Stellungnahme der BAGFW zum Referentenentwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie (EU) 2019/882 des Europäischen Parlaments und des Rates über die Barrierefreiheitsanforderungen für Produkte und Dienstleistungen (Barrierefreiheitsgesetz)

Die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege danken für die Möglichkeit, zum Referentenentwurf des Barrierefreiheitsgesetzes Stellung nehmen zu können.

Die vorliegende Entwurfsfassung zum Barrierefreiheitsgesetz soll die Richtlinie (EU) 2019/882 des Europäischen Parlaments und des Rates in nationales Recht umsetzen. Die Richtlinie verpflichtet die Mitgliedstaaten der Europäischen Union in Artikel 31 Absatz 1 bis zum 28. Juni 2022 die Maßnahmen zu erlassen und zu veröffentlichen, die erforderlich sind, um den Vorgaben der Richtlinie nachzukommen.

Zusammenfassende Bewertung

Die UN-Behindertenrechtskonvention (UN BRK) verpflichtet die Vertragsstaaten, geeignete Maßnahmen zu treffen, um Menschen mit Behinderungen eine unabhängige Lebensführung und die volle Teilhabe in allen Lebensbereichen zu ermöglichen. Dies schließt Maßnahmen ein, die den gleichberechtigten Zugang zur physischen Umwelt, zu Transportmitteln, Information und Kommunikation, einschließlich entsprechender Technologien, ermöglichen.

In diesem Sinne begrüßen die in der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege zusammengeschlossenen Spitzenverbände den vorliegenden Gesetzentwurf ausdrücklich. Sie unterstützen die Zielsetzung, den Zugang für Menschen mit Behinderungen zu digitalen Alltagsprodukten und -Dienstleistungen zu ermöglichen bzw. zu verbessern und somit die wirksame und gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen zu stärken.

Um mit Blick auf UN BRK die volle und gleichberechtigte Teilhabe zu erreichen, sind auch über dieses Gesetz hinaus zeitnah weitere Schritte nötig.

Im Hinblick auf die geplanten Regelungen sehen wir folgende Änderungsbedarfe:

  • Die BAGFW schlägt vor, Anforderungen an die bauliche Umwelt der Produkte und Dienstleistungen analog zu § 8 BGG aufzunehmen.
  • Der Geltungsbereich der Barrierefreiheit sollte auch regionale, städtische, vorstädtische Verkehrsdienste und Fahrzeuge umfassen.
  • Der Anwendungsbereich des Gesetzes sollte auf beruflich genutzte Produkte und Dienstleistungen ausgeweitet werden.
  • Die Definition von Barrierefreiheit sollte durch einen Verweis auf § 4 Behindertengleichstellungsgesetz ersetzt werden.
  • Bei der Erarbeitung der Verordnungsermächtigung ist die angemessene Partizipation von Menschen mit Behinderungen als Selbstvertreter/innen und ihrer Interessenverbände sicherzustellen.
  • Die Bundesfachstelle für Barrierefreiheit sollte zentrale Anlauf- und Beratungsstelle für alle Akteure werden, die Produkte und/oder Dienstleistungen anbieten, die unter den Regelungsbereich dieses Gesetzes fallen.
  • Wirtschaftsakteure sollten bei jeder Veränderung der von ihnen angebotenen Produkte und Dienstleistungen verpflichtet sein, deren Barrierefreiheit zu überprüfen.
  • Aus Sicht der BAGFW sollte die Marktüberwachung auf Bundesebene angesiedelt sein.
  • Eine bereits bestehende Schlichtungsstelle sollte mit Ressourcen ausgestattet werden, um Streitfälle niedrigschwellig lösen zu können.
  • Die Übergangsfristen für die Dienstleistungserbringer sollten verkürzt werden.
  • Die §§ 21, 29, 32 und 34 enthalten Anforderungen an die Bereitstellung von Informationen und Kommunikation in barrierefreier Form. Es ist einheitlich zu regeln, dass die Kosten für barrierefreie Information und Kommunikation in wahrnehmbarer Form von den Marktüberwachungsbehörden zu tragen sind. Dies ist bislang nur für die Kommunikation mit Gebärdensprachdolmetschern und für andere Kommunikationshilfen vorgesehen.
  • Darüber hinaus schlägt die BAGFW vor, Investitionen in Barrierefreiheit z.B. durch ein Bundesprogramm zu fördern.

 

Im Einzelnen bewerten wir die geplanten Regelungen wie folgt:

§ 1 Zweck und Anwendungsbereich

Barrierefreiheit der bebauten Umgebung

Die EU-Richtlinie eröffnet in den Gründen wie auch in Art. 4 Abs. 4 EAA den Mitgliedstaaten die Möglichkeit, die Barrierefreiheitsanforderungen auch auf die bauliche Umwelt der Produkte und Dienstleistungen auszudehnen, um Menschen mit Behinderungen eine erleichterte Nutzung zu ermöglichen. Im vorliegenden Referentenentwurf wird von dieser Möglichkeit kein Gebrauch gemacht. Dies bewertet die BAGFW kritisch. Damit wird eine Chance vertan, den Vorgaben der UN-BRK an den Abbau von Diskriminierung gemäß Artikel 5 Abs. 3 zu entsprechen und umfassender Barrierefreiheit ein Stück näher zu kommen.

Die BAGFW schlägt vor, in einem eigenen Paragrafen Anforderungen an die bauliche Umwelt der Produkte und Dienstleistungen analog zu § 8 BGG einzufügen.

 

Barrierefreiheit des Verkehrs

Die Regelungen umfassen bisher nur den Fernverkehr. Dies ist nach Ansicht der BAGFW nicht ausreichend für eine diskriminierungsfreie Teilhabe und Mobilität von Menschen mit Behinderungen. Die Regelungsvorgaben hinsichtlich der Barrierefreiheit des Verkehrs und der bebauten Umwelt sind mit den Vorgaben der UN BRK i. S. Art. 9 zu harmonisieren.

Die BAGFW spricht sich dafür aus, dass der Geltungsbereich der Barrierefreiheit bezogen auf Personenverkehrsdienste auch regionale, städtische, vorstädtische Verkehrsdienste und Fahrzeuge umfasst. Alle Verkehrsinfrastrukturen und Dienste, die mit dem Stadt-, Vorort- und Regionalverkehr zusammenhängen, sollten einbezogen sein.

 

Geschäftlich genutzte Produkte

Zwar ist der Anwendungsbereich der Richtlinie gemäß Artikel 2 im Wesentlichen auf Produkte und Leistungen für Verbraucherinnen und Verbraucher beschränkt. Nichtsdestotrotz setzt wirksame Teilhabe voraus, dass auch der unternehmerische Bereich – wie die gewerbliche oder die selbstständig berufliche Nutzung eines Computers
oder etwa der Zugang zum Geschäftskonto – barrierefrei geschehen kann. Die geschäftliche Nutzung ist also auch dann angemessen zu umfassen, wenn die private Nutzung nicht überwiegt.

 

Insofern ist aus Sicht der BAGFW notwendig, den Anwendungsbereich des Gesetzes auf beruflich genutzte Produkte und Dienstleistungen auszuweiten, wo es ohne wesentliche Mehrbelastung für die Wirtschaft möglich ist.

 

§ 3
Barrierefreiheit, Verordnungsermächtigung
Barrierefreiheit

Die hier gefundene Formulierung orientiert sich weder vollständig an der Richtlinie, noch stimmt die Definition mit derjenigen in § 4 BGG überein. Denn es wurde nicht übernommen, dass die Produkte und Dienstleistungen jeweils barrierefrei zugänglich sein müssen.

Unterschiedliche rechtliche Definitionen von Barrierefreiheit wären nicht nur in der Rechtsanwendung interpretationsbedürftig. Sie stünden einem eindeutigen und klaren Verständnis von Barrierefreiheit entgegen. Im Ergebnis wird dies dazu führen, dass volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe im Sinne der UN-BRK im Hinblick auf vorhandene Barrieren nicht eingelöst wird, da unterschiedliche Akteure sich an unterschiedlichen Vorgaben orientieren. Digitale Produkte und Dienstleistungen sind dann barrierefrei, „wenn sie für Menschen mit Behinderungen in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe auffindbar, zugänglich und nutzbar sind”.

 

Die Definition von Barrierefreiheit sollte durch einen Verweis auf § 4 Behindertengleichstellungsgesetz ersetzt werden.

Verordnungsermächtigung

Die Präzisierung der Vorgaben an die Barrierefreiheit von Produkten und Dienstleistungen soll per Rechtsverordnung geregelt werden. Die in § 3 Absatz 3 getroffene Regelung setzt die Richtlinie nicht vollumfänglich um. Denn die Richtlinie sieht in Art. 4 Abs. 5) und 6) vor, bei der Erarbeitung von Leitlinien für Kleinstunternehmen, die ihnen die Umsetzung von Barrierefreiheit erleichtert, einschlägige Interessensträger einzubeziehen. § 3 Absatz 3 sieht eine Ausarbeitung der Leitlinien lediglich durch das BMAS vor.

Die BAGFW hält die vollständige Umsetzung der EU-Richtlinie für notwendig. Hierzu ist sicherzustellen, dass Selbstvertreter/innen bzw. Interessensvertretungen von Menschen mit Behinderungen, die Freie Wohlfahrtspflege und weitere Verbände an der Erarbeitung beteiligt werden. Dabei sollte § 4 BGG in Verbindung mit der UN BRK als Maßstab dienen.

§ 15
Beratungsangebot der Bundesfachstelle für Barrierefreiheit

Die BAGFW begrüßt die Ausweitung des Beratungsangebots der Bundesfachstelle für Barrierefreiheit. Der Auftrag der Bundesfachstelle für Barrierefreiheit sollte allerdings über die vorgesehene Beratung von Kleinstunternehmen hinausgehen.

Die BAGFW setzt sich dafür ein, dass die Bundesfachstelle für Barrierefreiheit, analog zur Vorschrift in § 13 BGG, zentrale Anlauf- und Beratungsstelle für alle Akteure wird, die Produkte und/oder Dienstleistungen nach den §§ 1 und 2 anbieten.

§ 17
Unverhältnismäßige Belastungen

Eine vollumfängliche Umsetzung des EAA wäre gegeben, wenn der Wirtschaftsakteur bei jeder Veränderung der von ihm angebotenen Produkte und Dienstleistungen verpflichtet wäre, eine erneute Überprüfung seiner unverhältnismäßigen Belastung vorzunehmen.

Die BAGFW hält es für erforderlich, in § 17 Absatz 3 Nr. 3 den Begriff „wesentlich“ zu streichen.

§ 20
Aufgaben der Marktüberwachungsbehörden

Die BAGFW begrüßt, dass die Pflichten der Marktüberwachungsbehörde zur Überwachung der Dienstleistungen analog der Pflichten der Marktüberwachung von Produkten erfolgt.

Der Gesetzesentwurf sieht eine alleinige Zuständigkeit der einzelnen Bundesländer für die Marktüberwachung vor. Die BAGFW hält eine ungesteuerte Länderzuständigkeit in diesem Zusammenhang nicht für sinnvoll und geht davon aus, dass eine effektive Marktüberwachung so nicht gewährleistet werden kann. Eine auf Länderebene organisierte Marktüberwachung wird den Anforderungen an eine Überwachung eines global organisierten Dienstleistungsmarktes nicht gerecht.

Die BAGFW fordert daher eine auf Bundesebene organisierte Marktüberwachung.

Naheliegend ist die Übertragung dieser Aufgabe an die üblichen Marktüberwachungsbehörden, die bereits mit den jeweiligen Lebenssachverhalten befasst sind. Hierbei ist sicherzustellen, dass die Marktüberwachung so ausgestattet ist, dass sie ihrer Aufgabe gerecht werden kann. Für eine gelingende Umsetzung der übertragenen Aufgabeninhalte sind entsprechende finanzielle und personelle Ressourcen sowie entsprechende Qualifizierungsmaßnahmen zur Vermittlung notweniger Fachkenntnisse erforderlich.

Liegt die Marktüberwachung in der Zuständigkeit der Bundesländer, muss eine verbindliche Kooperation gewährleistet werden. Dies ist auch vor dem Hintergrund eines effizienten Mitteleinsatzes geboten.

An der Entwicklung von Marktüberwachungsstrategien, wie sie in Absatz 2 genannt sind, sind Menschen mit Behinderungen und ihre Verbände zu beteiligen.

§ 34
Verwaltungsverfahren

Es ist im Interesse aller Beteiligten, in Streitfragen niedrigschwellig und konstruktiv zu Lösungen zu kommen. Schlichtungsstellen können das leisten, sofern sie thematisch entsprechend aufgestellt sind.

Die BAGFW regt an, im Zuge des Barrierefreiheitsgesetzes eine bereits bestehende Schlichtungsstelle mit entsprechenden Ressourcen auszustatten.

§ 38
Übergangsbestimmungen

Angesichts der schnell voranschreitenden Entwicklungen im Bereich digitaler Dienstleistungen sind die vorgesehenen Fristen aus Sicht der BAGFW zu lang angesetzt.

Vorschlag: Barrierefreiheit durch gezielte Investition fördern

Die BAGFW schlägt weitere Investitionen in Barrierefreiheit vor. Die Europäische Kommission schreibt in den Gründen zum EAA: „Gemäß der VN-Behindertenrechtskonvention sind die Vertragsparteien aufgefordert, Forschung und Entwicklung in Bezug auf neue Technologien, die für Menschen mit Behinderungen geeignet sind – darunter Informations- und Kommunikationstechnologien, Mobilitätshilfen, Geräte und assistive Technologien –, zu betreiben oder zu fördern und ihre Verfügbarkeit und Nutzung zu fördern. In der VN-Behindertenrechtskonvention wird zudem gefordert, erschwinglichen Technologien Vorrang einzuräumen.“

Vor diesem Hintergrund regt die BAGFW an, die Entwicklung barrierefreien und universellen Designs von Produkten und Dienstleistungen zu fördern.

So könnte beispielsweise beim Bundesministerium für Wirtschaft und Energie ein Wirtschaftsförderprogramm Barrierefreiheit für digitale Produkte und Dienstleistungen aufgelegt werden und entsprechende Bundeswettbewerbe ausgeschrieben werden. Solche Förderungen könnten Unternehmen darin unterstützen, ihre Produkte barrierefrei (weiter) zu entwickeln. Gleichzeitig können so Innovationen für digitale Teilhabe auf den Weg gebracht und der Wirtschaftsstandort Deutschland gestärkt werden. Förderung sollte in besonderem Maße für innovative und marktdurchdringende digitale Produktarten vorgesehen werden, so dass die Teilhabe der Menschen mit Behinderungen möglichst von Anfang an gesichert ist.