regelmäßig die Leistungen in Form einer Komplexleistung erbringen können. Der vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) in diesem Jahr herausgegebene Forschungsbericht des Instituts für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik (ISG) „Datenerhebung zu Leistungs- und Vergütungsstrukturen in der Frühförderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder“ belegt das unübersehbar.

 

Bei den Verhandlungen in den Ländern (und teilweise in den Kommunen) treten Probleme auf, die bei allen Unterschieden im Detail, weitgehend vergleichbar sind. Sie sind den gegensätzlichen Interessenlagen der in unterschiedlichen sozialrechtlich definierten Systemen handelnden Akteure geschuldet. Das System Frühförderung, seine Qualitätsstandards und seine Weiterentwicklung sind dadurch gefährdet.

 

Die Eltern-, Fach- und Trägerorganisationen sehen sich in der Verantwortung, auf die zentralen Probleme bei der Umsetzung der Komplexleistung hinzuweisen, Lösungsvorschläge zu entwickeln und Verantwortlichkeiten zu benennen.

 

 

II.         Problemstellungen

 

1.         Definition der interdisziplinären Komplexleistung

 

Problem: Was unter der interdisziplinären Komplexleistung Früherkennung und Frühförderung zu verstehen ist, ist strittig. Auf der Ebene der Rehabilitationsträger bezeichnet der Begriff die gemeinsame Verantwortung mehrerer Rehabilitationsträger für die Erbringung einer Leistung („wie aus einer Hand“). Auf der Ebene der Leistungserbringer kennzeichnet der Begriff die Notwendigkeit, verschiedene Leistungselemente interdisziplinär und ganzheitlich aufeinander bezogen zu verwirklichen.

 

Lösungsvorschlag: Die in einem gemeinsamen Schreiben (2007) von BMG und BMAS an die Rehabilitationsträger in Nordrhein-Westfalen formulierte Auslegung des Begriffs Komplexleistung sollte an alle Rehabilitationsträger gerichtet werden:

 

„Es handelt sich immer dann um eine Komplexleistung im Sinne des § 30 SGB IX und der Frühförderungsverordnung, wenn für einen prognostisch festgelegten Zeitraum (in der Regel ein Jahr) sowohl medizinisch-therapeutische als auch heilpädagogische Leistungen notwendig sind, um ein übergreifend formuliertes Therapie- und Förderziel (Teilhabeziel) zu erreichen. Dabei können die Maßnahmen gleichzeitig, nacheinander oder mit unterschiedlicher und ggf. auch wechselnder Intensität erfolgen. ...“.

 

2.         Kostenteilung und Pauschalen

 

Problem: Finanzierung und Kostenteilung der Komplexleistung werden in den Bundesländern unterschiedlich geregelt, pauschale Kostenteilungen sind selten. In der Regel erfolgt die Finanzierung durch die Rehabilitationsträger getrennt. Die Form der Kostenteilung determiniert die Form der Interdisziplinarität und die Vergütungsform, denn eine getrennte Abrechnung setzt eine einzelleistungsbezogene Definition der Komplexleistung und die Zuordnung der Leistungselemente zu Leistungsträgern voraus. Diese Form der Abrechnung erschwert nicht nur die Abrechnung der indirekten Leistungen, sie ist auch mit einem drastischen bürokratischen Aufwand verbunden.

 

Lösungsvorschlag: Pauschalvergütungen entsprechen dem trägerübergreifenden Charakter des Rechtsanspruchs auf die den Rehabilitationsbedarf deckende Komplexleistung. Die Pauschalisierung kann kindbezogen und einrichtungsspezifisch auf der Grundlage von Förder- und Behandlungseinheiten erfolgen. Die Abrechnung hat zwischen der Einrichtung und nur einem Reha-Träger zu erfolgen.

 

Die Verbände fordern den Gesetzgeber auf, die „Kann-Regelung“ des § 9 Abs. 3 FrühV durch eine „Soll-Regelung“ zu ersetzen.

 

3.         Gemeinsame Verantwortung der Reha-Träger für interdisziplinäre Leistungselemente

 

Problem: Die Komplexleistung Frühförderung ist keine bloße Addition bereits vorhandener Leistungen. Sie ist eine neue Leistung. Neben den direkten Leistungen, die im unmittelbaren Kontakt (face-to-face) mit dem Kind und seiner Familie erfolgen, werden in der Frühförderung indirekte Leistungen erbracht. Die Komplexleistung Frühförderung umfasst den Austausch der Akteure der beteiligten Fachrichtungen in Form von Teambesprechungen, die Dokumentation, Fahrzeiten, Rehabilitations- und Förderplanung, die Abstimmung und den Austausch mit anderen, das Kind betreuende Institutionen sowie Fortbildung und Supervision.

 

Lösungsvorschlag: Die indirekten Leistungen sind als immanenter notwendiger Bestandteil der Komplexleistung Frühförderung von den Leistungsträgern anzuerkennen und in den Entgelten entweder anteilig oder im Rahmen von Pauschalen zu berücksichtigen.

 

Die Verbände bitten BMAS und BMG um klarstellende Hinweise zu den Elementen der Komplexleistung, die ihren Niederschlag in den Vergütungsvereinbarungen finden müssen.

 

Sie bitten den GKV-Spitzenverband und die Kommunalen Spitzenverbände, den oben erläuterten Sachverhalt durch gemeinsame Rundschreiben an die örtlich bzw. regional handelnden Rehabilitationsträger klarzustellen.

 

4.         Diagnostik in der Interdisziplinären Frühförderung

 

Problem: Der ISG-Forschungsbericht stellt eine extreme Bandbreite bei den Vergütungssätzen für die interdisziplinäre Eingangsdiagnostik fest. Für die Verlaufs- und Abschlussdiagnostik werden nur in Einzelfällen gesonderte Absprachen getroffen. Das lässt auf erhebliche qualitative Unterschiede bei Umfang und Qualität der Diagnostik und Förder-/ Behandlungsplanerstellung schließen.

 

Lösungsvorschlag: Eine differenzierte, gezielte und interdisziplinäre Diagnostik ist für die interdisziplinäre Frühförderung unabdingbar. Für die Eingangs-, Verlaufs- und Abschlussdiagnostik sollen einheitliche fachliche Qualitätskriterien und Standards gelten. Sie sollten als einheitlicher Maßstab für die Vergütung von Leistungen zur Diagnostik sowie Förder- und Behandlungsplanerstellung dienen.

 

Die Verbände erwarten vom GKV-Spitzenverband die Entwicklung einheitlicher fachlicher Qualitätskriterien und Standards für die Eingangs-, Verlaufs- und Abschlussdiagnostik. Die Fachgesellschaften und Verbände der Leistungserbringer bieten die für die Erarbeitung von Kriterien und Standards notwendige Zusammenarbeit an.

 

5.         Personelle Standards zur Sicherung von Interdisziplinarität

 

Problem: Der interdisziplinäre Charakter der Frühförderung erfordert, dass Fachkräfte aus medizinisch-therapeutischen und pädagogisch-psychologischen Berufsgruppen zusammenwirken. Die Arbeit im interdisziplinären Team ist Qualitätsstandard der Frühförderung. In der Praxis hingegen ist die personelle Ausgestaltung der Frühförderstellen in den Ländern sehr unterschiedlich geregelt, ein Teil der Frühförderstellen ist nicht interdisziplinär besetzt.

 

Lösungsvorschlag: Die Verbände regen an, gemeinsam mit den Leistungsträgern auf der Landesebene Mindeststandards für die interdisziplinäre Besetzung von Frühförderstellen zu erarbeiten und diese in den Landesrahmenvereinbarungen und -empfehlungen zu verankern.

 

 

6.            Offenes, niedrigschwelliges Beratungsangebot

 

Problem: Eltern, die ein Entwicklungsrisiko bei ihrem Kind vermuten, sollen Zugang zu einem offenen niedrigschwelligen Beratungsangebot haben. Es sollte vor der Einleitung einer ärztlich verordneten Eingangsdiagnostik in Anspruch genommen werden können. Ein offenes Beratungsangebot dient der Prävention und Früherkennung, kann aber auch Eltern beruhigen und damit unnütze diagnostische und therapeutische Maßnahmen verhindern. In mehreren Bundesländern ist ein offenes, niedrigschwelliges Beratungsangebot in Frühförderstellen nicht in den Rahmenempfehlungen vorgesehen und findet demzufolge keine Berücksichtigung bei Entgeltverhandlungen.

 

Lösungsvorschlag: Das offene niedrigschwellige Beratungsangebot sollte von den Leistungsträgern als wichtiger Bestandteil der Früherkennungs- und Präventionsaufgaben für behinderte und von Behinderung bedrohte Kinder anerkannt werden.

 

Die Verbände bitten den GKV-Spitzenverband und die Kommunalen Spitzenverbände, in einem gemeinsamen Rundschreiben auf die Notwendigkeit der Absicherung der offenen Erstberatung hinzuweisen.

 

Die Verbände fordern, die offene niedrigschwellige Beratung in allen Landesrahmenvereinbarungen festzuschreiben.

 

7.         Mobile Frühförderung

 

Problem: Der ISG-Forschungsbericht belegt, dass in den letzten Jahren die aufsuchende mobile Frühförderung zurückgedrängt wurde. Die Leistungsträger verlangen eine besondere Begründung der mobilen Leistungserbringung oder lehnen sie mitunter auch mit Verweis auf die Bedingungen der Heilmittelerbringung ab.

 

Lösungsvorschlag: Für die mobile Form der Frühförderung kann es sowohl fachliche als auch organisatorische Gründe geben. In  fachlicher Hinsicht kann der aufsuchenden Arbeit – gerade mit Familien in schwierigen Lebensverhältnissen – eine besondere Bedeutung zukommen, da so integriert im familiären Alltag entwicklungsfördernde Angebote umgesetzt werden können. Organisatorische Gründe können unzumutbare Anfahrtswege in ländlichen Gegenden sein, aber auch eine eingeschränkte Kooperationsfähigkeit von Familien.

 

Die Verbände erwarten von BMAS und BMG den erneuten Hinweis an die Leistungsträger, dass nach § 3 Frühförderungsverordnung Leistungen durch interdisziplinäre Frühförderstellen in ambulanter, einschließlich mobiler Form erbracht werden.

 

8.         Frühförderung in integrativen Kindertageseinrichtungen

 

Problem: Kinder, die eine integrative Kindertageseinrichtung besuchen, werden häufig mit Hinweis auf die Heilmittelerbringung niedergelassener Therapeuten und auf die (heil-)
pädagogischen Fachkräfte der Einrichtung von der Komplexleistung Frühförderung ausgeschlossen.

 

 

Lösungsvorschlag: Soweit behinderte und von Behinderung bedrohte Kinder bis zum Schuleintritt keine gleichwertige Leistung in einer Tageseinrichtung für Kinder erhalten, haben sie einen Anspruch auf die Komplexleistung Frühförderung. In integrativen Kindertageseinrichtungen und in Regeleinrichtungen wird die Leistung durch interdisziplinäre Frühförderstellen erbracht.

 

Die Verbände bitten BMAS und BMG um eine diesbezügliche Klarstellung der geltenden Rechtslage.

 

9.         Umfassende Rahmenvereinbarungen

 

Problem: Die Umsetzung von SGB IX und Frühförderungsverordnung in den Ländern krankt auch daran, dass weder Landesrahmenvereinbarungen zwingend vorgesehen sind noch eine Einigung erzwungen werden kann. Um Blockaden aufzulösen, ist es notwendig, einen Mechanismus der Konfliktregulierung zu etablieren. Zudem ist es i. S. der partnerschaftlichen Ausgestaltung des Verhältnisses zwischen Rehabilitationsträgern und Leistungserbringern notwendig, dass beide Seiten als Vertragspartner fungieren.

 

Lösungsvorschlag: Die Verbände schlagen vor, § 2 FrühV dahingehend zu ändern, dass in den Bundesländern innerhalb einer Frist Rahmenvereinbarungen zwischen den Rehabilitationsträgern und den Verbänden der Leistungserbringer abgeschlossen werden müssen, die den Regelungsumfang des § 32 Nr. 1 SGB IX und einen Mechanismus der Konfliktregulierung (z. B. eine Schiedsstellenregelung) umfassen.

 

10.      Kooperation zwischen Frühförderstellen und SPZs

 

Problem: Die Frühförderungsverordnung bestimmt in § 8, dass interdisziplinäre Frühförderstellen und Sozialpädiatrische Zentren zusammenarbeiten. Einzelne Landesvereinbarungen enthalten Formulierungen, die so verstanden werden können, als seien Kinder ausschließlich in Frühförderstellen oder SPZs zu behandeln. Derartige Ausschlussbestimmungen werden der oftmals komplexen Problemlage der Kinder und ihrer Eltern nicht gerecht.

 

Lösungsvorschlag: Es muss klargestellt werden, dass sich die Leistungen der SPZs und der interdisziplinären Frühförderstellen nicht gegenseitig ausschließen, sondern ergänzen. Lediglich Doppelleistungen sind auszuschließen.

 

BMAS und BMG werden um Klarstellung gebeten. Die Länder werden gebeten, im Einzelfall auf die Revision rechtswidriger Regelungen in Landesrahmenempfehlungen hinzuwirken.

 

III.        Perspektive

 

Die Vorstellungen der Verbände zur Umsetzung der Komplexleistung und zur Weiterentwicklung der interdisziplinären Frühförderung basieren auf den Grundlagen und Zielsetzungen des SGB IX. Grenzen und Hindernisse, die durch das gegliederte System einer integrierten Leistungserbringung im Wege stehen, sollen durch die Gestaltung von Komplexleistungen überwunden werden.

 

Die Verbände erwarten, dass die zuständigen Landesministerien als Aufsichtsbehörden ihre Verantwortung auch dahingehend wahrnehmen, dass die Rehabilitationsträger die Gesetze und Verordnungen beachten und umsetzen.

 

Die Verbände erwarten von den Bundes- und Landesministerien, dass bei allen Initiativen für Kinder und Familien ministerien- und ressortübergreifend behinderte und von Behinderung bedrohte Kinder und ihre Familien berücksichtigt, einbezogen und unterstützt werden.

 

Die maßgebliche Ursache für die Probleme des Systems der Frühförderung ist die unzureichende Umsetzung von SGB IX und Frühförderungsverordnung. Die Verbände erwarten von der Bundesregierung, den Ländern und den Rehabilitationsträgern, dass sie die von den Verbänden formulierten klarstellenden Hinweise und Anregungen aufgreifen und umsetzen. Sollte die Umsetzung der interdisziplinären Komplexleistung Frühförderung scheitern, erwiese sich das gegliederte System der sozialen Sicherung in einem zentralen Punkt als entwicklungsunfähig.