Brief an die Innenministerkonferenz

In der Flüchtlingspolitik stehen wir derzeit vor großen gesamtgesellschaftlichen Herausforderungen, die sowohl die Länder, Kommunen, und den Bund wie auch die Zivilgesellschaft betreffen.

Vortreffen der Staatssekretäre am 11. und 12.12.2014

Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege sind mit zahlreichen Einrichtungen und Diensten ein wichtiger Akteur im Bereich der Flüchtlingshilfe und nehmen die Konferenz der Innenminister und -senatoren von Bund und Ländern zum Anlass, Ihnen einige wichtige Anliegen zu übermitteln. Wir bitten Sie, diese möglichst im Rahmen Ihrer Beratungen und Beschlussfassungen zu berücksichtigen.

In der Flüchtlingspolitik stehen wir derzeit vor großen gesamtgesellschaftlichen Herausforderungen, die sowohl die Länder, Kommunen, und den Bund wie auch die Zivilgesellschaft betreffen. Aus unserer Sicht sind gegenwärtig von besonderer Bedeutung:

Die Fortführung und Ausweitung eines regulären Programms zur Neuansiedlung von Flüchtlingen (Resettlement)

Flüchtlinge haben im Grunde keine Möglichkeiten, sicher und legal nach Europa zu kommen. Diejenigen, die nach Europa wollen, nehmen lebensgefährliche Reisen auf sich. Mit der Durchführung der Humanitären Aufnahmeprogramme hat sich Deutschland in Europa in hervorragender Weise positioniert und sollte seine Vorreiterrolle weiterhin nutzen, um auch die anderen europäischen Staaten zu mehr Verantwortungsübernahme aufzufordern. Im Hinblick auf die Situation in den syrischen Nachbarländern wird jedoch deutlich, dass Deutschland hier noch viel mehr tun sollte. Insbesondere das Schließen der Aufnahmeprogramme der Länder, die für die Aufnahme von Flüchtlingen eine Verpflichtungserklärung von Familienangehörigen verlangen, ist schwer nachvollziehbar.

Die Humanitären Aufnahmeprogramme der Bundesrepublik Deutschland für syrische Flüchtlinge sind jedoch nicht geeignet, das auf Dauer angelegte Instrument des Resettlement zu ersetzen, welches für viele langjährige Flüchtlingskrisen und die davon betroffenen Menschen die einzige Lösung anbietet. Das Resettlement sollte aus Sicht der Verbände daher, wie auch im Koalitionsvertrag verabredet, in wesentlich größerem Umfang institutionalisiert werden. Neben der Linderung von Flüchtlingsschicksalen setzt Deutschland damit ein politisches Zeichen der Solidarität mit den überlasteten Erstaufnahmestaaten. Die Verbände stehen für Unterstützung und Kooperation bei der Ausgestaltung, Vorbereitung und Durchführung des Programms gern zur Verfügung.

Die Aufnahme, Verteilung, Versorgung und Unterbringung von Flüchtlingen

Die Aufnahme und Unterbringung von Asylsuchenden in Deutschland erfolgt zurzeit vielerorts unter desolaten Bedingungen. Aufnahmeeinrichtungen sind überbelegt, das Personal überfordert bzw. nicht hinreichend qualifiziert und häufig wird auf Zelte, Container oder andere nicht zum Wohnen geeignete Lösungen zurückgegriffen. Aus unserer Sicht sollten für die Unterbringung und soziale Arbeit mit Flüchtlingen bundesweit gültige Qualitätskriterien in Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft erarbeitet, als verbindlich festgelegt und kontrolliert werden. Grundsätzlich sollten alle Anstrengungen unternommen werden, damit Flüchtlinge so schnell wie möglich eigenen Wohnraum anmieten können. Insofern Gemeinschaftsunterkünfte notwendig sind, sollte durch ihre Lage, Größe und Beschaffenheit sichergestellt sein, dass eine Integration in das Gemeinwesen von Anfang an und der Schutz der Asylsuchenden ermöglicht ist. Nach der Änderung des Baurechts kommt es insbesondere auch darauf an, dass die neuen Regelungen tatsächlich nur in Ausnahmefällen angewendet werden und Asylsuchende und geduldete Personen nicht systematisch an den Rand der Städte und Gemeinden gedrängt werden. Hier bedarf es klarer Leitlinien, wann von dieser Ausnahme tatsächlich Gebrauch gemacht werden kann. Auch wenn die aktuelle Situation oftmals kurzfristiges Eingreifen und schnelle Lösungen vor Ort erfordert, müssen hierbei Standards eingehalten werden, die es Flüchtlingen ermöglichen, sich sicher und willkommen zu fühlen. Eine Verteilung der Menschen allein nach dem Königsteiner Schlüssel und unflexiblen landesinternen Verteilungsmechanismen erscheint uns angesichts der realen Probleme vor Ort nicht immer die beste Lösung. Auch sollten trotz der zunehmenden Herausforderung humanitäre Kriterien (analog des Hamburger Kataloges) und das Wohl (auch begleiteter) Kinder Berücksichtigung finden. Es sollte aus unserer Sicht überprüft werden, ob statt einer automatisierten Verteilung nach dem EASY-System nicht viel stärker auch die Kapazitäten vor Ort in den Blick genommen werden können.

Einführung einer stichtagsfreien Bleiberechtsregelung wie im Bundesratsbeschluss vom 22. März 2013 vorgesehen

Im Koalitionsvertrag hat sich die Bundesregierung auf die Umsetzung einer Bleiberechtsregelung auf Grundlage der Bundesrats-Drucksache 505/12 (B) vom 22. März 2013 geeinigt. Dies wurde von den Verbänden der BAGFW sehr begrüßt und erfüllt damit eine langjährige Forderung zur stichtagsfreien Ermöglichung eines legalen Aufenthaltstitels für gut integrierte Personen.

Die Verbände begrüßen, dass eine Bleiberechtsregelung für langjährig geduldete Menschen Anfang Dezember vom Bundeskabinett verabschiedet werden soll. Wir gehen davon aus, dass die Verbände noch angefragt werden, zu diesem Entwurf eine Stellungnahme abzugeben.

Im Gesetzentwurf vom 07.04.2014 wurden wichtige Aspekte des Bundesrats-Beschlusses nicht umgesetzt, allen voran soll ein Bleiberecht nur noch im Ermessen der Ausländerbehörden stehen. Der Bundesrat hat im letzten Jahr beschlossen, dass eine Aufenthaltserlaubnis bei Vorliegen der Voraussetzungen erteilt werden soll. Aus Sicht der Verbände sollte in diesem Fall ein Anspruch bestehen, aus Gründen der Rechtseinheitlichkeit sollte mindestens jedoch eine Regelerteilung vorgesehen sein.

Zudem wurden in diesem Gesetzentwurf Ausweitungen im Bereich der Einreise- und Aufenthaltsverbote vorgesehen, sodass für die überwiegende Anzahl der potenziellen Antragstellenden ein Bleiberecht versperrt und die Bleiberechtsregelung konterkariert werden würde.

Rückführungen nach Afghanistan und in die von der Ebola-Epidemie betroffenen Staaten Westafrikas

Die Situation in Afghanistan wird nach Einschätzung vieler Experten nach wie vor als instabil und lebensbedrohlich eingeschätzt. Aufgrund des voranschreitenden Abzuges der internationalen Truppen hat sich der Konflikt verändert. Regierungsfeindliche Kräfte attackieren demnach in erster Linie afghanische Ziele, statt sich wie bisher auf die internationalen Truppen zu konzentrieren.[1] UNHCR spricht von weit verbreiteten Menschenrechts-verletzungen durch regierungsfeindliche Kräfte, sowie der Unfähigkeit des afghanischen Staates Schutz zu gewähren.[2] Neben den regionalen Machtkämpfen rivalisierender Gruppen, mangelhafter Versorgungslage und desolater medizinischer Versorgung, die die gesamte Bevölkerung betreffen, wird insbesondere die afghanische Polizei (Afghan National Security Forces), die bei Rückführungen nach Kabul die erste afghanische Institution sind, welche mit den Abgeschobenen zu tun hat,  als nicht zuverlässig wahrgenommen. Nach Untersuchungen unabhängiger Organisationen werden Zivilisten von Angehörigen der Polizeikräfte getötet, inhaftierte Personen werden gefoltert und Frauen und Kinder sexuell missbraucht. Sind afghanische Polizisten in Menschenrechtsverletzungen oder auch in die Tötung von Zivilisten involviert, gehen sie meistens straffrei aus. Aus diesen Gründen sprechen wir uns ausdrücklich gegen die Rückführung von Menschen nach Afghanistan aus.

Desgleichen möchten wir einen bundesweiten Abschiebungsstopp in die von der Ebola Epidemie betroffenen Länder anregen. Die Situation in Liberia, Sierra Leone und Guinea ist zwar unterschiedlich, jedoch ist die Gefährdung für zwangsweise zurückgeführte Menschen in diese Länder insgesamt derzeit schwer abzuschätzen. Das Auswärtige Amt hat für diese Länder Reisewarnungen ausgesprochen, rät dringend von Reisen in diese Länder ab und ruft zur Ausreise auf. Aus Sicht der BAGFW ist die Gefährdung, sich anzustecken, für zwangsweise zurückgeführte Menschen derzeit schwer abzuschätzen und sollte deshalb unterbleiben. Auch sollte der Aufbau der notwendigen medizinischen Strukturen, dessen Mangel die massive Ausbreitung der Seuche ermöglichte, nicht durch Rückführungen gefährdet werden.

Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) vom 04.11.14 zu Überstellungen in andere EU-Mitgliedstaaten nach der Dublin III-VO

Der EGMR hat in seinem Urteil erhebliche Zweifel an den Aufnahmekapazitäten und -standards Italiens für Flüchtlinge geäußert. Das gelte insbesondere für besonders schutzbedürftige Personen wie Kinder. Der EGMR hat deshalb für Rückschiebungen von Familien mit Kindern höhere Schutzhürden aufgestellt und fordert in jedem Einzelfall die Zusicherung, dass kindgerechte Unterbringungsmöglichkeiten vorhanden sind. Diverse deutsche Gerichte sind der Auffassung, dass es auch in Italien systemische Mängel im Asylsystem gibt. Sie haben deshalb in mehreren Fällen Abschiebungen nach Italien untersagt. Berichte wie der der Schweizerischen Flüchtlingshilfe zur Situation in Italien untermauern diese Rechtsprechung. Wir sprechen uns aus diesem Grund für ein Aussetzen von Rückführungen nach der Dublin-III-VO nach Italien aus. Denn auch im Hinblick auf die aktuellen Zahlen erscheint die deutsche Rückführungspraxis nach Italien ohnehin nicht effektiv: Vergangenes Jahr hatten die deutschen Behörden gut 5800 Übernahmeersuchen an Italien gestellt. Tatsächlich zurückgeführt wurden allerdings nur etwas mehr als 400 Flüchtlinge.


[1] UNHCR: Eligibility Guidelines für Assessing the International Protection Needs of Asylum-Seekers form Afghanistan, 6. August 2013. S. 13.

[2] Ebd. S. 73.