Bürgerschaftliches Engagement in der Freien Wohlfahrtpflege – Perspektiven und Forderungen für die Engagementstrategie des Bundes

Gemeinsame Onlinetagung

16. Juni 2023

Programm

 

Mit der Erarbeitung einer neuen Engagementstrategie kommt die Bundesregierung einem Auftrag nach, den sie sich im Koalitionsvertrag selbst gegeben hat. Sie will damit die Leitlinien der Engagementpolitik für die nächsten Jahre entwickeln. Da eine Engagementrategie erfolgreich nur gemeinsam mit der Zivilgesellschaft erarbeitet werden kann, wurde ein Beteiligungsprozess initiiert, der neben der klassischen Verbändebeteiligung über Stellungnahmen weitere Formate, digital gestützte Prozesse und Veranstaltungen umfasst. Dafür wurde der Deutschen Stiftung für Engagement und Ehrenamt (DSEE) die Prozessverantwortung übertragen. Der Erarbeitungsprozess für die Engagementstrategie bildete den aktuellen Bezugspunkt für die gemeinsame Online-Tagung von BAGFW und DSEE.

Mehr als hundert haupt- und ehrenamtliche Verbandsvertreter:innen diskutierten am
16. Juni 2023 im „Digitalen Dorf“ der DSEE über aktuelle Herausforderungen im bürgerschaftlichen Engagement, über politische Rahmenbedingungen und besondere Stärken und Bedarfe der Freien Wohlfahrtspflege.

Im Fokus standen die Positionen der BAGFW. Es galt, diese im Dialog mit haupt- und ehrenamtlichen Vertreter:innen der Verbände zu reflektieren und zu aktualisieren, um daraus zentrale Empfehlungen und Forderungen als Beitrag zur Bundesengagementstrategie abzuleiten. Diskussionsgrundlagen waren das 2022 veröffentlichte Grundsatzpapier zum bürgerschaftlichen Engagement, in dem das besondere Profil, die Leistungen und Erfahrungen der Wohlfahrtsverbände dargestellt werden sowie die aktuelle Stellungnahme zur Bundes-Engagementstrategie.

In der Tagung wurde vielfach deutlich gemacht, dass die Wohlfahrtsverbände das Vorhaben der Bundesregierung, eine Engagementstrategie zu erarbeiten, grundsätzlich begrüßen. In seinem Grußwort betonte Ulrich Lilie, Präsident der Diakonie und Vize-Präsident der BAGFW, dass die Verbände „politischen Rückenwind und verlässliche finanzielle Rahmenbedingungen“ bräuchten, um in Zeiten vielfacher Krisen Engagement stärken zu können. Juliane Meinhold (Paritätischer Gesamtverband) wies in der abschließenden Podiumsdiskussion aber zugleich darauf hin, dass zahlreiche Vorschläge schon seit langem auf dem Tisch liegen. Was es braucht, ist die Umsetzung im politischen Raum, eine bessere Förderpolitik und bessere rechtliche Rahmenbedingungen.

Zusammenfassung der Vorschläge und Wortbeiträge

  • Vor dem Hintergrund einer Flexibilisierung von Lebensentwürfen, gewinnt die Kooperation und Koproduktion von Hauptamt und Ehrenamt gerade in der Freien Wohlfahrtspflege noch weiter an Bedeutung. Dies bedeutet als Aufgabe für die Verbände, dass sie sich weiter für Engagement jenseits von formalen und dauerhaften Mitgliedschaften öffnen müssen, wie auch Dr. Peter Schubert in seinem einführenden Vortrag ausführte.
  • Für die Politik auf allen staatlichen Ebenen bedeutet das, dass sie die institutionelle Engagementförderung und die Bereitstellung von Engagementinfrastrukturen verstärkt fördern sollte. Gerade die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege sind in der Lage, gute Ideen im Engagement in die Breite zu tragen und zu skalieren
  • Gerade die Krisen der letzten Jahre – von Corona über die Flut im Ahrtal bis zur Aufnahme von Geflüchteten aus der Ukraine – haben verdeutlicht: „Die Engagementstrategie muss die Notwendigkeit von gesellschaftlicher Krisenresilienz ernst nehmen. Das freiwillige soziale Engagement ist nichts, das wir schlicht voraussetzen können, das vom Himmel fällt, sondern es braucht Voraussetzungen,“ so Eva Maria Welskop-Deffaa (Deutscher Caritasverband).
  • In vielen Beiträgen wurde der Aspekt der Demokratiestärkung durch Engagement betont. Wie Katja Glybowskaja (AWO Landesverband Thüringen) betonte, darf freiwilliges Engagement nicht als Lückenbüßer für nicht ausfinanzierte oder wegfallende soziale Dienstleistungen dienen, sondern kann gerade in strukturschwachen Räumen ein Garant für eine lebendige Demokratie sein. Eine enge Verzahnung mit der ebenfalls in Erarbeitung befindlichen Demokratiestrategie ist daher unerlässlich.
  • Gerade wegen des demokratiefördernden und inklusiven Potentials von bürgerschaftlichem Engagement ist die Öffnung der Verbände für die Vielfalt in einer post-migrantischen Gesellschaft, aber auch die Ermöglichung von Engagement von Menschen mit Behinderung und Menschen mit Armutserfahrung eine fortwährende Aufgabe, wie Ingo Grastorf (Diakonie Deutschland) hervorhob.
  • Alle Verbände beschäftigt die Frage der Gewinnung von Nachwuchs und ehrenamtlichen Funktionsträger:innen und der Wandel der verbandlichen Strukturen. Besonders in zwei Richtungen kann die Politik dabei unterstützend tätig werden: Erstens indem sie verbindlich und langfristig neue projektbezogene und spontane Engagementformen und die unterstützende Infrastruktur stärkt und zweitens, indem sie Experimente vor Ort mit neuen Governancemodellen und Kooperationen fördert. Zu den Forderungen der Verbände zählt auch die Entlastung der ehrenamtlichen Funktionsträger von unnötiger Bürokratie und persönlichen Haftungsrisiken.
  • Die Digitalisierung wird in der Breite der Verbände häufig als Herausforderung erlebt. Im Rahmen der Engagementstrategie sollte so ein Fokus darauf liegen, wie mit Qualifizierungsangeboten und Förderprogrammen eine langfristige Digitalisierung im Engagement unterstützt werden kann. Zugleich liegt auch in den Angeboten der Freien Wohlfahrtspflege die Chance, Menschen digitale Teilhabe zu ermöglichen.
  • Jenseits praktischer Rahmenbedingungen wies Annette Strauß (DRK) darauf hin, wie wichtig die gesellschaftliche und politische Anerkennung und Sichtbarkeit von bürgerschaftlichem Engagement ist. So müssten auch die „heimlich Engagierten“ Anerkennung erfahren und Vergünstigungen für Engagierte weiter gefördert und koordiniert werden.


In der Summe ergibt sich so über alle Einzelanliegen hinweg insbesondere die Forderung: Engagement braucht verlässliche, unbürokratische und zugängliche Förderbedingungen. Eva Maria Welskop-Deffaa warb dementsprechend: „Um gemeinsam weiterzukommen ist es notwendig, dass die Engagementstrategie an den Möglichkeiten der Freien Wohlfahrtspflege ansetzt.“ Ariane Fäscher, stellvertretende Vorsitzende des Unterausschuss Bürgerschaftliches Engagement (SPD), zeigte denn auch im abschließenden Statement, dass die Botschaft angekommen ist: "Wir haben kein Erkenntnisproblem, sondern ein Umsetzungsproblem und ein Finanzierungsproblem."

Grußworte

Ulrich Lilie
Vizepräsident der BAGFW

 

Katarina Peranić / Jan Holze
Deutsche Stiftung für Engagement und Ehrenamt

Impulsvortrag

Bürgerschaftliches Engagement in der Freien Wohlfahrtspflege
 

Dr. Peter Schubert
Zivilgesellschaft in Zahlen (ZiviZ)

Herr Dr. Peter Schubert vom Stifterverband präsentierte zu Beginn der Tagung in seinem wissenschaftlichen Vortrag Ergebnisse aus dem aktuellen ZiviZ-Survey, die er mit mehreren Thesen verknüpfte. Mit Blick auf das bürgerschaftliche Engagement in den Wohlfahrtsverbänden wies er unter anderem den Trend hin zu mehr informellem und kurzfristigen Engagement nach. Zugleich haben die Wohlfahrtsverbände ihre Krisenresilienz und ihre Beiträge zur Bewältigung von Krisen unter Beweis gestellt. Außerdem analysierte Peter Schubert den Zusammenhang von Engagement mit Fragen der Vielfalt, Demokratieförderung, Digitalisierung und Nachhaltigkeit. Der Vortrag bildete den Ausgangspunkt für weitere Diskussionen in den nachfolgenden Workshops und vor allem beim Abschlusspodium.

Podiumsdiskussion

Welche Engagementstrategie braucht die Freie Wohlfahrtspflege?


Eva Maria Welskop-Deffaa, Präsidentin des DCV

Katja Glybowskaja, Geschäftsführerin AWO Landesverband Thüringen

Annette Strauß, DRK-Bundesleiterin Wohlfahrts- und Sozialarbeit

Ingo Grastorf, Zentrum Engagement, Demokratie und Zivilgesellschaft der Diakonie

Juliane Meinhold, Abteilungsleitung Soziale Arbeit beim DPWV

Ariane Fäscher, MdB

Workshops I bis V

Workshop I: Digitalisierung von Ehrenamt

Im ersten Workshop wurde die Digitalisierung von Bürgerschaftlichem Engagement als Chance, aber auch als große Herausforderung für viele Engagierte diskutiert. Betont wurde die Notwendigkeit adäquater Förderprogramme für die Digitalisierung im Engagement und damit die dauerhaft erforderliche Bereitstellung von Hardware und Infrastruktur, ebenso wie kontinuierliche Fortbildungen und Unterstützungsangebote für Engagierte und die hauptamtlichen Unterstützungsstrukturen. Dabei sind die unterschiedlichen Ausgangsvoraussetzungen zwischen digitalaffinen und skeptischen, häufig auch zwischen jüngeren und älteren Engagierten zu beachten. Eine wichtige Rolle und Stärke der Wohlfahrtspflege in Bezug auf das Engagement besteht in ihrer Erfahrung im sozialen Bereich und ihrer Möglichkeiten der Schaffung von lokalen Anlaufstellen für Menschen aus allen Lebenswelten.


Workshop II: Inklusion und Vielfalt

Im Bereich "Inklusion und Vielfalt im Engagement" wurden verschiedene Barrieren identifiziert, darunter der fehlende Zugang zu Förderprogrammen für kleinere migrantische Projekte und Vereine, finanzielle Hindernisse für benachteiligte Menschen und sprachliche Barrieren. Konkrete Lösungsansätze zur Förderung eines barriereärmeren Engagements umfassen die Vielfalt in Entscheidungsräumen, erhöhte Sichtbarkeit verschiedener Zielgruppen, verpflichtende Barrierefreiheit für Förderprojekte und eine niedrigschwelligere Sprache bei Förderanträgen. Die Wohlfahrtspflege kann aktiv mitwirken, indem sie eine diversitätssensible Haltung fördert und engagementfördernde Infrastrukturen anbietet, Empowermentansätze unterstützt und niedrigschwellige Beteiligungsprozesse gestaltet. Grundlage dieser Vorschläge ist der gleichberechtigte Zugang zum Freiwilligen Engagement als Bürgerrecht in einer demokratischen Gesellschaft: „Ehrenamt darf kein Privileg für gut situierte, gesunde, bürgerliche Menschen mit viel Freizeit und ohne Migrationshintergrund sein“.


Workshop III: Demokratie und Engagement

Im Workshop zu Demokratie und Engagement in der Freien Wohlfahrtspflege wurde diskutiert, wie Wohlfahrtsverbände einerseits neue Ansprache- und Beteiligungsformen finden können und andererseits mit Angriffen auf demokratisches und antifaschistisches Engagement umgehen können. Deutlich wurde dabei die Notwendigkeit, das Demokratiefördergesetz schnell und ohne stigmatisierende Klauseln zu verabschieden. Lösungsansätze, wie Wohlfahrtsverbände Demokratie vor Ort stärken können, beinhalteten die Einrichtung von "Häusern des Engagements" und die Unterstützung durch Freiwilligenkoordinationen und Qualifizierung der Engagierten. Niedrigschwellige Beteiligungsmöglichkeiten sollten in Verbänden und Zivilgesellschaft gefördert werden, ebenso wie Diskursräume für gesellschaftliche Krisen. Es wurde betont, dass Engagement auch für benachteiligte Gruppen wichtig ist und Selbstwirksamkeitserlebnisse geschaffen werden sollten. Mit Ausgrenzung in den eigenen Reihen umzugehen, erfordert Vielfaltsorientierung, gewaltfreie Kommunikation, geschützte Räume, Selbstreflexion und digitale Unterstützung. Etablierung von Beschwerde- und Antidiskriminierungsstrukturen sowie Transparenz waren ebenfalls Schwerpunkte, um Barrieren abzubauen und Diskriminierung entgegenzuwirken.


Workshop IV: Krisenresilienz durch bürgerschaftliches Engagement

Im Zentrum des Workshops zu „Krisenresilienz durch bürgerschaftliches Engagement“ stand die Beobachtung, dass in Zeiten von Krisen wie dem Corona-Lockdown, der Ahrtal-Flut oder der Fluchtbewegungen aus der Ukraine dem sozialen Engagement und damit auch den Wohlfahrtsverbänden eine besondere Rolle zukommt. Krisenresilientes Engagement braucht die örtliche Verwurzelung und Netzwerkstrukturen im Sozialraum, wie sie die Wohlfahrtsverbände bieten können. Jede Krise ist anders und doch gibt es typische Verläufe und Organisationsprozesse, die präventiv aufgebaut und vorgehalten werden können, zum Beispiel indem Wohlfahrtsverbände sich als Anlaufstellen für spontanes Engagement präsentieren und bekanntmachen. Gerade in Krisen ist Koordination und Begleitung durch hauptamtliche Strukturen für die Aktivierung freiwillig Engagierter und die schnelle Vernetzung wichtig. Es braucht Geld, um schnell mit dem Engagement starten zu können, und hauptberufliche Koordination und gerade auch Unterstützung zur psychosozialen Begleitung. Eine Engagementstrategie sollte aufzeigen, wie Koordinationsstellen vorgehalten und finanziert werden können, wie Öffentlichkeitsarbeit und Kontaktpflege zu Engagierten unterstützt werden kann und wie Ehrenamtliche gut qualifiziert werden können. Wichtiges Anliegen ist auch die Gleichstellung von sozial Engagierten in Krisensituationen zu jenen in Hilfsorganisationen wie Feuerwehr und THW in Bezug auf Lohnfortzahlungen und ähnliches.


Workshop V: Junges Engagement

In Bezug auf das junge Engagement wurden verschiedene Herausforderungen identifiziert, wie die geringe Wertschätzung und Sichtbarkeit von jungen Menschen und ihren Bedürfnissen, sowie die Schwierigkeiten bei der Vereinbarkeit von Engagement mit zunehmender zeitlicher Verdichtung in Ausbildung, Studium und Beruf. Um das junge Engagement zu stärken, wurden konkrete Ideen vorgeschlagen: mehr Einbindung junger Menschen in Prozesse und Strukturen, Entlastung von bürokratischen Anforderungen, mehr finanzielle Anreize und Anerkennung von Engagement im Lebenslauf. Die Freie Wohlfahrtspflege spielt eine besondere Rolle, indem sie jungen Menschen flexible Engagementmöglichkeiten und persönliche Entfaltungsmöglichkeiten bietet und sie in verschiedenen Lebensphasen begleitet. Sie schafft Anknüpfungspunkte für Engagement und ermöglicht politische Beteiligung. Eine herausgehobene Rolle spielen dabei die Freiwilligendienste, die für viele junge Menschen einen Türöffner in lebenslanges Engagement darstellen. Dabei wurde eine Anpassung der Taschengelder zur Deckung des Lebensunterhalts angemahnt. Angesichts der politisch gewollten Zielgruppenerweiterung und zunehmender Krisen junger Menschen ist eine Intensivierung der pädagogischen Begleitung notwendig.