Dieses Positionspapier ist in dienstformat- und verbändeübergreifender Zusammenarbeit (FSJ, BFD, FÖJ, IJFD, weltwärts) sowie der Bundeskoordination der Landesarbeitskreise und -arbeitsgemeinschaften entstanden und wird von folgenden Verbänden getragen:
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Die Europäischen Struktur- und Investitionsfonds sind für die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege wichtige Impulsgeber für die Erprobung innovativer Ideen und Methoden. Dabei ist der Europäische Fonds für Regionale Entwicklung (EFRE) neben dem Europäischen Sozialfonds (ESF+) und in einigen Mitgliedstaaten dem Kohäsionsfonds, der relevanteste Struktur- und Investitionsfonds für die Verbände und ermöglicht die Förderung zur Schaffung und Modernisierung von Infrastrukturen.
Die Weichen für die zukünftige Kohäsionspolitik der EU und somit auch für den zukünftigen EFRE, werden derzeit gestellt. Dabei werden zum Teil weitreichende Änderungen in der Ausrichtung der Kohäsionspolitik nach 2027 diskutiert. Wir sind der Überzeugung, dass der EFRE dabei zukünftig weiterhin dafür eingesetzt werden muss, den dreifachen Wandel – also den klimafreundlichen, digitalen und demographischen Wandel – bewältigen zu können. Dabei müssen alle Aspekte des dreifachen Wandels gleichermaßen Berücksichtigung finden. Der EFRE muss somit einen Beitrag nicht nur zur Wettbewerbsfähigkeit, sondern auch zur Klimaneutralität, Digitalisierung und sozialen Kohäsion in Europa leisten. Dafür muss der EFRE auch in der nächsten Förderperiode angemessen mit Finanzmitteln ausgestattet werden.
1. Eine Kohäsionspolitik, die in der gesamten Europäischen Union wirkt
Die Kohäsionspolitik der EU ist ein Ausdruck europäischer Solidarität und ein tragender Pfeiler für das Funktionieren des EU-Binnenmarktes. Die Kohäsionspolitik macht den Mehrwert der Europäischen Union für Bürgerinnen und Bürger in ihrem tagtäglichen Leben sichtbar und stärkt auf diese Weise die Akzeptanz der EU. Sie leistet einen Beitrag dazu, in allen Mitgliedstaaten Regionen zu unterstützen, die sich in einer sogenannten „Entwicklungsfalle“ befinden und zu verhindern, dass andere Regionen in eine solche Falle abrutschen.[1] Jedoch bestehen auch innerhalb anderer Regionen zum Teil erhebliche Wohlstandsgefälle und andere spezifische regionale Herausforderungen, welche die soziale und gesellschaftliche Kohäsion gefährden. Investitionen in den gerechten Wandel sind in allen Regionen notwendig; wo diese unterbleiben, wird der soziale Zusammenhalt geschwächt und werden die politischen Ränder gestärkt. Um die Wettbewerbsfähigkeit aller europäischen Regionen zu erhalten und die Akzeptanz der EU in der europäischen Bevölkerung zu bewahren, müssen die finanziellen Mittel der EU-Kohäsionspolitik daher auch weiterhin allen Regionen der EU-Mitgliedstaaten zugutekommen. Ein besonderes Augenmerk sollte dabei unter anderem darauf liegen, „Entwicklungsfallen“ abzubauen und präventiv zu verhindern, dass Regionen überhaupt in eine solche Falle geraten oder in Gefahr kommen, in eine solche zu geraten.
Um sicherzustellen, dass die Gelder auch dort ankommen, wo sie am meisten benötigt werden, muss das Subsidiaritätsprinzip gewahrt bleiben. Die Mittelvergabe muss unter der Verantwortung der Regionen verbleiben und unter Einbeziehung der Zivilgesellschaft und der Sozialpartner geschehen (Partnerschaftsprinzip). Eine Mittelvergabe nach Vorbild der Aufbau- und Resilienzfazilität, die auf nationaler (statt auf regionaler) Ebene und ohne ausreichende Einbeziehung der Sozialpartner und Zivilgesellschaft geschieht, lehnen wir strikt ab. Da die Kohäsionspolitik langfristig und präventiv wirkt, sind krisenbedingte Umwidmungen während der laufenden Programmperiode und zwischen den Fonds möglichst zu vermeiden. Eine zusätzliche und flexibel einzusetzende Budgetlinie „Krisenintervention“ im Rahmen der Kohäsionspolitik könnte aber ausgleichend wirken.
2. Sozialen, digitalen und ökologischen Wandel Hand in Hand gestalten
Ein erklärtes Ziel der Förderung durch den EFRE, den ESF+, den Kohäsionsfonds und den Europäischen Meeres-, Fischerei- und Aquakulturfonds (EMFAF) ist u.a. „ein sozialeres und inklusiveres Europa durch die Umsetzung der europäischen Säule sozialer Rechte“.[2] Die Kohäsionspolitik soll also helfen, insbesondere die Schwerpunkte der 2017 verabschiedeten europäischen Säule sozialer Rechte (ESSR) umzusetzen. Das Ziel eines sozialeren und inklusiveren Europas muss mit Blick auf die ESSR und die Verpflichtung zur Einhaltung der UN-Nachhaltigkeitsziele auch künftig ein Kernanliegen europäischer Kohäsionspolitik und ein wichtiger Aspekt der kommenden Förderperiode bleiben. Zugleich ist es unbedingt erforderlich, die Anstrengungen gegen den Klimawandel und die notwendigen Anpassungen an dessen bereits jetzt nicht vermeidlichen Auswirkungen zu intensivieren. Sowohl ökologische als auch soziale Nachhaltigkeitsaspekte müssen, ineinandergreifend, durch die Kohäsionspolitik adressiert werden. Dies ist umso wichtiger, als dass die Akzeptanz von notwendigen Klimaschutz- und Klimaanpassungsmaßnahmen in der Bevölkerung erheblich leidet, sofern der Eindruck entsteht, dass ökologische und soziale Themenfelder gegeneinander ausgespielt werden und zueinander in Konkurrenz um die verfügbaren Fördermittel treten.
Dies bedeutet, dass in der zukünftigen Förderperiode neben der Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit, dem Ausbau der Digitalisierung und der Anpassung an den Klimawandel das „sozialere Europa“ einen hervorgehobeneren Stellenwert im EFRE braucht. Derzeit stehen im EFRE aufgrund der vorgeschriebenen thematischen Konzentration allerdings nur sehr geringe Anteile der Gesamtzuweisung an die Mitgliedstaaten für ein sozialeres und inklusiveres Europa zur Verfügung. In den Mitgliedstaaten mit einem BNE von ≥ 100% des EU-Durchschnitts (hierzu gehört u. a. DE) stehen lediglich noch 15% der gesamten EFRE-Zuweisung für Investitionen in ein stärker vernetztes, soziales und inklusives sowie ein bürger:innennahes Europa zur Verfügung. Viele Mitgliedstaaten verzichten daher aktuell insgesamt auf eine Nutzung der EFRE-Mittel für die Umsetzung der ESSR und das Themenfeld „sozialeres Europa“ und setzen dieses Ziel ausschließlich über den Europäischen Sozialfonds (ESF+) um,[3] in dem allerdings in der Regel keine investiven Maßnahmen in notwendige soziale Infrastruktur gefördert werden können. Wir plädieren daher dafür, für die Umsetzung der ESSR als ein weiteres prioritäres Ziel in der Ausrichtung auf nationaler bzw. regionaler Ebene mindestens 5% des zukünftigen EFRE vorzusehen. Über den EFRE sollten dabei unter anderem auch Investitionen in den Erhalt und Ausbau sozialer Infrastrukturen sowie in Lösungen für bezahlbaren Wohnraum möglich sein.
Davon unbenommen müssen auch weiterhin umfassende Fördermittel bereitstehen, um notwendige Klimaanpassungs- und Klimaschutzmaßnahmen umsetzen zu können. Insbesondere vor dem Hintergrund der EU-Gesetzgebung in Bezug auf die Energieeffizienz von Gebäuden (Novellen der EPBD[4] und der EED[5]) gewinnt dabei die Förderung von energetischen Sanierungen von Gebäuden noch weiter an Bedeutung und sollte ein Kernelement des EFRE im Bereich des Klimaschutzes darstellen. Die Förderung sowohl zur energetischen Sanierung als auch für Maßnahmen zur Anpassung von Gebäuden an den Klimawandel sollte dabei insbesondere auch die Bedürfnisse von historischen Gebäuden berücksichtigen, die sich aufgrund ihrer Baustruktur und in vielen Fällen auch aufgrund ihres geschützten Status besonderen Herausforderungen gegenübersehen.
Zu den essenziellen Dienstleistungen, die jeder Person in der EU laut Grundsatz 20 der europäischen Säule sozialer Rechte zustehen, gehört auch das Recht auf digitale Kommunikation. Eine Grundvoraussetzung dafür ist eine entsprechende leistungsfähige digitale Infrastruktur überall in der EU, wo Menschen leben und arbeiten. Viele EU-Staaten sind von einer vollständigen Abdeckung mit Glasfasernetzen oder 5G bzw. 6G Netzen allerdings noch weit entfernt.[6] Ungenügende Netzabdeckung und zu geringe Internetbandbreiten beeinträchtigen auch Möglichkeiten der Einrichtungen und Dienste der Freien Wohlfahrtspflege, Menschen (innovative) digitale Unterstützung anbieten zu können, wie z.B. die Online-Beratung. Der Ausbau der digitalen Infrastruktur muss daher, insbesondere mit Blick auf technologische Weiterentwicklungen, weiter beschleunigt und ausgeweitet werden.
Um den sozialökologischen Wandel voranzubringen, sollte die EFRE-Förderung für Maßnahmen zur Wettbewerbsfähigkeit und Innovation ausdrücklich auch Soziale Innovationen[7] berücksichtigen. Die Förderung von solchen innovativen Ansätzen sollte dabei ergebnisoffen erfolgen, um dem experimentellen Charakter der Projekte gerecht zu werden.
3. EFRE-Förderung für Antragsteller zugänglicher machen
Um die Verwaltung von EFRE-Fördermitteln für die Begünstigten zu erleichtern und die Mittel zugänglicher zu machen, müssen beihilfe- und vergaberechtliche Vorgaben vereinfacht und die Ko-Finanzierungssätze auf mindestens 70% angehoben werden.
Vereinfachte Kostenoptionen wie Standardeinheitskosten oder Restkostenpauschalen unterstützen bei Bürokratieabbau und sind weiter auszubauen. Gleichzeitig muss sichergestellt werden, dass Pauschalbeträge auskömmlich berechnet werden und bspw. Tarifsteigerungen berücksichtigt werden können. Insbesondere bei Personalkostenpauschalen stellt dies mit Blick auf eine immer flexiblere Arbeitswelt eine Herausforderung dar. Eine resultatbasierte Förderung, bei der nicht die tatsächlich entstehenden Kosten (teil-)vergütet werden, sondern eine „Prämie“ pro erzielter Ergebniseinheit ausgezahlt wird, sehen wir insbesondere bei risikobehafteten Projekten grundsätzlich kritisch. Bei Projekten, wo vorrangig Personalkosten anfallen oder die Erreichung der Projektziele nicht primär vom Projektträger abhängt, sollte keine ausschließlich resultatbasierte Förderung erfolgen. Innovationsförderung muss ergebnisoffen sein.
4. Effizientere Verwaltung des EFRE
Um Synergien zwischen dem EFRE und anderen EU-Fonds, insbesondere dem ESF+, aber auch dem Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums (ELER) u.a., besser zu nutzen und die relevanten Förderansätze besser miteinander verzahnen zu können, sollten Multifonds-Ansätze, d.h. ein fondsübergreifender Ansatz bei der Erstellung und Verwaltung der operationellen Programme, stärkere Verbreitung finden und von der Kommission aktiv unterstützt werden.
Der CLLD (Community-Led Local Development)-Ansatz, bei dem Fördergelder von „Lokalen Aktionsgruppen“ in Eigenverwaltung vergeben werden, sollte auch in der Verwaltung des EFRE stärkere Verwendung finden und zwar in den Förderschwerpunkten, welche die integrierte Stadt- und Raumentwicklung zum Ziel haben. Der CLLD-Ansatz hat sich im ELER im Rahmen des Programms LEADER bewährt und hat dort positive Auswirkungen nicht nur auf die lokale Infrastruktur, sondern auch auf die soziale Kohäsion in den teilnehmenden Gebieten gezeigt. Die Möglichkeit zur Anhebung der Ko-Finanzierungssätze um zehn Prozentpunkte für Prioritäten, die vollständig durch CLLD umgesetzt werden, sollte beibehalten werden.[8]
Fazit
Der EFRE ist ein wichtiger Baustein sowohl für die Umsetzung der ESSR als auch für die Umsetzung des Green Deals und somit auch für die Sicherstellung eines gerechten Übergangs und der sozialen und gesellschaftlichen Kohäsion. Die BAGFW tritt für eine Stärkung der sozialen Dimension des EFRE in allen Regionen der EU, für einen fortgesetzten Beitrag des EFRE zur Erreichung der europäischen Klimaziele sowie für eine bessere inhaltliche Verzahnung mit anderen Fonds ein. Das Partnerschaftsprinzip sowie die Einbeziehung der Zivilgesellschaft sollten in der Planung und Umsetzung des EFRE weiter gestärkt werden.
Literatur
Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz und Bundesministerium für Bildung und Forschung (Hrsg.) Nationale Strategie für Soziale Innovationen und Gemeinwohlorientierte Unternehmen (2023), URL https://www.bmbf.de/SharedDocs/Downloads/de/2023/230912-sigustrategie-download.pdf?__blob=publicationFile&v=5 (29.08.24)
[1]Die Europäische Kommission definiert „Entwicklungsfallen“ als „einen Zustand, in dem das BIP, die Produktivität und die Beschäftigung sich unterdurchschnittlich entwickeln. Ein solcher Zustand korreliert empirisch mit zunehmender politischer Unzufriedenheit und schwindendem Rückhalt für demokratische Werte und die EU.“ S. Europäische Kommission (2024), 9. Kohäsionsbericht, S. 27. Abzurufen unter https://ec.europa.eu/regional_policy/information-sources/cohesion-report_en.
[2] Siehe Art. 5 der derzeitigen Dachverordnung (Common Provisions Regulation): Verordnung (EU) 2021/1060 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. Juni 2021 mit gemeinsamen Bestimmungen, abzurufen unter https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=CELEX%3A32021R1060.
[3] Siehe die Partnerschaftsvereinbarungen der Mitgliedstaaten, abzurufen unter https://commission.europa.eu/publications/partnership-agreements-eu-funds-2021-2027_en.
[4] Richtlinie (EU) 2024/1275 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. April 2024 über die Gesamtenergieeffizienz von Gebäuden (Neufassung), abzurufen unter http://data.europa.eu/eli/dir/2024/1275/oj.
[5] Richtlinie (EU) 2023/1791 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. September 2023 zur Energieeffizienz und zur Änderung der Verordnung (EU) 2023/955 (Neufassung), abzurufen unter http://data.europa.eu/eli/dir/2023/1791/oj.
[6] Siehe auch den Fortschrittsbericht der EU-Kommission zur Umsetzung der Ziele der digitalen Dekade: https://digital-strategy.ec.europa.eu/en/policies/2024-state-digital-decade-package
[7] Die BAGFW versteht unter dem Begriff „Soziale Innovationen“ neue Lösungen für gesellschaftliche Probleme und Herausforderungen. Innovationen umfassen nach dem Verständnis der Freien Wohlfahrtspflege sowohl die Entwicklung neuer als auch die Weiterentwicklung bestehender Konzepte. Sie beziehen sich auf die Bereitstellung von neuen oder verbesserten sozialen Dienstleistungen. Siehe die Positionierung der BAGFW unter: https://www.bagfw.de/fileadmin/user_upload/Europa/Stellungnahmen/2012_11-30_Positionspapier_der_BAGFw_zu_sozialen_Innovationen.pdf. Siehe auch Mulgan, G.; Sanders, B. Social Innovation: What It IS, why It Matters and How It Can Be Accelerated, 2007.
[8] Siehe Art. 112 Abs. 5 der derzeitigen Dachverordnung (Common Provisions Regulation): Verordnung (EU) 2021/1060, abzurufen unter https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=CELEX%3A32021R1060.
]]>Die in der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) zusammengeschlossenen Spitzenverbände bedanken sich für die Einladung zur Stellungnahme und nehmen gerne die Möglichkeit wahr, zum oben genannten Referentenentwurf des Bundesministeriums für Gesundheit gemeinsam Position zu beziehen.
B. Bewertung der Regelungen im Einzelnen
Zu Artikel 1: Änderung der Zulassungsverordnung für Vertragsärzte
§ 31 Absatz 1: Ermächtigung von Psychotherapeut:innen und Ärzt:innen zur Versorgung von Personen mit psychosozialen Funktionseinschränkungen
Die geplante Ermächtigung von Psychotherapeut:innen und Ärzt:innen zur Versorgung von Personen mit geistigen Behinderungen, Suchterkrankungen oder psychosozialen Funktionseinschränkungen in Kooperation mit Einrichtungen der Suchthilfe, der Krisenhilfe oder der sozialpsychiatrischen Dienste oder vergleichbaren Einrichtung begrüßen die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege sehr. Die BAGFW betont, dass auch Kooperationen von Psychotherapeut:innen und Ärzt:innen mit Einrichtungen der Wohnungsnotfallhilfe und mit Strafvollzugsanstalten hier anerkannt werden müssen. Zudem sollte die geplante Ermächtigung auch für Kooperationen mit Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe gelten.
Die BAGFW weist zudem darauf hin, dass eine ambulante Psychotherapie bei Klient:innen mit psychischen und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen (Alkohol, Drogen und Medikamente) derzeit nicht weitergeführt werden darf, wenn nicht bis zur zehnten Behandlungsstunde Suchtmittelfreiheit erreicht wurde. Diese in der Psychotherapie-Richtlinie festgehaltene Regelung hält die BAGFW für nicht zielführend. Der G-BA ist zu beauftragen, die Regelung, die im Jahr 2022 bereits gelockert wurde, erneut zu überprüfen und anzupassen, so dass auch Menschen mit Suchterkrankungen eine Psychotherapie in Anspruch nehmen können.
Änderungsbedarf:
Satz 2 ist wie folgt zu ergänzen: „Voraussetzung für die Ermächtigung nach Satz 3 ist der Nachweis einer entsprechenden Kooperationsvereinbarung mit einem sozialpädiatrischen Zentrum nach §119 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch, einem medizinischen Behandlungszentrum nach § 119c des Fünften Buches Sozialgesetzbuch, einer Einrichtung der Suchthilfe, der Krisenhilfe oder der sozialpsychiatrischen Dienste, mit einer Einrichtung der Wohnungsnotfallhilfe, mit einer Strafvollzugsanstalt oder mit einer Einrichtung der Kinder- und Jugendhilfe oder einer vergleichbaren Einrichtung. Der G-BA wird beauftragt, § 27 Absatz 2 Satz 1 a und b der Psychotherapie-Richtlinie erneut zu überprüfen und anzupassen, sodass auch Menschen mit Suchterkrankungen eine Psychotherapie in Anspruch nehmen können.“
]]>Der Referentenentwurf des BMI vom Oktober 2024 zielt auf eine Reform der Integrationskurse ab, die durch die fünfte Verordnung zur Änderung der Integrationskursverordnung umgesetzt werden soll. Die Änderungen konzentrieren sich auf mehrere Aspekte, die im Wesentlichen auf Effizienzsteigerung und Kostenreduktion abzielen sollen.
Die avisierten Neuerungen betrachten wir mit großer Sorge, da zu erwarten ist, dass sie insbesondere für viele Frauen und Familien, junge Menschen sowie Menschen in komplexen herausfordernden Problemlagen eine nachhaltige Integration und Teilhabe in Gesellschaft, Bildung und Arbeitsmarkt erschweren werden.
Wir teilen die Einschätzung nicht, dass die Änderungen zu Kosteneinsparungen führen, sondern sind auf Grundlage unserer praktischen Erfahrungen der Ansicht, dass sie die Gesamtkosten für Gesellschaft und Wirtschaft nachhaltig erhöhen.
1. Wegfall der Möglichkeit zur Wiederholung des Sprachkurses:
Die Möglichkeit, nach Ausschöpfung des regulären Stundenkontingents Sprachkurse zu wiederholen, wird für die Mehrheit der Teilnehmenden abgeschafft. Dies wird mit dem Instrument des Jobturbos verbunden „wonach auch Personen mit Sprachkenntnissen unter dem Niveau B1 GER in Arbeit vermittelt werden sollen.“ Für eine nachhaltige Integration in den Arbeitsmarkt ist ein B1-Zertifikat unerlässlich. Das Instrument des Job-Berufssprachkurses (Job-BSK) bietet keine Möglichkeit, diesen B1-Abschluss zu erlangen, sodass viele Personen ohne die Wiederholungsmöglichkeit nie ein B1-Zertifikat erlangen werden. Darüber hinaus kommen die BSK-Kurse für viele Mütter nicht in Frage, da sie sich nicht an den Schulferienzeiten orientieren.
Eine Vielzahl von Gründen (z.B. unsichere Wohnverhältnisse, unzureichende Kinderbetreuung, psychosoziale Probleme...) führen de facto dazu, dass Teilnehmende auf die Wiederholungsmöglichkeit angewiesen sind.
Wie jene, die das B1 Niveau nicht erreichen konnten, in Ausbildung und Arbeitsmarkt integriert werden sollen, ist ungeklärt. Es ist zu befürchten, dass bei zeitnaher Umsetzung der Verordnung mehrere tausend Menschen keine Kurse mehr besuchen, keine Ausbildung beginnen und nicht arbeiten können. Die avisierte Streichung würde schließlich auch ein wirtschaftliches Risiko für unsere Träger bedeuten, da im Moment bei längerem Ausfall von Teilnehmenden (z.B. wegen Schwangerschaft) diese Kursplätze von Wiederholer:innen belegt werden können, die idealerweise genau die freigewordenen Module wiederholen müssen.
Die Verbände der BAGFW fordern aus diesem Grund, die Möglichkeit zur Wiederholung des Sprachkurses aufrecht zu erhalten.
2. Reduktion der Fahrtkostenzuschüsse:
Es wird eine Ermessensregelung zur Gewährung von Fahrtkostenzuschüssen eingeführt sowie enge Voraussetzungen, unter denen der Zuschuss gewährt werden kann.
Zuschüsse werden künftig nur noch für bestimmte Personengruppen gewährt, insbesondere für Menschen mit Schwerbehinderung und für Bezieher:innen bestimmter Sozialleistungen. Diese Änderung soll zu administrativen und finanziellen Einsparungen führen.
Der Wegfall von Fahrtkostenzuschüssen für viele Teilnehmende wird den Zugang zu den Kursen erheblich erschweren, insbesondere in ländlichen Gebieten, in denen lange Anfahrtswege üblich sind. Dies könnte zu einer Verringerung der Teilnahme führen.
Gleichzeitig wird durch die erforderliche Prüfung der Ermessensentscheidung zusätzlicher bürokratischer Aufwand zur entstehen.
Die Verbände der BAGFW fordern aus diesem Grund, die bisherige Regelung beizubehalten.
3. Streichung von Jugendintegrations-, Eltern- und Frauenkursen
Eltern-, Frauen- und Jugendintegrationskurse werden ab Mai 2025 ohne Angabe von Gründen gestrichen.
Bereits 2005 stellte man fest, dass z.B. Frauen bei 600 UE-Kursen überdurchschnittlich oft die Kursziele nicht erreichen konnten. Für verschiedene Zielgruppen wurden daher eigene Kurstypen entwickelt und angeboten, die die Effektivität der Kurse deutlich steigerten. Die Errungenschaften dieser Kurse im Hinblick auf Zielerreichung, Integration und Teilhabe lassen sich nicht durch die allgemeinen Kursformate auffangen.
Die Erfahrungsberichte unserer Träger sowie wissenschaftliche Erkenntnisse zeigen, dass eine spezifische Ansprache und Didaktik dabei helfen, Abbrüche zu verhindern und Lernerfolge deutlich zu verbessern.
Dank der besonderen Rahmenbedingungen (an die Schule und Kita angepasste Kurszeiten sowie Gestaltung der Kurse als sichere Schutzräume für Frauen) ist die Rezeption dieser Kurse durch die Zielgruppe sehr gut. Besonders vulnerable Gruppen (wie z.B. Frauen mit Gewalterfahrung) bekommen dadurch überhaupt erst einen Zugang zu Sprachförderangeboten. Da Frauen meistens Care-Arbeit leisten und in diesem Zusammenhang häufiger ausfallen müssen (z.B. durch Erkrankung des Kindes oder Schließzeiten der Kita) sowie generell öfter Benachteiligungen ausgesetzt sind, ist die im Vergleich zu den allgemeinen Kursen erhöhte Zahl von 900 Unterrichtseinheiten für sehr viele Teilnehmerinnen erforderlich.
Infolge der Streichung der Frauenintegrationskurse werden viele Frauen, insbesondere Mütter, weniger in die Integrationskurse einmünden und es wird häufiger zum Kursabbruch durch diese Gruppe kommen. Diese Einschränkung der Teilhabe wird gravierende Folgen haben: Insbesondere das politische Ziel der Steigerung der Erwerbstätigenquote von Frauen mit Migrations- und Fluchterfahrungen und der Verminderung des Leistungsbezugs wird auf fundamentale Weise konterkariert. Nicht zuletzt sind wegen der lebensnahen Inhalte von Eltern- und Frauenkursen (z.B. des Bildungssystems) in besonderem Maße auch die Integrations- und Teilhabemöglichkeiten von Kindern betroffen.
Trägern, die sich in diesem Gebiet engagieren, wird hier die Grundlage für ihr Handeln entzogen. Das hat Auswirkungen nicht nur direkt auf die Kurse selbst, sondern auf das gesamte Angebotssystem des Trägers, denn in der Regel sind die Kurse in eine Vielzahl von Angeboten eingebettet, die ohnehin schon mit geringen finanziellen Mitteln ausgestattet sind.
Wenn die Angebotsstruktur der Integrationskurse weiterhin eine Antwort auf die vielfältigen Bedarfe der Teilnehmenden im Bereich des Deutschlernens sein soll, ist die aktuelle Trägervielfalt unverzichtbar. Die avisierten Neuerungen gefährden die Trägervielfalt!
Eigene Jugendintegrationskurse sind schließlich deshalb notwendig, da sie eine andere Zielsetzung im Vergleich zu Erwachsenenkursen haben. Allgemeine Integrationskurse sollen die Einmündung in den Arbeitsmarkt ermöglichen. Junge Menschen hingegen müssen die deutsche Sprache in Wort und Schrift einschließlich Grammatik so gut beherrschen, dass sie im Bildungssystem anschlussfähig sind. Dies bedeutet, dass sie einen weiteren Schulbesuch, eine Berufsausbildung oder ein Studium sprachlich bestehen müssen. Fächer wie Mathematik, Deutsch, Wirtschaft-Politik etc. müssen sprachlich in Wort und Schrift bewältigt werden.
Aufgrund des geringen Anteils der Frauen-, Eltern- und Jugendintegrationskursen im gesamten Kursaufkommen, wäre die angestrebte Kostenreduzierung marginal – bei gravierenden und nachhaltigen Folgen für Integration und Teilhabe ganzer Personengruppen.
Die Verbände der BAGFW empfehlen aus diesem Grund dringend, das bisherige Kursangebot aufrecht zu erhalten.
Fazit
Die oben kritisierten Änderungen würden den Zugang zum Integrationskurssystem erschweren. Die Reduktion des Kursangebotes sowie die Einschränkung der Möglichkeit zur Kurs- und Prüfungswiederholung werden das Integrationskurssystem gravierend schwächen und zu schlechteren Outcomes führen.
Das Gesamtprogramm Sprache wird entwertet. In der Konsequenz wird die Verantwortlichkeit für das Erlernen der deutschen Sprache individualisiert und damit ein zentraler Baustein von Integration – das Erlernen der deutschen Sprache – für kurzfristige Kosteneinsparungen nachhaltig unterminiert.
Wir warnen ausdrücklich davor, die von der OECD erst kürzlich hervorgehobenen und positiv bewerteten Integrationsstandards in Deutschland zu gefährden und damit massive Integrationsrisiken insbesondere für vulnerable Personengruppen einzugehen. Die Forschung und Trägerlandschaft sind sich bereits seit Langem einig: Eine Reform des Systems ist dringend nötig, aber anstelle von Kürzungen braucht es Investitionen. Das System muss verwaltungsseitig verschlankt werden, nicht angebotsseitig. Wer an Deutschkursen spart, spart am falschen Ende, denn die Kosten für ausbleibende Integration dürften perspektivisch deutlich höher zu beziffern sein als die für ein nutzer:innenorientiertes System.
Gut qualifizierte und hochmotivierte Menschen würden ausgebremst und in Jobs gedrängt, die nicht ihren Qualifikationen oder Zukunftsvorstellungen entsprechen. Deutschland gehen damit dringend notwendige potenzielle Arbeitskräfte verloren.
Vor diesem Hintergrund empfehlen wir ausdrücklich, von den o.g. geplanten Einschränkungen abzusehen.
Wir schlagen vor, sinnvolle Reformen an einem Runden Tisch gemeinsam mit Wissenschaft und sozialer Praxis zu diskutieren.
]]>Die Arbeit der Betreuungsvereine ist seit Jahren strukturell unterfinanziert. Dieser Umstand ist durch die Tarif- und Preisentwicklung der letzten Jahre nochmals massiv verstärkt worden. Mit Bedauern nehmen wir daher zur Kenntnis, dass die im Evaluationsbericht dokumentierten klaren Rückmeldungen in dem nunmehr vorgelegten und abgestimmten Referentenentwurf offenbar keine Berücksichtigung gefunden haben.
Die BAGFW warnt: Der aktuelle Entwurf wird in der Praxis die Einnahmen der Betreuungsvereine reduzieren und damit deren Arbeitsfähigkeit gefährden. Viele Betreuungsvereine sehen in den dargelegten Vergütungsregelungen eine akute Gefahr für ihre Existenz. Denn es ist für sie absehbar, dass sie mit der vorgesehenen Vergütung ihre tarifgebundenen Angestellten nicht mehr finanzieren können. Aus diesem Grund fordert die BAGFW das BMJ auf, den Entwurf zurückzuziehen und so zu überarbeiten, dass die künftige Vergütungsstruktur eine existenzsichernde Refinanzierung der Betreuungsvereine sicherstellt. Einkommensverluste, wie sie durch die angedachten Regelungen entstehen, dürfen in keinem Fall eintreten!
Zwar enthält der Entwurf weiterführende Ansätze zur Vereinfachung der Betreuervergütung. Insgesamt geht der vorlegte Ansatz zur Anpassung der Betreuervergütung aber eklatant an den deutlichen Bedarfen der Praxis vorbei. Die Auswirkungen für die finanzielle Ausstattung der Betreuungsvereine und ihrer Mitarbeitenden wiegen schwer. Aus Sicht der BAGFW ist der Entwurf damit insgesamt nicht annehmbar, nicht nachhaltig und nicht zukunftsfähig.
Wichtig ist es sicherzustellen, dass die Vergütung den reellen Kostenentwicklungen, also insbesondere den Personalkosten von Betreuungsvereinen und dem Aufwand der Querschnittsarbeit, entspricht. Nur dann lässt sich auch das strukturelle Defizit abbauen, das derzeit viele Betreuungsvereine belastet und deren wirtschaftliche Existenz bedroht. Überlegungen zur agilen Verfahrensgestaltungen und damit einer Entbürokratisierung der gegenwärtigen komplizierten Pauschalen setzen voraus, dass eine Systematik für eine grundlegend reformierte auskömmliche Vergütung der Betreuungsvereine und Berufsbetreuer besteht. Der gegenwärtige Entwurf und die darin vorgeschlagene Entbürokratisierung schreibt lediglich die problematische und unzureichende Vergütung im Grundsatz fort.
Im Einzelnen sieht die BAGFW folgenden grundlegenden Reformbedarf:
1. Anpassung der Tarifsteigerungen und Dynamisierung: Die nunmehr vorgeschlagene Vergütungsanpassung liegt nur unwesentlich über der durch den Inflationsausgleich ergänzten Vergütung, die bereits seinerzeit die vollständigen Kostensteigerungen nicht ausgeglichen hat. Gemessen an den Finanzbedarfen der Betreuungsvereine bewirkt sie bereits jetzt keine flächendeckende effektive Erhöhung der Refinanzierung. Damit erweist sich die Neuberechnung der Vergütung als unzureichend. Zudem zeichnet sich ab, dass die im Entwurf vorgesehene Vergütungserhöhung bereits vor ihrem für 2026 vorgesehenen Inkrafttreten überholt sein wird. Denn im kommenden Jahr 2025 finden erneut Tarifverhandlungen des TVöD-VKA statt und werden aller Voraussicht nach eine erneute Erhöhung der nach dem VGVB einschlägigen Tarifvergütung mit sich bringen. Damit bleibt der Entwurf offenkundig hinter der realen Tarifentwicklung zurück. Das Dilemma einer defizitären Refinanzierung wird damit fortgeschrieben.
Problematisch ist schließlich, dass der Referentenentwurf wiederum anstelle einer Dynamisierungsregelung nur die Ankündigung einer erneuten Evaluation enthält. Dies ist sachfremd: Der Entwurf richtet sich an der Vergütung nach dem TVöD aus. Dies ist kein statischer Wert, sondern eine sich ständig entwickelnde Bezugsgröße. Gerade die Betreuungsvereine, die ihre Mitarbeitenden nach TVöD bezahlen, sind bereits in den vergangenen Jahren durch das faktische Einfrieren der Refinanzierung an ihre Liquiditätsgrenzen gebracht worden. Die damit einhergehende Planungsunsicherheit veranlasste bereits sowohl Betreuungsvereine als auch Berufsbetreuer*innen ihre Tätigkeit aufzugeben. Für die Zukunft ist absehbar, dass sich ohne eine angemessene Dynamisierung der Kreislauf von gesetzlichen Korrekturerfordernissen und deren Überholung durch Tariferhöhungen fortsetzen wird. Dem Ziel einer nachhaltigen und zukunftsfähigen Gesetzgebung wird dies nicht gerecht.
2. Nicht nachvollziehbare Grundlage für die Berechnung der Vergütungshöhe:
Nicht plausibel ist zudem, wie der Entwurf die nunmehr ermittelten Vergütungshöhen errechnet hat. Gleicht man die unterschiedlichen vorgeschlagenen Beträge mit den gegenwärtig bestehenden Beträgen ab, liegen die Grund- und die Qualifikationsvergütung bei mittellosen Betreuten sogar in der nach den Annahmen des Entwurfs besonders aufwändigen Anfangszeit der Betreuung unter der bisherigen Vergütung. Es ist mithin in keiner Weise nachvollziehbar, wie diese Ergebnisse zustande kommen. Dies gilt umso mehr, als nach den Rückmeldungen des Berichts die Mandate für mittellose Betreute deutlich die Mehrheit der übertragenen Betreuungsfälle ausmachen. Dass die teilweise erwartete und als Argument für die Angemessenheit der Vergütung vorgebrachte Mischkalkulation (so offenbar die Ansicht eines Teils der in der Evaluation befragten Rechtspfleger, s. Evaluationsbericht, S. 32 f.) tatsächlich diese offenbaren Mindereinnahmen decken wird, ist nicht absehbar. Die erhobene faktische Verteilung der Betreuungsmandate auf Fallpauschalen lässt erkennen, dass bei den Mandaten die Betreuung mittelloser Menschen in anderen als stationären Wohnformen deutlich den Schwerpunkt der Tätigkeit ausmachen (s. Evaluationsbericht, S. 18 f). Dies ist jedoch genau der Personenkreis, bei dem der vorgelegte Entwurf zu einer geringeren Vergütung führt.
Im Ergebnis wird unter einer solch absehbar unzureichenden Vergütung die Betreuungsqualität leiden. Die fehlende Bereitschaft, die zivilgesellschaftlichen Betreuungsstrukturen angemessen zu vergüten, unterläuft die Ziele der 2023 in Kraft getretenen Betreuungsrechtsreform in vieler Hinsicht:
- Die für die Betreuungsrechtsreform essenzielle Unterstützte Entscheidungsfindung wird unter dem finanziellen Druck auf Betreuer und Betreuungsvereine leiden und zu kurz kommen.
Denn um kostendeckend arbeiten zu können, richten sich bereits jetzt viele Betreuer darauf ein, die empfohlene Höchstzahl von 50 Betreuungsmandaten deutlich überschreiten zu müssen. Diese höhere Zahl von Betreuungsmandaten führt zwangsläufig zu Abstrichen bei der Intensität der einzelnen Betreuungen. Dies widerspricht dem gesetzgeberischen Ziel der Betreuungsrechts-Reform, die Qualität in der rechtlichen Betreuung zu verbessern und die Selbstbestimmungsrechte betroffener Menschen zu stärken. Um diesem gesetzlichen Auftrag zu genügen, müssten Berechnungen zufolge die Fallzahlen um 27% gesenkt werden (s. hierzu auch die Berechnungen des Berufsverband der Berufsbetreuer:innen: Positionspapier des BdB zur Reform des Vergütungssystems: Bundesverband der Berufsbetreuer:innen e.V. (berufsbetreuung.de) und nicht auf 50 – 60 erhöht werden. Dies aber würde nötig, um im Rahmen der vom Entwurf vorgesehenen Vergütung ein wirtschaftliches Überleben sicherzustellen. Angesichts der mit diesem Entwurf zu erwartenden Vergütungen erscheint es sehr fraglich, ob Betreuungsvereine zukünftig ausreichend qualifiziertes Fachpersonal für die Betreuungsführung gewinnen. Leidtragende dieser Entwicklung werden insbesondere Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf sein.
- Der Gesetzentwurf gefährdet die Umsetzung der UN BRK
Der vorgelegte Referentenentwurf wird für die Menschen, die auf rechtliche Betreuung angewiesen sind, die Verwirklichung ihrer in der UN-BRK verankerten Rechte in Frage stellen. Die vorstehend prognostizierte Verdichtung der Arbeit für rechtliche Betreuer wird dazu führen, dass Betreute weniger statt wie intendiert mehr Zeit mit ihren Betreuer:innen verbringen können. Diese Unterstützung ist aber die Voraussetzung, um das von der Betreuungsrechtsreform intendierte und der UN-BRK geforderte Mehr an Teilhabe im Rechtsverkehr zu ermöglichen. Ohne Spielraum für die vom Betreuungsrecht gewollte Beratung und Unterstützung ist zu befürchten, dass in der Praxis eher die Vertretung der betreuten Menschen als unterstützte eigenständige Entscheidungen überhand nehmen werden. Damit würde der Entwurf in der Umsetzung statt eines Mehr an Teilhabe einen massiven Rückschritt bei der Rechtsverwirklichung der betreuten Menschen mit sich bringen.
- Die aktuellen Rahmenbedingungen schaffen kein attraktives Arbeitsumfeld für potenzielle Fachkräfte. Die zu knappen bzw. fehlenden Ressourcen verhindern attraktive, bedarfsorientierte Personal- und Teamentwicklung, was eine stabile Bindung zwischen dem Verein und seinen Betreuern erschwert. Hohe fachliche Verantwortung, enorme Arbeitsverdichtung und der damit verbundene steigende Zeitdruck wirken abschreckend. Ohne ausreichend qualifizierte und geeignete Fachkräfte können Betreuungsvereine ihren vielfältigen Aufgaben nicht nachkommen. Der Entwurf verfehlt insoweit vollständig das Ziel, eine angemessene und auskömmliche Vergütung zu begründen und so die Attraktivität der Betreuertätigkeit zu steigern. Auf diese Weise wird er zudem das bereits erkennbaren Problem einer unzureichenden Nachwuchsgewinnung eher verfestigen als ihm entgegenzuwirken. (s. S. 13 Ende zweiter Absatz)
Zudem sind weitere gesetzgeberische Anstrengungen notwendig, um eine zukunftsfähige inklusive Kinder- und Jugendhilfe zu gestalten. Der Prozess ist noch nicht abgeschlossen, und das Gelingen hängt von der Lösung eines zentralen Zielkonflikts ab: Die Weiterentwicklung darf nicht am Status Quo festhalten.
Die BAGFW hat die Möglichkeit genutzt zum Referentenentwurf des Gesetzes zur Inklusiven Kinder- und Jugendhilfe (IKJHG) Stellung zu nehmen. Wir begrüßen, dass das BMFSFJ die Ergebnisse des Beteiligungsprozesses „Gemeinsam zum Ziel“ in den Entwurf integriert hat.
]]>Sie begrüßen die gesetzliche Verankerung erweiterter heilkundlicher Kompetenzen, warnen jedoch davor, dass diese nicht mit den regulären Aufgaben qualifizierter Pflegekräfte vermischt werden sollten.
Zudem äußern sie Besorgnis über die unzureichende nachhaltige Finanzierung der Pflegeversicherung und fordern ein zügiges Handeln in der bevorstehenden Pflegereform, um drohende Insolvenzen zu vermeiden.
]]>Durch die Umsetzung der Vorschläge werden die Leistungsbedingungen für die Freie Wohlfahrtspflege verbessert und das Gemeinwohl gestärkt.
Besonders begrüßen wir folgende Empfehlungen:
3. Zu Art. 1 (Änderung des Einkommensteuergesetzes) Nummer 4.
Wir begrüßen die Empfehlung zur Anhebung der Ehrenamtspauschale und des Übungsleiterfreibetrags auf 1000 bzw. 3500 Euro. Die Anhebung ist angesichts der Inflationsentwicklung der letzten Jahre sachgerecht und ein Beitrag zur Anerkennung des ehrenamtlichen Engagements zur Förderung der Allgemeinheit bzw. zur Unterstützung hilfsbedürftiger Menschen.
12. Zu Art. 9 (Änderung der Abgabenordnung) Nummern 1-5
Wir begrüßen die Empfehlung zur Streichung der zeitnahen Mittelverwendung für Körperschaften mit jährlichen Einnahmen bis zu 80.000 Euro. Damit erfolgt eine Bürokratieentlastung in kleinen gemeinnützigen Körperschaften. Aufgrund der Beibehaltung der bisherigen Regelungen zur zeitnahen Mittelverwendung, zur Rücklagenbildung, zur Begrenzung der Vermögensbildung sowie zu den Anforderungen an die tatsächliche Geschäftsführung für die übrigen gemeinnützigen Körperschaften wird eine erhebliche Rechtsunsicherheit vermieden.
13. Zu Art. 9 (Änderung der Abgabenordnung) Nummer 3 Buchstabe c und Nummer 6
Wir begrüßen die Empfehlung zur Möglichkeit der Verwendung gemeinnützigkeitsrechtlich gebundener Mittel zur Errichtung und für den Betrieb von Fotovoltaikanlagen und anderen Anlagen zur alternativen Energieerzeugung als sinnvollen Beitrag zum Energie- und Umweltschutz in gemeinnützigen Körperschaften.
15. Zu Art. 9 Nummer 15 (weitere Änderung der Abgabenordnung)
Wir begrüßen die Initiative im weiteren Gesetzbebungsverfahren ein abgestuftes Sanktionssystem im Gemeinnützigkeitsrecht einzuführen und die Business Judgement Rule auch in das Gemeinnützigkeitsrecht zu übertragen. Bei einer Umsetzung erfolgt eine Stärkung der Rechtssicherheit für gemeinnützige Organisationen. Den rechtspolitischen Vorschlag der Freien Wohlfahrtspflege zur Business Judgement Rule fügen wir bei.[2]
18. Zum Gesetzentwurf allgemein
Die Freie Wohlfahrtspflege begrüßt die Initiative im weiteren Gesetzgebungsverfahren die Bagatellgrenze für eine Steuerpflicht für wirtschaftliche Geschäftsbetriebe nach § 64 AO auf 55.000 Euro anzuheben sowie die vorgeschlagene Flexibilisierung durch eine Dreijahresbetrachtung als eine Maßnahme zur Bürokratieentlastung.
Zum Gesetzentwurf der Bundesregierung - Steuerfortentwicklungsgesetz
Zu Art. 8 Nummer 2 b) (Änderung der Abgabenordnung)
Wir begrüßen die geplante gesetzliche Klarstellung zur Möglichkeit einer Stellungnahme gemeinnütziger Körperschaften zu tagespolitischen Themen außerhalb der Satzungszwecke. Aufgrund der gesetzlichen Regelung kann sie im Vergleich zur bisherigen Verwaltungsregelung die Rechtssicherheit für die gemeinnützigen Körperschaften der Freien Wohlfahrtspflege erhöhen.
Die sechs Verbände der Freien Wohlfahrtspflege (FW) sind die größten Anbieter gemeinnütziger Sozialdienstleistungen in Deutschland. In den Einrichtungen und Diensten der Wohlfahrtsverbände sind rund 2 Millionen Menschen hauptamtlich beschäftigt; schätzungsweise 3 Millionen leisten ehrenamtlich engagierte Hilfe in Initiativen, Hilfswerken und Selbsthilfegruppen.
[1] https://.bagfw.de/veroeffentlichungen/stellungnahmen/positionen/detail/stellungnahme-der-bagfw-zum-referentenentwurf www -des-2-jahressteuergesetzes-2024-teil-ii
[2] https://www.bagfw.de/themen/gemeinnuetzigkeit-und-steuern/detail/reformdiskussion-zum-gemeinnuetzigkeitsrecht-1
]]>Die BAGFW teilt die positive Bewertung des IAB und BMAS zur Treffsicherheit und Effektivität des Instruments „Teilhabe am Arbeitsmarkt“. Die gewünschten Zielgruppen werden erreicht und die öffentlich geförderte Beschäftigung verbessert zumeist die soziale Teilhabe, das subjektive Wohlbefinden und die Beschäftigungsfähigkeit der Geförderten. Mit dem Lohnkostenzuschuss und der ganzheitlichen beschäftigungsbegleitenden Betreuung existiert nunmehr (wieder) ein sowohl arbeitsmarkt- wie sozialpolitisch wichtiges Instrument für besonders arbeitsmarktferne Personen. Eine Lücke in der Arbeitsförderung ist damit geschlossen. Im Grundsatz hat sich die Förderung somit bewährt, sie sollte weitergeführt und weiterentwickelt werden, um ihre positive Wirkung zu stärken. Zentrale Voraussetzung, damit das Instrument seine positive Wirkung entfalten kann ist eine ausreichende und langfristig verlässliche Finanzierungsgrundlage. Darüber hinaus zeigt die Evaluation strukturelle Verbesserungsbedarfe bei der ganzheitlichen beschäftigungsbegleitenden Betreuung sowie beim Übergangsmanagement vom geförderten Arbeitsverhältnis in eine anschließende Tätigkeit. Arbeitgeber der Freien Wohlfahrtspflege, die Personen nach § 16i SGB II beschäftigen, bestätigen diesen Weiterentwicklungsbedarf.
1. Finanzierung
Die Finanzierung der Förderung „Teilhabe am Arbeitsmarkt“ basiert auf zwei zentralen Quellen: den Zuweisungen durch den Bund im Rahmen des Eingliederungstitels (EGT) sowie auf dem sog. Passiv-Aktiv-Transfer (PAT), mit dem eingesparte Gelder für den Regelbedarf und die Wohnkosten zur Finanzierung des Instrumentes eingesetzt werden können. Das Budget für den Eingliederungstitel (Soll) lag 2020 und 2021 noch bei etwa 5 Mrd. Euro und ist bis 2024 auf 4,15 Mrd. Euro reduziert worden. Wie viel Geld den örtlichen Jobcentern aus dem EGT tatsächlich zur Verfügung steht, hängt davon ab, ob Mittel aus dem EGT für die Deckung der Verwaltungskosten – v.a. Personal und laufende Kosten – umgeschichtet werden (müssen) und in welchem Umfang die Mittel auch eingesetzt werden.
2021 wurden für „Teilhabe am Arbeitsmarkt“ insgesamt 925 Mio. Euro aufgewendet, davon 222 Mio. Euro (24 Prozent) über den PAT. Gefördert wurden damit jahresdurchschnittlich rund 42.700 Personen. Anfang 2023 wurden die Pauschalen, die die eingesparten „passiven” Leistungen abbilden und über den PAT eingesetzt werden können, angehoben. Damit ist der Anteil der Finanzierung über den PAT auf 37 Prozent angestiegen. Nach Angaben des BMAS wurden 2023 hochgerechnet rund 940 Mio. Euro für „Teilhabe am Arbeitsmarkt“ eingesetzt. Davon rund 350 Mio. Euro über den PAT.[1]
Zwei Probleme wirken sich aktuell nachteilig auf die Nutzung der Förderung „Teilhabe am Arbeitsmarkt“ aus. Zunächst gibt es einen Widerspruch zwischen jährlicher Haushaltsaufstellung beim Bund und einer längerfristigen Mittelbindung durch die bis zu 5 Jahre währende Lohnkostenunterstützung durch das Instrument. Jobcenter gehen beim Einsatz der Förderung Verpflichtungen für die Folgejahre ein, ohne dass die Zuweisung entsprechender Mittel gesichert wäre. Die Evaluation des IAB weist darauf hin, dass 80 Prozent der befragten Jobcenter-Geschäftsführungen in der langfristigen Mittelbindung ein Finanzierungsproblem sehen. Sie befürchten, dass der § 16i SGB II in Zukunft einen zu großen Teil der Eingliederungsleistungen in Anspruch nimmt. Weniger als die Hälfte der Jobcenter-Geschäftsführungen hat Vertrauen, dass die erforderlichen Mittel in ausreichendem Maße zur Verfügung gestellt werden (dieser Aussage stimmen lediglich je 22 Prozent der Geschäftsführungen „voll und ganz“ oder „eher“ zu).[2] Diese Aussagen stammen aus dem Jahr 2022 und reflektieren damit noch nicht die aktuell drohenden Kürzungen im Bereich der Arbeitsförderung.
Zudem drohen massive Mittelkürzungen durch die aktuellen Haushaltsplanungen mit Blick auf das SGB II. Für das Jahr 2024 sind massive Unterdeckungen erst durch den Haushaltsausschuss im Deutschen Bundestag verhindert worden, der 1,35 Mrd. Euro an Haushaltsresten zu Lasten aller Einzelpläne einmalig für 2024 für die Verwaltung zur Verfügung gestellt hat. Den Jobcentern standen damit in der Summe die Mittel zur Verfügung, die im Vorjahr als Ist-Ausgaben benötigt wurden. Anderenfalls hätten im laufenden Haushaltsjahr in einem erheblichen Umfang Mittel aus dem EGT zur Finanzierung des Personals und der laufenden Kosten umgeschichtet werden müssen.
Für das Haushaltsjahr 2025 sind laut Kabinettsbeschluss 350 Mio. Euro Ausgabereste im EGT angesetzt. Die Bundesagentur für Arbeit und die kommunalen Spitzenverbände befürchten daher für 2025 notwendige Umschichtungen in der Größenordnung von einer Milliarde Euro zulasten der Arbeitsförderung. Die Träger der Grundsicherung hatten im Vorfeld der Haushaltsaufstellung verlautbart, dass bei einem Fünftel der Jobcenter keine Mittel mehr für neue Maßnahmen der Arbeitsförderung verblieben, wenn die bereits eingegangenen Verpflichtungen berücksichtigt wurden..[3]
Zudem ist der Eingliederungstitel um 450 Mio. Euro auf 3,7 Mrd. Euro gekürzt worden. Diese Kürzung soll durch die Verlagerung der Förderung der beruflichen Weiterbildung (FbW) und Reha auf die Arbeitsagenturen kompensiert werden. In der Summe wird das zur Verfügung stehende Budget für die Verwaltung der Jobcenter und Förderung im SGB II deutlich reduziert. Es ist zu befürchten, dass unter den Kürzungen insbesondere die Instrumente leiden werden, die als vergleichsweise teuer gelten. Das gilt etwa bei oberflächlicher Betrachtung für die Teilhabe am Arbeitsmarkt, § 16i SGB II. Jobcenter werden unter restriktiven Haushaltsvorgaben insbesondere bei der Teilhabe am Arbeitsmarkt „sparen“ wollen. Das Instrument wird durch die reduzierte Finanzausstattung massiv begrenzt. Bestehende Verpflichtungen werden zwar weitergeführt. Neue Maßnahmen werden aber kaum mehr bewilligt.
Die Jobcenter reagieren bereits jetzt mit Kürzungen bei der Förderung von „Teilhabe am Arbeitsmarkt“. Laut BA-Statistik ging der Bestand bereits erheblich zurück – von einem Höchststand von 43.000 Teilnehmenden Ende 2021 auf aktuell 31.110 (Mai 2024). Die Neueintritte haben sich im ersten Quartal 2024 gegenüber dem Vorjahr auf etwa 400 pro Monat halbiert – bundesweit. Klar ist, dass dieser Rückgang nicht an einer Unzulänglichkeit des Instrumentes liegt, sondern allein an der unzureichenden Mittelausstattung der Jobcenter durch den Bund und den beschriebenen Unsicherheiten.
Forderungen der BAGFW:
- Die Jobcenter müssen für ihre Aufgaben mit ausreichenden Mitteln ausgestattet werden. Dies gilt gleichermaßen für das Verwaltungsbudget wie für den Eingliederungstitel. Umschichtungen aus dem Eingliederungstitel ins Verwaltungsbudget müssen vermieden werden.
- Damit die Jobcenter eine größere Planungssicherheit bekommen, empfiehlt es sich, für das Instrument „Teilhabe am Arbeitsmarkt“ einen eigenen Titel im Einzelplan einzuführen. Die Mittelausstattung muss zudem für mehrere Jahre verlässlich ausgewiesen werden und mit dem Eingliederungstitel einseitig deckungsfähig sein, damit bei Bedarf weitere Förderungen nach § 16i SGB II bewilligt werden können. Dies entspricht laut IAB-Evaluation auch dem Wunsch der Geschäftsführungen der Jobcenter.[4] Die Höhe des Ansatzes muss so ausfallen, dass sie der Größe der Zielgruppe gerecht wird. Die Mittelverteilung auf die einzelnen Jobcenter sollte sich an einem eigenständigen Indikator für den einschlägigen Problemdruck vor Ort orientieren. So soll sichergestellt werden, dass die finanziellen Mittel dort konzentriert eingesetzt werden, wo die größten Bedarfe bestehen.
- Die Potenziale des Passiv-Aktiv-Transfers (PAT) sind weiter zu nutzen und auszubauen. Bislang ist der PAT durch einen Haushaltsvermerk institutionell nur schwach verankert. Die Nutzung des PAT ist den örtlichen Jobcentern überlassen. Sie sollte verbindlich ausgestaltet werden. Dafür könnte der PAT im SGB II verankert und eine Nutzung allgemein verbindlich gemacht werden. Zudem sollten die PAT-Pauschalen jährlich dynamisiert, zumindest jedoch überprüft und angepasst werden.
- Durch die Schaffung von öffentlich geförderter sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung sinkt in vielen Fällen auch der Anteil, den die Kommunen für die Finanzierung der Unterkunftskosten aufwenden müssen. Das Grundprinzip des PAT ist daher auch auf kommunaler Ebene umsetzbar. Die Potenziale eines kommunalen PAT – Umwidmung eingesparter Unterkunftskosten für die Arbeitsförderung – sollten genutzt werden.
2. Coaching
Ein zentrales Element der nach § 16i SGB II geförderten Arbeitsverhältnisse ist die kontinuierliche ganzheitliche Betreuung, die aktuell durch externe Coaches oder Jobcenter-Personal umgesetzt wird. Mehr als die Hälfte der Geförderten wurde im Rahmen des Coachings bei Problemen im Betrieb (59,6 Prozent) und beim Umgang mit Behörden unterstützt (58,9 Prozent). Bei rund 52 Prozent der Geförderten unterstützte der Coach bei gesundheitlichen Fragen. Die wissenschaftlichen Befunde des IAB bestätigen die große Bedeutung einer kontinuierlichen Betreuung von Geförderten; gleichzeitig werden aber auch Mängel in der praktischen Umsetzung benannt: In vielen Fällen werden teils eklatante Unterstützungsbedarfe nicht erkannt und können deshalb nicht bearbeitet werden. Als wesentliche Ursache hierfür nennt das IAB die fehlende Diagnostik und mangelndes Fallverstehen seitens der Coaches. Unerkannte und schwelende Problemlagen konstituieren jedoch eines der zentralen Risiken für die Stabilität der geförderten Beschäftigungsverhältnisse.[5]
Auch die Bereitstellung des Coachings muss noch verbessert werden. Eine nicht zu vernachlässigende Gruppe der Geförderten hat auch ca. zwei Jahre nach Förderbeginn kein Coaching erhalten, bei rund einem Fünftel der Geförderten endete das Coaching nach dem ersten Jahr. Es scheint, dass das Coaching durch Jobcenter beendet wird, um das Eingliederungsbudget zu schonen und dass es weniger am individuellen Förderbedarf der 16i-Beschäftigten orientiert ist. Nur rund 70 Prozent hatten nach eigenen Angaben ein „dauerhaftes Coaching“. Ungünstig ist es, wenn das Coaching erst deutlich nach Förderbeginn einsetzt, denn dann ist ein erheblicher Umfang an nicht realisiertem Betreuungsbedarf zu beobachten, so die Evaluation.
Die Befunde des IAB zeigen, dass die personelle Kontinuität beim Coaching eine zentrale Rolle für das Vertrauensverhältnis und damit auch für die Förderwirkungen einnimmt. So stimmte die überwiegende Mehrheit der geförderten Personen zu, dass sie dem Coach vertrauten. Befragte Geförderte mit einem Coachwechsel stimmten dieser Aussage jedoch signifikant seltener zu.[6]
Gleiches gilt für „den Zugang zum Betrieb und Einblick in das für den Geförderten relevante betriebliche Geschehen und die Arbeitsprozesse“. Das IAB betont, dass die ganzheitliche beschäftigungsbegleitende Betreuung von Beginn an den Prozess der betrieblichen Integration begleiten muss und es dafür des Einblicks sowohl in die inhaltliche Seite der Arbeit und die Leistungsanforderungen an die Geförderten als auch eines Verständnisses von der sozialen Beschaffenheit der betrieblichen Gemeinschaft mit Blick auf Kolleg*innen und Vorgesetzte der Geförderten bedarf. Nur auf diese Weise kann dafür gesorgt werden, dass die Geförderten auch entsprechend ihres Status als Geförderte im Betrieb eingesetzt werden. Es liegt also in der Verantwortung des Coaches, sich diese Betriebsnähe zu „erarbeiten”.[7]
Die BAGFW fordert:
- Zur Sicherstellung der Qualität des Coachings sollte der Coach das Helfen professionell gelernt haben, d.h. über eine Berufsausbildung oder ein Studium mit sozialpädagogischem, sozialarbeiterischem oder sozialtherapeutischem Schwerpunkt oder eine Ausbildung im systemischen Coaching verfügen. Außerdem sollte fundierte Berufserfahrung in der Arbeit mit der Zielgruppe vorliegen sowie Kenntnisse des lokalen Hilfesystems. Mit Blick auf den Übergang in ungeförderte Beschäftigung ist eine gute Kenntnis des regionalen Arbeitsmarktes notwendig.
- Neben der formalen Qualifikation sind auch die Rahmenbedingungen von entscheidender Bedeutung. Eine fachlich adäquate Betreuung setzt einen dazu passenden Betreuungsschlüssel voraus. Zu den fachlichen Standards eines qualitativ hochwertigen Coachings gehört auch der Austausch mit anderen Coaches, ebenso die Möglichkeit einer Supervision. Ein Coach sollte gut in ein entsprechendes kollegiales Setting eingebunden sein, das gleichzeitig als Kontrollmechanismus fungiert. Hierfür muss ausreichend Zeit zur Verfügung stehen und die Fallrelation muss dies berücksichtigen. Die vom IAB vorgeschlagene Fallrelation von 1:45 kann aus Sicht der BAGFW nur eine absolute Obergrenze darstellen. Sie müsste deutlich niedriger sein, wenn man die vorliegenden Vorschläge nicht zuletzt zum Übergangsmanagement ernst nimmt.
- Coaches sind professionell Helfende, die angesichts der oft komplexen Problemlagen der Zielgruppe des § 16i über eine hohe Qualifikation verfügen müssen. Dieses Personal wird in der Regel tariflich entlohnt. Bei lang beschäftigtem Personal fallen entsprechend höhere Personalkosten an. Diese Kosten sind angemessen, um das Personal zu halten und die Qualität des Coachings zu garantieren. Das muss auch bei öffentlichen Ausschreibungen anerkannt werden und darf sich nicht nachteilig auswirken.
- Bisher ermöglicht das Gesetz zweierlei Arten der Umsetzung des Coachings: Durch das Jobcenter und seine Beschäftigten selbst oder durch Vergabe an Dritte. Laut IAB-Evaluation wurden insgesamt etwa 60 Prozent der Geförderten bei Coachingbeginn durch externe Coaches und 40 Prozent durch Jobcenter-Coaches betreut.[8] Dabei ist zu beachten, dass die Inhouse-Maßnahme qua Gesetz keinesfalls als Regelmodell der Leistungserbringung vorgesehen ist, sondern nur als Sonderfall, der unter bestimmten Bedingungen eintreten kann. Dem sozialstaatlich verankerten Subsidiaritätsgrundsatz folgend (§ 17 SGB II), gilt ein Vorrang von sogenannten Dritten, insbesondere der Freien Wohlfahrtspflege, bei der Leistungserbringung und ein Zurückhaltungsgebot auf Seiten der Agentur für Arbeit bzw. des kommunalen Trägers, der an die Stelle der Arbeitsagentur tritt.
- Es muss grundsätzlich die Möglichkeit eröffnet werden, das Coaching beim Arbeitgeber anzusiedeln, sofern er über qualifiziertes Personal verfügt. Auf diese Weise ist der unmittelbare institutionelle Zugang des Coachs zum Betrieb sichergestellt. Der Coach erlebt die geförderte beschäftigte Person direkt im betrieblichen Kontext, erkennt Konflikte und Probleme in eigener Wahrnehmung und zeitnah, statt nur aus zweiter Hand. Voraussetzung muss sein, dass die betriebliche Funktion des/der Vorgesetzten bzw. des Anleiters/der Anleiterin personell und organisational getrennt ist von der Funktion des Coaches. Es liegt sowohl im Interesse der Arbeitgeber als auch der Geförderten, dass Probleme ganzheitlich bearbeitet und damit die Leistungsfähigkeit erhöht wird. Die Erfahrung mit ögB NRW zeigt, dass Anleiter*innen/Vorgesetzte offener sind für Kritik, wenn diese von einem betriebsinternen Coach kommt, im Vergleich zu einem Externen Coach.[9] Neben dieser personellen Trennung müssen weitere Bedingungen erfüllt sein, die eine Unabhängigkeit des Coaches garantieren, z.B. muss Verschwiegenheit anerkannt und gelebt werden. Diese berufsethischen Standards müssen in einem Konzept festgehalten werden.
- Das Coaching muss von Anfang an mit einem Vermittlungsauftrag versehen sein, siehe „Übergangsmanagement“.
3. Übergangsmanagement
Dem Übergangsmanagement wird in der bisherigen Umsetzung des Instruments „Teilhabe am Arbeitsmarkt“ zu wenig Beachtung geschenkt, u.a. weil Rollen, Aufgaben und Erwartungen der beteiligten Akteure unklar sind. Dadurch werden Chancen für eine nachhaltige berufliche Perspektive für die Geförderten vergeben.
Das Übergangsmanagement sollte systematisch von Beginn an mitgedacht und bearbeitet werden. Das beinhaltet zunächst die Klärung, welches Ziel die Integrationsfachkraft im Jobcenter, der § 16i-Beschäftigte und der Arbeitgeber mit der Beschäftigung verfolgen. Steht die soziale Teilhabe oder die nachhaltige Integration in Arbeit im Vordergrund, gibt es grundsätzlich eine Chance auf Übernahme in den Betrieb? Die Ziele und Erwartungen können sich während der Förderung verändern und sind in einem gemeinsamen Verständigungsprozess an die Entwicklung der geförderten Person anzupassen.
Entscheidend ist der Einsatz der Geförderten nach ihren Fähigkeiten und Entwicklungspotenzialen. Dies muss durch die Coaches und die Integrationsfachkräfte sichergestellt werden. Die Nähe des Coaches zum Betrieb ist an dieser Stelle von großer Bedeutung sowie regelmäßige Gespräche zwischen Coach, Betrieb, Integrationsfachkraft und geförderter Person.
Qualifizierungen und Praktika sind wichtige Bestandteile für die Erarbeitung einer Anschlussperspektive, ob beim selben Arbeitgeber oder bei einem anderen. Es reicht aber nicht, wenn der Coach über das Qualifizierungsbudget informiert. Die fachlich sowie didaktisch passende Qualifizierung muss herausgesucht und der/die Geförderte gezielt darauf vorbereitet werden. Dies muss in enger Absprache mit dem Arbeitgeber gestaltet werden.[10] Häufig wird eine Qualifizierung während der § 16i-Förderung nur im Zusammenhang mit der aktuellen Beschäftigung gesehen, was die Möglichkeiten für den Übergang in ungeförderte Beschäftigung erschwert. Qualifizierungsbedarfe und konkrete Optionen sind sehr individuell, was dazu führt, dass das Budget manchmal gar nicht genutzt wird/werden kann und in anderen Fällen nicht ausreicht.
Praktika bieten den geförderten Beschäftigten die Möglichkeit, sich unkompliziert und ohne Risiko in anderen Betrieben zu erproben. Das ist insbesondere für Geförderte relevant, die keine Übernahmechancen im eigenen Betrieb haben oder selbst einen Wechsel wünschen. In der Praxis wird von dieser Möglichkeit kaum bzw. gar kein Gebrauch gemacht, „selbst wenn es von der Konzeption her ein sinnvolles Instrument zur Anbahnung von Brückeneffekten ist”, so der Abschlussbericht.[11] Ein Grund könnte die fehlende Klarheit sein, wer für die Initiierung, Vorbereitung und Begleitung der Geförderten dabei zuständig ist.
Die BAGFW fordert:
- Das Förderziel sowie die gegenseitigen Erwartungen und Verantwortlichkeiten zwischen allen beteiligten Akteuren sind von Beginn an zu klären und bei Bedarf im Verlaufe der Förderung anzupassen. Der Coach hat dabei eine Schlüsselrolle, weil er diesen Prozess moderiert und zusammenführt.
- Coach, Betrieb, Integrationsfachkraft und Geförderte*r sollten regelmäßig gemeinsame Gespräche führen, um sicherzustellen, dass die Geförderten gemäß ihren Fähigkeiten und Wünschen eingesetzt werden und ihre Entwicklungsmöglichkeiten realistisch beurteilt werden können.
- Die Verantwortung für die Nutzung des Qualifizierungsbudgets sollte beim Coach liegen und der Prozess in enger Absprache mit dem Arbeitgeber und dem Jobcenter gestaltet werden.
- Es muss klargestellt werden, dass auch solche Qualifizierungen gefördert werden, die nicht unmittelbar für die aktuelle Beschäftigung relevant sind, aber die Chancen auf einen Übergang in ungeförderte Beschäftigung steigern.
- Durch eine flexibilisierte Anwendung des Qualifizierungsbudgets sollte es ermöglicht werden, in begründeten Fällen höhere Kosten übernehmen zu können.
- In Fällen, in denen ein Praktikum in Betracht kommt, trägt der Coach die Verantwortung dafür, die Geförderten bei der Suche nach einer geeigneten Stelle und bei der Kontaktaufnahme zu begleiten und auf das Praktikum vorzubereiten.
[1] BMAS (2024): Bericht des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales zur Umsetzung des Teilhabechancengesetzes auf Grundlage des Abschlussberichts zur Evaluation durch das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit, S. 20.
[2] Achatz, Juliane, Frank Bauer, Jenny Bennett, Nadja Bömmel, Mustafa Coban, Martin Dietz, Kathrin Englert, Philipp Fuchs, Jan F. C. Gellermann, Claudia Globisch, Sebastian Hülle, Zein Kasrin, Peter Kupka, Anton Nivorozhkin, Christopher Osiander, Laura Pohlan, Markus Promberger, Miriam Raab, Philipp Ramos Lobato, Brigitte Schels, Maximilian Schiele, Mark Trappmann, Stefan Tübbicke, Claudia Wenzig, Joachim Wolff, Stefan Zins & Cordula Zabel (2024): Evaluation des Teilhabechancengesetzes - Abschlussbericht. (IAB-Forschungsbericht 04/2024), Nürnberg, S. 25.
[3] Pressemitteilung von BA, Städtetag und Landkreistag vom 25.06.2024
[4] Achatz/ Bauer/ Bennet et al. (2024), S. 24.
[5] Ebd. S. 124, 129, 254.
[6] Ebd. S. 126, 130-136.
[7] Ebd. S. 112, 255.
[8] Ebd., S. 133.
[9] Bauer, Frank/ Bendzulla, Christoph/ Fertig, Michael/ Fuchs, Phillip (2016): Ergebnisse der Evaluation der Modellprojekte öffentlich geförderte Beschäftigung in Nordrhein-Westfalen, IAB-Forschungsbericht 7/2016.
[10] Achatz/ Bauer/ Bennet et al. (2024), S. 113.
[11] Ebd., S. 123
]]>Artikel 8 „Änderung der Abgabenordnung“
Zu 2. b)
Wir begrüßen die geplante gesetzliche Klarstellung zur Möglichkeit einer Stellungnahme gemeinnütziger Körperschaften zu tagespolitischen Themen außerhalb der Satzungszwecke. Aufgrund der gesetzlichen Regelung kann sie im Vergleich zur bisherigen Verwaltungsregelung die Rechtssicherheit für die gemeinnützigen Körperschaften der Freien Wohlfahrtspflege erhöhen.
Artikel 9 „Weitere Änderung der Abgabenordnung“
Zu 2.
Die vorgesehene Aufhebung von § 55 Abs. 1 Nummer 5 AO, Grundsatz der zeitnahen Mittelverwendung, eröffnet einerseits den gemeinnützigen Körperschaften neue Entscheidungsmöglichkeiten und stellt durch den Wegfall des Mittelverwendungsnachweises einen Beitrag zum Bürokratieabbau in den Einrichtungen und Diensten der Freien Wohlfahrtspflege dar. Dieser Bürokratieabbau wird durch die Freie Wohlfahrtspflege begrüßt. Gleichwohl ist die Abschaffung genauer zu betrachten, da es in diesem Bereich bislang kaum Problemanzeigen gegeben hat.
Außerdem begrüßen wir die in der Gesetzesbegründung enthaltene Erleichterung der Leistungsbeziehungen zwischen/ innerhalb von gemeinnützigen Körperschaften bei einer gemeinnützigkeitsrechtlichen Nutzungsänderung von Vermögenswerten, einem sogenannten Sphärenwechsel, zum Beispiel durch Übertragung eines Vermögenswertes aus dem ideellen Bereich in die Vermögensverwaltung, durch Wegfall des Wiederauflebens der Pflicht zur zeitnahen Mittelverwendung in Höhe des Verkehrswertes des Vermögenswertes, sofern dieser ursprünglich aus gebundenen Mitteln finanziert wurde.
Die Notwendigkeit gemeinnützigkeitsrechtlich gebundene Mittel zeitnah zu verwenden, soll auch nach einer Aufhebung von § 55 Abs. 1 Nummer 5 AO bestehen bleiben, richtet sich aber nunmehr nach allgemeinen gemeinnützigkeitsrechtlichen Regelungen. Infolge der Aufhebung entfallen auch die bislang bestehenden Regelungen zur Bildung von Rücklagen und zur Vermögensbildung (§ 62 AO). Die Zulässigkeit der Bildung von Rücklagen sowie die eigene Vermögensbildung, wird künftig durch die gesetzlichen Regelungen der Abgabenordnung zur Selbstlosigkeit, Ausschließlichkeit und Unmittelbarkeit begrenzt werden, erfolgt vermutlich dann aber analog einem gewerblichen Unternehmen. Diese Umstellung auf allgemeine handelsrechtliche Regeln unter gleichzeitiger Beschränkung durch gemeinnützigkeitsrechtliche Vorschriften bedeutet für ca. 125.000 gemeinnützige Körperschaften der Freien Wohlfahrtspflege aber eine erhebliche Rechtsunsicherheit.
Es besteht eine Vielzahl von offenen Fragen in diesem Zusammenhang, wie:
- Wieviel darf eine gemeinnützige Organisation an Geld zurückhalten, wieviel muss bis wann ausgegeben werden?
- Welchen Zeitraum darf ein Spender erwarten, in dem Spenden dem Zweck zuzuführen sind?
- Ab wann würde eine gemeinnützige Organisation zu einer sog. Kapitalsammelstelle?
Hinzu kommt, dass laut Gesetzesbegründung die gesetzliche Pflicht zur zeitnahen Mittelverwendung in eine Eigenverpflichtung der steuerbegünstigten Körperschaft zu einer zeitnahen Mittelverwendung gewandelt wird. Eine Streichung der gesetzlichen zeitnahen Mittelverwendungspflicht kann und darf nicht dadurch begründet werden, dass sich die steuerbegünstigten Körperschaften im eigenen Interesse an eine zeitnahe Mittelverwendungspflicht im bisherigen gesetzlichen Zuschnitt halten.
Und selbst, wenn man unterstellt, dass es im eigenen Interesse der jeweiligen steuerbegünstigten Körperschaften liegt, ihre Mittel weiterhin regelmäßig zeitnah für steuerbegünstigte Zwecke zu verwenden, kann dieser intendierte Wunsch bei Spenden in Katastrophenfällen oft nicht erfüllt werden. Denn § 53 AO knüpft immer an die Hilfsbedürftigkeit an, die seitens der Finanzverwaltung in Frage gestellt wird, wenn vorrangig private Versicherungsansprüche oder Ansprüche auf staatliche Hilfe für Schäden in Katastrophenfällen bestehen. So kann beispielsweise eine Spendenverteilung zur Beseitigung der Folgen von Naturkatastrophen erst erfolgen, wenn andere vorrangige Ansprüche geprüft sind und erst bei ihrem Fehlen eine Hilfsbedürftigkeit zweifelsfrei feststeht. Eine solche Feststellung kann Jahre dauern und widerspricht dem mutmaßlichen Spenderwillen. Die Spender wollen Menschen in Not unverzüglich und unbürokratisch helfen. Die bestehende Rechtsunsicherheit wird durch die vorliegende Änderung der Abgabenordnung und die Abschaffung der zeitnahen Mittelverwendung nicht beseitigt. Der Gesetzgeber sollte daher den Rahmen für eine steuerbegünstigte Hilfe für Katastrophenopfer möglichst bald durch die Einfügung eines eigenen Tatbestands in § 53 AO und eine Ergänzung des Zweckkatalogs in § 52 Abs. 2 AO verbessern. Wir verweisen auf den entsprechenden rechtspolitischen Vorschlag der BAGFW[1].
Konkretere Auswirkungen sind aufgrund der Kürze der Stellungnahmefrist nicht vollständig zu übersehen. Wir regen daher an, die Auswirkungen gemeinsam mit Vertretern der Praxis, der Wissenschaft und den Verbänden breit zu diskutieren, um im Ergebnis einen etwaigen weitergehenden Regelungsbedarf zu erkennen.
Wir stellen fest, dass für die Erfüllung unserer sozialen Aufgaben, die Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit sowie zur Vorsorge für unternehmerische Risiken unserer gemeinnützigen Einrichtungen und Dienste auch eine Bildung von Rücklagen und in beschränktem Umfang, eine Zuführung zu eigenen Vermögenswerten notwendig ist. Hierfür kann aber insbesondere das Bestehen einer gesetzlichen Mittelverwendungspflicht von Vorteil sein.
Außerdem weisen wir auf den Widerspruch des Referentenentwurfs zum Jahressteuergesetz Teil II, nachdem § 62 AO komplett entfällt, zu der im Regierungsentwurf zum Jahressteuergesetz Teil I geplanten Neuformulierung von § 62 Abs. 1 AO hin, bei dem die Einführung einer sog. „ex ante“ Perspektive geplant war.
Darüber hinaus bedauern wir, dass auch im Jahressteuergesetz 2024, Teil II, die rechtspolitischen Vorschläge der Freien Wohlfahrtspflege zur Modernisierung des Gemeinnützigkeitsrechts nicht aufgegriffen wurden1.
Berlin, 17.07.2024
Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege e. V.
Evelin Schulz
Geschäftsführerin
Kontakt:
Frank Hofmann (frank.hofmann(at)diakonie.de)
[1] Rechtspolitische Vorschläge der Verbände der Freien Wohlfahrtspflege zur Verbesserung der Rahmenbedingungen gemeinnütziger Körperschaften
]]>Die in der BAGFW zusammengeschlossenen Verbände bedanken sich für die Einladung zur Stellungnahme und nehmen gerne die Gelegenheit wahr, ihre Positionen zu einzelnen Regelungsinhalten des oben genannten Referentenentwurfs in das Beteiligungsverfahren einzubringen. Gleichwohl erweckt die überaus kurze Rückmeldefrist und das insgesamt eilige Verfahren den Eindruck, dass tiefergehende inhaltliche Einlassungen zum jetzigen Zeitpunkt nicht mehr erwünscht sind. Der gesamte Prozess hätte aus Sicht der BAGFW von Beginn an, auch mit Blick auf die Bedeutung und Notwendigkeit des Vorhabens, wesentlich mehr Einbindung der Wohlfahrtsverbände und der Länder sowie mehr Transparenz in alle Richtungen erfordert.
Die epidemiologischen Erkenntnisse in Deutschland zeigen, dass die Bevölkerung im Durchschnitt zwar immer länger und gesünder lebt, diese Entwicklung jedoch nicht allen Menschen gleichermaßen zugutekommt; sozioökonomisch benachteiligte und gesellschaftlich marginalisierte Menschen sterben im Durchschnitt deutlich früher, sind während ihres Lebens häufiger und insgesamt länger krank und haben weniger Zugänge zu relevanten Informationen, die ihre gesundheitliche Selbstbestimmung stärken. Dabei zeigen sich insbesondere bei nicht-übertragbaren, chronisch-degenerativen Erkrankungen (z.B. Krebs, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Atemwegserkrankungen, Diabetes, Erkrankungen des Bewegungsapparates) sowie bei psychischen Erkrankungen (wie z.B. Depressionen, Angststörungen und Suchterkrankungen) deutliche soziale Unterschiede. Die dahinterstehenden Risikofaktoren wirken meist indikationsübergreifend und manifestieren sich i.d.R. bereits im Kindes- und Jugendalter (wie z.B. Bewegungsmangel, ungesunde und unausgewogene Ernährung, psychischer Stress, starker Medienkonsum, Sucht, Teenagerschwangerschaften und Barrieren im Zugang zu Bildung, Freizeit und Kultur).
Gleichzeitig führen die institutionellen und strukturellen Rahmenbedingungen in Deutschland dazu, dass diese Schieflage unausgeglichen bestehen bleibt: Präventionsangebote orientieren sich nach wie vor stark am Verhalten Einzelner ohne Inbezugnahme von Kontextfaktoren und erreichen damit überwiegend Personengruppen der Mittelschichten, die insgesamt ein eher moderates Risikoprofil aufweisen. Insofern müssen in Deutschland dringend die institutionellen Voraussetzungen für eine zusammenhängende und flächendeckende Infrastruktur zur Prävention und Gesundheitsförderung geschaffen werden. Hierfür bedarf es aufeinander abgestimmte Institutionen mit klar definierten Aufgaben, Verantwortlichkeiten und Kooperationen.
A. Einleitung und Zusammenfassung
Das im Koalitionsvertrag avisierte “Bundesinstitut für öffentliche Gesundheit”, in dem die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) aufgehen soll, soll in diesem Prozess eine Schlüsselfunktion einnehmen und die „Aktivitäten im Public-Health Bereich, die Vernetzung des ÖGD und die Gesundheitskommunikation des Bundes“ bündeln. Damit wurde der von der BAGFW identifizierte hohe Bedarf insbesondere in den Bereichen (1) Prävention und Gesundheitsförderung sowie Gesundheitskompetenz zur Verminderung sozial bedingter Ungleichheit von Gesundheitschancen, (2) zielgruppenspezifische Risikokommunikation und (3) Vernetzung der Aktivitäten der Public Health-Community grundsätzlich anerkannt und – wie es schien – aufgegriffen. Vor diesem Hintergrund sollte und muss ein solches Institut insbesondere den Diskurs über bestehende Fach- und Sektorengrenzen hinweg fördern, proaktiv gestalten und dem Anspruch eines Health in All Policies-Ansatzes folgend steuern und moderieren.
Umso enttäuschter fielen bereits die ersten Rückmeldungen aus der Fachwelt aus, als ein noch nicht abgestimmter Arbeitsentwurf zur Errichtung eines “Bundesinstituts für Prävention und Aufklärung in der Medizin” (BIPAM) im Herbst letzten Jahres an die Öffentlichkeit gelangte[1]. Im nun vorliegenden und in Teilen überarbeiteten Referentenentwurf bleiben wesentliche Kritikpunkte nach wie vor unberücksichtigt, die meisten davon sind von grundsätzlicher, inhaltlich-strategischer Natur. Ihnen kann aus Sicht der BAGFW nur durch eine gründliche Überarbeitung Rechnung getragen werden. Dies muss dringend noch vor einer Kabinettsbefassung erfolgen. Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) sowie die Länder sind dabei intensiv einzubinden.
B. Besonderer Teil – Stellungnahme zu ausgewählten Regelungen
Zu Artikel 1 - Gesetz zur Errichtung eines Bundesinstituts für Prävention und Aufklärung in der Medizin (BIPAM-ErrichtungsG)
§ 1 Absätze 1 - Namensgebung und 2 - Zwecksetzung:
Der Name des Instituts („Prävention und Aufklärung in der Medizin“) ist aus Sicht der BAGFW aus der Zeit gefallen und zementiert ein veraltetes (Selbst-)Verständnis von Öffentlicher Gesundheit. Prävention beruht zwar auch auf medizinischem Fachwissen, lebt aber letztendlich, und das untermauern alle verfügbaren Erkenntnisse aus der Sozialepidemiologie und Interventionsforschung, v.a. in der Umsetzung von sozialwissenschaftlichen Konzepten insbesondere der nicht-medizinischen, auf Gesundheitsförderung fokussierten Lebensweltprävention. Dies auch deshalb, da gesundheitliche Risiken oftmals nicht im unmittelbaren Einflussbereich der medizinischen Versorgung liegen, sondern vielmehr in den Umwelt-, Lebens- und Arbeitsbedingungen und den damit wechselseitig in Beziehung stehenden Handlungsräumen und Lebensstilen von Menschen. Die Aufgaben des Instituts müssen sich daher auch in der Namensgebung wiederfinden. Eine zu medizinische Ausrichtung des entstehenden Instituts birgt darüber hinaus auch für die (Förder-)Praxis im Bereich der Gesundheitsförderung und Prävention die Gefahr, dass ein dominanter Fokus auf bio-medizinische Parameter die Deutungshoheit über die Umsetzung und Evaluation gesundheitlicher Interventionen erlangt und damit die mühsam aufgebauten, überwiegend zivilgesellschaftlichen Strukturen der soziallagenbezogenen Prävention sowie die zahlreichen psychosozialen Angebote der Gesundheitsaufklärung und Information verdrängt. Diese Kritik betrifft nicht zuletzt auch die Aufgaben zur Aufklärung und Familienplanung, die der BZgA durch das Schwangerschaftskonfliktgesetz (SchKG) übertragen sind (s.u. Teil C).
§ 2 Absatz 3 - Aufgaben:
Viele der hier aufgeführten Aufgaben weisen aus Sicht der BAGFW in die richtige Richtung, insbesondere in den Bereichen evidenzbasierte und zielgruppenspezifische Gesundheitskommunikation und Stärkung von Gesundheitsförderung und Gesundheitskompetenz. Genauer zu definieren ist jedoch, welche “weiteren Aufgaben”, für die es bislang keine andere gesetzlich festgelegte Zuständigkeit gibt, dem Bundesinstitut künftig zu übertragen wären.
§ 4 Absatz 2 - Gesundheitsberichterstattung (GBE):
Wissenschaftliche Datenerhebung und Gesundheitsberichterstattung gehen einher mit politisch unabhängiger Public Health-Forschung. Diese Aufgaben werden bereits seit Jahrzehnten und auf höchstem Niveau durch das Robert Koch-Institut (RKI) wahrgenommen. Die nun vorgesehene Kompetenzverlagerung im Bereich des Monitorings und Reportings vom RKI an das avisierte Bundesinstitut entzieht der GBE jegliche fachliche Basis. Insofern muss die GBE aus Sicht der BAGFW unbedingt auch künftig beim RKI angesiedelt bleiben.
Zu Artikel 2 - Änderung des Gesetzes über Nachfolgeeinrichtungen des Bundesgesundheitsamtes
§ 2 Absatz 3 Nr. 1 und 2 - Kompetenzaufteilung RKI/ BIPAM
Der Mehrwert der avisierten Aufteilung der Public Health-Kompetenzen auf zwei Institute (RKI überwiegend für Infektionskrankheiten, BIPAM für nicht-übertragbare Krankheiten) ist nicht nur international ohne Vorbild, sondern auch fachlich nicht zu begründen und provoziert Doppelstrukturen, Reibungsverluste und mühsam-künstliche Abgrenzungsversuche und Zuständigkeitsdebatten. Die im Referentenentwurf gemachte Ankündigung, “die Zuständigkeit für nicht-übertragbare Krankheiten, die in Zusammenhang mit übertragbaren Krankheiten stehen”, werde beim RKI verbleiben, zeigt dies bereits deutlich. Zudem überschneiden sich die Entstehungsbedingungen übertragbarer und nicht-übertragbarer Erkrankungen maßgeblich und der soziale Gradient in Morbidität und Mortalität zeigt sich sowohl bei übertragbaren als auch bei nicht-übertragbaren Erkrankungen. Insofern sollte man die in Deutschland bewährte Arbeitsteilung zwischen Ursachenforschung und Sozialepidemiologie (RKI) einerseits und Interventions- und Anwendungsforschung sowie Gesundheitskommunikation und Aufklärung (bislang BZgA, weiterzuführen und auszubauen im künftigen Bundesinstitut) andererseits aus Sicht der BAGFW dringend beibehalten. Die zielgruppenspezifische Gesundheitskommunikation setzt Kompetenzen und Netzwerkarbeit weit über den medizinischen Bereich hinaus voraus und kann nur gelingen, wenn diese nicht durch eine Engführung auf epidemiologische und medizinische Fragen überformt wird.
Mit Blick auf die strategisch-inhaltliche Ausrichtung des Bundesinstituts sollte zudem der Fokus auf einzelne Krankheiten dringend vermieden werden. Ein krankheitsbezogener Ansatz auf Basis von Sterbefallzahlen/ Mortalitätsraten (z.B. bei Krebs, Demenz und Herz-/ Kreislauferkrankungen) greift zu kurz, da die Häufung der Todesfälle innerhalb dieser Krankheitsgruppen bei insgesamt steigender Lebenserwartung zum einen nicht überrascht und zum anderen zur Folge hat, dass die Morbidität als wichtige Maßzahl für den Vergleich der Krankheitslast in den unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen aus dem Blickfeld gerät. So wirken einige chronisch-degenerative Erkrankungen (wie z.B. Beeinträchtigungen des Bewegungsapparates, Atemwegserkrankungen, Depressionen) nicht zwangsläufig lebenszeitverkürzend, schränken die Betroffenen dennoch und zumeist über einen langen Zeitraum in ihrer Gesundheits- und Lebensqualität erheblich ein.
Prävention und Gesundheitsförderung wirken i.S.d. Ressourcenstärkung grundsätzlich krankheitsunspezifisch. Sinnvoller wären daher Schwerpunkte auf besonders belastete und belastende Lebenswelten und vulnerable Gruppen. Diese Perspektive lässt der vorliegende Entwurf nahezu gänzlich vermissen und wurde bereits hinreichend, so u. a. auch durch die Public Health-Experten Prof. Dr. Rolf Rosenbrock und Prof. Dr. Raimund Geene, skizziert und durch zahlreiche Fachverbände und Einzelpersonen unterstützt[2]. Die vorhandene Expertise innerhalb der zivilgesellschaftlichen und Public Health-Community sollte im weiteren Prozess unbedingt verbindlicher mit einbezogen und berücksichtigt werden. Auch die in der BAGFW zusammengeschlossenen Verbände stehen hierfür als Ansprechpartner immer gerne zur Verfügung.
C. Weitere Hinweise und Ergänzungs-/ Änderungsbedarfe
Public Health-Leitlinien
Im Referentenentwurf wird angekündigt, das neue Institut werde den ÖGD bei der Erstellung von evidenzbasierten Handlungsempfehlungen und Leitlinien unterstützen. Diese Aufgabe sollte auch über den Bereich des ÖGD hinweg ausgebaut und weiterentwickelt werden. Die Erarbeitung von evidenzbasierten Public Health-Leitlinien, wie sie z. B. in Großbritannien bereits lange etabliert sind, stehen in Deutschland noch in den Anfängen. Hier sollte ein wichtiger Schwerpunkt des neuen Instituts liegen.
Schwangerschaft/ reproduktive Gesundheit
Die BZgA, die im BIPAM aufgehen soll, ist seit Jahren eine Behörde, deren Auftrag wesentlich durch Aufgaben geprägt ist, die vom BMFSFJ gesetzlich gestaltet und im Sinne eines umfassenden sozialpsychologischen Präventionsauftrags entwickelt wurden. Diese Qualität droht in dem neuen Bundesinstitut unterzugehen und von einem Konzept stark medizinisch gedachter Prävention enggeführt zu werden. Das betrifft die Frühen Hilfen einerseits, Aufklärung, Verhütung und Familienplanung andererseits. Im SchKG wird der BZgA zu letzterem eine besondere Rolle zugewiesen. Es heißt dort in § 1: „Die für gesundheitliche Aufklärung und Gesundheitserziehung zuständige Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung erstellt unter Beteiligung der Länder in Zusammenarbeit mit Vertretern der Familienberatungseinrichtungen aller Träger zum Zwecke der gesundheitlichen Vorsorge und Vermeidung und Lösung von Schwangerschaftskonflikten Konzepte zur Sexualaufklärung, jeweils abgestimmt auf die verschiedenen Akteure und Personengruppen.“ Dieser umfassende integrative Ansatz setzt ein Public Health-Konzept voraus, das mit dem im Referentenentwurf skizzierten nicht zusammenpasst. Der Konflikt kann nur durch eine völlige Neukonzeption des BIPAM, an dem auch Länder und freie Träger der Schwangerschafts- und Familienberatungsstellen beteiligt werden, aufgelöst werden. Die über das BIPAM-Konzept hinausweisende und in ihm unter falsche Vorzeichen gesetzte Arbeit der BZgA wird auch in § 1a SchKG sichtbar. Dort heißt es weiterführend: „Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung erstellt […] Informationsmaterial zum Leben mit einem geistig oder körperlich behinderten Kind und dem Leben von Menschen mit einer geistigen oder körperlichen Behinderung. Das Informationsmaterial enthält den Hinweis auf den Rechtsanspruch auf psychosoziale Beratung nach § 2 und auf Kontaktadressen von Selbsthilfegruppen, Beratungsstellen sowie Behindertenverbände und Verbände von Eltern behinderter Kinder.“
Deutschland ist durch die Arbeit der BZgA international vorbildlich aufgestellt – Aufklärung, Verhütung und Familienplanung sind Teil eines erfolgreichen ganzheitlichen Schutzkonzeptes, das ungewollte Schwangerschaften verhindert und dabei weder auf einen rein medizinischen Ansatz noch auf eine rein schulische Konzeption der Aufklärung setzt. Wir sehen mit großer Sorge, dass die konzeptionelle Ausrichtung durch die Zusammenführung in dem vom BMG konzipierten BIPAM verlorengeht – und das ohne Zustimmungspflicht des Bundesrates. Die Rolle der Länder wird sowohl bei den Aufgaben nach dem SchKG sowie bei der Entwicklung eines überzeugenden Public Health-Ansatzes insgesamt nicht gesehen. Wir sehen die Rolle und Stärke der BZgA in der Aufklärung und Verhütung, in der Prävention sowie der Stärkung des Rechts auf reproduktive Gesundheit durch die starke medizinische Fokussierung des neuen Instituts in Gefahr.
Suchtprävention
Auch im Bereich der Suchtprävention nimmt die BZgA wichtige gesetzliche Aufgaben wahr. Diese sind nicht zuletzt durch die Cannabis-Neuregulierung von besonderer Bedeutung und müssten in enger Abstimmung mit der Kinder- und Jugendarbeit konzeptionell und finanziell gestärkt werden. Wie dies im BIPAM gelingen kann und soll, bleibt im Gesetzentwurf unsichtbar. Insbesondere eine entsprechende finanzielle Stärkung ist nicht erkennbar. Bei der Ausarbeitung von Konzepten/ Leitlinien der Suchtprävention sind die Träger und Verbände der Freien Wohlfahrtspflege, u.a. der Suchthilfe und Sucht-Selbsthilfe unbedingt umfassend einzubeziehen.
Frühe Hilfen/ Kinder- und Jugendschutz/ sexualisierte Gewalt
Wie die seit 2007 bestehende Kooperation zwischen BZgA und dem Deutschen Jugendinstitut (DJI), auf der das Nationale Zentrum für Frühe Hilfen basiert, sinnvoll in das BIPAM überführt werden kann und soll, bleibt im Gesetzentwurf ebenfalls unsichtbar. Es besteht die Sorge, dass die gesellschaftlich immer wichtigere Aufgabe der Frühen Hilfen in der vorliegenden Konzeption des BIPAM unter die Räder gerät. Die mit verschiedenen Arbeitsbereichen und konkreten Arbeitsaufträgen ausgestattete, sehr erfolgreiche und inzwischen erweiterte Ausrichtung des Zentrums für Frühe Hilfen droht in Gefahr zu geraten, weil und wenn sich die Adressat*innen nicht mehr wirklich angesprochen fühlen. Das betrifft u.a. das Lernen aus problematischen Kinderschutzverläufen und die Begleitung der Bundesstiftung Frühe Hilfen.
Darüber hinaus soll mit dem Referentenentwurf des BMFSFJ für ein Gesetz zur Stärkung der Strukturen gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen die Prävention, Aufklärung, Sensibilisierung und Qualitätsentwicklung im Kinderschutz gestärkt werden, was grundsätzlich zu begrüßen ist. Die gesetzliche Zuweisung dieses Auftrages an die BZgA bewertet die BAGFW mit Blick auf den hier vorliegenden Referentenentwurf kritisch.
Zwar soll dabei die Beteiligung von im Kinder- und Jugendschutz sowie in der Eingliederungshilfe tätigen Institutionen und Verbänden und spezialisierten Fachstellen vorgesehen werden. Zur Verbesserung des präventiven Schutzes vor sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche ist es aber zumindest notwendig, neben einer intensiven Beteiligung von Kindern und Jugendlichen selbst auch zivilgesellschaftliche Akteure aus den Bereichen Kinder- und Jugendhilfe, Schule, Sport und Gesundheitswesen einzubeziehen, die oftmals eine noch größere Reichweite in die Lebenswelt von jungen Menschen haben. Das kann in einem BIPAM nicht gelingen, das einem enggeführten Public Health-Verständnis folgt.
Es gibt bundesweit viele etablierte und qualifizierte Angebote und Strukturen, die sich diesen Aufgaben seit Jahrzehnten widmen. Mit dem Auftrag des vorliegenden Entwurfes, die Schutzkonzeptverpflichtung auf sämtliche Bereiche der Kinder- und Jugendhilfe bzw. auf sämtliche Angebote an Kinder und Jugendliche auszuweiten, wird diese Arbeit noch einmal bundesweit institutionalisiert. Fraglich ist jedoch, ob eine Beförderung von Parallelstrukturen über die Beauftragung der BZgA bzw. künftig des BIPAM sinnvoll ist. Zu empfehlen ist hier stattdessen, Ergänzungsmöglichkeiten über Angebote der BZgA bzw. des zu errichtenden Bundesinstituts auszuloten, ansonsten viel mehr bestehende Strukturen hinsichtlich des gesetzlich formulierten Auftrags regelhaft zu stärken.
[1] https://www.der-paritaetische.de/alle-meldungen/hinter-offenem-brief-zum-bipam-vereinen-sich-mehr-als-150-organisationen-und-einzelpersonen/
[2] https://www.thieme-connect.com/products/ejournals/abstract/10.1055/a-2052-2340
]]>Die BAGFW bedankt sich für die Einladung zur Stellungnahme zum Referentenentwurf eines Gesetzes für eine Apothekenhonorar- und Apothekenstrukturreform. Grundsätzlich geht der Gesetzentwurf aus Sicht der BAGFW in die richtige Richtung. Die BAGFW nimmt zu diesem Gesetz aus versorgungspolitischer Perspektive Stellung. Die Flexibilisierung des Angebots, der Öffnungszeiten und des Einsatzes von Personal kann zu einer Stärkung der Vor-Ort-Apotheken führen, die insbesondere im strukturschwachen ländlichen Raum dringend geboten ist. Das Ziel des Referentenentwurfs, die Impfquoten zu steigern, wird von der BAGFW ebenfalls unterstützt. In diesem Zusammenhang setzt sich die BAGFW dafür ein, dass künftig auch Pflegefachkräfte mit Qualifikationsniveau QN 7 grundsätzlich zu Schutzimpfungen mit Totvakzinen berechtigt sein sollen und dafür die gleiche Vergütung wie Apotheker:innen erhalten sollten.
- Zu den Punkten im Einzelnen
Artikel 1: Änderung des Apothekengesetzes
§ 2 Absätze 4 Nummer 2 und Absatz 5: Erleichterung des Betriebs von Filialapotheken
Die Aufhebung der Regelung, dass Filialapotheken in unmittelbarer Nachbarschaft zueinander liegen müssen, kann zur dringend erforderlichen Verbesserung der Apothekenversorgung im ländlichen, oftmals strukturschwachen Raum führen. Dazu kann auch die Regelung beitragen, dass der/die Betreiber:in von Filialapotheken nur die Hauptapotheke persönlich leiten muss und im Übrigen Filialapotheken auch in Teilzeit geleitet werden können. Dies trägt dem Fachkräftemangel Rechnung.
§ 16a ApoRG i.V. § 17 Absatz 4 ApoBetrO: Erlaubnis zum Betrieb einer Zweigapotheken in Orten mit eingeschränkter Arzneimittelversorgung
Eine Flexibilisierung der Vorschriften zu Anforderungen an die Eröffnung von bis zu zwei Zweigapotheken sowie die Flexibilisierung der Anforderungen für den Betrieb, wie die Möglichkeit zur Herstellung von Rezepturarzneimitteln in der Haupt- oder Filialapotheke mit anschließender Auslieferung an die Patient:innen, sind im Grundsatz zu begrüßen. Die Regelung darf jedoch nicht dazu führen, dass im überversorgten städtischen Bereich noch mehr Apotheken eröffnet werden. Um die Versorgung im ländlichen Raum zu verbessern, sollte neben der Möglichkeit zur Zweigapotheke auch stärker über die Versorgung durch Abgabenautomaten nachgedacht werden.
§ 21 Absatz 2 i.V. mit § 132e SGB V: Erweiterung der Berechtigung zu Schutzimpfungen durch Apotheker:innen
Der Berechtigung von Apotheker:innen zur Impfung über die Grippen- und Coronaschutzimpfung bei Personen über 18 Jahre hinaus stehen keine Einwände gegenüber, solange durch entsprechende Schulungen sichergestellt ist, dass
Apotheker:innen im Notfall bei Impfreaktionen adäquat handeln können. Die BAGFW spricht sich im Übrigen dafür aus, dass auch Pflegefachkräfte mit Qualifikationsniveau QN 7 grundsätzlich zu Schutzimpfungen mit Totvakzinen berechtigt sein sollen. Pflegefachkräfte sollten dabei die gleiche Vergütung für Schutzimpfungen erhalten wie Apotheker:innen.
§ 23 Absatz 1: Flexibilisierung der Dienstbereitschaftszeiten der Apotheken
Bisher war geregelt, dass sich Apotheken bei ständiger Dienstbereitschaft für bestimmte Zeitfenster nach Mitternacht bis zum frühen Morgen, nach Feierabend, am Samstag ab nachmittags sowie an Sonn- und Feiertagen von der Dienstbereitschaft befreien lassen mussten. Die Neuregelung sieht nun vor, dass Apotheken während der ortsüblichen Geschäftsöffnungszeiten erreichbar sein müssen, aber ihre Öffnungszeiten in diesem Zeitraum flexibel gestalten können. Dies ist im Grundsatz zu begrüßen. So müssen Apotheken montags bis freitags grundsätzlich sieben Stunden geöffnet haben. Die meisten Apotheken haben ohnehin längere Öffnungszeiten. Es ist aber Vorkehr zu treffen, dass die flexibilisierten Öffnungszeiten nicht zur Mehrbelastung der Beitragszahlenden führen.
Artikel 8: Änderung der Arzneimittelpreisverordnung
§ 3 Umwidmung eines Teils der pharmazeutischen Dienstleistung für Notdienst
Die teilweise Umwidmung des Vergütungsvolumens für die pharmazeutische Dienstleistung zu Gunsten einer besseren Finanzierung des Notdienstes wird von der BAGFW nachdrücklich begrüßt. Gesondert als pharmazeutische Dienstleistung honoriert wurden seit Inkrafttreten des Apotheken-Vor-Ort-Gesetzes Medikamentenanalyse und -management, Gesundheitsberatung und die Erfassung von Gesundheitsparametern, mithin Leistungen, die Apotheken gegenüber Versicherten ohnehin erbringen müssen und die somit aus Patient:innensicht keinen Mehrwert darstellen, jedoch den Geldbeutel der Beitragszahlenden wegen der zusätzlichen Vergütung pro abgegebener Packung belasteten. Ausweislich der Begründung wird der in der GKV bereitzustellende Betrag für diese Leistung nicht ausgeschöpft. Angesichts der Finanzlage der GKV wird angeregt, das gesamte Volumen für diese Dienstleistung umzuschichten.
]]>Europäische Förderprogramme und der Europäische Sozialfonds sind für die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege wichtige Impulsgeber für die Erprobung innovativer Ideen und Methoden, insbesondere bei der Bekämpfung von Armut und gesellschaftlicher Ausgrenzung sowie der Entwicklung und Erprobung von Innovationen in der eigenen Arbeits- und Berufswelt. Europäische Fördermittel wirken immer additiv, sie ersetzen keine regelfinanzierten Instrumente der sozialen Sicherung. Zusätzlich zur konkreten Projektumsetzung durch ihre Mitgliedsverbände koordiniert die BAGFW in Kooperation mit dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales ein ESF-Förderprogramm und entsendet Vertreter:innen in die Begleitausschüsse des ESF auf Bundes- und Landesebene.
Um die Weiterentwicklung des Europäischen Sozialfonds entsprechend der Bedarfe der Einrichtungen, Beschäftigten und Klient:innen der Freien Wohlfahrtspflege datengestützt mitgestalten zu können, hat die BAGFW im Frühjahr 2024 eine Umfrage bei Trägern vor Ort durchgeführt, an der sich über 800 Interessierte aus ganz Deutschland beteiligt haben[1]. Auf der Grundlage dieser Verbändebefragung und der Mitarbeit der Verbände in den Begleitausschüssen auf Bundes- und Landesebene haben die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege die nachfolgenden Empfehlungen entwickelt.
[1] 812 Teilnehmende haben die Umfrage begonnen, 591 haben sie beendet. In die Auswertung der Ergebnisse wurden nur vollständig beendete Fragebogen einbezogen. Der vollständige Datensatz der Umfrage kann bei der EU-Vertretung der BAGFW angefragt werden: euvertretung(at)bag-wohlfahrt.de
]]>Die in der BAGFW kooperierenden Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege begrüßen grundsätzlich die Intention, bundeseinheitliche Zielwerte für die Mindestpersonalausstattung als Richtschnur vorzugeben und damit perspektivisch eine bundeseinheitliche Umsetzung und – insofern möglich und vertretbar – den Personalaufwuchs zu befördern. Die Schwierigkeit bei der Bestimmung bundeseinheitlicher Zielwerte besteht darin, alle Bundesländer angemessen zu berücksichtigen, da sowohl die Ausgestaltung in den Landesrahmenverträgen als auch die Personalsituation am Arbeitsmarkt, sowie die Ausbildungsbedingungen im Bereich der qualifizierten Pflegeassistenzkräfte sehr unterschiedlich ausgestaltet sind. Insbesondere sind grundsätzlich folgende Sachverhalte zu beachten:
- Flexibilität bei der Zielerreichung
Mit Blick auf die Gesamtmenge an Personal scheinen die Zielwerte grundsätzlich flächendeckend umsetzbar zu sein. Problematisch wird es jedoch in einzelnen Ländern, wenn bereits bei der Bestimmung der Untergrenzen ein Einstieg in die Systematik und damit eine Differenzierung nach Qualifikationsniveaus erfolgt. Insofern ist es dringend erforderlich, dass den Trägern und Einrichtungen zwar das Ziel aufgezeigt, ihnen aber auch ausreichend Zeit und Flexibilität zur Zielerreichung eingeräumt wird.
- Mangel an Personal im Qualifikationsniveau 3
Besonders zu betrachten sind dabei die qualifizierten Assistenzkräfte. Das Hauptproblem besteht beim Einstieg in die Systematik des Qualifikationsmixes nach wie vor darin, dass zu wenig qualifizierte Assistenzkräfte (QN 3) zur Verfügung stehen. Da die bundeseinheitliche Regelung der Pflegeassistenzausbildung angekündigt wurde, haben die betreffenden Länder von geplanten Novellierungen abgesehen. Die Ausbildungssituation hat sich daher in den Ländern wenig verbessert bzw. stagniert. Daher muss mit Nachdruck daran gearbeitet werden, die bundeseinheitliche Assistenzausbildung endlich auf den Weg zu bringen. Das Monitoring sollte indes die Ausbildungssituation und Verfügbarkeit der QN 3 besonders in den Blick nehmen und möglichst rechtzeitig bspw. durch eine Verlängerung der Substitutionsregel reagieren.
- Klarstellung zur Unverbindlichkeit der Zielwerte
Große Verunsicherung besteht auch mit Blick auf den Verbindlichkeitsgrad und den Zweck der Festlegungen von Zielwerten. § 113c Abs. 8 SGB XI ist zu entnehmen, dass die Zielwerte als Richtschnur für eine stufenweise Einführung der studienbasierten Personalwerte unter Berücksichtigung der reellen personellen Ressourcen dienen sollen. Die langfristig angestrebten bundeseinheitlichen Mindestpersonalanhaltswerte sollen nicht losgelöst vom vorherrschenden Personalmangel bestimmt werden. Um hier Auslegungsstreitigkeiten in den Ländern zu begegnen, bedarf es in den Festlegungen der Klarstellung, dass diese in einem ersten Schritt keinen verbindlichen Charakter haben und die landesweit vereinbarten Mindestpersonalanhaltswerte nicht tangieren, sondern zunächst zum Monitoring genutzt werden.
- Berücksichtigung besonderer Personalbedarfe (sog. Funktionsstellen)
Hier sind die Regelungen in den Ländern sehr heterogen. Während für die Pflegedienstleitung i. d. Regel Vereinbarungen in den Verträgen auf Landesebene getroffen wurden, wenn auch in unterschiedlicher Größenordnung, fehlen solche Vereinbarungen für weitere Funktionsstellen wie Qualitätsbeauftragte und Hygienebeauftragte überwiegend bzw. sind diese Stellen in die Personalschlüssel inkludiert. Auch die Personalausstattung in der Nacht ist überwiegend (noch) kein Verhandlungsgegenstand und demzufolge in den Ländern nach wie vor sehr unterschiedlich geregelt. Es ist deshalb aus unserer Sicht wünschenswert und mit Blick auf eine bundeseinheitliche Personalausstattung auch erforderlich, dass diese Regelungen ebenfalls evaluiert und zukünftig mehr berücksichtigt werden. Zu berücksichtigen ist dabei auch, dass sukzessive durch einschlägige Gesetzgebung, losgelöst vom SGB XI, Hygienefachkräfte vorgehalten werden müssen.
- Gefahr der Absenkung der Mindestpersonalausstattung in Ländern mit besserer Personalausstattung
Länder, die bereits vor Einführung der Personalbemessung nach § 113c SGB XI eine bessere Personalausstattung hatten, befürchten nach wie vor, dass es durch die Festlegung der vorgeschlagenen Zielwerte zu einer deutlichen Reduzierung der Mindestpersonalanhaltszahlen und damit zu einer Verschlechterung der pflegerischen Versorgung kommt. So ist z.B. für Bayern im Rahmenvertrag ein Mindestpersonalschlüssel vereinbart, der über alle Pflegegrade hinweg bei 1:2,44 liegt. Hieran orientiert sich auch das Ordnungsrecht. Mit den jetzt vorgeschlagenen Personalanhaltswerten (Zielwerten) würde sich ein Personalschlüssel von 1:2,88 ergeben, wodurch die Mindestpersonalmenge für Bayern deutlich abgesenkt werden würde. Es ist weiterhin sicherzustellen, dass es in keinem Bundesland zu Absenkungen kommt. Die Handhabe der Bestandschutzregelungen werden a) nicht einheitlich und b) nicht vollständig in den Ländern übernommen, wie es der gesetzgeberischen Intention entspricht und sind teilweise befristet. Nicht zuletzt ist die “reine Lehre” in Verhandlungen mit den Kostenträgern nicht (richtig) durchsetzbar. Davon sind auch die Rückmeldungen aus den Ländern beeinflusst, die wir erhalten haben. Bayern befürwortet bspw. die Einführung von Zielwerten nicht.
- Intransparenz bezüglich der Grundlagen des GKV-Berichtes
Die Grundlagen für den Bericht des GKV-SV nach § 113c Abs. 8 SGB XI sollten zum 31. März 2024 vorliegen. Wir haben bislang keinerlei Kenntnis hierzu, auch mangelt es grundsätzlich an einer Beteiligung der Wohlfahrtsverbände in diesem Verfahren. Dabei ist es im Sinne der Entbürokratisierung für die Verbände der BAGFW von zentraler Bedeutung, welche Zahlen, Daten und Fakten auf welche Art und Weise erfasst werden sollen. Die Grundlage zur Erstellung des Berichts muss maßgeblich aus den vorhandenen und den Pflegekassen vorliegenden Vertragsdaten und sonstigen herkömmlichen Personalmeldungen oder -abgleichen entnommen werden. Andernfalls fürchten wir eine weitere Bürokratisierung bis hin zum tagesaktuellen Personalabgleich.
- Leiharbeit begrenzen
Mit Blick auf die Situation am Arbeitsmarkt besteht weiterhin die Notwendigkeit, Leiharbeit zu begrenzen, damit das Ziel einer flächendeckenden Mehrpersonalisierung im Rahmen der Umsetzung des § 113c SGB XI dadurch nicht konterkariert wird.
- Finanzierung
Die in der BAGFW kooperierenden Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege weisen zudem ausdrücklich darauf hin, dass die bisherige Finanzierungslogik mit der Systematik des § 113c SGB XI nicht zusammen passt und es hier zu unerwünschten wirtschaftlichen Effekten kommt. Berechnungen von Trägern zeigen, dass der Qualifikationsmix zum erheblichen Ungleichgewicht der Überschüsse und Verluste in den einzelnen Pflegegraden führt, die nicht mehr untereinander kompensiert werden können. Wirtschaftlich betrachtet, ist die Aufnahme von Pflegebedürftigen in Pflegegraden 4 und 5 mit erhöhten Verlustrisiken verbunden. Um diesen zu begegnen, werden Einrichtungen tendenziell eher Pflegebedürftige in den Pflegegrade 2 und 3 aufnehmen können. Pflegebedürftige mit den Pflegegraden 4 und 5, die gerade auf stationäre Pflege angewiesen sind, werden es damit noch schwerer haben, Plätze zu finden. Dies stellt ein weiteres Problem dar, das die Dringlichkeit für eine nachhaltige Pflegeversicherungsreform aufzeigt.
Vor diesem Hintergrund beantworten die in der BAGFW zusammengeschlossenen Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege die konkreten Fragestellungen wie folgt:
Sind die Zielwerte insbesondere im Hinblick auf die aktuelle Situation auf dem Arbeits- und Ausbildungsmarkt für Pflegekräfte und das Ziel der Sicherstellung der pflegerischen Versorgung in ihrer Höhe und ihrer Methodik sachgerecht?
§ 113c stellt eine Weiterentwicklung der Personalbemessung dar. Insofern kann angenommen werden, dass die pflegerische Versorgung mit dem vereinbarten Status Quo der personellen Ausstattung sichergestellt werden kann, was aber keine Aussage über die Qualität der Versorgung und die tatsächliche Personalausstattung zulässt. Die Zielwerte bewegen sich in einigen Ländern oberhalb des Status Quo und in anderen wiederum darunter. Es ist unbenommen, dass die Arbeitsmarktsituation und die Ausbildungssituation bei unveränderten Rahmenbedingungen in den kommenden Jahren wenig Spielräume zulassen. Dies muss ein Monitoring berücksichtigen. Methodisch stellt sich die Frage, wie mit der Diskrepanz umzugehen ist, dass praktisch in allen Bundesländern bei der Mindestpersonalausstattung keine Differenzierung von QN 1-3 stattfindet, die Zielwerte aber so vorgegeben sind. Auch gibt es in einigen Ländern eine vereinbarte Mindestausstattung, die sich nicht an der Systematik der Zielwerte orientiert, was bisher auch legitim ist. Dieser Widerspruch ist aufzuheben, bspw. indem festgelegt wird, dass dies zulässig ist. Dies ist auch erforderlich, um bspw. Drittnutzern, wie heimrechtlichen Behörden, keine Prüfsystematik an die Hand zu geben, die in der Realität keinen Bestand hat. Der Charakter der Zielwerte und die “Verbindlichkeit” ab dem 01.07.2024 sind so darzustellen, dass keine sanktionsbewährten Mechanismen in Gang kommen können. Es muss klar sein, dass es sich hierbei in diesem ersten Schritt um Zielwerte handelt, die ein Monitoring ermöglichen, bis (unter Berücksichtigung aller Ergebnisse eines Monitorings) tatsächlich eine Festlegung mit verbindlichem Charakter getroffen werden kann. Zu berücksichtigen ist auch, dass zum Personal Vereinbarungen geschlossen wurden, die nach dem 30.06.2024 nicht ad hoc angepasst werden können.
Sind nach Ihrer Einschätzung Anpassungen nach oben oder unten erforderlich? Wäre im Hinblick auf die verschiedenen Qualifikationsniveaus und Pflegegrade bzw. andere landesspezifische Sonderregelungen ggf. eine differenziertere Vorgehensweise angezeigt?
In mehreren Bundesländern können die Zielwerte differenziert nach Qualifikationsniveau aktuell aufgrund der Arbeitsmarkt- und Ausbildungssituation, insbesondere im Bereich der qualifizierten Assistenzkräfte, nicht erreicht werden. Die Erreichung der Zielwerte als Gesamtmenge scheint jedoch möglich. Daher ist aus unserer Sicht zu prüfen, ob als zweite Haltelinie die Zielwerte bei der Mindestausstattung zunächst auch als erfüllt gelten, wenn die Gesamtpersonalmenge ausreichend ist. Dies wird in der Regel erfüllt werden können, weil die Fachkraftquote und der Bestandschutz zu einem Überhang dieser Kräfte führen.
Es ist fraglich, ob bereits bei der Bestimmung einer einheitlichen Personaluntergrenze der Einstieg in die Systematik des Qualifikationsmixes sinnvoll und sachgerecht ist. Schließlich wurde das Qualifikationsmixmodell unter anderen Prämissen anhand einer optimal ausgestatteten Pflegeeinrichtung (100 % des Algorithmus 1.0) konzipiert. Mit dem Ergebnis, dass sich zwar der Anteil an Fachkräften reduziert, die absolute Zahl an Fachkräften jedoch nahezu gleichbleibt. Wird das Qualifikationsmixmodell nun bereits bei der Bestimmung der Untergrenze eingeführt, könnte dies zu einem Abbau an Fachkräften führen, wenn Bestandsschutzregeln auslaufen und Fachkraftquoten mit dem Einstieg in die Systematik angepasst werden. Auch daher ist es wichtig, dass Untergrenzen als Gesamtpersonalmenge zum Tragen kommen und sich erst in fortgeschrittenen Aufwuchsphasen an das Qualifikationsmixmodell annähern.
In Mecklenburg-Vorpommern können die Zielwerte jedoch auch als Gesamtmenge nicht erreicht werden. Die im Entwurf enthaltenen bundeseinheitlichen Zielwerte würden so in Mecklenburg-Vorpommern eine deutliche Anhebung der aktuellen Mindestpersonalausstattung bedeuten. Ausgehend von einer Einrichtung durchschnittlicher Größe (81 Plätze) und mit einer Belegungsstruktur lt. Pflegestatistik (1 – 15 – 29 – 24 – 12) müssten in dieser Einrichtung bei Anhebung der Untergrenzen (Zielwerte) knapp 4,5 VK mehr vorgehalten werden. Bei kleineren Einrichtungen (30 – 46 Plätze) wird beobachtet, dass diese in der Gesamtschau die Zielwerte oder gar Obergrenze erreichen, jedoch analog zu anderen Bundesländern die VK-Mengen bei Differenzierung nach Qualifikationsbereich bezüglich des QN 3 nicht umsetzen können.
Aus diesen Gründen wird zudem eine Anpassung der Zielwerte auf 75 % der Personalanhaltswerte nach § 113c Abs. 1 SGB XI vorgeschlagen. Der Wert von 75 % hat sich sowohl über die Leistungserbringerverbände hinweg als auch in einigen Bundesländern unter Berücksichtigung der Kürze der Zeit, beim Blick auf die tatsächliche Situation, bisher als umsetzbar herausgestellt.
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1. Bedarfsgerechte Versorgung durch multimodale Angebote
Es ist sinnvoll, in die frühzeitige Identifizierung und Versorgung von psychischen Erkrankungen bei Geflüchteten zu investieren und die betroffenen Personen zeitnah psychosozial zu unterstützen. Denn durch therapeutische Interventionen ist es möglich, körperliche, emotionale und kognitive Beeinträchtigungen von psychisch belasteten Geflüchteten zu behandeln und langfristige negative Folgen zu verhindern bzw. abzumildern. Psychosoziale Unterstützung kann ferner dazu beitragen spezifische Belastungen und besondere Bedarfe ressourcenstärkend zu adressieren und die Ratsuchenden durch Beratung, in u.a. aufenthalts- und sozialrechtlichen Fragestellungen, zu stärken. Im Koalitionsvertrag hatte sich die Bundesregierung konsequenterweise dafür ausgesprochen, “[v]ulnerable Gruppen … von Anfang an [zu] identifizieren und besonders [zu] unterstützen.” (Koalitionsvertrag 2021, S. 111). Dies wurde bislang nicht umgesetzt.
Psychisch belastete Geflüchtete treffen in Deutschland auf ein Versorgungssystem, in dem vielerorts bereits der bestehende Bedarf an psychosozialer und psychotherapeutischer Unterstützung nicht gedeckt werden kann. Die Folge sind häufig fehlende, zu späte oder wenig wirksame Behandlungen und Hilfeleistungen. Zusätzlich zur allgemein schlechten Versorgungslage bei der psychosozialen und psychotherapeutischen Unterstützung ist es für Geflüchtete noch schwieriger, adäquate Hilfe zu erhalten. In den ersten 36 Monaten ihres Aufenthaltes in Deutschland ist eine Versorgung gem. §§ 4 und 6 AsylbLG beschränkt, daher wird Psychotherapie in der Regel nicht gewährt.
Die Psychosozialen Zentren (PSZ) leisten bundesweit psychosoziale und psychotherapeutische Unterstützung für Geflüchtete. Der psychosoziale Ansatz umfasst an den Bedarfen der Klient*innen orientierte, ganzheitliche und multimodal ausgerichtete Angebote, die in multiprofessionellen Teams adressiert werden. Dazu zählen psychotherapeutische Verfahren, psychologische und soziale Beratung, Rechtsberatung, niedrigschwellige Angebote und Psychoedukation, die zusammengenommen der psychosozialen Gesundheit zugutekommen und Teilhabechancen Schutzsuchender z.B. in Sozialraum und Arbeitsmarkt ermöglichen.
Psychotherapie mit Geflüchteten wird deutlich geprägt durch migrationsspezifische Umstände. Die persönliche Lebenslage und die möglicherweise nicht vorhandene externe Stabilität und Sicherheit müssen - ebenso wie zumeist fehlende deutsche Sprachkenntnisse - im Kontext einer Therapie beachtet werden. In den PSZ wird, neben der multiprofessionellen Zusammenarbeit mit haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeitenden, die bedarfsgerechte Versorgung durch die transkulturelle Professionalität in allen Bereichen der psychosozialen Arbeit und die Einbeziehung von Sprachmittlung gewährleistet. Die Unterstützung ist für die Klient*innen kostenfrei und wird unabhängig von Herkunft oder Aufenthaltsstatus gewährleistet.
Die Praxis der PSZ zeigt, dass durch die Breite des Angebots den Bedarfen vieler Betroffener entsprochen werden kann und kostenintensivere Verfahren, die in Folge der Behandlung chronifizierter Krankheiten, etwa durch stationäre Versorgung, vermieden werden können. Als Koordinations- oder Kompetenzzentren wirken die PSZ darüber hinaus auch unterstützend und vermittelnd für andere Leistungserbringer im Gesundheits- und Sozialbereich. Zu den Aufgaben der PSZ gehört daher auch, die mit geflüchteten Menschen arbeitenden Akteur*innen zu sensibilisieren und damit die Versorgung von psychisch belasteten und traumatisierten Asylsuchenden und geflüchteten Menschen in Einrichtungen der Flüchtlingssozialarbeit und in Regelinstitutionen insgesamt zu verbessern.
2. Finanzierung der PSZ
Psychosoziale Zentren finanzieren sich häufig aus mehreren Quellen. Die Bundesförderung durch das Bundesprogramm Beratung und Betreuung ausländischer Flüchtlinge ist eine zentrale Säule in der Finanzierung, um Standards und Kapazitäten der psychosozialen Versorgung bundesweit anzugleichen. Darüber hinaus werden diese Mittel auch für komplementierende Maßnahmen bei einer möglichen Landes- oder Kommunalfinanzierung oder zu einer Anschubfinanzierung für den Ausbau der psychosozialen Versorgung und zur Verringerung sog. “weißer Flecken” in der Versorgungslandschaft eingesetzt.
Doch aufgrund einer vielerorts unzureichenden Finanzierung, die sich durch die starken Kürzungen im Bundesprogramm Beratung und Betreuung ausländischer Flüchtlinge im Jahr 2024 weiter zugespitzt hat, können die PSZ der hohen Nachfrage nach psychotherapeutischer und psychosozialer Unterstützung der Zielgruppe nicht adäquat gerecht werden. Die Wartelisten der einzelnen Zentren sind seit Jahren lang. Immer wieder müssen PSZ ihre Wartelisten schließen, da sie eine Behandlung aus Kapazitätsgründen nicht in Aussicht stellen können. Dies ist nur ein Hinweis auf die massive Unterversorgung. Die Zahl derer, die nicht versorgt werden, ist deutlich höher, wie Zahlen des jährlichen Versorgungsberichts der BAfF zeigen. Gründe hierfür sind fehlende Versorgungsstrukturen vor Ort und unzureichende Versorgungskapazitäten aufgrund fehlender und nicht nachhaltiger Finanzierung.
Eine Aufstockung der Mittel und eine längerfristige Finanzierung ist demnach dringend geboten, um die kontinuierliche Arbeit der PSZ gewährleisten zu können und den Abbruch von Therapien sowie den Verlust von qualifiziertem Fachpersonal zu vermeiden. Dies käme auch völkerrechtlichen und grundgesetzlich verankerten Ansprüchen, wie der UN-Antifolterkonvention und der EU-Aufnahmerichtlinie sowie dem Anspruch des Koalitionsvertrages nach einer Verstetigung der finanziellen Unterstützung der PSZ (durch die kontinuierliche Bereitstellung finanzieller Mittel in entsprechender Höhe), nach.
Eine Abfrage der in den Wohlfahrtsverbände und der BAfF organisierten, bundesgeförderten PSZ hat ergeben, dass diese angesichts des enormen Bedarfs von Seiten der Schutzsuchenden zusätzliche Angebote bei einer entsprechenden Förderung durch den Bund in 2025 realisieren könnten. Diese umsetzbaren Angebote entsprächen einer zusätzlichen Förderung i.H. von 14 Mio. Euro. Zusammengenommen mit der in diesem Jahr gewährten Summe läge der Bedarf für die Beratung und Betreuung geflüchteter Menschen in Deutschland bei ca. 27 Mio. Euro.
Die PSZ sind fast alle Mitglied in einem der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege und/oder Mitglied bei der BAfF. Die Wohlfahrtsverbände übernehmen im Bundesprogramm nicht nur die Koordinierung und fachliche Unterstützung der PSZ, sondern setzen sich als Zentralstellen im Kontext Flucht für die Qualifizierung, Vernetzung und den Wissenstransfer in Politik und Öffentlichkeit ein. Darüber hinaus engagieren sie sich in der Qualifizierung von Fachkräften. Sie unterstützen bei der Qualitätssicherung, fördern die Vernetzung und arbeiten bei der Weiterentwicklung der Beratung und Betreuung geflüchteter Menschen eng zusammen Die BAfF als Dachverband der Psychosozialen Zentren ist seit mehr als 25 Jahren zentrale Akteurin für die Bündelung der Kompetenzen in den Bereichen psychosoziale Versorgung und Trauma nach kollektiver Gewalterfahrung, Folter und Flucht, die Begleitung, die Qualitätssicherung und Weiterentwicklung der Arbeit der Psychosozialen Zentren im gesamten Bundesgebiet. Derzeit 48 Psychosoziale Zentren sind Mitglied der BAfF und verpflichten sich damit zur Einhaltung der BAfF-Leitlinien.
[1] Vgl.:https://www.diw.de/documents/publikationen/73/diw_01.c.897126.de/24-12-4.pdf
]]>Die BAGFW bedankt sich für die Möglichkeit, zum Referentenentwurf eines Gesetzes zur Schaffung einer Digitalagentur für Gesundheit Stellung zu nehmen.
Mit dem Gesetzentwurf erhält die zur Digitalagentur ausgebaute Gesellschaft für Telematik die Zuständigkeit für die Festlegung von Standards der Benutzerfreundlichkeit der Komponenten, -dienste und Anwendungen der TI. Es ist zu begrüßen, dass sie mit dem neuen Mandat sicherzustellen hat, dass die Standards eingehalten und bestehende Nutzungshürden zur Steigerung der Wirksamkeit digitaler Anwendungen im Markt beseitigt werden. Kritisch bewertet die BAGFW, dass sich der Gesetzgeber der Möglichkeit, Aufträge an die gematik zur Steuerung und Gestaltung des Digitalisierungsprozesses im Gesundheitswesen zu vergeben, enthebt.
Die BAGFW nimmt aus der Perspektive der Pflege Stellung und sieht drei zentrale Änderungsbedarfe:
- Der Beirat der gematik soll künftig auch am Roadmap-Prozess, der die gesetzlichen Aufträge an die gematik ersetzen soll, durch Anhörungs- bzw. Stellungnahmerechte beteiligt werden. Es bedarf daher einer entsprechenden Ergänzung in § 318 SGB V.
- Die Fristen für die Umsetzung der Vorgaben für die Bereitstellung von Daten und Informationsobjekten in der ePA sollen weiterhin vom Gesetzgeber in einer Rechtsverordnung des BMG mit Zustimmung des Bundesrats festgelegt werden und nicht der Digitalagentur überantwortet werden.
- Die Pflicht der Hersteller von DiGas zur interoperablen Bereitstellung von patienten- bzw. personenbezogenen Daten an die Leistungserbringenden in
§ 386a SGB V n.F. muss auch die Hersteller von DiPas umfassen.
B. Bewertung der Regelungen im Einzelnen
Die BAGFW nimmt im Folgenden zu den pflegerelevanten Bereichen des Referentenentwurfs Stellung:
§ 311 Aufgaben und Befugnisse der Digitalagentur Gesundheit und § 312 „Aufgabenerfüllung durch die Digitalagentur Gesundheit“ n.F. i.V. mit §§ 317 und 318: Beirat der Gesellschaft für Telematik
Mit dem Aufbau der Digitalagentur einher geht eine Erweiterung des Aufgabenportfolios, das in § 311 SGB V definiert ist: So soll die Digitalagentur künftig bei der Digitalisierung der Versorgungsprozesse im Gesundheitswesen und in der Pflege unterstützen (§ 311 Absatz 1 Satz 1 Nummer 19 neu). Dass die Digitalisierung der Versorgungsprozesse in der Pflege als neue Aufgabe definiert wird, wird ausdrücklich begrüßt. Die Aufgabenerfüllung wird in § 312 SGB V reguliert. Danach steuert künftig nicht mehr der Gesetzgeber die Aufgabenerfüllung durch Erteilung von Aufträgen an die gematik, sondern die Digitalagentur selbst. Zu diesem Zweck erstellt sie eine Roadmap, die der Gesellschafterversammlung zur mehrheitlichen Genehmigung vorzulegen ist. Angesichts der künftig richtungsweisenden Bedeutung der Roadmap sollten für ihren Beschluss nicht nur eine einfache Mehrheit ausreichen, sondern ein einstimmiger Beschluss.
Die Pflege hat nach der neuen Architektur der Digitalagentur keine anderen Einflussmöglichkeiten auf die Gestaltung der Prozesse als über den Beirat der gematik nach §§ 317 und 318 einzuwirken. Gemäß § 318 Absatz 2 ist der Beirat vor der Beschlussfassung der Gesellschafterversammlung der Gesellschaft für Telematik zu Angelegenheiten von grundsätzlicher Bedeutung zu hören. Er kann hierzu vor Beschlussfassung innerhalb von zwei Wochen nach Erhalt der erforderlichen Informationen und Unterlagen schriftlich Stellung nehmen. Zu den Angelegenheiten von grundsätzlicher Bedeutung gehören nach § 318 Absatz 3 Fachkonzepte zu Anwendungen der eGK, Planungen und Konzepte für die Erprobung und den Betrieb der TI sowie Konzepte zur Evaluation von Erprobungsphasen und Anwendungen. Damit ist die Erstellung der nun für die Versorgungsprozesse künftig maßgeblichen Roadmap nicht vom Stellungnahmerecht der Beiratsmitglieder umfasst. Unklar ist überdies, ob der Beirat der gematik nach §§ 317 und 318 als Beirat der Digitalagentur fungiert. Dies ist gesetzlich klarzustellen. Erklärtes Ziel des Referentenentwurfes ist eine enge Einbindung der Stakeholder, was durch die BAGFW begrüßt wird. So hat die Digitalagentur Gesundheit entsprechend der Gesetzesbegründung die Selbstverwaltung bei der Digitalisierung von Versorgungsprozesse in der Pflege engagiert zu unterstützen. Um dabei die notwendigen Mitwirkungsrechte der Pflege sicherzustellen, ist in § 318 Absatz 3 die Erstellung der Roadmap als Angelegenheit von grundsätzlicher Bedeutung als neue Nummer 4 zu ergänzen.
Grundsätzlich stellt sich die Frage, warum der Beirat der gematik in der neuen Architektur nicht zu einem Beirat der Digitalagentur Gesundheit umfunktioniert wird.
Änderungsbedarf:
§ 318 Absatz 3 Satz 1 Nummer 4 neu lautet:
4. „Erstellung der Roadmap gemäß § 312 Absatz 1 SGB V“
§ 342: Angebot und Nutzung der elektronischen Patientenakte
Die BAGFW lehnt ab, dass anstelle einer Rechtsverordnung des BMG mit Zustimmung des Bundesrats künftig die Digitalagentur die Fristen für die Umsetzung der Vorgaben für die Bereitstellung von Daten und Informationsobjekten für die ePA festlegen soll. U.a. betrifft dies auch nach Absatz 2b die Daten zur pflegerischen Versorgung der Versicherten nach den §§ 24g, § 37, § 37b, 37c, 39a und 39c sowie der Haus- und Heimpflege nach § 44 SGB VII und Pflege nach dem SGB XI. Diese Aufgabe soll weiterhin Aufgabe einer Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrats bleiben.
Änderungsbedarf:
Streichung der geplanten Änderung für § 342 Absatz 2b
§ 386a Interoperabilitätspflicht
Hersteller informationstechnischer Systeme im Sinne des § 384 Absatz 2 Nummer 3 oder Hersteller von DiGas nach § 33a haben gemäß Absatz 1 den Leistungserbringenden auf deren Verlangen die personenbezogenen Daten ihrer Patienten unverzüglich und kostenfrei interoperabel bereitzustellen. Diese Pflicht muss auch für die Hersteller von DiPas nach § 40a SGB XI in gleicher Weise gelten.
Änderungsbedarf:
Absatz 1 Satz 1 ist wie folgt zu ergänzen:
„Hersteller informationstechnischer Systeme im Sinne des § 384 Absatz 2 Nummer oder Hersteller einer digitalen Gesundheitsanwendung nach § 33a oder Hersteller einer digitalen Pflegeanwendung nach § 40a SGB XI haben den Leistungserbringern auf deren Verlangen die personenbezogenen Gesundheits- oder Pflegedaten ihrer Patienten oder zu Versorgenden unverzüglich und kostenfrei im interoperablen Format zur Verfügung zu stellen“.
]]>Der § 4 Nummer 21 UStG setzt nach der Gesetzesbegründung zusammen mit dem bestehenden § 4 Nummer 22a UStG die Terminologie des Artikels 132 Absatz 1 Buchstabe i und j unter Berücksichtigung der EuGH-Rechtsprechung um. Aus unserer Sicht gibt es dagegen gewichtige Argumente, die bisherige Regelung beizubehalten.
Unsere Bedenken hinsichtlich einer deutlichen Einschränkung der bisher geltenden Steuerbefreiung begründen wir wie folgt:
Die Wohlfahrtsverbände führen satzungsgemäß ein sehr vielfältiges Bildungsangebot durch, das u. a. die Berufsausbildung (z. B. Ausbildung zum Notfallsanitäter), die ehrenamtliche Tätigkeit (z. B. Ausbildung ehrenamtlicher zur qualifizierten Begleitung kranker und alter Menschen) oder den Erwerb von Kenntnissen „lebensrettende Sofortmaßnahmen“ zum Erwerb eines Pkw-Führerscheins zum Gegenstand hat.
Diese Bildungsangebote werden in einer Vielzahl verschiedener Einrichtungen angeboten, die aber nicht zwingend auf die Aus- und Fortbildung in einem Beruf oder einem Gewerbe ausgerichtet sind, da sie auch andere Leistungen, wie z. B. den häuslichen Pflegedienst, den Rettungsdienst oder den Hausnotrufdienst erbringen.
So finden z.B. in unseren Seniorenbegegnungsstätten und Alten- und Pflegeeinrichtungen Kurse statt, die keine auf eine Berufsausübung gerichtete Aus- und Weiterbildung beinhalten. Diese Angebote dienen vielmehr der Information, der Freizeitgestaltung und sozialen Teilhabe hilfebedürftiger Menschen (z.B. Mal- und Bastelkurse).
Sie sind nach ihrer thematischen Zielsetzung und Ausrichtung der Freizeitgestaltung zuzuordnen und nach der Gesetzesbegründung von der Steuerbefreiung ausgeschlossen.
Unsere Bedenken betreffen weitere Seminarangebote, wie die Durchführung von Seminaren der Inlandsfreiwilligendienste, die ihre Teilnehmenden nicht zwingend auf einen Beruf vorbereiten, sondern vorrangig der erforderlichen Selbstreflektion der Teilnehmenden dienen sollen.
Dies dürfte auch für gemeinnützige Einrichtungen gelten, die u.a. bislang umsatzsteuerfreie Kurse für Sofortmaßnahmen am Unfallort anbieten, daneben aber auch z.B. ein Altenheim und/oder einen Rettungsdienst betreiben, da diese nicht in ihrer Gesamtheit Bildungsleistungen anbieten, sondern dies nur ein Teilbereich von mehreren ist.
Sofern diese Kurse von Privatlehrern gegeben werden, ist die Umsatzsteuerbefreiung nach § 4 Nummer 21a UStG ebenfalls ausgeschlossen, da kein Schul- bzw. Hochschulunterricht erteilt wird. Zu beachten ist ferner, dass aufgrund der Umsatzsteuerbefreiung der Leistung ein Vorsteuerabzug entfällt.
Sollte Alternativ die Leistung nach § 4 Nr. 18 UStG von der Umsatzsteuer befreit werden, ist von einem erheblichen bürokratischen Mehraufwand auszugehen, da für die Teilnehmenden nachgewiesen werden müsste, dass die Teilnahme an der Veranstaltung auch im Einzelfall eine Leistung darstellt, die eng mit der Sozialfürsorge verbunden ist.
Insofern plädieren wir für die Beibehaltung der bisherigen Regelung. Alternativ fordern wir entsprechende Auffangregelungen zu schaffen, um die drohende Verteuerung der Leistungen der Freien Wohlfahrtspflege zu vermeiden.
Die Ergänzung von § 53 AO begrüßen wir als flexible und unbürokratische Regelung zur vergünstigten Vermietung von Wohnraum an hilfsbedürftige Menschen. Wir weisen aber darauf hin, dass diese Regelung, insbesondere im Hinblick auf die geplante Wiedereinführung der Wohngemeinnützigkeit weitgehend ins Leere läuft, sofern kein Ausgleich für die in diesem Zusammenhang auflaufenden Mindereinnahmen erfolgt.
]]>Die in der BAGFW kooperierenden Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege begrüßen eine Förderung der Interoperabilität im Gesundheitswesen ebenso wie den ganzheitlichen Ansatz unter Einbezug von fachlichen Expertinnen und Experten. Bei der sektorenübergreifenden Koordinierung ist die Pflege als größte Berufsgruppe im Gesundheitswesen allerdings explizit in die Prozessgestaltung einzubeziehen. Nur so kann das formulierte Ziel - dem die BAGFW sich vollumfänglich anschließt - einer nachhaltigen Verbesserung insbesondere auch der pflegerischen Versorgung weiter verbessert werden.
Die BAGFW begrüßt die in der Gesetzesbegründung formulierte Empfehlung, dass bei der Auswahl des Expertenkreises darauf zu achten ist, dass auch Fachkenntnisse im Bereich der Pflege zu berücksichtigen sind, hält sie aber nicht für verbindlich genug. Um die interprofessionelle und sektorenübergreifende Versorgung über vier Millionen Pflegebedürftiger in Deutschland zu verbessern, müssen die Leistungserbringerverbände der Pflege ebenfalls im IOP-Expertenkreis vertreten und auch als solche benannt und aufgezählt werden. Andernfalls würde der vorgelegte Referentenentwurf eine Vertretung von Leistungserbringerverbänden im Expertengremien dauerhaft ausschließen. Eine Benennung und Aufzählung ist umso bedeutender, da die bislang aufgeführten Vertreterinnen und Vertreter nicht über die notwendige Fachexpertise über digitale Versorgungsprozesse innerhalb pflegerischer Versorgungsstrukturen verfügen können.
Zu dem vorgelegten Konzept zeigt die BAGFW im Folgenden daher zwei Änderungsbedarfe auf mit der Bitte um Berücksichtigung.
Änderungsbedarf
In § 4 Absatz 4 (IOP-Expertenkreis) sind die Vereinigungen der Träger der Pflegeeinrichtungen auf Bundesebene in der Aufzählung in einem separaten Punkt aufzuführen:
„Der IOP-Expertenkreis setzt sich aus Vertreterinnen und Vertretern folgender Gruppen zusammen:
1. Anwenderinnen und Anwender informationstechnischer Systeme, insbesondere die Gesellschaft für Telematik und die Kassenärztlichen Bundesvereinigungen,
2. für die Wahrnehmung der Interessen der Industrie maßgebliche Bundesverbände aus dem Bereich innovativer Technologien im Gesundheitswesen,
3. Bundesländer,
4. fachlich betroffene nationale und internationale Standardisierungs- und Normungsorganisationen,
5. Verbände, insbesondere der Spitzenverband Bund der Krankenkassen und die für die Unfallversicherungsträger maßgeblichen Verbände,
6. die Vereinigungen der Träger der Pflegeeinrichtungen auf Bundesebene
7. fachlich betroffene Fachgesellschaften des Gesundheitswesens sowie
8. wissenschaftliche Einrichtungen und Patientenorganisationen.“
Änderungsbedarf
In § 4 (IOP-Expertenkreis) Absatz 2 ist die Voraussetzung zur Ernennung auf Vollzeitbeschäftigung im Bereich der Pflege zu ergänzen:
„Das Expertengremium ernennt im Einvernehmen mit dem Kompetenzzentrum Personen, die über Fachwissen in Form von mindestens 3-jähriger Berufserfahrung in Vollzeitbeschäftigung in den Bereichen Gesundheitsversorgung und Pflege sowie Informationstechnik und Standardisierung im Gesundheitswesen verfügen (Expertinnen und Experten), für den IOP-Expertenkreis.“
]]>
Zusammenfassende Bewertung:
Das Recht auf Arbeit ist ein grundlegendes soziales Menschenrecht, welches in mehreren internationalen Völkerrechtskonventionen anerkannt wird. Dieses Recht auf Arbeit gilt für jeden Menschen; unabhängig von einer Behinderung. Beides, der UN-Sozialpakt (Art. 6-8) wie auch die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) wurden durch die Bundesrepublik Deutschland ratifiziert und sind umzusetzen. Art. 27 der UN-BRK konkretisiert das Recht auf Arbeit und Beschäftigung für Menschen mit Behinderungen. Neben den Empfehlungen, die der UN-Fachausschuss im Rahmen der 2. und 3. Staatenberichtsprüfung Deutschlands zur Umsetzung der Konvention ausgesprochen hat, leitet er in seinen Allgemeinen Bemerkungen Nr. 8 Handlungsempfehlungen zur Umsetzung des Rechts auf Arbeit und Beschäftigung ab.
Die BAGFW begrüßt grundsätzlich die Ausrichtung der im Aktionsplan vorgestellten Vorhaben. Um den völkerrechtlichen Vorgaben zu entsprechen, empfiehlt die BAGFW der Bundesregierung darüber hinaus Maßnahmen zu ergreifen, um den Arbeitsmarkt insgesamt inklusiver zu gestalten. Denn bisher enden alle Versuche, dieses Ziel zu erreichen, mit der Einführung weiterer Instrumente zur Teilhabe am Arbeitsleben, die für bestimmte Zielgruppen ihre Berechtigung haben, jedoch die auf dem Arbeitsmarkt wirkenden Barrieren weder adressieren noch lösen. Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben müssen grundsätzlich so ausgestaltet werden, dass sie den Menschen mit Behinderung zum Ausgangspunkt nehmen.
Auch dem vorliegenden Aktionsplan fehlt es zum einen an einem Gesamtkonzept und einer Gesamtstrategie für einen offenen, inklusiven und zugänglichen Ausbildungs- und Arbeitsmarkt. Zum anderen enthält der Aktionsplan keine konkreten Maßnahmen, die Menschen mit Behinderungen und komplexem Unterstützungsbedarf konkret in die Lage versetzen würden, ihr Recht auf Bildung und Arbeit einzulösen. Die UN-BRK sieht keine Unterscheidung zwischen leistungsfähigen und weniger leistungsfähigen Menschen mit Behinderungen und keinen Ausschluss von der Teilhabe am Arbeitsleben für bestimmte Personengruppen vor. Die Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen und komplexem Unterstützungsbedarf muss beendet werden.
Damit alle Menschen mit Behinderungen ihre Rechte auf Bildung, Arbeit und Beschäftigung gleichberechtigt, selbstbestimmt und barrierefrei in Anspruch nehmen/einlösen, muss sich der allgemeine Arbeitsmarkt verändern. Der Ausbau digitaler und physischer Barrierefreiheit ist von ebenso großer Bedeutung, wie der Abbau von Vorbehalten bei Arbeitgebenden und die Sicherstellung individuell passender Nachteilsausgleiche, die flexibel anpassbar und wenn nötig auf Dauer angelegt sind. Nachteilsausgleiche müssen fest und dauerhaft an die Person mit ihren individuellen und spezifischen Fähigkeiten und Bedürfnissen angepasst und abrufbar sein. Sie dürfen nicht vom Ort der Teilhabe am Arbeitsleben abhängig sein.
In diesem Sinne fordert die BAGFW:
- Die Entwicklung einer Gesamtstrategie zur Schaffung eines offenen, inklusiven und zugänglichen Ausbildungs- und Arbeitsmarktes. Unter Mitarbeit von Menschen mit Behinderungen und ihren Verbänden, von Vertreter*innen inklusionserfahrener Organisationen aus der Praxis, Unternehmen des allgemeinen Arbeitsmarkts, den Gewerkschaften, Werkstätten für Menschen mit Behinderungen, Wohlfahrtsverbänden sowie Schwerbehinderten-vertreter*innen und Werkstatträt*innen muss erarbeitet werden, wie sich der in weiten Teilen exklusive Arbeitsmarkt zu einem offenen, inklusiven Arbeitsmarkt mit gleichwertigen Zugangsmöglichkeiten für alle Menschen entwickeln kann.
- Im Rahmen der zu entwickelnden Gesamtstrategie ist die Schaffung spezieller, zielgruppenspezifischer Arbeitsmarkt- und Förderprogramme zur Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen und zur Schaffung inklusiver Arbeitsplätze zu integrieren.
1. Aktionsfeld „Förderung von Übergängen auf den allgemeinen Arbeitsmarkt“
In dem Aktionsfeld „Förderung von Übergängen auf den allgemeinen Arbeitsmarkt“ schlägt das Bundesministerium für Arbeit und Soziales verschiedene Maßnahmen vor, die die BAGFW wie folgt kommentiert:
- Ausweitung der Mindestbeitragsbemessungsgrundlage nach § 162 Nummer 2 und 2a SGB VI auf Menschen mit Behinderungen auf das Budget für Arbeit
Im Budget für Arbeit bleiben Budgetnehmer*innen dauerhaft voll erwerbsgemindert und daher Rehabilitand*innen im Sinne der Eingliederungshilfe. Dies bedeutet, dass sie ein uneingeschränktes Rückkehrrecht in die WfbM besitzen. Dieses Rückkehrrecht kann de facto zur Rückkehrpflicht werden, denn die Budgetnehmer*innen sind zwar in der gesetzlichen Rentenversicherung, der gesetzlichen Krankenversicherung und der sozialen Pflegeversicherung, aber nicht in der gesetzlichen Arbeitslosenversicherung versicherungspflichtig.
Der Gedanke des Gesetzgebers war, dass Menschen mit Behinderung im Falle des Scheiterns ein Rückkehrrecht in die WfbM haben und daher nicht auf Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung angewiesen seien. Dies führt aber in der Praxis zu einer Rückkehrpflicht von Menschen mit Behinderung, die auf dem Arbeitsmarkt integriert waren und aufgrund der normalen Schwankungen und Risiken am Arbeitsmarkt arbeitslos werden. Dies ist im Hinblick auf § 27 UN-BRK kaum begründbar und sollte bei einem Gesetzesvorhaben berücksichtigt werden.
Daneben regt die BAGFW an, im Hinblick auf das Budget für Arbeit bestehende Probleme in der Anwendungspraxis zu lösen, um das Instrument insgesamt zu befördern. Die Umsetzung erfolgt von den Trägern der Eingliederungshilfe höchst unterschiedlich. Beispielsweise wird der Spielraum bei der Förderhöhe des Lohnkostenzuschusses bis zu 75 Prozent in manchen Bundesländern nicht ausgeschöpft. Ein niedrigerer Förderzuschuss führt jedoch zu verringerter Inanspruchnahme des Instruments. Hier wäre die gesetzliche Klarstellung einer individuell passgenauen Förderhöhe notwendig.
Um die Zahl sozialversicherungspflichtiger Beschäftigungsmöglichkeiten für Werkstattbeschäftigte auf dem Arbeitsmarkt kurzfristig signifikant zu erhöhen, schlägt die BAGFW vor, die Wirkung des Budgets für Arbeit durch eine modellhafte Erhöhung des Lohnkostenzuschusses auf 100 % des Mindestlohns bzw. des jeweils tariflich vereinbarten Lohns zu verstärken. Die Aufstockung des Lohnkostenzuschusses könnte aus Mitteln des Ausgleichsfonds bereitgestellt werden. Als Vorbild verweisen wir auf die erfolgreiche Umsetzung entsprechender Förderung von langzeitarbeitslosen Leistungsberechtigten nach § 16i SGB II. In den fünf Jahren seit der Einführung des Instrumentes „Teilhabe am Arbeitsmarkt“ im Januar 2019 wurden insgesamt 89.500 Förderungen begonnen. Im März 2024 standen mehr als 30.000 Menschen in einem geförderten sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis. Demgegenüber erhielten 2.950 Personen zum Stichtag 31.12.2022 ein Budget für Arbeit (§ 61 SGB IX).
Zukünftiger Wegfall der Anrechnungsmöglichkeit von Werkstattaufträgen auf die Ausgleichsabgabe, damit Arbeitgeber*innen ihre Beschäftigungspflicht im Unternehmen erfüllen und nicht indirekt über Aufträge an eine WfbM abgelten
Die wegfallende Anrechnungsmöglichkeit könne nach Auffassung des Ministeriums kompensiert werden, indem Arbeitgeber*innen Werkstattbeschäftigte übernehmen, die bisher bei ihnen auf ausgelagerten Werkstattplätzen tätig waren oder Menschen mit einem Budget für Arbeit einstellen.
Zweck der Regelung in § 223 SGB IX zur Anrechnung von Werkstattaufträgen auf die Ausgleichabgabe ist, dass für Arbeitgeber*innen ein Anreiz geschaffen wird, Aufträge an Werkstätten für Menschen mit Behinderung zu erteilen. Dadurch sollen Wettbewerbsnachteile der WfbM (reduzierte Produktivität bei hohem Aufwand) ausgeglichen werden und die Auftragslage der Werkstätten und die Beschäftigung der dort beschäftigten Menschen mit Behinderungen wesentlich gefördert werden (…).[1]
Mit der Streichung verbindet das Ministerium die Vorstellung, dass Arbeitgeber*innen in Zukunft Werkstattbeschäftigte übernehmen, die bei ihnen auf ausgelagerten Werkstattplätzen tätig sind oder Menschen mit einem Budget für Arbeit einstellen. Betriebsintergierte Arbeitsplätze sind generell ein mögliches Sprungbrett in eine reguläre Beschäftigung. Dass betroffene Unternehmen Werkstattbeschäftigte allein aufgrund des erzeugten finanziellen Drucks einstellen werden, ist äußerst fraglich. Gelingende Übergänge aus Werkstätten in Beschäftigung auf dem Arbeitsmarkt setzen ein strukturiertes und refinanziertes Übergangsmanagement, barriere- und diskriminierungsfreie Personalgewinnungsprozesse sowie ein ebensolches Arbeitsumfeld auf Seiten der Arbeitgeber*innen voraus.
Die „Studie zu einem transparenten, nachhaltigen und zukunftsfähigen Entgeltsystem für Menschen mit Behinderungen in Werkstätten für behinderte Menschen und deren Perspektiven auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt“ (Entgeltstudie) benennt diese Maßnahme nicht und auch aus Sicht der BAGFW ist sie im bestehenden System nicht zielführend. Vielmehr ist zu befürchten, dass bei einem Wegfall der Anrechnung auf die Ausgleichsabgabe Aufträge an Werkstätten zurückgehen werden. In jedem Fall werden Werkstätten bei Rückgang von Aufträgen einen stärkeren Fokus auf die Akquise von Aufträgen legen müssen. Diese Ressourcen wären sinnvoller im Übergangsmanagement investiert. Sollte das Arbeitsergebnis der Werkstätten durch eine geringere Zahl an Aufträgen sinken, ergäben sich ohne weitere Maßnahmen zudem negative Effekte für die daran gekoppelte Entlohnung der Beschäftigten.
- Mobilität in den Blick nehmen
Notwendig ist aus Sicht der BAGFW zudem die Förderung der Mobilität. Die Entgeltstudie benennt in den Handlungsempfehlungen deutlich, dass fehlende eigene Mobilität die Aufnahme einer Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt erschwert, insbesondere im ländlichen Raum. Neben einem Ausbau eines barrierefreien ÖPNV sollten weitere Maßnahmen zur Förderung der Mobilität umgesetzt werden.
2. Aktionsfeld „Verbesserung der Qualität der beruflichen Bildung“
Die BAGFW teilt das Ziel des BMAS, das Wunsch- und Wahlrecht behinderter Menschen zu stärken. Hier sind gerade in der beruflichen Bildung deutliche Schritte notwendig: Das Berufsbildungssystem ist bisher nicht darauf ausgerichtet, allen jungen Menschen, die eine Ausbildung anstreben, eine solche Ausbildung auch zu ermöglichen. Es zeichnet sich vielmehr durch exkludierende Strukturen aus, die nicht nur Menschen mit Behinderungen diskriminieren.
Die BAGFW, deren Verbände Träger vielfältiger Angebote zur beruflichen Bildung von Menschen mit Behinderungen sind, beteiligt sich gern an dem vom BMAS in Aussicht gestellten Austausch. Sie weist darauf hin, dass die Diskussion mit Blick auf das gesamte System der beruflichen Bildung geführt werden muss. Ein isolierter Blick auf den zu transformierenden Berufsbildungsbereich wird nicht zu einem gleichberechtigten und selbstbestimmten Zugang zu beruflicher Bildung für Menschen mit Behinderungen führen. Vielmehr sollte bereits bekannte gute Praxis in der Weise gestärkt werden, dass sich das System der beruflichen Bildung auf längere Sicht zu einem inklusiveren System transformiert.
3. Aktionsfeld „Entlohnung in den WfbM“
Ausgangspunkt des Werkstattreformprozesses war die Notwendigkeit, das von den WfbM gezahlte Entgelt so zu gestalten, dass sich die Einkommenssituation der Werkstattbeschäftigten verbessert und das System transparenter wird. Es ist enttäuschend, dass gerade in diesem zentralen Anliegen keine erkennbare Änderung stattfinden wird. Nach Auffassung der BAGFW sollte in dieser Legislaturperiode mindestens ein erster Schritt in Richtung einer besseren Entlohnung der Beschäftigten unternommen werden.
4. Aktionsfeld „Weiterentwicklung der Teilhabemöglichkeiten für Menschen in der Tagesförderung“
Ernüchternd sind die Aussagen im Aktionsplan des BMAS zur Teilhabe von Menschen mit komplexen Behinderungen. Die BAGFW hatte im Rahmen des Verbändedialogs, der im Vorfeld des nun vorliegenden Aktionsplans geführt wurde, die Berücksichtigung dieses Personenkreises im Reformprozess als positive Entwicklung wahrgenommen. Die BAGFW hat das Vorhaben des BMAS, eine Studie zu Teilhabebedarfen der Personengruppe in Auftrag zu geben, grundsätzlich begrüßt. Aus Sicht der BAGFW muss der Zugang von Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf zu Bildung und Arbeit zeitnah erfolgen und kann auch schon vor noch zu beauftragender Forschung geschaffen werden. Die nun im Aktionsplan gewählte Formulierung ist unklar und legt nahe, dass der Fokus nun voreilig auf Teilhabemöglichkeiten in Tagesförderstätten begrenzt werden könnte. Dies wäre aus Sicht der BAGFW fatal. Das Recht auf berufliche Bildung und auf Teilhabe an Arbeit für diesen Personenkreis muss endlich zeitnah umgesetzt werden.
[1] BT-Drucksache 18/9954, S. 71
]]>Der Bundesrechnungshof weist auf überschneidende Beratungsangebote auf Landes- und Kommunalebene seit dem Zeitpunkt der Einführung der MBE hin sowie der Durchführung von Bundes- und Landesprogrammen durch zum Teil dieselben Träger.
Die Verbände der BAGFW sehen auch bei den Ländern bzw. den Kommunen eine Aufgabe bei der Finanzierung von Migrationssozialarbeit. Hinsichtlich des Beratungsprogramms der MBE ist indes von einer “Grundzuständigkeit” (BMI) auszugehen. Landesspezifische Beratungsprogramme sollten dabei ergänzend zum bundesweiten Grundangebot der MBE sein. Wir stimmen einerseits zu, dass es hier einer guten Abstimmung zwischen Bund und Ländern bedarf. Wir sehen andererseits aber auch, dass die inhaltlich-konzeptionelle Überschneidung der Beratungsprogramme nur von begrenzter Problematik ist. Ratsuchende frequentieren nur im Ausnahmefall und nicht ohne konkreten Anlass mehrere Beratungsstellen, so dass im einzelnen Beratungsfall i.d.R. keine Doppelarbeit geleistet wird. Wir weisen darauf hin, dass vor Ort in aller Regel eine gute Verzahnung der Programme erfolgt, wodurch Synergieeffekte erzielt werden können. Die Verbände der BAGFW bieten ihre Expertise in dem gemeinsamen Prozess zur besseren Verzahnung und Ergänzung der unterschiedlichen Programme an.
Trotz konzeptioneller Überschneidungen von Programmen sind sowohl die MBE als auch landesfinanzierte Strukturen ausgelastet oder sogar überlastet. Für die MBE zeigen die Controllingzahlen, dass der Bedarf an Beratung nicht geringer ist als das Angebot.[1] Von “Doppelstrukturen”, wie vom BRH bezeichnet, kann somit nicht die Rede sein. Die vom BRH erwähnten Verwaltungskosten für die Abstimmung zwischen Bund und Ländern werden vom BRH nicht beziffert und daher nicht nachvollziehbar.
Erreichung der Zielgruppe der MBE
Der BRH benennt in seinem Bericht darüber hinaus Kritikpunkte bezogen auf die
Zielgruppe, Beratungsdauer und -verfahren in der MBE. Zu diesen wird wie folgt Stellung genommen:
Die Kritik bezieht sich auf die Aufenthaltsdauer der Ratsuchenden: Laut dem Bericht lebte ein größerer Teil der Ratsuchenden bereits länger als drei Jahre in Deutschland, wogegen laut Förderrichtlinie (FRL) das Beratungsangebot der MBE „grundsätzlich Zugewanderten bis zu drei Jahre nach Einreise in das Bundesgebiet oder bis zu drei Jahre nach Erlangung des ersten Aufenthaltstitels zur Verfügung steht.“ Ferner wird in der FRL vermerkt, dass „bei begründetem Bedarf einer nachholenden Integration die MBE darüber hinaus auch bereits länger in Deutschland lebenden Zugewanderten offensteht, die einen einem Neuzugewanderten vergleichbaren Integrationsbedarf aufweisen“.
Damit wurde der Tatsache Rechnung getragen, dass eine Beschränkung des Zugangs zur MBE für Personen in den ersten drei Jahren ihres Aufenthalts den im Beratungsalltag zu bewältigenden Integrationsprozessen nicht gerecht wird und für die erfolgreiche Teilhabe von Zugewanderten nicht zielführend ist. Menschen, die aus familiären (z.B. wegen der Betreuung von kleinen Kindern), gesundheitlichen (z.B. schwere Traumatisierung) oder rechtlichen (lange Dauer des Asylverfahrens, somit zuerst Inanspruchnahme einer Flüchtlingsberatung) Gründen eine Einschränkung und Verzögerung des Integrationsprozesses in den ersten drei Jahren des Aufenthalts erfahren haben, darf der Zugang zur MBE nicht versperrt werden, zumal es oftmals gar keine alternativen Angebote am selben Ort gibt.
Die Ansicht des BRH, die Beratung solle vorrangig Personen in den ersten drei Jahren nach ihrer Einreise offenstehen, berücksichtigt die Lebensrealität der Ratsuchenden, die Rahmenbedingungen und die Anforderungen des Beratungsalltags nicht.
Dauer der Beratung
Der BRH vermerkt in dem Bericht, dass mit der Neukonzeption der Migrationsberatung des Bundes die Nutzung der Beratung grundsätzlich auf drei Jahre begrenzt wurde, um den Fokus auf die Befähigung der Zuwanderer*innen zum selbstständigen Handeln zu legen.
Der BRH stellt fest, dass dementgegen die durchschnittliche Beratungsdauer in 2020 bei 4,4 Jahren lag und somit die Befristung auf drei Jahre bei vielen Beratungen überschritten worden sei. Dies ist unzutreffend, denn der Controlling-Jahresbericht des BAMF 2020 weist aus, dass die Beratungsdauer bei abgeschlossenen komplexen Case-Management-Fällen im Durchschnitt 29,9 Monate und bei einfacher gelagerten Fällen (außerhalb Case Management) durchschnittlich 17,5 Monate beträgt.
Gleichwohl können strukturelle und persönliche Gründe dazu führen, die Integrationsprozesse zu verlangsamen, sodass Beratungsbedarf über drei Jahre hinaus bestehen kann:
- Die behördlichen Prozesse, die einer Begleitung durch die MBE bedürfen (wie zum Beispiel die Erteilung eines Aufenthaltstitels oder der Familiennachzug), dauern häufig sehr lange, wodurch sich in der Folge auch die Beratung verlängern muss.
- Einige Schritte der Integration, wie beispielsweise erfolgreiche und nachhaltige Arbeitsmarktintegration, können in der Regel nicht innerhalb von drei Jahren abgeschlossen werden.
- Die Integrationsprozesse werden aufgrund der schwierigen familiären oder psychosozialen Lage verzögert, was auch die Beratungsprozesse verlangsamt.
- Das Beratungsangebot ist ein individuelles und bedarfsorientiertes Angebot. Solange die Ratsuchenden begründeten Bedarf an nachholender Integration haben und insbesondere nicht die erforderlichen Sprachkenntnisse (B2) besitzen, um sich in den Regelangeboten zurecht zu finden, kann der Beratungsbedarf sich individuell über mehr als drei Jahre hinziehen.
Das Ziel der MBE ist die erfolgreiche Integration und Teilhabe. Um dieses Ziel zu erreichen, ist aus oben genannten Gründen häufig eine längere Beratungsdauer als drei Jahre erforderlich. Die Beratungsdauer streng zeitlich zu beschränken, ungeachtet der vielen Faktoren, die die Zielerreichung in diesem Zeitraum erschweren, ist nicht sachgerecht und entspricht auch nicht der Förderrichtlinie.
Das Verfahren Case Management
Beim Case Management handelt es sich um ein hochwertiges Verfahren, was strukturierte Abläufe und - wo passend - auch Methoden zur Verfügung stellt, um Lösungswege für komplexe Problemlagen aufzuzeigen. Der BRH moniert, dass das im Zuge der Neukonzeption als Standard vorgesehene Case Managements nur in 28 % der Fälle von den Beratungsstellen angewandt wird.
Das bedeutet schlichtweg, dass es in 28 % der Fälle aus professioneller Sicht in Abstimmung mit der ratsuchenden Person angezeigt war, Case Management anzuwenden.
In 72 % der Beratungsfälle wurde unter Abwägung aller Umstände (einschließlich der zeitlichen Ressourcen) und unter Einbeziehung der Ziele der ratsuchenden Person aus professioneller Sicht ein anderes Verfahren oder eine andere Methode zur Zielerreichung für passend befunden.
Angebote der Sozialen Arbeit müssen sich stets an den sich wandelnden Problemlagen ihrer Nutzer*innen im Kontext sich verändernder Rahmenbedingungen orientieren – und nicht an 20 Jahre alten konzeptionellen Überlegungen. Das Case Management ist aktuell zwar weiterhin ein bedeutendes, aber bei Weitem nicht das einzige zielführende Verfahren in der Migrationsberatung. Gerade bei akut schwierigen existenziellen Lagen sind andere Methoden wie z.B. eine Krisenintervention besser geeignet. Die Anwendung des Case Managements ist zudem zeitaufwändig und bei einem sehr hohen Beratungsaufkommen, wie die MBE es vorweist (2022 waren es im Durchschnitt 283,5 Beratungsfälle pro Vollzeitstelle), mit den vom Bund zur Verfügung gestellten Mitteln nicht in allen angezeigten Fällen zu leisten.
Aus fachlicher Sicht ist das Verfahren oder die Methode der Beratung an der jeweiligen Problemlage der Ratsuchenden und den jeweiligen Rahmenbedingungen der Beratung auszurichten. Es gibt zahlreiche fachliche Gründe, aber auch Beschränkungen der vorhandenen Beratungsressourcen, weshalb im Einzelfall auf ein Case Management verzichtet wird.
Zuwendungsverfahren
A) Eigenmittel
Der Bundesrechnungshof moniert die Einschränkung der Trägervielfalt sowie die (zu geringen) Eigenmittelquoten der MBE-Trägerverbände. So sollten vielmehr nur die Träger gefördert werden, die anteilig die meisten Eigenmittel einbringen und so ihr Eigeninteresse an der MBE nachweisen. Zusätzlich sollte das BMI eine ambitionierte Mindestquote von Eigenmitteln festlegen, um angesichts der vorgesehenen Absenkung des Haushaltsansatzes Einsparpotenziale nutzen und mit den eingesetzten Mitteln möglichst viel Wirkung zu erzielen.
Die Eigenmittelmöglichkeiten der einzelnen Träger vor Ort hängen von der regionalen Verortung, dem Angebotsspektrum und der Mitgliederstruktur des Verbandes ab. Allen Trägern gemein ist jedoch die Orientierung am Konzept der Wirtschaftlichkeit, um einen Fortbestand der verschiedenen Angebote eines Trägers zu sichern. Die im Laufe der Jahre leicht zurückgehenden Eigenmittel lassen sich vor allem auf erschwerte Rahmenbedingungen wie die Corona-Pandemie, Tariferhöhungen für die Mitarbeiter*innen und einen sukzessiven Anstieg allgemeiner, zum Erhalt der Arbeitsfähigkeit der Träger notwendigen Kosten zurückführen. Hinzuweisen ist auch darauf, dass neben den unumgänglichen Tariferhöhungen eigentlich auch verbesserte Eingruppierungen des Personals der MBE erforderlich wären.
Der BRH-Bericht beanstandet die Mindesthöhe der Eigenmittel laut geänderter Förderrichtlinie [2] als zu gering. Allerdings führt diese Änderung aktuell dazu, dass einzelne Träger die Durchführung der MBE einstellen, da sie die notwendigen Eigenmittel nicht aufbringen können.
Zusammengefasst: Ein Erfordernis, Eigenmittel einzubringen wird von den Trägerverbänden grundsätzlich akzeptiert. Zusätzliche Eigenmittel können von den Trägern jedoch nicht aufgebracht werden und würden die Leistungsfähigkeit übersteigen. Ein Spielraum zu Einsparungen von Bundesmitteln durch höher anzusetzende Eigenmittel besteht daher nicht.
B) Projektförderung
Der Bundesrechnungshof weist aus, dass der Bewilligungszeitraum das Kalenderjahr ist. Seit Einführung der MBE endete jeweils das Projekt zum Jahresende und ein neues Projekt begann zum Jahresanfang des folgenden Jahres, obwohl die Träger und die Beratungsfachkräfte durchgängig und ohne Unterbrechung die MBE durchführten. Beratungskonzeption und Beratungsfälle, kommunale Netzwerkarbeit, Arbeitsverträge der Beratungsfachkräfte oder Mietverträge für Büroräume sind regelmäßig nicht auf den einjährigen Bewilligungszeitraum befristet. Die MBE ist allerdings eine Daueraufgabe, die nicht mit dem Kalenderjahr endet, um im Folgejahr neu zu entstehen.
Die BAGFW-Verbände empfehlen, die Förderlogik und die Umsetzung des Programms der MBE zu harmonisieren: Die Migrationsberatung für erwachsene Zugewanderte sollte von einer Projektförderung in eine Dauerförderung überführt werden, da sie in der Einwanderungsgesellschaft eine Daueraufgabe ist und kein jährlich abgrenzbares Projekt.
Wirtschaftlichkeit
Der Bundesrechnungshof kritisiert das Fehlen einer Wirtschaftlichkeitsuntersuchung. Diese soll bis zum März 2024 durch das BAMF vorgelegt werden. Die Verbände begrüßen die geforderte Wirtschaftlichkeitsuntersuchung und nehmen gegebenenfalls nach Abschluss und Vorliegen der Ergebnisse hierzu gesondert Stellung.
Erfolgskontrolle
Die Aussage des Bundesrechnungshofs, es sei auf eine ordnungsgemäße Erfolgskontrolle verzichtet worden (S.7, Ziff. 0.4), ist nicht nachvollziehbar. Jede Beratungsstelle unterliegt der projektbezogenen Erfolgskontrolle. Das standardisierte Monitoring erfolgt laufend über ein ausdifferenziertes und digital gestütztes Controlling-Verfahren, in dem jeder Beratungsfall, sogar jedes Beratungsgespräch und wesentliche Daten (auch zu den Schwerpunktbereichen der Integration wie Bildung, Arbeit, Sprache) erfasst werden.
Der Bundesrechnungshof bemängelt, dass die generierten Daten nicht belegen, ob und inwieweit die MBE ursächlich für etwaige Verbesserungen war, was das BAMF auch einräumt. Die Frage der Kausalität zwischen Maßnahme (= Beratungstätigkeit) und einem (Beratungs-)Erfolg ist nicht nur in der MBE, sondern insgesamt in der Sozialen Arbeit (eine Arbeit mit und für Menschen) methodisch schwer zu belegen. Die Verbände verweisen in diesem Zusammenhang auf die Forschungsstudie „Zehn Jahre MBE“3, in der Wirkung und Nachhaltigkeit der Beratung Gegenstand einer umfangreichen Untersuchung war. Mittels stichprobenartiger Befragungen wurden ehemalige Ratsuchende zu ihrer Situation nach Beratungsende befragt, um hierüber besseren Aufschluss zu erhalten. Die Studie zeigt insgesamt eine hohe Wirksamkeit und Zufriedenheit der Ratsuchenden.[3] Zurzeit erfolgt in Umsetzung eines Maßgabebeschlusses des Haushaltsausschusses unter Steuerung des BAMF eine erneute Evaluation. Die Verbände der BAGFW begrüßen und unterstützen die aktuelle Evaluation der MBE, die durch das Deutsche Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) e.V. im Auftrag des Zuwendungsgebers durchgeführt wird.
Die jährlichen Einzelberichte der Beratungsstellen sind ein wichtiger Gradmesser zur Beurteilung des förderpolitischen Erfolgs und ermöglichen eine standortbezogene Betrachtung jenseits von rein quantitativen (u.U. komprimierten) Daten.
Ebenfalls findet die Praxis der Vor-Ort-Prüfungen (vgl. 5.2. der Förderrichtlinie) im Bericht keine Erwähnung. Zu jeder erfolgten Prüfung wird ein Bericht in Form einer Niederschrift durch die*den Regionalkoordinator*in verfasst. Aus den Ergebnissen der Vor-Ort-Prüfungen können Erkenntnisse gewonnen werden, die für Steuerungsaufgaben und die Weiterentwicklung in der MBE von Bedeutung sind.
Die BAGFW-Verbände halten die Beanstandung, wonach keine ausreichenden oder unzulänglichen Erfolgskontrollen zum Beratungsangebot der MBE durchgeführt wurden und werden, für nicht nachvollziehbar.
Fazit
Bundeszuständigkeit für die MBE
Migrationsberatung wird in der föderalen Struktur arbeitsteilig von Bund, Ländern und Kommunen in diversen Programmen ermöglicht. Die Programme ergänzen sich, doppeln sich aber nicht. Eine Bundeszuständigkeit besteht über das Aufenthaltsgesetz eindeutig.
Die Verbände der BAGFW empfehlen eine verbindliche Klarstellung über die Zuständigkeit des Bundes für die Migrationsberatung für erwachsene Zugewanderte (“Grundzuständigkeit”) zu schaffen, in dem der Gesetzgeber im Aufenthaltsgesetz ein bundesweites Grundangebot festschreibt und perspektivisch einen Anspruch auf Migrationsberatung verankert.
Von der Projektförderung zu Verstetigung
Die kontinuierlich erfolgende Einzelfallarbeit der MBE und ihre Netzwerkarbeit im Sozialraum sind eine das Kalenderjahr übergreifende Daueraufgabe.
Daher empfehlen die BAGFW-Verbände: Die Migrationsberatung für erwachsene Zugewanderte sollte von einer Projektförderung in eine Dauerförderung überführt werden.
Zielgruppenbegrenzung auf die ersten drei Aufenthaltsjahre nicht sachgerecht
Die BAGFW-Verbände empfehlen, von einer Begrenzung einer Beratung in den ersten drei Jahren nach Ankunft abzusehen, sondern vielmehr die Problemlagen und die Lebensrealität der Ratsuchenden sowie den Beratungsalltag und die Fachlichkeit der Beratungsdienste für die Konzeption der Migrationsberatung heranzuziehen. Die Förderrichtlinie ermöglicht die Beratung “bei begründetem Bedarf einer nachholenden Integration”.
Anwendung des Case Managements bietet keinen Anlass zur Beanstandung
Case Management: Aus fachlicher Sicht ist das Verfahren oder die Methode der Beratung an der jeweiligen Problemlage der Ratsuchenden und den jeweiligen Rahmenbedingungen der Beratung auszurichten. Es gibt zahlreiche fachliche Gründe, aber auch Beschränkungen der vorhandenen Beratungsressourcen, weshalb im Einzelfall auf ein Case Management durchgeführt oder auch darauf verzichtet wird. Die Beratungsdienste vor Ort entscheiden professionell und auf Grundlage ihres fachlichen Handels hierüber.
Eigenmittel
Ein Erfordernis Eigenmittel einzubringen, wird von den Trägerverbänden grundsätzlich akzeptiert. Zusätzliche Eigenmittel können von den Trägern jedoch nicht aufgebracht werden und würden ihre Leistungsfähigkeit übersteigen. Ein Spielraum zur Einsparung von Bundesmitteln durch höher anzusetzende Eigenmittel besteht daher nicht.
[1] So liegt der Beratungsschlüssel seit Jahren bei über 300 Fällen pro Kalenderjahr im Verhältnis zu 1VZÄ, sollte jedoch allerhöchstens bei 1:259 liegen.
[2] Vgl. „4.1 Umfang und Höhe der Zuwendung“ der Förderrichtlinien MBE, herausgegeben durch das Bundesministerium des Inneren, für Bau und Heimat am 12.06.2023, veröffentlicht im Gemeinsamen Ministerialblatt 74. Jahrgang Nr.35 (S. 749
[3] Die Ratsuchenden messen der MBE einen hohen Stellenwert bei – so schätzen es 90 Prozent der im Rahmen der Studie Befragten als „sehr wichtig" ein, dass es das Angebot der MBE in Deutschland gibt. In der überwiegenden Mehrheit der Beratungsfälle (88%) konnte eine spürbare Verbesserung ihrer Lage erzielt werden.
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Die Europäischen Struktur- und Investitionsfonds und insbesondere der Europäische Sozialfonds (ESF) sind für die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege wichtige Impulsgeber für die Erprobung innovativer Ideen und Methoden, insbesondere bei der Bekämpfung von Armut und gesellschaftlicher Ausgrenzung und der Beschäftigungsförderung und Anpassung an den Wandel in der Berufswelt, hier der gemeinnützigen Sozialwirtschaft. Dabei sind die Gelder der ESI-Fonds additiv zu sehen, sie ersetzen keine regelfinanzierten Instrumente der sozialen Sicherung.
Die BAGFW begrüßt die thematische Schwerpunktsetzung des ESF Plus auf die Grundsätze der europäischen Säule sozialer Rechte und die Umsetzung der länderspezifischen Empfehlungen. Durch die Stärkung der sozialen Komponente im ESF konnten Zielgruppen im ESF gefördert werden, die von den nationalen Fördersystemen nicht oder unzureichend unterstützt werden, wie z.B. ältere von Armut und Einsamkeit bedrohte Menschen beim Übergang in den Ruhestand, Obdachlose etc. Hier konnte ein echter Mehrwert durch europäische Gelder erzielt werden, den die Menschen direkt vor Ort spüren. Als unabdingbar für den Erfolg sehen wir die Vorgabe in der ESF-Verordnung, dass die Mitgliedstaaten mindestens 25% ihrer Mittel der ESF+-Komponente mit geteilter Mittelverwaltung für die spezifischen Ziele im Politikbereich „Soziale Inklusion“, einschließlich der Förderung der sozioökonomischen Integration von Drittstaatsangehörigen, bereitstellen müssen (Art. 7 der ESF-Verordnung).
Die Integration des Europäischen Hilfsfonds EHAP in den ESF wertet die BAGFW als Erfolg. Synergien zwischen ESF und EHAP konnten deutlicher herausgearbeitet und Hilfen stärker vernetzt und damit auch der Bezug zum Arbeitsmarkt hergestellt werden. Auch hier ist die EU-Vorgabe, dass mindestens 3% der Gelder eines Mitgliedstaates für die Unterstützung der am stärksten benachteiligten Personen bereitgestellt werden müssen, Grundlage für den Erfolg. Sehr hilfreich ist hier auch die erhöhte Ko-Finanzierung von 90% zur Unterstützung der am stärksten benachteiligten Personen (Art. 10 der ESF-Verordnung) sowie die vereinfachte Indikatorik bei der Datenerfassung (Anhang II).
Leider werden die inhaltlich und thematisch hochrelevanten Ziele des ESF weiterhin durch administrative Vorgaben konterkariert:
- Die abgesenkten Ko-Finanzierungssätze der EU wurden wie befürchtet zu einem Großteil direkt an die Projektträger weitergegeben. Obwohl die ESF Plus-Programme inhaltlich höchst relevant sind, bleiben die Bewerberzahlen weit hinter den Erwartungen zurück. Projektträger, insbesondere aus dem sozialen Bereich, arbeiten gemeinnützig und können nicht bis zu 60% der Projektkosten selbst tragen. Möglichkeiten, die Ko-Finanzierung durch z. B. Freistellungen von Arbeitnehmenden darzustellen, sind hilfreich, jedoch nicht mehr ausreichend, da der Fachkräftemangel zu geringeren Freistellungen führt. Dies wirkt sich vor allem auf die KMU’s in den Verbänden der gemeinnützigen Sozialwirtschaft aus, die letztlich kaum noch in der Lage sind, den gesellschaftlichen und beruflichen Wandel adäquat zu begleiten. Soll der ESF in Zukunft weiterhin vor Ort wirken, ist eine Erhöhung der EU-Ko-Finanzierungssätze, insbesondere mit Blick auf die knappen nationalen Haushalte, unausweichlich. Die von der EU erhoffte Hebelwirkung durch eine Absenkung der Ko-Finanzierungssätze an die Nationalstaaten ist nicht eingetroffen. Stattdessen müssen ESF-Gelder über Änderungsanträge umgewidmet werden oder bleiben ungenutzt, was die Wirksamkeit des ESF Plus insgesamt schwächt.
- Vereinfachte Kostenoptionen bewähren sich weiterhin, insbesondere die Pauschalierung von Restkosten oder Gesamtprojektpauschalen bei kleineren Fördersummen. Große Probleme bereitet jedoch die Pauschalierung von Personalkosten. Insbesondere in Zeiten hoher Inflation sind Personalkostenpauschalen zu unflexibel, um Tariferhöhungen zeitnah aufzufangen. Zudem sind in den meisten Fällen Urlaubs- und Krankheitstage zu gering angesetzt und zukünftige Tarifsteigerungen nicht beachtet. Die EU-Vorgabe von 1720 anzusetzenden Jahresarbeitsstunden ist in Deutschland nicht händelbar. Pauschalen, die sich nur auf die Erreichung bestimmter Ergebnisse beziehen, stehen dem Innovations- und Experimentiercharakter des ESF entgegen, können zu Creaming-Out-Effekten führen und bereiten neue Probleme in der Wirkungsmessung. Sie sind deshalb in der Umsetzung von ESF geförderten Programmen abzulehnen.
- Die umfangreiche, insbesondere die personenbezogene, Datenerfassung der aktuellen Förderperiode führt weiterhin zu großen Problemen bei der Programm- und Projektumsetzung. In ESF-Projekten konnten Teilnehmende oftmals nicht für die Förderung gezählt werden, wenn diese ihre Daten nicht vollständig abgegeben haben. Dies bedeutet, dass der Projektträger für diese Teilnehmenden kein Geld aus dem ESF erhalten hat. Die BAGFW empfiehlt daher, von der Erhebung nicht relevanter Daten abzusehen und die geforderten Indikatoren programmspezifisch anzupassen. Um Diskriminierung zu vermeiden und die Datenerhebung auf freiwilliger Basis bei besonders benachteiligten Personengruppen oder bei Minderjährigen zu erhöhen, sollte die Möglichkeit gegeben werden, diese Daten anonymisiert zu erheben.
- Die Erfahrung der laufenden Förderperiode zeigt, dass Programme besonders erfolgreich und passgenau durchgeführt werden, wenn eng und auf Augenhöhe mit (zivilgesellschaftlichen) Partnern zusammengearbeitet wird. Dies betrifft die Programmplanung, Durchführung und Evaluation der Fonds. Der Europäische Verhaltenskodex für Partnerschaften im Rahmen der Europäischen Struktur- und Investitionsfonds ist dabei eine hilfreiche Grundlage. Aufgrund fehlender personeller und finanzieller Ressourcen („capacity“) können die Partner jedoch oftmals weder das notwendige Wissen aufbauen noch ihre Rolle im Rahmen des Partnerschaftsprinzips in dem erforderlichen Maße wahrnehmen. Die Mitgliedstaaten sollten daher verstärkt in Beratungs- und Unterstützungsstrukturen für Partnerorganisationen im Rahmen der technischen Hilfe investieren.
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In einem gemeinsam erarbeiteten Forderungspapier weisen die BKMO und die BAGFW auf einige elementare Punkte hin, die bei der Umsetzung des Gesetzesvorhabens beachtet werden müssen:
- Der Anspruch auf Sprachmittlung muss für alle Gesundheitsleistungen gelten, die im GKV-Leistungskatalog geführt werden.
- Auch Menschen, die Anspruch auf gesundheitliche Leistungen nach dem AsylbLG haben, benötigen einen gesicherten Anspruch auf Sprachmittlung in der gesundheitlichen Versorgung.
- Langfristig ist der Anspruch auf Sprachmittlung übergreifend im SGB I und im SGB X zu verankern.
In dem Papier wurden Empfehlungen formuliert, unter anderem zu den folgenden Fragen:
- Wie kann die Entscheidung erfolgen, ob eine Sprachmittlung benötigt wird?
- Welche Sprachmittlungsformate sind adäquat und erforderlich?
- Wie ist die Qualität der Sprachmittlung sicherzustellen?
Das Forderungspapier basiert auf den Ergebnissen zweier Fachgespräche mit Expert*innen aus der Wissenschaft und Fachpraxis, die im Jahr 2022 gemeinsam von der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) und dem Verband für interkulturelle Wohlfahrtspflege, Empowerment und Diversity (VIW) ausgerichtet wurden.
Die Dokumentationen der beiden Fachgespräche sind online verfügbar unter:
Auch der aktuelle Bericht des Nationalen Diskriminierungs- & Rassismusmonitors am Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) stützt diese Forderungen und zeigt auf, dass u.a. die fehlende Kostenübernahme von Sprachmittlungsleistungen bestehende Strukturen von Diskriminierung und Rassismus verstärken kann. Empfohlen wird auch hier die Förderung von Sprachmittlung und Sprachkompetenzen der Beschäftigten sowie die mehrsprachige und multimediale Gestaltung von Angeboten zum Abbau von Sprachbarrieren:
https://www.dezim-institut.de/publikationen/publikation-detail/rassismus-und-seine-symptome/
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Stellungnahme der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) zum Vorschlag der Europäischen Kommission für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rats über europäische grenzübergreifende Vereine, COM (2023) 516, 05.09.2023
Im Folgenden bezieht die BAGFW Stellung zum Richtlinienentwurf für einen grenzüberschreitend tätigen Verein (Abk. „ECBA“-European Cross Border Association) der EU-Kommission vom 5. September 2023.
In der EU gibt es eine Vielzahl verschiedener Erbringer sozialer Dienstleistungen, wobei man zwischen öffentlichen und privaten Anbietern unterscheiden muss. Außerdem ist im Hinblick auf private Anbieter zwischen Akteuren mit Gewinnerzielungsabsicht und den gemeinnützigen Organisationen zu unterscheiden.
Deutschland hat eine lange Tradition gemeinnütziger Erbringer sozialer Dienstleistungen. Die sechs Verbände der Freien Wohlfahrtspflege (FW) sind die größten Anbieter gemeinnütziger Sozialdienstleistungen in Deutschland mit 1,9 Millionen Beschäftigten und etwa 3 Millionen Freiwilligen. Die besondere Rolle der Freien Wohlfahrtspflege ergibt sich aus dem Sozialstaatsprinzip in Artikel 20 Absatz 1 des Grundgesetzes sowie dem Subsidiaritätsprinzip.
Ein prägendes Merkmal der Einrichtungen der Freien Wohlfahrtspflege ist die Gemeinnützigkeit, die in Deutschland in der Abgabenordnung (AO) geregelt ist. Die Gemeinnützigkeit stellt sicher, dass die vorhandenen Mittel effizient und zeitnah zu Gunsten der hilfsbedürftigen Menschen verwandt werden. Sie stellt somit ein Gütesiegel für die Tätigkeit der Einrichtungen der Freien Wohlfahrtspflege in Deutschland dar.
- Der ECBA als Stärkung der Zivilgesellschaft und des sozialen Zusammenhalts
Die BAGFW begrüßt die Initiative der EU-Kommission zu einer neuen EU-weiten Vereinsform, des ECBA, mit dem vor allem die zivilgesellschaftlichen Aktivitäten in den 27 Mitgliedstaaten gestärkt werden sollen. Der Richtlinienentwurf (ff. RL-E) soll für die grenzübergreifende Tätigkeit von Sozialunternehmen im Rahmen des Binnenmarktes einen Beitrag zum Bürokratieabbau leisten, insbesondere durch die Beseitigung von administrativen Hindernissen. Durch die Einführung des ECBA können Demokratie und gesellschaftlicher Zusammenhalt innerhalb der EU durch eine rechtlich verbindliche Struktur gefördert werden, was einen europäischen Mehrwert darstellt. Die BAGFW unterstützt die demokratiefördernde Wirkung eines ECBA, insbesondere in politischen Systemen, in denen aufgrund autoritär ausgerichteter Regierungen die Handlungsfreiheit und die partnerschaftlichen Spielräume der Zivilgesellschaft im Verhältnis zu staatlichen Stellen eingeschränkt sind. Nur in einer EU, in der die demokratischen und rechtsstaatlichen Werte gelebt werden können, können die zivilgesellschaftlichen Akteure mit ihrem Einsatz für diese Werte auch die Grundlage für einen sozialen Zusammenhalt bilden. Menschen in Not und in Hilfsbedürftigkeit, Menschen mit Benachteiligungen und Menschen mit Armutserfahrung brauchen zudem eine stabile soziale Infrastruktur, die sich wiederum stärkend auf eine lebendige Demokratie auswirkt. Dieses Zusammenspiel zwischen der Stärkung der Zivilgesellschaft und einer grenzüberschreitenden Vereinstätigkeit sieht die BAGFW als Chance für die demokratische Entwicklung und den grenzüberschreitenden Ausbau des sozialen Zusammenhalts.
- Der ECBA als neue Rechtsform
Ein ECBA muss „etwaige Gewinne ausschließlich für die Verfolgung seiner satzungsmäßigen Ziele verwenden, ohne dass sie an die Mitglieder ausgeschüttet werden“ (Art. 3 Abs. 2 RL-E). Die Umsetzung der geplanten Richtlinie setzt eine national zu bestimmende Rechtsform voraus (Art. 3 Abs. 1, Art. 4 Abs. 2, Abs. 4 RL-E), die dem ECBA als Verein ohne Erwerbszweck am ähnlichsten ist. In Deutschland existiert keine „ähnlichste“ Rechtsform laut Art. 4 Abs. 4 RL-E, die die Komponenten hat, „keinen Erwerbszweck“ zu verfolgen und „etwaige Gewinne ausschließlich für die Verfolgung seiner satzungsmäßigen Ziele verwenden zu müssen, ohne dass sie an die Mitglieder ausgeschüttet werden“. Eine ähnliche Rechtsform existiert nach deutschem Recht in § 21 BGB. Ein Idealverein darf auch wirtschaftlich tätig sein, sofern die wirtschaftliche Tätigkeit die Voraussetzung für die Verwirklichung der ideellen Satzung ist. Allerdings ist das Gewinnausschüttungsverbot nicht an die Rechtsform des Idealvereins nach § 21 BGB geknüpft, sondern findet sich in den Regelungen zur Gemeinnützigkeit in der Abgabenordnung. Beim Idealverein dürfen zwar wirtschaftliche Zielsetzungen allenfalls eine untergeordnete Rolle spielen. Ein Idealverein mit überwiegender wirtschaftlicher Zielsetzung ist nach deutschem Recht nicht eintragungsfähig. Nach der sog. Kita-Rechtsprechung des BGH indiziert aber die Anerkennung eines Vereins als gemeinnützig iSd. Abgabenordnung, dass ein Verein nicht auf einen wirtschaftlichen Hauptzweck ausgerichtet ist. Deswegen spricht sich die BAGFW dafür aus, dass der Idealverein nach § 21 BGB als dem ECBA „ähnlichste“ Rechtsform bestimmt wird.
- Der ECBA und eine mögliche Anerkennung als gemeinnütziger Verein
Hinsichtlich der Gemeinnützigkeit ist die Rechtsform des ECBA neutral und kann nicht durch die bloße Registrierung im Herkunftsmitgliedstaat bzw. durch die automatische Anerkennung als ECBA in einem weiteren Mitgliedstaat gemeinnützig werden. Das Gemeinnützigkeitsrecht ist stark nationalstaatlich und insbesondere in Deutschland steuerrechtlich geprägt. Damit bewegen sich Regelungen zur Gemeinnützigkeit außerhalb des Kompetenzbereichs der EU.
Die BAGFW betont diese Wertung der Subsidiarität und begrüßt die Offenheit des Entwurfs in Bezug auf die unterschiedlichen Formen der Gemeinnützigkeit innerhalb der Mitgliedstaaten. Diese Vielfalt wird den zahlreichen Möglichkeiten gerecht, die in den Mitgliedstaaten zur Ausgestaltung des Allgemeininteresses wahrgenommen werden. Für die Einrichtungen der Freien Wohlfahrtspflege ist die Gemeinnützigkeit ein prägendes Element. Zahlreiche Elemente der Gemeinnützigkeit, anhand deren der Gesetzgeber die Freie Wohlfahrtspflege für die Gewährung der sozialen Infrastruktur als Garant einstuft, sind Kerngehalt der sozialstaatlichen Ausgestaltung.
Die BAGFW sieht in dem Gewinnausschüttungsverbot des ECBA einen Beitrag zur Beschreibung des ausbleibenden Erwerbszwecks. Ebenso positiv sieht die Freie Wohlfahrtspflege, dass die Ausgestaltung der Gemeinnützigkeit im Einzelnen den Mitgliedstaaten überlassen bleiben soll. ECBAs haben zudem alle „nationalen Vorschriften, die nach nationalem Recht für die ähnlichste Vereinigung ohne Erwerbszweck gelten“ zu beachten (Art. 4 Abs. 2). Dies bezieht sich nicht nur auf die vereinsrechtlichen Regelungen, sondern prinzipiell auch auf die Regeln der Gemeinnützigkeit. Allerdings ist das Steuerrecht, die Rechtsgrundlage für unterschiedliche Gemeinnützigkeitsformen innerhalb der Mitgliedstaaten der EU, entsprechend dem Kompetenzgefüge der EU vom Anwendungsbereich des RL-E ausgeschlossen.[1] Die BAGFW bewertet die Schaffung eines ECBA positiv, da es ECBAs grundsätzlich ebenso mit national unterschiedlichen Gemeinnützigkeitsregimes möglich sein würde, grenzüberschreitend und kooperativ tätig zu sein.
Dem allgemeinen Recht auf Nichtdiskriminierung, wird u. a. in Art. 13 RL-E Rechnung getragen, indem dem ECBA ein ungehinderter, diskriminierungsfreier Zugang zu öffentlichen Finanzmitteln zugesprochen wird. Dies ist für die BAGFW ein dem europäischen Recht naturgemäß eigenes Prinzip, das die logische Folge aus Art. 18 AEUV ist. Mit der Nicht-Diskriminierung geht auch der Grundsatz der Gleichbehandlung einher (Art. 9 RL-E). ECBAs müssen gleichbehandelt werden wie die in der „innerstaatlichen Rechtsordnung ähnlichste Rechtsform für Vereinigungen ohne Erwerbszweck“ (Art. 4 Abs. 4). Ein ECBA könnte mithin eine Anerkennung als gemeinnützige Körperschaft im Sinne der Abgabenordnung gemäß §§ 51 ff. AO anstreben, muss dafür aber die gleichen Voraussetzungen erfüllen, die auch jede nationale gemeinnützige Körperschaft erfüllen muss (Art. 4 Abs. 2 AO). Die Anforderungen an eine Steuerbefreiung müssten für jedes Land getrennt betrachtet werden. Eine äquivalente Zielerreichung wäre nur durch entsprechende (nicht identische) Anforderungen in den jeweiligen Mitgliedsländern möglich. Sichergestellt sein muss aus Sicht der BAGFW, dass nicht durch den ECBA geringere Anforderungen an das Gemeinnützigkeitsrecht gestellt werden können, indem auf Regelungen in anderen Ländern verwiesen werden kann.
- Der ECBA und religiöse Gemeinschaften
Einige Träger der Freien Wohlfahrtspflege würden gem. Art. 3 Abs. 1 lit. des Richtlinien-Vorschlages unter die Ausnahme zur Gründung eines ECBA fallen. Neben den konfessionellen Trägern beträfe die Regelung z.B. auch muslimische Vereine oder Vereine aus dem freikirchlichen Bereich. Diese Vorschrift sieht vor, dass „religiöse Gemeinschaften und Vereinigungen solcher Gemeinschaften“ vom Anwendungsbereich des Richtlinienvorschlages ausgenommen sind. In Erwägungsgrund 17 wird diesbezüglich auf Art. 17 AEUV verwiesen. Demnach achtet die EU den Status, den Kirchen und religiöse Vereinigungen oder Gemeinschaften in den Mitgliedstaaten nach deren Rechtsvorschriften genießen, und beeinträchtigt ihn nicht.
Im laufenden Gesetzgebungsverfahren muss sichergestellt werden, dass ihr Status aus Art. 17 AEUV nach nationalem Recht vollumfänglich geachtet bleibt und andererseits die gesellschaftsrechtliche Organisationsfreiheit nicht eingeschränkt werden.
- Vereinsverbote
Die BAGFW möchte ferner auf die Regelung zur unfreiwilligen Auflösung eines Vereins in Art. 25 Abs. 2 Buchst. b des Richtlinien-Vorschlags hinweisen, die sich von der deutschen Regelung unterscheidet. Die Regelungen für ein Vereinsverbot nach deutschem Recht sind in § 3 Abs. 1 Satz 1 VereinsG geregelt. Der Richtlinienvorschlag würde die deutsche Regelung zu Vereinsverboten für grenzübergreifende Vereine einschränken und ist daher aus unserer Sicht nicht verhältnismäßig. Vereinsverbote, wie sie jüngst im Bereich von Organisationen von „Samidoun Deutschland“ stattgefunden haben, müssen weiterhin möglich sein, wenn der Verein die Tatbestände der im Vereinsgesetz normierten Verbotsgründe erfüllt.
- Fazit
Die BAGFW wertet den Entwurf insgesamt positiv, da mit dem ECBA nationale Vereinsformen um eine europäische Dimension ergänzt werden, da trotz der zu erwartenden geringen praktischen Resonanz ein hoher Symbolwert bestehen würde. Darüber hinaus ist ein weiteres hervorzuhebendes Element des Vorschlags, dass es jedem ECBA frei zur Wahl steht, in dem jeweiligen Mitgliedstaat eine Anerkennung der Gemeinnützigkeit anzustreben, falls ein solcher Status in dem jeweiligen Mitgliedstaat existiert. Weiterhin positiv hervorzuheben ist, dass die Schaffung eines ECBA zu Reformimpulsen für das deutsche Vereinsrecht führen kann und dort zu einem „Digitalisierungsschub“ führen könnte. Die Schaffung von rechtlichen Rahmenbedingungen für die gegenseitige Anerkennung von Vereinen ohne Erwerbszweck in der EU sollte Mindestziel einer Regelung sein.
Insgesamt würde ein ECBA die zivilgesellschaftliche und demokratische Entwicklung innerhalb der EU durch die grenzüberschreitende Stärkung der Zivilgesellschaft stützen, denen die nationale Unterstützung aufgrund autoritärer und demokratiefeindlicher Bedingungen versagt wird. Auch dies ist der BAGFW sehr wichtig, um die Werte der EU als Grundlage für soziale Stabilität zu verwirklichen.
Berlin/Brüssel, 06.12.2023
Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege e. V.
Dr. Gerhard Timm
Geschäftsführer
Kontakt:
Dr. Stephanie Scholz (dr.stephanie.scholz(at)diakonie.de)
Dr. Hannah Adzakpa (hannah.adzakpa(at)caritas.de)
Marius Isenberg (marius.isenberg(at)awo.org)
Rebecca Sunnus (rebecca.sunnus(at)bag-wohlfahrt.de)
[1] „Es ist nicht Ziel dieser Richtlinie, bestimmte für ECBA im Binnenmarkt relevante Rechtsbereiche – insbesondere Steuern, Arbeitsrecht, Wettbewerb, geistiges Eigentum, Bekämpfung der Geldwäsche und Insolvenz – zu regeln.“, RL-E, S.5
]]>Die komplette Stellungnahme befindet sich untenstehend zum Downloaden.
]]>Die Rechtliche Betreuung betont mit der Reform des Betreuungsrechts zum 01.01.2023 das Unterstützungsinstrument für volljährige Menschen, welche aufgrund von Erkrankung oder Behinderung nicht mehr in der Lage sind, ganz oder teilweise ihre rechtlichen Angelegenheiten selbst zu besorgen. Rechtliche Betreuung stärkt das Selbstbestimmungsrecht betreuter Menschen. Die Ermittlung und Befolgung der individuellen Wünsche ist hierbei handlungsleitend. Die Ermittlung eben dieses Willens und der Wünsche erfordert neben entsprechendem Einfühlungsvermögen insbesondere der Person zugewandte Zeit. Die Unterstützte Entscheidungsfindung ist hierbei ein hilfreiches Instrument. Sie unterstützt die Menschen bei der Selbstwahrnehmung und Formulierung ihrer Wünsche.
Die Stärkung des Selbstbestimmungsrechtes im Betreuungsrecht war seit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) überfällig.
Grundsätzlich hat die BAGFW die Gesetzesreform begrüßt. Viele zentrale Aspekte, Gesprächsergebnisse und Forderungen aus dem Diskussionsprozess zum Betreuungsrecht im Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz (BMJV) wurden aufgegriffen. Dieser beeindruckende Prozess der Beteiligung von Betroffenen, Fachleuten und Akteuren des Betreuungswesens ist in den neuen Regelungen deutlich geworden.
Betreuungsvereine sind, entlang ihrer gesetzlichen Aufgaben nach §15 Betreuungsorganisationsgesetz (BtOG) kompetenter Ansprechpartner für eine Vielzahl ehrenamtlich rechtlicher Betreuer:innen. Diese erfahren dort erste Orientierung, Beratung zum individuellen Betreuungsfall und qualifizierte Schulung zu Fachthemen rund um das Betreuungsrecht. Ehrenamtlich rechtliche Betreuer:innen werden gestärkt und fühlen sich dadurch in die Lage versetzt dieses verantwortungsvolle Amt mit seinen komplexen Anforderungen (zum Beispiel: Berichtswesen, Genehmigungspflichten, …) über die Rolle des/der Angehörigen/ Vertrauensperson hinaus, auszuüben.
Betreuungsvereine sind systemrelevante Akteure bei der Sicherstellung der Qualität der ehrenamtlichen Betreuung.
Betreuungsvereine beschäftigen darüber hinaus selbst Mitarbeitende und führen Rechtliche Betreuung für Menschen, bei denen Angehörige/ Vertrauenspersonen nicht zur Verfügung stehen oder die Komplexität des Falles einen qualifizierten Berufsbetreuer:in erfordert.
Die finanzielle Situation der Betreuungsvereine fußt auf zwei Säulen, die schon von Gesetzes wegen völlig unabhängig voneinander zu betrachten sind. Während die Voraussetzungen für die Finanzierung der Querschnittstätigkeiten durch Landesrecht geregelt werden (§17 BtOG) bemisst sich die Vergütung für das Führen von Betreuungen nach dem Bundesgesetz Vormünder- und Betreuervergütungsgesetz (VBVG).
Die Finanzierung der Querschnittsaufgaben gestaltet sich in Monat 9 nach In-Kraft-Treten der Betreuungsrechtsreform sowohl in der Geschwindigkeit als auch in der inhaltlichen Ausgestaltung sehr unterschiedlich. Teilweise sind gute Regelungen getroffen worden. Trotz des gesetzlichen Anspruches auf bedarfsgerechte finanzielle Ausstattung mit öffentlichen Mitteln (§17 BtOG) erkennen einige Länder die aus dem reformierten Betreuungsgesetz erwachsenden Anforderungen nicht an oder die Beratungen/Ausgestaltungen/Verhandlungen stecken fest. Einige Betreuungsvereine nehmen seit Monaten gesetzliche Aufgaben ohne eine (ausreichende) Refinanzierung wahr. Auf diese Weise droht die Betreuungsrechtsreform kaputt gespart zu werden, bevor sie für die betroffenen Menschen Wirkung entfalten kann. Hier müssen die Länder, die es noch nicht getan haben, handeln und sollten – wie auch von der Unionsfraktion gefordert – nicht bis zur Evaluation der Vergütungsstruktur auf Bundesebene warten.
Das VBVG regelt die Vergütung für das Führen von Rechtlichen Betreuungen durch hauptamtliche Mitarbeiter:innen nach einem komplexen pauschalen Abrechnungssystem.
Die Betreuervergütung wurde letztmalig 2019 nach 14 Jahren überschaubar angepasst. Bereits im Jahr 2019 war klar, dass bis zum Ergebnis des im Gesetz vorgemerkten Evaluierungsprozesses der Betreuervergütung diese Erhöhung nicht kostendeckend, wenn nicht sogar defizitär ist.
Viele unserer Betreuungsvereine richten ihre vertraglich vereinbarte Vergütung am TVöD aus. Das bedeutet, dass sie nicht nur die vom Gesetz abzudeckenden Tarifsteigerungen ab 2024, sondern mangels einer Dynamik im VBVG bereits seit 2022 die seither vereinbarten Steigerungen innerhalb des TVöD zusätzlich, d.h. aus Eigenmitteln, finanzieren mussten. Hierfür haben viele Betreuungsvereine bereits in der Vergangenheit ihre Reserven eingesetzt und mittlerweile ihre finanziellen Spielräume vollständig ausgereizt. Der bereits eingetretene Substanzverlust in der Liquidität der Vereine macht es ihnen nicht möglich, auch die für das Jahr 2023 vorgesehenen substanziellen TVöD-Leistungen zu finanzieren. Darüber hinaus wird die im Jahr 2024 zu erwartende Inflationssteigerung im Gesetzesentwurf gar nicht berücksichtigt. Dies unterstreicht auch die Forderung der Unionsfraktion. Hierdurch steigt die Insolvenzgefahr von Betreuungsvereinen weiter an, was die Versorgungssicherheit sowohl bei Betreuungen als auch hinsichtlich der wichtigen Unterstützung der ehrenamtlich rechtlichen Betreuer:innen gefährdet.
Wie vom Antrag der Unionsfraktion hervorgehoben verschärft sich die aktuelle hochangespannte finanzielle Situation der Betreuungsvereine durch die Einführung des Bürgergeldes und der Anhebung der Schonvermögensgrenzen nach § 90 Abs. 2 Nr. 9 SGB XII i.V.m. § 1 der VO zu § 90 Abs. 2 Nr. 9 SGB XII. Die BAGFW begrüßt diese Erhöhung, allerdings bewirkt diese Ausweitung der Schonvermögensgrenze, dass sich die Höhe der Vergütungsansprüche entlang der Tabellenwerte für mittellose Betreute mindert. Das Konzept der Mischkalkulation war bereits in den vergangenen Jahren nicht ausgewogen und gerät nunmehr in eine massive Schräglage.
Die anstehende Evaluation der Betreuervergütung sollte genutzt werden, das VBVG grundsätzlich auf den Prüfstand zu stellen und die unterschiedlichen Parameter darauf hin zu prüfen, ob diese noch zeitgemäß sind und eine tatsächliche Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention ermöglichen. Die mit den vergangenen Änderungen des VBVG verbundenen Erwartungen einer Kostenreduktion für die Landesjustizhaushalte konnten nicht erreicht werden. Jedoch wurde hierdurch die Erosion der Betreuungsinfrastruktur vor Ort vorangetrieben. Von dieser Entwicklung waren Betreuungsvereine besonders betroffen.
Der Wegfall der Betreuungsvereinsstrukturen hätte zur Folge, dass die betreuten Menschen von der kommunalen Betreuungsbehörde betreut werden müssten. Diese haben hierfür keine personellen und finanziellen Ressourcen, da sie diese Leistungen nicht mit den zuständigen Gerichten abrechnen können. Dieses führt zu einer zusätzlichen, nicht refinanzierten finanziellen Belastung der Kommunen und belastet deren angespannte Haushalte zusätzlich. Hinzu käme, dass eine Vielzahl ehrenamtlich rechtlicher Betreuer:innen ohne Beratung und Begleitung vermutlich ihr Amt niederlegten und dass die von ihnen betreuten Menschen ohne Unterstützung blieben.
Das am 1.1.2023 in Kraft getretene Betreuungsrecht erfordert, dass der Wille der zu betreuenden Person zum zentralen Orientierungsmaßstab in der rechtlichen Betreuung wird.
Die Wahrnehmung der unterschiedlichen Aufgaben der Betreuungsvereine muss auskömmlich finanziert werden, daher ist eine unverzügliche Anpassung der Betreuervergütung notwendig, um eine flächendeckende Insolvenz der Betreuungsvereine zu verhindern.
]]>Die in der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) zusammengeschlossenen Spitzenverbände bedanken sich beim Kuratorium Deutsche Altershilfe eine Bewertung zur Entwurfsfassung der Güte- und Prüfbestimmungen zum Gütezeichen “Faire Anwerbung Pflege Deutschland“ abgeben zu können.
Die Anwerbung von Pflege(fach)kräften aus Drittstaaten kann als Teilstrategie einen zusätzlichen Beitrag zur Bekämpfung der gegenwärtigen Personalnot im Gesundheits- und Pflegesektor leisten. Internationale Pflegefachkräfte müssen nicht nur gut auf ihre Tätigkeit vorbereitet werden, vielmehr sind durch die Leistungserbringer Integrationsleistungen, wie Unterbringung, Sprachkurse und Mobilitätshilfen, auch außerhalb des Berufslebens sicher zu stellen. Neben dem Globalen Verhaltenskodex der WHO für die internationale Anwerbung von Gesundheitsfachkräften sind kaum Maßstäbe guter Praxis für ethisch vertretbare Personalgewinnung in Drittstaaten vorhanden. In Anbetracht des entstandenen undurchsichtigen Marktes für die Anwerbung von Pflegepersonal begrüßt die BAGFW die Weiterentwicklung eines Gütesiegels zur Bescheinigung von ethischen, nachhaltigen und qualitativ hochwertigen Personalgewinnungsprozessen, das sowohl von privaten Personalvermittlern als auch den Leistungserbringern erworben werden kann.
Fraglich bleibt, ob das Prüfsystem ausreicht, um Qualitätsstandards sowohl in den Herkunftsländern als auch nach der Einreise der Adressaten in Deutschland zu gewährleisten. Unklar bleibt dabei vor allem, welche Maßnahmen in den Herkunftsländern ergriffen werden, damit Menschen besser zwischen seriösen und unseriösen Anbietern, die immer wieder von den Adressaten Geld oder einen Teil der ersten Monatslöhne verlangen bzw. in unseriöse Beschäftigungsverhältnisse vermitteln, unterscheiden können.
Nachfolgend die konkrete Bewertung und Änderungsvorschläge der in der BAGFW kooperierenden Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege im Einzelnen:
1. Grundlagen, Ziele, Geltungsbereiche und Durchführungsbestimmungen
Das Gütesiegel “Faire Anwerbung Pflege Deutschland” legt entsprechend des Auftrags des Gesetzes zur Sicherung der Qualität der Gewinnung von Pflegekräften aus dem Ausland Anforderungen für ethische und transparente Anwerbung, für selbständig, anwerbende Leistungserbringer und private Personalserviceagenturen (PSA) fest. Die bisher vier entwickelten Gütebereiche umfassten Anforderungen zur “Informationsbereitstellung bei der Erwerbsmigration in die Pflege nach Deutschland” (GB I), Anforderungen zur “Unternehmensverantwortlichkeit” (GB II), “Gewährleistung der Transparenz im Vermittlungsprozess für int. Pflegekräfte” (GB III) und “Gewährleistung der Transparenz im Vermittlungsprozess für Kunden” (GB IV, richtet sich nur an PSA). GB III und GB IV werden eine besseren Übersichtlichkeit wegen nun miteinander verbunden. Der neue Gütebereich III trägt nun den Titel „Gewährleistung der Transparenz im Vermittlungsprozess“.
Die Zusammenführung der Güte- und Prüfbestimmungen sowie der Durchführungsbestimmungen ist für die Übersichtlichkeit und das Verständnis förderlich und wird begrüßt, da insbesondere in Punkt 5 („Prüfung und Überwachung“) und den Durchführungsbestimmungen (Punkt 6) zentrale Hinweise aufgeführt sind, wie das Gütesiegel erteilt wird und anschließend benutzt werden kann. Die vorherige Trennung dieser Informationen in zwei Dokumenten war an dieser Stelle hinderlich.
Es ist positiv zu bewerten, dass die leitenden sechs Prinzipien nicht nur als Spiegelstriche benannt, sondern auch erklärend dargestellt sind.
Um das unternehmerische Risiko bei den anwerbenden Einrichtungen und Diensten einzudämmen, müssen die PSA verpflichtet werden, im Vorfeld den anwerbenden Einrichtungen und Diensten zu erläutern, mit wem Sie im Anwerbeland zusammenarbeiten.
Das würde in jedem Fall dem 4. Prinzip „Transparenz zu Strukturen, Leistungen und Kosten“ entsprechen.
Zum Abschluss wird darauf verwiesen, dass Gütezeichen tragende Unternehmen verpflichtet sind „die damit verbundenen Anforderungen auch in Eigenüberwachung einzuhalten“. Der hier entfallene Passus „und einer neutral durchgeführten Fremdüberwachung“ sollte wieder eingefügt werden.
3. Güte- und Prüfbestimmungen
Die Bestandteile des Gütesiegels legen in erster Linie Pflichten zur transparenten Informationsbereitstellung für Fragen im Anwerbe- und Integrationsprozess von entsprechend betroffenen Pflegekräften oder anwerbenden Leistungserbringern (Kunden) fest. Das Gütesiegel stellt nur in wenigen Bereichen konkrete Handlungsrichtlinien für ethisch vertretbare Anwerbeprozesse auf.
Die Überprüfung der Einhaltung der Anforderungen zur Informationsbereitstellung und Transparenz etc. kann sich mitunter als schwierig gestalten, denn es reicht nicht, wenn den internationalen Pflegekräften eine Fülle an Informationsmaterialien an die Hand gegeben wird. Vielmehr muss Sorge getragen werden, dass dieses Material ohne Hürden zugänglich ist und dass insbesondere aufenthaltsrechtliche Informationen bereits vor der Entscheidung zur Ausreise von den Angeworbenen auch verstanden werden. Hierfür ist zu überlegen, wie die bestehende Migrationsberatungsstruktur in Deutschland konkret eingebunden werden kann.
Kriterium 1.1 Weitergabe der Informationsbroschüre
Wir regen an, in der Übersicht in Kapitel 2 einen Link zu der Broschüre „Informationen zur Erwerbsmigration in die Pflege nach Deutschland“ aufzunehmen.
Der Gütebereich 1 gilt als erfüllt, wenn die Broschüre die anzuwerbende Person erreicht hat. Dass die Broschüre die Pflegefachperson erreicht, ist aus unserer Sicht nicht ausreichend. Wesentlich ist, dass die anzuwerbende Person die Inhalte der Broschüre verstanden hat und das an die anwerbende Institution rückmeldet, bzw. dort offene Fragen klären kann.
Die bisherige Ausführung zur Weitergabe der Informationsbroschüre unter 1.1.1 „in deutscher sowie in den für die Rekrutierungsländer relevanten Sprachen“ halten wir für nicht ausreichend. Es sollte vielmehr heißen: „in einer präzisen Kommunikationsform“.
Kriterium 2.1 Grundsatzerklärung
deutscher sowie in den für die Rekrutierungsländer relevanten und verständlichen Sprache, in
Unter 2.1.4 wird erklärt, dass die Grundsatzerklärung einen Hinweis enthält, die eine Selbstverpflichtung dahingehend vorsieht, dass von der internationalen Pflegefachperson
- weder direkt oder indirekt Vermittlungskosten
- noch Kosten für unmittelbar und mittelbar mit der Vermittlung zusammenhängende Leistungen zu erheben (Employer-Pays-Prinzip) ist. Dieses gelte für die gesamte Dienstleistungskette.
Das steht im Widerspruch zu Rückzahlungs- oder Bindungsklauseln, die mittelbar Kosten für den Vermittlungsprozess auf die der Pflegefachperson überträgt. Dies sei am Beispiel der Broschüre zum Thema Rückerstattung erläutert:
Das in der Broschüre auf S. 18 zu Bindungs- und Rückzahlungsklauseln beschriebene Prozedere ist korrekt. Diese sind an sich zulässig, häufig aber in der konkreten Formulierung unwirksam. Wie soll es einer im Ausland angeworbenen Pflegefachperson gelingen, die Wirksamkeit und/oder Angemessenheit der Bindungs- und/oder Rückzahlungsklauseln zu prüfen? Der Verweis auf Anwälte und Gerichte an dieser Stelle ist für die Betroffenen wenig hilfreich. Bei der Hilfe durch Beratungsstellen wird auf ein Kapitel 6.4 verwiesen, welches in der Broschüre nicht existiert.
Die Informationen auf Seite 17 der Broschüre bedürfen dringend einer Korrektur: Die Aussagen „Im Pflegebereich kommt es doch häufig vor, dass Sie keinen individuellen Arbeitsvertrag erhalten, sondern über einen Tarifvertrag angestellt werden.… liegt ein Tarifvertrag vor, haben die darin enthaltenen Regelungen Vorrang vor gesetzlichen Bestimmungen.“ sind unzutreffend und müssen daher korrigiert bzw. präzisiert werden. Die Grundlage des Arbeitsverhältnisses ist immer der Arbeitsvertrag – indem die Tarifbindung grundsätzlich geregelt werden muss. Des Weiteren haben Tarifverträge keinen generellen „Vorrang“ vor gesetzlichen Regelungen. Sie müssen sich in deren Rahmen bewegen und können nur unter bestimmten Voraussetzungen, wie gesetzlichen Öffnungsklauseln oder aufgrund des Günstigkeitsprinzips vorrangig anwendbar sein. Unabhängig von der Bindung des Arbeitgebers durch einen Tarifvertrag sind Pflegeeinrichtungen beim Abschluss eines Versorgungsvertrags durch das GVWG verpflichtet, Pflegekräfte nicht unterhalb der regionalen Tarife zu entlohnen (§ 72 Abs. 3a und 3b SGB XI).
In der Broschüre werden die wesentlichen Bedingungen des Arbeitsverhältnisses über die der Arbeitgeber informieren muss, aufgelistet. Es fehlt jedoch der Hinweis auf das Nachweisgesetz, das alle Arbeitgeber verpflichtet, die Arbeitskraft schriftlich über die wesentlichen Bedingungen des Arbeitsverhältnisses zu informieren. Das kann durch eine unterschriebene Niederschrift erfolgen oder einen detaillierten Arbeitsvertrag.
Bzgl. des in 2.2.6 beschriebenen Integrationsmanagementkonzepts (IMK) ergeben sich Neuerungen für die Vorhaltung auf Seiten der arbeitgebenden Einrichtungen. In vorheriger Version durften PSA nur mit Einrichtungen kooperieren, die ein IMK vor Unterzeichnung des Arbeitsvertrags in Landessprache der Pflegefachperson vorlegen konnten. Mit den Neuerungen steht die Einrichtung weiterhin in Verantwortung ein IMK vorzulegen. Sollte dies nicht geschehen steht es jedoch der anzuwerbenden Pflegefachkraft frei, dennoch einen Arbeitsvertrag bei der Einrichtung über die PSA zu unterzeichnen. Diese Änderungen hinsichtlich höherer Eigenverantwortlichkeit bei den Einrichtungen werden begrüßt.
Kriterium 2.2 Allgemeine Geschäftsbedingungen / Anwerbebedingungen
Unter 2.2.1 wird eine Selbstverpflichtung zu fairer und ethischer Anwerbe- und Vermittlungspraxis entsprechend der sechs Leitprinzipien des Gütezeichens “Faire Anwerbung Pflege Deutschland“, erwähnt. In der Aufzählung folgt die „Angemessenheit des wirtschaftlichen Risikos für Pflegefachpersonen“. Wir weisen darauf hin, dass ein wirtschaftliches Risiko nicht bei den anzuwerbenden Personen liegen darf, wenn diese es nicht fahrlässig oder grob fahrlässig verursachen. Das wirtschaftliche Risiko muss immer beim Arbeitgeber liegen, alles andere ist per se unangemessen (vgl. den Global Compact on Migration).
Kriterium 2.3 Unternehmerische Sorgfaltspflichten
Mit der Neueinführung des Begriffs der Dienstleistungskette wird eine selbstanwerbende Einrichtung bzw. eine Rekrutierungsfirma u.a. dazu verpflichtet alle eigenen Anforderungen, die sich aus dem Gütesiegel ergeben, auch an Geschäftspartnerinnen und Geschäftspartner bzw. Kooperationsstellen weiterzugeben (vgl. 2.3.1). Dies wird im Sinne des Schutzes der anzuwerbenden Pflegefachpersonen begrüßt, auch wenn es in der Praxis kaum vollständig zu überwachen sein wird, wie sich Kooperationspartner beispielsweise in Drittstaaten verhalten. Unklar bleibt, welche geleisteten Zahlungen der Pflegefachperson bei Verstößen durch Geschäftspartnerinnen und Geschäftspartnern erstattet werden sollen, da das „Employer Pays Prinzip“ ohnehin gilt.
Bei der Einrichtung eines (internen) Beschwerdemanagements (2.3.2) regen wir an, Ergänzungen, die sich aus dem Hinweisgeberschutzgesetz (HinschG) ergeben, in für die Pflegefachperson verständlicher Ausführung aufzunehmen.
3.4 Employer Pays Prinzip und Bindungs- und Rückzahlklauseln
Im Kriterium 3.4 heißt es: „Grundsätzlich gilt das Employer Pays Prinzip. Bindungs- und Rückzahlungsklauseln in Vermittlungsverträgen mit Pflegefachpersonen sind nur unter Berücksichtigung der Güte und Prüfbestimmungen “Faire Anwerbung Pflege Deutschland“ zulässig“. Wir regen an den letzten Teil des Satzes zu ersetzen durch durch „…sind nur unter den Voraussetzungen zulässig, die der geltende Rechtsrahmen vorgibt“.
Die Erläuterung unter 3.4.2 dritter Satz „Die Höhe der maximal anfallenden Rückzahlungssumme ist dabei anzugeben und in hervorgehobener Form darzustellen (z. B. Fettdruck)“ sollte ersetzt werden durch: „Die Höhe der maximal anfallenden Rückzahlungssumme darf ein halbes Monatsgehalt nicht überschreiten.
Der Punkt 3.4.3 sollte ergänzt werden mit „Eine Rückzahlungsverpflichtung im Fall eines vorzeitigen Ausstiegs der Pflegefachperson aus dem laufenden Sprachkurs im Herkunftsland ist nur dann zulässig, wenn der Ausstieg aus Gründen erfolgt, die die Arbeitskraft zu vertreten hat.
Insbesondere in folgenden Ausstiegsfällen darf eine Rückzahlung unabhängig vom Verschulden der Pflegefachperson nicht verlangt werden:
- innerhalb der ersten vier Wochen, bzw. vor Inanspruchnahme von 50 Unterrichtseinheiten des Sprachkurses.
4. Begriffsbestimmungen - Ergänzungsvorschlag
Es fehlt nach wie vor eine Definition des Begriffs „Relocation Management“. Es sollte genau definiert sein, was dies umfasst, damit wichtige Aspekte, wie z.B. Wohnraum, nicht ausgeklammert werden.
5. Prüfung und Überwachung
Die BAGFW begrüßt, dass nun klarere Kriterien für abgestufte Sanktionen definiert wurden. Es wird auf einen Befristeten Entzug bei Verstößen hingewiesen. „Befristet“ ist jedoch nicht näher zeitlich definiert.
Nach wie vor fehlen Regelungen für die Pflegefachpersonen, die sich in einem Anwerbeprozess befinden und deren PSA/SAE das Siegel entzogen wurde.
Sinnvoll wären aus unserer Sicht auch die Integration von Evaluation und Wirkungsorientierung in den Kriterienkatalog, um die Qualität der Kriterien sicherzustellen. Beispiele hierfür wären Formen der Auswertungen von Selbstevaluation, Internen Audits, Befragungen, Meldung von Verfahrensfehlern, Beschwerden, Kommunikation von Good Practice Beispielen.
Anwerbenden Leistungserbringern und Personalvermittlungsagenturen steht es frei, ob sie das Gütesiegel erwerben möchten oder nicht. „Einen Antrag auf das Gütesiegel können freiwillig sowohl selbstorganisiert (also ohne Einbindung einer Agentur) anwerbende Leistungserbringer nach dem Vierten Kapitel des Fünften Buches Sozialgesetzbuch und nach dem Siebten Kapitel des Elften Buches Sozialgesetzbuch (Pflege- und Gesundheitseinrichtungen), als auch private Personalvermittlungsagenturen stellen, die im Auftrag der oben genannten Leistungserbringer handeln.“ Es sollten Anreize geschaffen werden, dass jegliche anwerbende Unternehmungen das Gütesiegel tragen bzw. diskutiert werden, ob eine Verpflichtung zum Erwerb des Gütesiegels erreicht werden kann. Dann müssen gleichzeitig weitere Regelungen zur Finanzierung dieser Anwerbe- und Integrationsprozesse getroffen werden.
Es bestehen Zweifel, ob bei einer Anwendung des Gütesiegels zum großen Teil auf freiwilliger Basis, Arbeitsmigranten/innen und Unternehmen ausreichend vor unfairen Vermittler*innenn geschützt werden können. Wenn die Anwendung des Gütesiegels dem Markt überlassen wird, besteht die große Gefahr, dass damit die Zielsetzungen des Gütesiegels nicht erreicht werden.
Weiterer Ergänzungsvorschlag
Eine „Verantwortung für das Herkunftsland“ ist nach wie vor nicht genannt. Zwar wird auf den „Globalen Verhaltenskodex der WHO für die internationale Anwerbung von Gesundheitsfachkräften“ hingewiesen. Es bleibt aber offen, wie dies im Anwerbeverhalten der Unternehmen umgesetzt wird. Hilfreich könnte es sein, wenn das Gütesiegel auch bei den Fachkräften im Ausland „beworben“ würde. Zwar sollen Anwerbende und Einrichtungen, die das Gütesiegel erhalten alle wichtigen Informationen dazu, ihre Selbstverpflichtung und ihr Leitbild etc. transparent machen, es wäre aber zusätzlich wichtig, dass die Information auch über die Beratungsstellen im Ausland (z.B. „Vorbereitet und erfolgreich nach Deutschland“ oder ProRecognition (die auch Pflegekräfte beraten) u.a.) über die Homepage von https://www.make-it-in-germany.com/de/ oder auch die Botschaften bekannt gemacht wird.
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Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege bedankt sich für die Gelegenheit zur Stellungnahme. In unserem Verbund sind ca. 600 Betreuungsvereine, sowie ca. 140 Vormundschaften führende Vereine aktiv. In den Arbeitsfeldern Altenhilfe, Behindertenhilfe, Sozialpsychiatrie und Kinder- und Jugendhilfe mit ihren zahlreichen Diensten und Einrichtungen erfahren Menschen Beratung, Begleitung und Unterstützung.
Wir begrüßen das gesetzgeberische Ziel, durch eine Sonderzahlung einen Inflationsausgleich zu schaffen, um der existenzbedrohenden Notlage der Betreuungsvereine entgegenzuwirken. Leider wird dieses Ziel mit dem vorliegenden Entwurf nicht zu erreichen sein, da die hierfür verantwortlichen Probleme nicht gelöst werden.
Warum ist dies so?
I. Kein Ausgleich von Liquiditätsengpässen durch ein Inkrafttreten vor dem 1. Januar 2024
Die BAGFW begrüßt, dass das Gesetz einen Inflationsausgleich bringen soll. Allerdings wird diese Entlastung für viele Betreuungsvereine zu spät kommen, um eine Insolvenz abwenden zu können.
Viele unserer Betreuungsvereine richten ihre vertraglich vereinbarte Vergütung am TVöD aus. Das bedeutet, dass sie nicht nur die vom Gesetz abzudeckenden Tarifsteigerungen ab 2024, sondern mangels einer Dynamik im VBVG bereits seit 2022 die seither vereinbarten Steigerungen innerhalb des TVöD zusätzlich, d.h. aus Eigenmitteln, finanzieren mussten. Hierfür haben viele Betreuungsvereine bereits in der Vergangenheit ihre Reserven eingesetzt und mittlerweile ihre finanziellen Spielräume vollständig ausgereizt. Der bereits eingetretene Substanzverlust in der Liquidität der Vereine macht es ihnen nicht möglich, auch die für das Jahr 2023 vorgesehenen substanziellen TVöD-Leistungen zu finanzieren. Darüber hinaus wird die im Jahr 2024 zu erwartende Inflationssteigerung im Gesetzesentwurf gar nicht berücksichtigt.
Hierdurch steigt die Insolvenzgefahr von Betreuungsvereinen weiter an, was die Versorgungssicherheit sowohl bei Betreuungen als auch hinsichtlich der wichtigen Unterstützung der ehrenamtlich rechtlichen Betreuer:innen gefährdet. Für die Existenzsicherung der Betreuungsvereine ist daher ein rückwirkendes Inkrafttreten zum 1. Januar 2023 zwingend erforderlich.
Die Begrenzung der Geltungsdauer des Gesetzes bis zum 31.12.2025 berücksichtigt nicht, dass die Vergütung für rechtliche Betreuungen ab dem 1.1.2026 auf das aktuelle Niveau zurückfallen wird. In der seit 1.1.2023 geltenden Reform ist die Evaluation des VBVG bis Ende 2024 angeordnet. Doch kann nicht davon ausgegangen werden, dass es ab 1.1.2026 bereits neue Regelungen geben wird.
Daher muss die Geltungsdauer bis zum In-Kraft-Treten der Neufassung des VBVG aufgrund des Ergebnisses der Evaluierung verlängert werden.
Alle für die Betreuungsvereine beschriebenen, finanziellen Belastungen treffen auch auf die (Betreuungs- und) Vormundschaftsvereine zu. Deswegen muss der Geltungsbereich des Gesetzes unbedingt auch auf die Vormundschaftsvereine ausgeweitet werden.
II. Höhe und Ausgestaltung der Inflationsausgleichs-Sonderzahlung
Die Ausgestaltung der Inflationsausgleichs-Sonderzahlungen folgt einer auf Arbeitnehmer:innen oder Soloselbständigen fixierten Logik, die nicht die Rolle der Betreuungsvereine als tarifgebundene Arbeitgeber berücksichtigt.
1. Keine Berücksichtigung aller relevanten Erhöhungen im TVöD-SuE
Die Berechnung der Inflationsausgleichsprämie knüpft zwar an den TVöD-Vergütungstabellen an. Sie berücksichtigt aber nicht alle für unsere Betreuungsvereine vergütungsrelevanten Tarifentwicklungen.
So erhalten vollzeitbeschäftigte Sozialarbeitende in der Entgeltgruppe SuE 12 seit dem 1. Juli 2022 eine Zulage in Höhe von 180,00 € monatlich und zwei zusätzliche Regenerationstage (2 Tage kalenderjährlich bei einer 5-Tage Woche). Durch diese Regelung entsteht für die Betreuungsvereine eine zusätzliche Erhöhung der Lohnkosten von mindestens 225 Euro (180 € + 25 % AG-Brutto) pro Vollzeitstelle, die seit Herbst 2022 zu bestreiten ist. Diese Zulage wurde bei der Berechnung der Inflationsausgleichszahlung gar nicht berücksichtigt.
2. Berechnung der Inflationsausgleichs-Sonderzahlung anhand des Arbeitnehmerbrutto.
In ihrer Rolle als Arbeitgeber zahlen die Betreuungsvereine der BAGFW die tariflich vereinbarten Entgelte als Arbeitgeberbrutto. Den Berechnungen im Gesetzesentwurf liegt das Arbeitnehmerbrutto zugrunde, was dadurch hinter den tatsächlichen Kosten zurückbleibt
3. Keine Berücksichtigung inflationsbedingter Kostensteigerungen
Obwohl der Gesetzentwurf den Titel „Gesetz zur Regelung einer Inflationsausgleichs-Sonderzahlung (…)“ trägt, erhalten Betreuungsvereine keine Unterstützung zur Milderung ihrer inflationsbedingten Kostensteigerungen. Diese betreffen insbesondere die Sachkosten eines Arbeitsplatzes. Die Berechnung der VBVG-Vergütung aus dem Jahr 2019 (Bt-Drs. 19/8964) hatte hierfür 7810 Euro pro Jahr angesetzt. Um die inflationsbedingten Kostensteigerungen, wie z.B. gestiegene Mobilitätskosten, aus den Jahren 2021 und 2022 auszugleichen, müsste dieser Ansatz um mindestens 10 % steigen. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass neben den direkten Kosten für den Arbeitsplatz bei den Betreuungsvereinen auch die sogenannten Overheadkosten anfallen.
4. Gefährdung der Mischkalkulation durch das neue Schonvermögen im Rahmen des Bürgergelds
Mit der Einführung des Bürgergeldes wurden die Schonvermögensgrenzen erhöht. Dies begrüßt die BAGFW. Allerdings bewirkt diese Ausweitung des Schonvermögens, dass bislang bestehende Vergütungsansprüche der Betreuungsvereine unmittelbar gegen zu betreuende Leistungsberechtigte künftig entfallen. Damit verändern sich auch die Rahmenbedingungen und Kalkulationsgrundlagen für das ohnehin diffizile und fragile System der Mischkalkulation noch stärker und stellen dieses in Frage.
III. Fazit: Keine Abwendung der existenzgefährdenden Situation für Betreuungsvereine
Wir weisen darauf hin, dass auch bei Umsetzung des vorliegenden Entwurfes das wirtschaftliche Überleben der Betreuungsvereine weiterhin bedroht ist. Um dieser Gefahr zu begegnen, braucht es zum einen das rückwirkende Inkrafttreten der Inflationsausgleichs-Sonderzahlung zum 1. Januar 2023, zum anderen müssen die Kostenbestandteile, die aus der Rolle als Arbeitgebende entstehen, in die Berechnung der Inflations-Sonderzahlung einfließen. Ohne eine solche Berücksichtigung ist leider keine nachhaltige Abwendung der angespannten wirtschaftlichen Situation zu erwarten. Im Sinne der Sicherstellung der Versorgungsinfrastruktur sowie der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention ist der Gesetzgeber angehalten, die aufgezeigten Aspekte im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens zu berücksichtigen.
]]>Stellungnahme
der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) im Rahmen des Stellungnahmeverfahrens zur Veröffentlichung der Ergebnisse aus dem QS-Reha®-Verfahren für Versicherte gemäß § 137d Abs. 1 Satz 5 und 6 SGB V
Vorbemerkung:
Mit Schreiben des GKV-Spitzenverbandes vom 15.06.2023 ist den in der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) vertretenen Wohlfahrtsverbänden die Möglichkeit eingeräumt worden, Anregungen und Hinweise zur Umsetzung des QS-Portals für Versicherte schriftlich einzureichen. Die in der BAGFW vertretenen Verbände bedanken sich für diese Gelegenheit und nehmen diese hiermit gemeinschaftlich als BAGFW wahr.
Für die Möglichkeit der Teilnahme und des direkten Austauschs im Rahmen zweier digitaler Informationsveranstaltungen am 26. und 27. Juni zum Stand des QS-Portals bedanken sich die Verbände ebenfalls und begrüßen derartige Veranstaltungen auch für die Zukunft.
Die BAGFW begrüßt sehr, dass der GKV-Spitzenverband gemäß dem am 20.07.2021 in Kraft getretenen Gesetz zur Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung (GVWG) die Aufgabe umsetzt, die einrichtungsbezogenen Ergebnisse aus dem QS-Reha®-Verfahren für Versicherte in übersichtlicher Form und in allgemein verständlicher Sprache im Internet zu veröffentlichen. Mit ihren Anmerkungen möchte die BAGFW dazu einen Beitrag leisten.
Hinweise, Anregungen und Forderungen der BAGFW:
- Grundsätzlich plädiert die BAGFW für ein Rehaträger-übergreifendes Qualitätssicherungsverfahren und dementsprechend Träger-übergreifendes Public Reporting, das gemeinsam von Rehaträgern und Leistungserbringern vereinbart wird. Nur so kann zukünftig im Sinne der Versichertenperspektive und der Versichertenrechte ein vollständiger Einblick in die für die Auswahl zur Verfügung stehenden Einrichtungen geschaffen werden, dessen Daten auf gleichen Erhebungsstrukturen basieren. Hierdurch würden außerdem Mehrfachprüfungen für Kliniken entfallen und diese entlastet.
- Da aktuell noch das Hauptbelegerprinzip (Gesetzliche Renten- oder –Krankenversicherung) die Teilnahmeverpflichtung an den verschiedenen Qualitätssicherungsverfahren determiniert, sind nicht alle Einrichtungen mit Versorgungsvertrag im Bereich der Gesetzlichen Krankenversicherung im QS Reha® Verfahren erfasst, sondern im entsprechenden Verfahren der Rentenversicherung. Die angekündigte Verlinkung zum Portal der DRV Bund ist deshalb substanziell. Für die Versicherten sollte ein prominent platzierter Begleittext entsprechend informieren, dass über die in dem Portal gelisteten Einrichtungen auch weitere Vertragseinrichtungen zur Verfügung stehen. Für die BAGFW ist eine adäquate Versicherten-Information wesentlich. Deshalb sollte erläutert sein, dass nur Kliniken, nicht aber ambulante bzw. mobile Einrichtungen aufgenommen sind. Zusätzlich sollte für die Versicherten eine Information bezüglich der Trägerschaft der Klinik (öffentlich, freigemeinnützig oder privat) enthalten sein.
- Bei der aktuellen Darstellung/ Filterung von Einrichtungen gibt es, so scheint es, keine klare Unterscheidung zwischen Rehabilitation und Vorsorge (nur bei den Kliniken des MGW). Wir bitten darum, dass das im Portal Berücksichtigung findet und eine Unterscheidung umgesetzt wird.
- Insgesamt soll eine anwenderfreundliche und patientenorientierte Darstellung der Ergebnisse auf dem QS-Portal angestrebt werden. Daher sollte man die Auswahl der Strukturmerkmale bzw. Einzelkriterien auf ein aus Anwendersicht sinnvolles Maß reduzieren.
- Durch den 3-Jahres-Rhythmus des QS Reha® Verfahrens werden zum Teil veraltete Daten im Portal zu finden sein. So gab es bspw. im vergangenen Turnus – noch immer ungeklärte - Differenzen bzgl. der Bewertung erbrachter Leistungen in Kooperation, die die Ergebnisse teilweise deutlich negativ verzerren. Leider ist es nicht vorgesehen, dass zwischenzeitliche Veränderungen in den Einrichtungsstrukturen nachgetragen werden können. Deshalb ist ein prominenter Hinweis an die Versicherten vorzunehmen, die in der Regel mit der Verfahrenssystematik des QS Reha® Verfahrens nicht vertraut sind, dass es sich bei den dem Portal zu Grunde liegenden Daten um “statische” Daten zu einem benannten Erhebungszeitraum handelt und ggf. in der Zwischenzeit eingetretene Veränderungen in den Kliniken hierüber nicht abgebildet sind. Für beispielsweise (technische) Fehler in den Ergebnisberichten/ Ergebnisdarstellungen muss sichergestellt sein, dass diese kurzfristig behoben werden. Ergebnisse sollten innerhalb des 3-Jahres-Zeitraums angepasst und aktualisiert werden können, die etwa im Rahmen von durchgeführten Qualitätsdialogen zwischen den Einrichtungen und Krankenkassen erörtert und behoben werden konnten. So können etwaige Verbesserungsmaßnahmen, die z.B. aufgrund der Qualitätsdialoge, Eingabefehler oder ähnlichem erfolgen, ihre Berücksichtigung auf dem Portal finden. Versicherte erhalten somit einen Zugriff auf möglichst aktuelle Daten der Kliniken.
- Es sollte ausgeführt werden, welche Möglichkeiten für Korrekturen die Kliniken haben, wenn nachweislich Fehler auf dem Portal veröffentlicht sind.
- Mehrere Kliniken, die am QS-Reha-Verfahren teilnehmen, gelangen aus statistischen Gründen nicht in die vergleichende Darstellung des QS-Portals (z.B. bei nur geringer Patientenzahl).
Wir schlagen vor, dass auch die Kliniken, die alleine aus statistischen Gründen nicht in die vergleichende Darstellung gelangen, dennoch im QS-Portal aufgeführt werden; um den Eindruck minderer Qualität entgegenzutreten, ist der Grund (Vergleichbarkeit aus statistischen Gründen nicht möglich) anzugeben.
- Die Ergebnisdarstellung im Portal folgt der Ergebnisdarstellung in den Qualitätsberichten. Die Darstellung der Gesamtwerte mit Pfeilsymbolen erleichtert einerseits den “schnellen Blick”, andererseits verbergen sich aber hinter den graphischen Symbolen teilweise große Spannen. So kann das Pfeil-Symbol nach unten – unterdurchschnittliche Ergebnisse – eine Abweichung von 1 % bedeuten als auch beispielsweise von 50 %. Es sollte nochmals überlegt werden, wie diese Differenzierungen für die Versicherten transparenter werden und falsche Schlüsse vermieden werden können.
- Die Darstellung der Gesamtwerte zur Ergebnisqualität und Patientenzufriedenheit mittels nach oben oder unten gerichteter Pfeile in den Farben grün und rot, sowie Kreisen bei durchschnittlichen Ergebnissen sollte grundsätzlich überdacht werden. Eine Ergebnisdarstellung dieser Art setzt eine Erläuterung für eine mögliche Interpretation voraus und könnte schnell mit einem Ampelsystem verwechselt werden, wobei sich ein roter und nach unten zeigender Pfeil sicherlich auch nicht entscheidungsfördernd für Patient:innen auf der Suche nach einer geeigneten Klinik auswirkt. Zumindest sollte, wie im zuvor genannten Punkt aufgeführt, eine Erläuterung des Pfeilsystems und/oder Präzisierung dessen umgesetzt werden.
- Aus der Beschreibung geht nicht klar hervor, ob das Portal insgesamt barrierefrei sein wird (z. B. für Menschen mit Sehbehinderungen oder kognitiven Einschränkungen, leichte Sprache). Dies wäre unbedingt erforderlich.
- Alle Abkürzungen sollten ausgeschrieben und Fachbegriffe ggf. zusätzlich erläutert werden. Zudem sollten die maßgeblichen Patient:innenverbände zu Testzwecken bereits in die Entwicklungsphase eingebunden werden.
- Bei den Suchkriterien könnte die Möglichkeit der Aufnahme von Patient:innen mit kognitiven Beeinträchtigungen sowie Mehrfachbehinderungen ergänzt werden.
- Ein würdigender Hinweis auf das einrichtungsinterne Qualitätsmanagement nach § 135a Absatz 2 Nr. 2 SGB V bzw. § 37 Abs. 2 SGB IX wäre wünschenswert.
- Es wäre insgesamt interessant zu wissen, welchen Einfluss die Ergebnisse auf die Belegung durch die Kassen hat, ob es ein Monitoring der Nutzung des Portals geben wird und ob und wie untersucht wird, dass das Portal einen wirksamen Nutzen für die Zielgruppen erzielt. Wir plädieren für einen regelmäßigen Austausch mit den Kliniken dazu.
- In den Fragebögen an die Patient:innen sollte eine Frage bzgl. der Nutzung des Portals gestellt werden, um die Wirkung besser einschätzen zu können. Diese Info ist auch für die Kliniken wichtig.
Das Gemeinnützigkeitsrecht bildet den steuer- und organisationsrechtlichen Rahmen für über 120.000 gemeinnützige Einrichtungen und Dienste mit 1,9 Millionen Mitarbeitenden und ca. 3 Millionen Ehrenamtlichen. Die Gemeinnützigkeit ist ein staatliches „Gütesiegel“ und Markenkern der Freien Wohlfahrtspflege. Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) möchte sich, insbesondere mit ihren Erfahrungen in der Katastrophen-, Flüchtlings- und Eingliederungshilfe sowie aus den Krankenhäusern, Kindertagesstätten etc., aktiv in die Reformdiskussion zur Modernisierung des Gemeinnützigkeitsrechtes einbringen.
Der BAGFW Fachausschuss für Gemeinnützigkeit und Steuern hat 16 rechtspolitische Forderungen für die Reformdiskussion mit Änderungsvorschlägen zur Abgabenordnung, zum Grunderwerbsteuergesetz, zum Gewerbesteuergesetz und zum Umsatzsteuergesetz erarbeitet.
Die Umsetzung der Vorschläge würde zu größerer Rechtssicherheit und geringerem administrativen Aufwand in den Einrichtungen und Diensten der Freien Wohlfahrtspflege führen. Eine Umsetzung der Vorschläge wäre für die Haushalte weitgehend kostenneutral und würde gleichzeitig das unternehmerische Handeln in den gemeinnützigen Organisationen stärken.
Weitere Vorschläge und Anregungen sind stets willkommen. Diese sind an den BAGFW Fachausschuss „Gemeinnützigkeit und Steuern“ Frank Hofmann (frank.hofmann@diakonie.de) zu richten.
]]>Die in der BAGFW kooperierenden Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege stellen in ihrer Bewertung des vorliegenden Gesetzentwurfs mit großer Besorgnis fest, dass erneut keine dringend notwendige Strukturreform der sozialen Pflegeversicherung, vor allem hinsichtlich der Finanzierung von Pflege, erfolgt. Um die soziale Pflegeversicherung langfristig auf eine tragfähige Basis zu stellen, ist eine ernsthafte Debatte über die zukünftige Finanzierung der Pflegeversicherung zwingend notwendig. Dabei ist aus unserer Sicht vor allem die Einnahmebasis der Pflegeversicherung stärker zu verbreitern. Das muss bei einer grundlegenden Reform unmittelbar mitgedacht und kommuniziert werden.
]]>Die Verbände der BAGFW begrüßen ausdrücklich, dass Versicherte einen über die Festlegungen der Schutzimpfungsrichtlinie des GBA hinausgehenden Anspruch auf Schutzimpfungen gegen Covid-19 haben, sofern eine Impfung im Einzelfall aufgrund ärztlicher Indikation für medizinisch erforderlich gehalten wird. Eine solche Regelung sollte auch für Nichtversicherte, die ihren gewöhnlichen Aufenthaltsort in Deutschland haben, gelten, sowie für Menschen in aufenthaltsrechtlicher Illegalität, die diese Impfungen ohne Angst vor Meldung an die Ausländerbehörden erhalten können sollen.
Änderungsbedarf
§ 1 Satz 1 wird wie folgt ergänzt:
„Versicherte und Personen, die ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen oder tatsächlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben, haben im Rahmen der Verfügbarkeit der vorhandenen Impfstoffe über die Festsetzungen der Schutzimpfungsrichtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses hinaus einen Anspruch auf weitere Schutzimpfungen gegen COVID-19. § 87 AufenthG findet keine Anwendung.“
§ 2 Präexpositionsprophylaxe gegen COVID-19
Die Verbände begrüßen ebenso ausdrücklich, dass der Anspruch von Versicherten, die aus medizinischen Gründen keinen oder keinen ausreichenden Immunschutz gegen Covid-19 durch die Schutzimpfung erlangen können oder bei denen eine Kontraindikation gegen die Impfung vorliegt, weiterhin bestehen soll. Auch hier sollte sich die Regelung aus den zur Kommentierung zu § 1 genannten Gründen auf Nichtversicherte einschließlich Personen in aufenthaltsrechtlicher Illegalität erstrecken.
Allerdings geben die Verbände der BAGFW zu bedenken, dass das jetzt zur Präexpositionsprophylaxe verwendete Arzneimittel Evusheld bei den schon seit längeren zirkulierenden Varianten von Omikron eine nur sehr eingeschränkte Wirksamkeit aufweist, sodass die Empfehlungen für die Gabe dieses Medikaments stark eingeschränkt wurden. Auch die STIKO empfiehlt die Gabe nur noch in begründeten Einzelfällen.
Änderungsbedarf
§ 3 Absatz 1 Satz 1 soll wie folgt geändert werden:
„Versicherte und Personen, die ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen oder tatsächlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben, haben Anspruch auf Versorgung mit verschreibungspflichtigen Arzneimitteln zur Präexpositionsprophylaxe gegen COVID-19, wenn
1. bei ihnen aus medizinischen Gründen kein oder kein ausreichender Immunschutz
gegen eine COVID-19-Erkrankung durch eine Schutzimpfung erzielt werden kann
oder
2. bei ihnen Schutzimpfungen gegen COVID-19 aufgrund einer Kontraindikation nicht
durchgeführt werden können und sie einem erhöhten Risiko für einen schweren
Verlauf einer COVID-19-Erkrankung ausgesetzt sind. § 87 AufenthG findet keine
Anwendung.“
§ 3 Covid-19 Impfsurveillance
Es ist den Verbänden der BAGFW unklar, welche Ziele mit den umfangreichen und kurzfristig abzugebenden Meldungen erreicht werden sollen. Für Meldungen zu Nebenwirkungen im Sinne der Pharmakovigilanz bestehen andere Meldeverfahren. Die dadurch entstehenden Bürokratiekosten dürften insgesamt in einem nur sehr geringen Nutzen bei hohem Aufwand stehen. Auch die Messung von Impfeffekten dürfte durch die hohe Zahl von Genesungen mittels der hier vorgeschlagenen Meldungen schwer zu erreichen sein. Daher sollte sich die Meldepflicht auf die Anzahl der wöchentlichen Impfungen beschränken.
]]>- die Festlegung eines Prozesses für die Schaffung von Standards für Verwaltungsleistungen im Sinne des EfA-Prinzips und die Ende-zu-Ende-Digitalisierung, § 1a (4) OZG
- die Once-Only-Generalklausel (§§ 5, 5a EGovG) und das einheitliche Bürger- und Organisationskonto (§ 2 (6) und 3 OZG)
- die Einführung des § 7 OZG und § 16 EGovG
Die BAGFW sieht insbesondere folgende Punkte unzureichend umgesetzt,
- die Klärung der Finanzierung von digitalen Beratungsleistungen
- die Sicherung der Anonymität in der Kommunikation bei nicht notwendiger Identifikation.
Zu den Regelungen im Einzelnen
1. § 1 Anwendungsbereich und Standardisierung
Die Digitalisierung der Verwaltung wird grundsätzlich von der BAGFW begrüßt. Die Begründung des § 1 OZG mit Blick auf Artikel 91c Absatz 5 GG hat nur Bürgerinnen und Bürger sowie die Wirtschaft im Blick. Es sollte eine Ergänzung um Zivilgesellschaft, Vereine und Körperschaften des öffentlichen Rechts geben, da diese ebenfalls von online angeboten Verwaltungsleistungen betroffen sind oder diese in Anspruch nehmen. Deshalb empfehlen wir den umfassenden Begriff „Nutzer“ nach § 2 (5) OZG durchgehend zu nutzen.
Die BAGFW fordert die Bundesregierung auf, alternative, insb. analoge, Kommunikationswege und Möglichkeiten zur Information über und Inanspruchnahme von Verwaltungsleistungen gesetzlich festzuhalten. Deshalb fordern wir die Einführung von § 1(2) OZG mit folgendem Inhalt: „Bürgerinnen und Bürger haben einen Anspruch auf eine analoge und digitale Kommunikation und auf die Inanspruchnahme der Verwaltungsleistung.
Es ist sicherzustellen, dass weder durch digitale noch durch analoge Kommunikation oder Inanspruchnahme von Verwaltungsleistungen Benachteiligungen entstehen.“
Das Festhalten am EfA-Prinzip und der Ende-zu-Ende-Digitalisierung nach
§ 1aa (4) OZG ist im Grundsatz sehr wichtig und begrüßenswert. Jedoch bleibt der aktuelle Entwurf hinter den Erwartungen zurück. Die BAGFW fordert eine konsequente Umsetzung und rechtliche Verbindlichkeit des EfA-Prinzips im OZG, da somit für alle Nutzende eine gleichberechtigte Inanspruchnahme und Gleichbehandlungen bei digitalen Verwaltungsleistungen sicherzustellen ist.
Die BAGFW bedauert, dass keine gesetzliche Verpflichtung zur Standardisierung und zur Schaffung von Schnittstellen im OZG zu finden sind. Das Ziel des Datenaustausches zwischen Bund und Ländern ist zentral, genau dafür sind jedoch Standards und Schnittstellen die Voraussetzung. Es ist zentral, dass der IT-Planungsrat von seinen Kompetenzen nach § 1 (1) Satz 1 (2) IT-Staatsvertrag Gebrauch macht und dieser per Gesetz dazu verpflichtet wird. Das aktuelle Whitepaper des Deutschen Instituts für Normung (DIN) und die Kommentierung des Normenkontrollrats zum Änderungsgesetz sind entsprechende Vorschläge zur Umsetzung jener Lücken und Fokussierung auf die Standardisierung und Basiskomponenten. Eine Begründung, warum keine verpflichtende Regelung für die Ende-zu-Ende-Digitalisierung eingeführt wurde, liegt ebenfalls nicht vor und sollte, falls es nicht umgesetzt wird, ergänzt werden. Ohne verlässliche und verbreitete Standards ist es den Trägern der Freien Wohlfahrtspflege nur schwer möglich, Anschlussstellen der Verwaltung bruchlos zu nutzen oder ihre Dienste, Prozesse und IT-Landschaft darauf auszurichten und so den Auftrag der kooperativen Daseinsfürsorge zu erfüllen.
Die BAGFW nimmt die Entfristung im OZG-Änderungsgesetz und dessen Begründung zur Kenntnis. Eine Entfristung sollte jedoch nicht ohne Verbindlichkeiten und Planungen einhergehen. Deshalb fordern wir eine verbindliche Planung, Transparenz und Einbindung der Wohlfahrtsverbände für eine sichere Planung bei der Umsetzung des OZG.
2. Bundesweiter Portalverbund für digitale Verwaltungsleistungen (§ 1a (2) OZG)
Die BAGFW begrüßt, dass das OZG einen einheitlichen barrierefreien und medienbruchfreien Zugang zu elektronischen Verwaltungsleistungen über den Portalverbund ermöglichen soll. Die BAGFW begrüßt ausdrücklich die explizite Nennung zur Verpflichtung der Barrierefreiheit beim Zugang. Jedoch fehlt es hier an der Konkretisierung, dass gemäß § 7 (2) OZG der Zugang herstellt werden muss. Die BAGFW empfiehlt dem Gesetzgeber in der Begründung auf die Barrierefreiheit einzugehen, um eine vollständige Umsetzung sicherzustellen.
3. Etablierung einer elektronischen Suche (§ 1a (3) OZG)
Die BAGFW begrüßt die Etablierung einer bundesweiten Suche im Portalverbund, sodass es für Bürgerinnen und Bürger eine zentrale Anlaufstelle für alle staatlichen Leistungen geben soll. Die freiwillige Nutzung wird jedoch den Erfolg der Suche mindern, da das eventuelle Ausbleiben einzelner Bundesländer die gesamte Suche für Millionen von Menschen in Deutschland unzureichend macht.
Im Gegensatz zum Zugang zum Portalverbund wird bei der Suchfunktion auf die Barrierefreiheit verzichtet. In der Begründung auf „einen klaren, verständlichen Einstiegs- und Informationspunkt“ hinzuweisen ist unzureichend. Die BAGFW fordert, dass eine so zentrale Funktion für das Identifizieren von Verwaltungsleistungen auch barrierefrei ist, sodass auch alle Menschen diese Funktionalität nutzen können. Es bedarf der Suchfunktion und Ergebnisdarstellung in Leichter Sprache, einer Vorlesefunktion und in einem zweiten Schritt auch der Mehrsprachigkeit, um alle Menschen in Deutschland bei ihrer Suche nach passenden Verwaltungsleistungen zu unterstützen. Auch hier ist der Verweis auf § 7 (2) OZG dringend geboten.
4. Antragsassistenz (§ 2 (4) OZG)
Die BAGFW begrüßt die Einführung eines „Antragsassistenten“ in § 2 (4) OZG zur Unterstützung der Nutzenden von digitalen Verwaltungsleistungen. Eine nutzungsfreundliche und barrierefreie Ausgestaltung ist auch hier zentral, sodass alle Nutzende von dem Angebot profitieren können.
Bei der Entwicklung des Assistenten geht die BAGFW davon aus, dass auch fachliche Informationen den Nutzenden zur Verfügung gestellt werden. Als BAGFW bieten wir hier unsere Unterstützung an, um zielgruppengerechte Informationen im Entwicklungsprozess zu verankern.
5. Datenverarbeitung (u. a. § 3a (2) und § 8a OZG)
Die Veranlassung der Nutzer zur Datenverarbeitung ist grundsätzlich positiv zu betrachten. Wichtig ist im Sinne der Barrierefreiheit und Nutzerfreundlichkeit (§ 7 OZG), dass die angefragte Veranlassung verständlich ist für Menschen mit geringen digitalen Kompetenzen und zugleich dafür gesorgt wird, dass die Kompetenzen der Nutzer sich insgesamt erhöht. Auch mit bestätigter Veranlassung muss Datensparsamkeit stets gewährleistet bleiben.
Bei nicht notwendiger Identifizierung für eine Leistung (z. B. Erstgespräch einer Online-Beratung, allgemeine Informationsanfrage, antragslose Leistungen im ergänzenden Angebot von OZG-basierten Plattformen) müssen auch ohne Nutzerkonto und mit möglichst geringer Datenerhebung (Stichwort Datensparsamkeit) einzelne digitale Verwaltungsleistungen in Anspruch genommen werden können. Eine anonyme Kommunikation mit der Verwaltung und Beratungsangebote, die Teil der Einzelleistungen von Sozialverbänden sind, müssen für einzelne Dienstleistungen sowie für allgemeine Auskunftsfragen auch digital möglich sein und bleiben.
6. Bürger- und Organisationskonto (§ 2 (6) und § 3 OZG)
Die BAGFW begrüßt die Einführung eines Bürger- und Organisationskontos im Grundsatz. Offen bleibt für die BAGFW der Umgang mit Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft (z. B. Geflüchtete und Migranten), inwiefern haben sie Anspruch auf ein Bürgerkonto? Die verpflichtende Nutzung eines Organisationskontos (§ 3 (3) Satz 2 OZG) betrifft die Verbände der BAGFW und hat direkte Auswirkungen auf deren Arbeit. Wie plant die Bundesregierung für gemeinnützige Organisationen diese Umstellung zu finanzieren? Es ist sicherzustellen, dass zentrale Akteure der Daseinsfürsorge in Deutschland besonders berücksichtigt werden und dort die Funktionsfähigkeit, ausreichende Umstellungszeiträume und finanzielle Mittel sicherzustellen.
Die BAGFW fordert eine Regelung im § 3 OZG, welche sicherstellt, dass Fachberatende der BAGFW auf die relevanten Daten und die Kommunikation eines Bürgerkontos zugreifen können, beispielsweise zur Unterstützung von Menschen mit Behinderung bei der Antragstellung und Kommunikation mit der Verwaltung. Bei einer synchronen Kommunikation zwischen Nutzer und Verwaltung bzw. Beratenden ist insbesondere auf eine barrierefreie Umsetzung zu achten.
7. Barrierefreiheit und Nutzerfreundlichkeit (§ 7 OZG und § 16 EGovG)
Die BAGFW begrüßt und unterstützt die Einführung von § 7 OZG und dessen Begründung. Damit stellt der Gesetzgeber rechtlich sicher, dass alle Menschen an digitalen Verwaltungsleistungen teilhaben können. Zur Präzisierung empfehlen wir die Formulierung aus § 16 EGovG auch in § 7 (2) Satz 2 OZG zu nutzen: „Für die barrierefreie Gestaltung gilt die Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung (BITV 2.0) vom 12. September 2011 (BGBl. I S. 1843) in der jeweils aktuellen Fassung entsprechend.“
Wir weisen darauf hin, dass aufgrund verbesserungswürdiger Bedienbarkeit und Verständlichkeit der digitalen Verwaltungsangebote schon jetzt die Beratungsstellen der Freien Wohlfahrtspflege sehr viel Hilfestellung bei der reinen Bedienung leisten müssen, zulasten ihres eigentlichen Auftrags, zur Lebenssituation und zu Unterstützungsleistungen zu beraten.
8. Evaluation (§ 12 OZG)
Die Fortsetzung und Ausweitung der Evaluation zur Umsetzung des OZG nach § 12 begrüßen wir ausdrücklich. Die Begleitung und Auswertung der Umsetzung von digitalen Dienstleistungen ermöglicht eine genaue Beobachtung der Umsetzung. Wir fordern die Bundesregierung auf, die Kriterien zu einer offenen Evaluation eindeutig festzulegen und zu ergänzen.[1] Wir begrüßen die Kriterien Online-Verfügbarkeit und Nutzungszufriedenheit. Bei letzterer fordern wir eine Ergänzung um weitere Organisationen, wie beispielsweise Vereine und Körperschaften des öffentlichen Rechts, die ebenfalls Nutzende des OZG sind. Es sollte außerdem die Zufriedenheit bei der Entwicklung und Nutzung von den umzusetzenden Stellen evaluiert werden, dazu gehören neben den Bundes- und Landesministerien, insbesondere Kommunen und die Wohlfahrtspflege. Ein weiteres fehlendes Evaluationskriterium ist die „Umsetzungsplanung mit einer verbindlichen Meilensteinplanung“, die aus der Begründung § 1a (3) OZG (Version vom 25.11.2022) entfernt wurde. Wir empfehlen, diese wieder einzuführen und in § 12 OZG zu ergänzen.
Eine retrospektive Gesetzesfolgenabschätzung sollte nach § 44 (7) GGO prüfen, „welche Nebenwirkungen eingetreten sind.“ Die BAGFW fordert die Bundesregierung dazu auf, mögliche Benachteiligungen von Menschen, die weiterhin analog Verwaltungsleistungen in Anspruch nehmen, und die Durchsetzung des neuen § 7 OZG zu prüfen.
9. Gleichwertigkeits-Check
Die BAGFW begrüßt und stimmt den vorliegenden Ergebnissen der Prüfung der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse zu. Die BAGFW stellt jedoch fest, dass die Prüfkriterien unzureichend sind bzw. im Gesetz unzureichend kommuniziert werden. Der orts- und zeitunabhängige Zugang sowie die angemessene digitale Infrastruktur sind sehr wichtige Faktoren, bilden jedoch nicht die gesamte Vielfalt einer umfassenden digitalen Teilhabe ab. Neben dem Zugang sollte ein solcher Check auch die Gestaltung und zukünftige Nutzung prüfen. Zudem besteht das Risiko, dass die Digitalisierung im Sinne des OZG ohne flankierende Maßnahmen, wie eine umfassende Förderung der digitalen Kompetenzen der Bürgerinnen und Bürger, die digitale Spaltung („digital divide“) weiter verstärkt. Denn vom OZG profitieren nur jene Menschen in Deutschland, die staatliche Leistungen bereits heute oder in Zukunft digital in Anspruch nehmen werden. Für Menschen, die, beispielsweise aufgrund unzureichender digitaler Kompetenzen, nicht digitale Leistungen des Staates in Anspruch nehmen können, müssen weiterhin eine analoge Bearbeitung der Verwaltungsverfahren und Anträge möglich sein und diese sind durch weitere staatliche Maßnahmen zu verbessern.
Abschließend weisen wir die Bundesregierung in diesem Kontext auf die Finanzierung von Beratungsleistungen und die gesamte Finanzierung der Digitalisierung im Sozial- und Gesundheitssektor in Deutschland hin:
Die BAGFW begrüßt grundsätzlich das Interesse und den Willen der Bundesregierung, neben analoger Beratung auch digitale und hybride Beratungsformate anzuerkennen. Derzeit erschweren kommunale Refinanzierungsregelungen vielerorts die Abrechnung digitaler und hybrider Beratungsleistungen. Diese Problematik ist ressortübergreifend relevant und wird mit der Ausweitung der Möglichkeiten zur standortunabhängigen Inanspruchnahme von Beratungsleistung durch die Digitalisierung noch an Bedeutung gewinnen. Es bedarf einer einfachen und einheitlichen Abrechnungsmöglichkeit für digitale Beratungsleistungen in Deutschland. Wir weisen hier auf das Gesprächsangebot von StS Richter gemeinsam mit dem IT-Planungsrat und der BAGFW hin.
Die BAGFW fordert die Bundesregierung auch in diesem Kontext weiter auf, die notwendigen finanziellen Mittel für Menschen in Armut und zur Ausstattung der Sozial- und Gesundheitseinrichtungen mit digitaler Infrastruktur bereitzustellen. Wir bekräftigen mit der Ausweitung der digitalen Verwaltungsleistungen unsere Forderung, dass die Mittel zur „Nachrichtenübermittlung“ im Bürgergeld deutlich anzuheben und eine Einmalzahlung zur Anschaffung von Geräten einzuführen, um die digitale Teilhabe aller Menschen in Deutschland auch im Sinne des OZG-Änderungsgesetzes sicherzustellen.[2] Zweitens erfordern die zusätzlichen Dienstleistungen und das erweiterte digitale Aufgabenspektrum im Kontext der digitalen Transformation insbesondere für gemeinnützig organisierte Einrichtungen zusätzliche Ressourcen und Mittel, die sowohl über Förderungen als auch Anpassung der Refinanzierungsmodelle umgesetzt werden muss.
Dies trifft auch aufs OZG zu, hier müssen von Einrichtungen der BAGFW zusätzliche Ressourcen aufgewandt werden, um die intendierte Digitalisierung umzusetzen.
[1] Der Normenkontrollrat (2022) empfiehlt die Qualitätsmerkmale 1) OZG-Reifegradmodell, 2) zu erreichendes Servicelevel, 3) Nutzungsquote und 4) Zufriedenheitswerte.
[2]Beispielsweise fordert der Bundesverband evangelische Behindertenhilfe 80 € pro Monat für Nachrichtenübermittlung im Bürgergeld und die Einmalausstattung in § 31 Abs. 1 SGB II zu verankern. Diakonie Deutschland fordert ein „Digitales Existenzminimum“ mit u. a. 400 € pro Person zur Einmalausstattung und einer Anhebung von 25 € pro Monat der Mittel zur Nachrichtenübermittlung.
]]>a) Sozialanwaltschaftliche Rolle: Gemäß des Grundsatzes „leave no one behind“ aus
den Zielen für eine Nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen geht es darum,
dass alle Menschen am sozialökologischen Wandel teilhaben.
b) Transformation der Sozialwirtschaft: Die Träger der Freien Wohlfahrtspflege fordern
und unterstützen Maßnahmen zum Klimaschutz. Sie sehen die Umsetzung von
Klimaschutz als strategische Herausforderung der kommenden Jahre. Das Thema
der Klimaanpassung und insbesondere der Hitzeschutz werden in den kommenden
Jahren zu einer drängenden Aufgabe werden.
c) Multiplikatorin in die Gesellschaft: Die Freie Wohlfahrtspflege in Deutschland erreicht
tagtäglich durch ihre Millionen an Beschäftigten, Ehrenamtlichen und Menschen, die
sie betreut, einen großen Teil der Gesellschaft und kann dadurch dazu beitragen,
dass die Akzeptanz von Klimaschutzmaßnahmen steigt, sofern sie sozial gerecht
ausgestaltet sind.
Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege begrüßen, dass die Europäische Union in den kommenden Jahren ihre Politik in den unterschiedlichen Politikbereichen mehr und mehr an Nachhaltigkeitsgrundsätzen ausrichtet.
Klar ist allerdings, dass nur eine konsequente Nachhaltigkeitspolitik der EU und ihrer Mitgliedstaaten die bestehenden und kommenden Herausforderungen wird lösen können. Dafür braucht es einen Umbau aller Gesellschaftsbereiche und aufgrund der vorangeschrittenen Klimakrise und dem Artensterben ein deutlich erhöhtes Tempo in allen für die Transformation notwendigen Bereichen: U. a. Energie-, Verkehrs-, Ernährungs-, Finanzwende.
Die Kosten der Klimakrise durch nicht erfolgten oder zu wenig Klimaschutz können immens sein. Die Belastungen z. B. für das Gesundheitssystem würden stark ansteigen. Die BAGFW befürchtet, dass es angesichts bestehender Schuldenbremsen auch zu Konkurrenzen zwischen Klima- und sozialen Ausgaben kommen könnte. Infolgedessen würden Mittel für gute und wirksame Sozialpolitik den Mitgliedstaaten nicht ausreichend zur Verfügung stehen und die soziale Ungleichheit, die schon heute ein großes Problem in der EU darstellt, würde weiter steigen.
Darüber hinaus warnt die BAGFW davor, Ausnahmen für Luxusemissionen zu schaffen, die die Akzeptanz von Klimaschutzmaßnahmen in der breiten Bevölkerung weiter gefährden. Vielmehr gilt es aus der Gerechtigkeitsperspektive diese Emissionen in den Blick zu nehmen und entsprechende Instrumente zur Reduzierung dieser zu entwickeln.
Ein wichtiges Instrument zur Bewältigung der sozialen Auswirkungen der Transformation sind gut ausgestaltete nationale Systeme der Mindestsicherung. Die BAGFW begrüßt die 2022 angenommene Ratsempfehlung für angemessene Mindesteinkommen. Gleichzeitig kritisiert sie, dass die Ratsempfehlung keine Rechtsverbindlichkeit besitzt und so nur begrenzt Wirkung entfaltet. Aus diesem Grund braucht einen verbindlichen Rechtsakt in Form einer Rahmenrichtlinie für die Mindestsicherung.
Zusammenfassend möchte die BAGFW die Europäische Kommission dazu aufrufen, die Herausforderungen konsequent und mit einem hohen Tempo anzugehen. Immer unter der Berücksichtigung, dass niemand zurückgelassen werden darf und die Maßnahmen eine Teilhabe für alle ermöglichen. Die BAGFW wird die weiteren Prozesse kritisch und konstruktiv begleiten. Sie freut sich auf weitere Beteiligungsmöglichkeiten im Rahmen der Politikprozesse auf europäischer und nationaler Ebene.
]]>
Die Reform des Betreuungsrechtes ist ein Meilenstein in der Umsetzung der UN-BRK. Mit ihr soll das Selbstbestimmungsrecht der Betreuten gestärkt werden. Die BAGFW hat den Diskussionsprozess und das Gesetzesverfahren aktiv und konstruktiv begleitet. Wir werden auch die Umsetzung mit aller Kraft unterstützen. Das kann aber nur gelingen, wenn alle Akteure ihre gesetzlichen Aufgaben auch tatsächlich wahrnehmen können.
Betreuungsvereine stehen gerade vor unlösbaren Problemen. Die aktuelle Kostenexplosion (Tariferhöhungen, Energiekosen, Inflation) kann durch die derzeit gültigen Pauschalen im VBVG nicht mehr aufgefangen werden. Die geplante Evaluierung des Gesetzes Ende 2024 mit in Aussicht stehenden Erhöhungen der Pauschalen kommt für die Betreuungsvereine zu spät.
Die Umsetzung des § 17 BtOG (bedarfsgerechte finanzielle Ausstattung der Betreuungsvereine für die Querschnittsaufgaben) gelingt leider nicht in allen Bundesländern. Einige Länder haben noch keine Regelungen getroffen.
Um die mit der Reform einhergehende anspruchsvolle Arbeit vornehmen zu können, ist es unerlässlich, die im Gesetz über die Vergütung von Vormündern und Betreuern (VBVG) 2019 festgelegte Vergütung schnellstmöglich an die tatsächliche Tarifentwicklung und die von der Energiekrise ausgelöste gegenwärtige extreme Kostenentwicklung anzupassen.
Wir haben bereits 2019 auf die dringende Notwendigkeit hingewiesen, die Vergütung in Relation zu den Tariferhöhungen bzw. zu erwartenden Preissteigerungen zu dynamisieren und den sehr langen Evaluationszeitraum von 5 Jahren herabzusetzen. Sowohl bei der VBVG-Anpassung als auch im Kontext mit der Betreuungsrechtsreform, ist eine solche Korrektur ausdrücklich abgelehnt worden. Seither hat die derzeitige inflationäre Preisentwicklung unsere Befürchtungen, auf die wir unsere damalige Forderung gestützt haben, umso mehr bestätigt.
Abgesehen davon, dass die durchschnittliche Erhöhung der Vergütungssätze von 2019 um durchschnittlich 17 % für die Vereine real nur 11-13 % ausmachen - ist diese Erhöhung in ihrer Wirkung durch die aktuellen Entwicklungen bereits verpufft. Die Energiekrise und die damit einher gehende Inflationssteigerung lassen keinen Spielraum mehr, um normale Lohnentwicklungen, d.h. -steigerungen, aufzufangen. Doch wird es bei den diesjährigen Tarifrunden nicht bei normalen Lohnsteigerungen bleiben: für den Öffentlichen Dienst haben die verhandelnden Gewerkschaften mindestens 10 % Lohnerhöhung gefordert. Die Träger der Freien Wohlfahrtspflege orientieren sich bei ihren Tarifverhandlungen an den Abschlüssen im Öffentlichen Dienst. Damit kommen auch auf die Betreuungsvereine in Trägerschaft von Verbänden der Freien Wohlfahrtspflege ähnlich hohe Entgeltsteigerungen zu.
Die aktuelle Situation ist für die Betreuungsvereine damit noch erheblich bedrohlicher, als sie es bereits vor der VBVG-Reform 2019 war. Ohne eine zeitnahe Anpassung der Vergütung an die aktuellen Entwicklungen werden wir die genannten Mehrkosten nicht bestreiten können. Dies wiederum wird dazu führen, dass viele unserer Betreuungsvereine die kommenden knapp zwei Jahre bis zur gesetzlich vorgesehenen Evaluation wirtschaftlich nicht überleben werden.
Wir fordern daher, schnellstmöglich ein Gesetzgebungsverfahren anzustoßen, um die aktuelle Tarif- und Preisentwicklung im VBVG abzubilden und so ein Überleben der Betreuungsvereine bis zum Vorliegen der Evaluierungsergebnisse und der dann notwendigen Anpassung zu ermöglichen.
Bund und Länder sind gleichermaßen in der Verantwortung dafür zu sorgen, dass die Betreuungsrechtsreform ein Erfolg wird und damit auch ihre positive Wirkung bei den Betreuten entfalten kann. Dies kann nur gelingen, wenn die Betreuungsvereine die ihnen vom Gesetz zugedachte, entscheidende Rolle wahrnehmen können und nicht dem finanziellen Untergang preisgegeben werden.
]]>Die Problematik zeigt sich besonders akut in den Bereichen Soziales und Erziehung, Gesundheit und Pflege, Bau und Handwerk, aber auch in der Informationstechnologie und den Berufen rund um Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik. Sowohl Fach- als auch Hilfskräfte fehlen in einem so erheblichen Ausmaß, dass in vielen Bereichen ein Versorgungsengpass und immer häufiger ein Versorgungsnotstand besteht, sodass im schlimmsten Fall Einrichtungen und Dienste wegen Personalmangels geschlossen werden müssen.
Die Bundesregierung hat sich mit ihrer Fachkräftestrategie der Problematik angenommen und zahlreiche Maßnahmen, darunter auch die Modernisierung und Weiterentwicklung des Einwanderungsrechts, angekündigt. Der vorliegende Referentenentwurf zur Weiterentwicklung der Fachkräfteeinwanderung zielt darauf ab, Fachkräfte aus Drittstaaten für den deutschen Arbeitsmarkt zu gewinnen, indem die rechtlichen Rahmenbedingungen für die Zuwanderung verbessert werden. Zudem sollen bewährte Ansätze des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes aus dem Jahr 2020, wie die Verlängerung der Westbalkanregelung, verstetigt werden.
Die BAGFW begrüßt den Vorstoß als weiteren Schritt in die richtige Richtung. Zusätzlich zur vorrangigen Hebung inländischer und der Erschließung innereuropäischer Arbeitskraftpotenziale ist die Erleichterung der Einwanderung aus Drittstaaten eine weitere Möglichkeit, um den Arbeitskräftemangel zu lindern.
Aus Sicht der BAGFW gibt es einige weitere wichtige Punkte, die für eine nachhaltige Erwerbsmigration entscheidend sind, das Ankommen in Deutschland ermöglichen und den Verbleib stärken. Es sind Reformen notwendig, die nicht allein auf die Gewinnung von qualifizierten Fachkräften abzielen, sondern auch eine Gewinnung von geringer Qualifizierten im Sinn hat.
Die Verbände der Wohlfahrtspflege haben sich in einzelverbandlichen Stellungnahmen mit dem Gesetz- und Verordnungsentwurf auseinandergesetzt. Aufgrund der Relevanz des Themas und des dringenden Bedarfs nach Reformen bringen die Verbände der BAGFW darüber hinaus gemeinsam folgende Eckpunkte in die Debatte ein:
Vereinfachung und Beschleunigung von Verfahren
Die Visa- und Verwaltungsverfahren dauern derzeit übermäßig lang. Gründe sind unzureichende Ausstattung an Personal und Arbeitsmitteln sowie unzureichende Digitalisierung, aber auch eine immer komplexer werdende Rechtsmaterie. Das aktuelle Gesetzgebungsverfahren sollte dazu genutzt werden, seinen Teil zur Beschleunigung von Verfahren beizutragen, indem es einen Beitrag zur Vereinfachung des Rechts leistet. Eine Möglichkeit, die Verfahren wirksam zu beschleunigen, wären bindende Fristen, innerhalb derer Anträge zu bescheiden sind bzw. bei Nichtbescheidung als bewilligt gelten. Der Gesetzentwurf enthält dazu einige Schritte, die aber nur für Besitzer:innen einer ICT-Karte oder einer Blauen-Karte aus einem anderen Mitgliedstaat gelten sollen. Es ist nicht ersichtlich, warum nicht generell Anträge auf eine Aufenthaltserlaubnis künftig spätestens nach 30 Tagen zu bescheiden sind oder die Erlaubnis zum Familiennachzug spätestens 30 Tage nach der Einreichung des vollständigen Antrags zu erteilen ist (vgl. Gesetzentwurf Art. 1 Nr. 27: § 81 Abs. 6 und 6a AufenthG-neu).
Ein weiterer möglicher Schritt wäre, einzelne Anspruchsvoraussetzungen zu vereinfachen. So würde beispielsweise die Orientierung der Lebensunterhaltssicherung an der Existenzsicherung nach §§ 20, 22 SGB II (dazu auch unten) komplexe Berechnungen sparen.
Schwerpunkt auf Ausbildung
Aus Sicht der BAGFW sollte ein gesetzgeberischer Schwerpunkt auf die erleichterte Zuwanderung über den Ausbildungsweg gelegt werden. Das ist vielversprechender als überwiegend auf fertig ausgebildete Fachkräfte zu setzen. Erfahrungsgemäß besteht für ausgebildete Fachkräfte, die in ihren Herkunftsländern beruflich und sozial verwurzelt sind, wenig Anreiz, nach Deutschland umzuziehen. Das gilt vor allem, wenn eine aufgebaute Existenz aufgegeben werden muss, um in einer fremden Sprache und Umgebung neu zu beginnen. Dieses Muster verändert sich, wenn Menschen aus anderen Motiven, z.B. wegen Unzufriedenheit mit der politischen Situation oder wegen fehlender Arbeits- und Lebensperspektive, das eigene Land verlassen und in Deutschland ein attraktives Zuwanderungsland sehen. Die Erfolge in Ausbildungsprogrammen zeigen, dass es sich sehr bewährt, zuwanderungsinteressierten Menschen in Deutschland gezielt eine Ausbildung zu ermöglichen. Durch die betriebliche Ausbildung kann der Lebensunterhalt z. B. in der Pflege oder im Kitabereich überwiegend selbst gesichert werden. Der Weg über eine Ausbildung ist daher für viele Menschen ein realistischer Weg. Um diesen zu erleichtern, müssen rechtliche und bürokratische Hürden weitestgehend abgebaut werden, wie z. B. die Zustimmungspflicht der Bundesagentur für Arbeit zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zur Ausbildungsaufnahme gemäß § 16a AufenthG.
Familiennachzug erleichtern
Die Verbände der BAGFW setzen sich seit langem grundsätzlich für Erleichterungen bei der Familienzusammenführung ein. Der Familiennachzug zu Arbeitskräften hängt derzeit von zahlreichen Voraussetzungen ab, zu denen Kenntnisse der deutschen Sprache bei nachziehenden Gatt:innen und Kindern zwischen 16-18 Jahren gehören sowie die Lebensunterhaltssicherung für die ganze Familie und zudem der Nachweis von ausreichendem Wohnraum.
Für diejenigen, die erwägen, zu Erwerbszwecken nach Deutschland zu kommen, wird es eine zentrale Rolle spielen, ob bzw. unter welchen Bedingungen sie hier mit ihren Familienangehörigen zusammenleben können. Bei der Weiterentwicklung des Einwanderungsrechts gilt es, die Fehler der „Gastarbeiteranwerbung“ nicht zu wiederholen. Ziel muss es regelmäßig sein, für Migrant:innen eine langfristige Perspektive in Deutschland zu schaffen. Auch aus diesem Aspekt bedarf es einer Einwanderungspolitik, bei der Deutschland Familien gewinnt, nicht nur individuelle Arbeitskräfte. Damit dies gelingt, ist es aus Sicht der Verbände der BAGFW notwendig, die oben genannten Hürden bei der Familienzusammenführung zu überprüfen und zu senken, wie es ja etwa auch bei der Einführung des Chancen Aufenthaltsrechts schon teilweise umgesetzt wurde.
Die Vermeidung prekärer Wohnverhältnisse und Lebensbedingungen sind aus Sicht der Verbände grundsätzliche zentrale sozialpolitische Herausforderungen. Diese zentralen Anliegen dürfen aber nicht das Recht, in Deutschland mit der Familie zusammenleben zu können, einschränken.
Strukturförderung
Um zusätzliche Arbeitskräfte zu gewinnen, müssen wir die Menschen tatsächlich auch erreichen können, daher sind ausreichend Integrations- und Beratungsstrukturen bereitzuhalten. Ab 2026 soll ein bundesweites, unentgeltliches und niedrigschwelliges Beratungsangebot zu arbeits- und sozialrechtlichen Fragen regelfinanziert werden, das sich an Neuzuwandernde und bereits in Deutschland aufhältige Drittstaater:innen sowie an solche, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt (noch) im Ausland haben, richtet. Geplant ist auch eine Zentrale Erstansprechstelle für Fragen zu Einreise und Aufenthalt zu Bildungs- oder Erwerbszwecken im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Diese geplante Erweiterung und Verstetigung von Beratungsangeboten begrüßt die BAGFW.
Um an die Integrationskurse zu vermitteln und als Verweisberatung zu spezialisierten Beratungsstellen (z. B. zu arbeitsrechtlichen Fragen), hat sich das Angebot der vom Bund geförderten Migrationsberatung für Erwachsene Zuwanderer (MBE) und die Jugendmigrationsdienste für junge Menschen von 12 bis 27 Jahren (JMD) der Verbände der BAGFW bewährt.
Beide Dienste haben sich bei der Begleitung von Zugewanderten bewährt und fördern das Ankommen und ein nachhaltiges Einleben in Deutschland. Wir befürchten, dass die Dienste der BAGFW die neu Ankommenden nicht angemessen betreuen können, wenn es nicht zu einer entsprechenden Aufstockung der Mittel kommt. Mit großer Sorge haben wir zur Kenntnis genommen, dass, anders als noch im Eckpunktepapier angedacht, eine Stärkung der bewährten Angebote sich nicht im Erfüllungsaufwand des Gesetzes wiederfindet. Spätestens bei einer Erweiterung des Mandats der MBE und JMD ist eine Erhöhung der Mittel zwingend.
]]>Erkenntnisse zu Kostenentwicklung allgemein:
Einige Vorschläge möchten wir gleichwohl nochmals kommentieren:
Artikel 1 Änderung des Erdgas- Wärme-Preisbremsengesetz (EWPBG)
Nr. 2 § 3 EWPBG Entlastung der mit leitungsgebundenem Erdgas belieferten Letztverbraucher
(ebenso für Nr. 3b, Nr. 6 a und b; § 11)
Die Klarstellung für die Lage gemischter Einrichtungen begrüßen wir im Grundsatz ausdrücklich. In der Tat sind viele Träger im Bereich der Freien Wohlfahrtspflege breit aufgestellt und unterhalten gemischte Einrichtungen, wie z.B. ein Krankenhaus mit angeschlossener Reha- oder Kurzzeitpflegeeinrichtung. Insoweit zielt die hier vorgesehene Klarstellung eine wichtige Hilfestellung ab.
Allerdings regen wir an, bei der Formulierung der Klarstellung auf das Wort „weit“ zu verzichten. Dieser Begriff ist wertend und würde erneut Auslegungsfragen aufwerfen. Dies halten wir für umso wichtiger, als die Begründung (S. 17 des Entwurfs) keinen Anhaltspunkt dafür enthält, wann von einer „weit überwiegenden“ Ausrichtung der Einrichtung auszugehen ist. Stellt der Text hingegen allein auf eine „überwiegende“ Tätigkeit in den genannten Gebieten ab, ist deutlich, dass mehr als 50 % der Umsätze in diesem Bereich bzw. eben im Krankenhausbereich erwirtschaftet werden müssen.
Nr. 3 § 6 Entlastung weiterer, mit leitungsgebundenem Erdgas belieferter Letztverbraucher
Es wird ausdrücklich begrüßt, dass auch die Letztverbraucher, die Erdgas im Rahmen eines SLP-Vertrags beziehen und deren Verbrauch die Grenze von 1,5 GW überschreitet, den RLP-Letztverbrauchern gleichgestellt werden. Damit hebt der Entwurf eine mit Artikel 3 Abs. 1 GG kaum vereinbare und sachlich nicht zu rechtfertigende Ungleichbehandlung auf.
Nr. 9 § 19 Modifikation des Verfahrens bei den Prüfbehörden
Grundsätzlich erscheinen Klarstellungen und Verfahrensvereinfachungen sinnvoll. Die BAGFW verschließt sich auch nicht dem Anliegen, die die Prüfbehörden von dem erheblichen Risiko von Rückforderungen seitens der EU wegen Mängel bei der Anwendung des komplexen EU-Beihilfe-Rechts zu entlasten.
Allerdings darf diese Entlastung nicht in der Weise erfolgen, dass die Prüfbehörden dieses Risiko auf die Letztverbraucher abwälzen. Gerade die Anwendung der komplizierten Regelungen für Unternehmensverbünde stellt unsere Mitglieder vor hohe Anforderungen. Die an Gesetz und Recht gebundene, öffentliche Verwaltung muss hier Letztverbraucher verfahrensmäßig unterstützen. Es kann nicht sein, dass das Risiko der korrekten Anwendung von Beihilfe- und Energiewirtschaftsrecht auf die Letztverbraucher übergeht, die dieses durch die (angesichts der hohen Streitwerte) kostspielige Inanspruchnahme von Rechtsanwälten auffangen müssen.
Grundsätzlich erscheint allerdings der Ansatz nachvollziehbar, dass die Prüfbehörde mit dem antragslosen Verfahren die Initiative ergreift und auf eine frühzeitige Klärung von Höchstgrenzen hinwirkt. Denn das kann in der Tat dem Risiko entgegenwirken, dass die verzögerte Feststellung von Höchstgrenzen Unternehmen entsprechend zu vermeidbar hohen Rückforderungen führt. Dieses Problem wird den Verbänden der Freien Wohlfahrtspflege aus der Praxis der Träger und Einrichtungen durchaus geschildert. Dass der neue Absatz 10 Satz 2 EWPBG neu gewissermaßen ein Zurückbehaltungsrecht betr. die Entlastung begründet, bis die angeforderte Selbsterklärung erteilt und Mitwirkung der Letztverbraucher ist, erscheint einerseits plausibel. Es stellt sich allerdings die Frage, ob es sinnvoll ist, die Lieferanten in diese Durchsetzung der EU-rechtlichen Bestimmungen einzubeziehen.
Dies gilt umso mehr im Hinblick auf Abs. 11 neu, der die aufschiebende Wirkung von Widerspruch und Anfechtungsklage gegen die Bescheide der Prüfbehörde aufhebt. Diesen Vorschlag lehnt die BAGFW auf das Nachdrücklichste ab. Auch wenn wir die grundlegende Ausrichtung auf die frühzeitige Klärung von Zweifelsfragen nachvollziehen, bürdet diese Regelung tatsächlich das Risiko für Fehleinschätzungen der Behörden weitgehend den Letztverbrauchern auf. Es liegt mithin bei diesen, durch entsprechende Verfahrensanträge sicherzustellen, dass die Überprüfung behördlicher Entscheidungen keine weiteren nachteiligen Folgen für die Unternehmen zeitigen. Insbesondere gilt dies auch im Zusammenhang mit der nach Abs. 12 neu vorgesehenen aber noch nicht im Detail geregelten Möglichkeit zum Übergang des Rückforderungsanspruchs von Lieferanten auf die Behörde. Die Entlastung durch die Energiepreisbremsen ist für Unternehmen essentiell. Die Höchstgrenzen führen ohnedies dazu, dass diese Entlastungen in Relation zu den tatsächlichen Belastungen in einem erheblichen Umfang gekappt werden. Kommt dann auch noch eine unmittelbar umsetzbare, in ihrer Berechtigung fragliche und von Rechtsbehelfen nicht ohne Weiteres aufzuhaltende Rückforderung hinzu, kann das die Existenz eines Unternehmens nachhaltig gefährden.
Die BAGFW fordert deshalb nachdrücklich, auf den geplanten Abs. 11 neu zu verzichten.
Nr. 14 § 29 EWPBG Arbeitsplatzerhaltung
Hinsichtlich der redaktionellen Änderung und Richtigstellung des Verweises auf die Verzinslichkeit der Rückforderung nach § 49a Abs. 3 S. 1 VwVfG in Abs. 2 weisen wir darauf hin, dass dieser Verweis zugleich auch die Anwendbarkeit von § 49a Abs. 3 S. 2 VwVfG und damit die dort vorgesehene Möglichkeit zum Verzicht auf die Verzinsung eröffnen muss.
Artikel 2 Änderung des StromPBG
Nr. 4 § 11
Betreffend der geplanten Einfügung der Absätze 8 bis 12 verweisen wir auf unsere Ausführungen zu Artikel 1 Nr. 9
Nr. 12 § 37
Betreffend der Verzinsung von Rückzahlungsbeträgen verweisen wir auf unsere Ausführungen zu Artikel 1 Nr. 14
Artikel 3: Änderung des Erdgas-Wärme-Soforthilfegesetzes
Bei den Änderungen zu Nummer 1 und Nummer 2 verweisen wir auf unsere Ausführungen zu Artikel 1 Nummer 2.
§ 5 Absätze 1 und 3: Verpflichtung zur Ausweisung des individuellen Entlastungsbetrags für Mieter und Wohnungseigentümer in Gemeinschaftseigentumsanlagen
Die BAGFW begrüßt die Klarstellung, dass der Vermieter die Höhe der Entlastung des auf den Mieter entfallenden Betrags sofort mit der Abrechnung ausweisen soll, denn die entlasteten Personen müssen die Entlastung unmittelbar bei der Einkommenssteuer angeben. Nicht sachgerecht ist allerdings die Regelung, dass die Weitergabe der Entlastung ggf. nicht unmittelbar, sondern auch mit der nächsten Abrechnungsperiode erfolgen kann. Ausweislich der Begründung soll der Gleichklang mit dem StromPGB und dem EWSG hergestellt werden. Dort sehen die Formulierungen jedoch die Weitergabe mit der laufenden Abrechnungsperiode vor. Diese Regelung sollte auch ins EWSG übernommen werden.
Änderungsbedarf:
Absatz 1 Satz 2 wird wie folgt geändert:
„Die Höhe der Entlastung des Vermieters und die Höhe des auf den Mieter entfallenden Anteils an der Entlastung sind mit der Abrechnung für die laufende Abrechnungsperiode gesondert auszuweisen oder spästens mit der nöchsten Abrechnung gesondert in Textform mitzuteilen.“
B. Weiterer Handlungsbedarf: Erweiterung der Fristen zur Vermeidung von Energiesperren (Änderung der Strom GVV)
Die Stromgrundversorgungsverordnung (StromGVV) sieht in § 19 Abs. 5 vor, dass bei Energieschulden von mehr als 300 Euro die Ratenzahlung zwischen mindestens 12 bis 24 Monate liegen sollen. Die Praxiserfahrung zeigt, dass diese Fristen nicht ausreichen. Die BAGFW sieht hier Änderungsbedarf. Notwendig sind hier Fristen über 24 Monate, damit die Raten von den Haushalten auch bezahlt werden können.
]]>
Allgemeine Anmerkungen
- Durch den neu geschaffenen § 36a SGB IX wird ein Anspruch auf einen einmaligen Energiekosten-Zuschuss für das Jahr 2022 geschaffen. In dem vorliegenden Entwurf der Rechtsverordnung werden die Voraussetzungen des Zuschusses nach § 36a SGB IX sowie das Verfahren zur Antragstellung und zur Bereitstellung der Mittel konkretisiert. Die BAGFW begrüßt, dass der Entwurf der Rechtsverordnung zur Konkretisierung zeitnah vom BMAS vorgelegt wurde.
- Die BAGFW bedauert, dass der Gesetzgeber nicht dem Vorschlag der von der Bundesregierung eigens einberufenen Expert:innenkommission Gas und Wärme[1] gefolgt ist, einen Härtefallfonds für Reha- und Vorsorgeeinrichtungen in Bundeskompetenz auch für die Jahre 2023 und 2024 aufzulegen.
Grundsätzlich sind Reha- und Vorsorgeeinrichtungen und -dienste sowie Einrichtungen und Dienste der Eingliederungshilfe aufgrund der von ihnen zu versorgenden vulnerablen Gruppen nicht in der Lage, ohne investive Maßnahmen in kurzer Zeit 20 Prozent Energie einzusparen. Auch liegen selbst die gedeckelten Energiekosten weit über den in der Vergangenheit durch die Einrichtungen verhandelten Preise. Dementsprechend entstehen den genannten Einrichtungen in den Jahren 2023 und 2024 auch nach Inkrafttreten einer Gas-Wärme-Preisbremse erhebliche Finanzierungslücken, die durch den Hilfsfonds 2022 nicht geschlossen werden.
- Die Verbände der BAGFW weisen kontinuierlich darauf hin, dass die größten Energiekostensteigerungen erst im Jahr 2023 anfallen werden. Hinzu kommen außerdem erhebliche Belastungen durch die mittelbaren Auswirkungen der Energiepreissteigerungen in den Sachkosten etwa für Lebensmittel, Medizinprodukte, Dienstleistungen. Deswegen ist der Zuschuss für das Jahr 2022 aus unserer Sicht nicht ausreichend, Angebotseinschränkungen oder gar die Schließung von Angeboten im Bereich der Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen zu vermeiden.
- Die BAGFW weist zudem darauf hin, dass Frühförderangebote für Kinder mit Behinderungen und ihre Familien, Einrichtungen und Angebote der Rehabilitation psychisch kranker Menschen sowie ambulante Rehabilitations- und Nachsorgeangebote für von Sucht betroffene Menschen grundsätzlich ebenfalls akut gefährdet sind. Für sie besteht nicht die Möglichkeit, Mittel aus dem Hilfsfonds zu beantragen, obwohl auch hier die Finanzierung, zumindest teilweise, über die Sozialversicherungen erfolgt. Hier bedarf es aus Sicht der BAGFW im weiteren Prozess dringender gesetzlicher Nachjustierungen.
- Die durch den Gesetzgeber geäußerte Annahme, dass entsprechende Kostensteigerungen 2023 und eventuelle Finanzierungslücken durch die Sozialversicherungsträger im Rahmen anstehender Vergütungsverhandlungen gedeckt würden, geht fehl. Die Leistungsträger insbes. die Gesetzlichen Krankenversicherungen verweisen auf staatliche Hilfen und negieren Kostenkalkulationen, die die realen Steigerungswerte abbilden. Wenn der Bund erkennbar eine Ausweitung des Hilfsfonds über 2022 hinaus nicht anstrebt, muss er die gesetzlichen Vorgaben zur Verhandlung stärken.
Die BAGFW plädiert jedenfalls für eine gesetzlich normierte Verpflichtung zur Verhandlung mit dem Ziel die Vergütungsvereinbarungen an reale, inflations- und krisenbedingte Kostensteigerungen anzupassen. Nur dadurch lassen sich Angebotseinschränkungen vermeiden.
- Im Sinne gleichwertiger Lebensverhältnisse und auch zum Erhalt von Einrichtungen und Diensten aus dem Bereich der Teilhabe von Menschen mit Behinderungen braucht es auch Regelungen für Einrichtungen und Dienste in Kostenträgerschaft von Ländern und Kommunen. Die Einrichtungen und Dienste in Kostenträgerschaft von Ländern und Kommunen müssen lückenlos und in gleicher Weise durch entsprechende Härtefallfonds geschützt werden, wie die Einrichtungen und Dienste in Bundeszuständigkeit.
- Die BAGFW sieht den Gesetzgeber weiterhin in der Pflicht und auch in der Verantwortung Lösungen zur Sicherung dieser sozialen und gesundheitlichen Infrastruktur zu finden.
Zum Verordnungsentwurf im Einzelnen:
Zu § 2 Begriffsbestimmung
Absatz 2
Aus Sicht der BAGFW sollten durch redaktionelle Klarstellungen aufwändige Rückfragen im Verwaltungsverfahren mit Blick auf die Abgrenzung in der Gebäudlichkeit vermieden werden.
Bzgl. der einzubeziehenden Gebäude/Räumlichkeiten, “in denen Rehabilitations- und Teilhabeleistungen erbracht werden”, sollte klargestellt sein, dass hier neben den Räumlichkeiten von Therapie und Behandlung die Gesamteinrichtung im Sinne des Versorgungsvertrages inklusive aller Funktionsbereiche wie z.B. Unterbringung, Allgemein-, Service- und Verwaltungsbereiche umfasst sind. Neben den Rehabilitations- und Teilhabeleistungen sind konkret auch die medizinische Vorsorgeleistungen zu benennen.
Änderungsvorschlag:
„...Dabei sind nur Gebäude und Räumlichkeiten zu berücksichtigen, in denen Rehabilitations- und Teilhabeleistungen im Sinne des Neunten Buches Sozialgesetzbuch und Medizinische Vorsorgeleistungen des Fünften Buches Sozialgesetzbuch erbracht werden. Dies bezieht alle notwendigen Funktionsbereiche der Gesamteinrichtung mit ein. Grundlage für Abgrenzungen sind die qm-Anteile. Gebäude und Räumlichkeiten, die nicht...“
Zu § 3 Zuschusshöhe
Absatz 1
Verbrauchsbedingte Schwankungen sollten aus Sicht der Freien Wohlfahrtspflege bei den Zuschüssen unberücksichtigt bleiben.
Änderungsvorschlag:
Für die Differenz der Kosten 2022 zu 2021 sollte als letzter Satz ergänzt werden: „Verbrauchsbedingte Schwankungen sind dabei unerheblich.“
Um möglichen Irritationen bei der Auslegung der Vorschrift vorzubauen regen wir an, sowohl in Satz 1 als auch Satz 2 entweder einheitlich “aus” oder “zwischen” als Adjunktor zu verwenden.
Absatz 3
Ein völliger Ausschluss von einem Zuschuss für Einrichtungen und Dienste mit einem Betriebsbeginn nach dem 31. Dezember 2021 ist unverhältnismäßig. In oben stehenden allgemeinen Anmerkungen wurde bereits ausgeführt, dass die Leistungsträger weder im Rahmen von prospektiven noch im Rahmen von Nachverhandlungen bereit sind, den Preiserhöhungen angemessen Rechnung zu tragen. Die dem § 3 Abs. 3 zugrunde liegende Annahme des Verordnungsgebers, die eine generelle Ausschlussklausel für Einrichtungen mit Betriebsbeginn ab 2022 vorsieht, ist demnach anzupassen.
Änderungsvorschlag:
Der Absatz sollte auf folgende Weise umformuliert werden:
„Liegt der Betriebsbeginn einer Einrichtung nach dem 31. Dezember 2021, sind der Berechnung durchschnittliche Verbrauchswerte zugrunde zu legen.“
Zu § 4 Antragstellung
Die BAGFW begrüßt, dass das in der Verordnung angelegte Verfahren der Testierung der Energiekosten durch Wirtschaftsprüfer bürokratiearm angelegt ist und fordert, dass die durch die zuständigen Rehabilitationsträger zur Verfügung zu stellenden Onlineanträge diesem Muster folgen.
Absatz 4
Es sollte sichergestellt sein, dass das Antragsverfahren aber auch die Antragsinhalte identisch ausgestaltet werden.
Änderungsvorschlag:
Der erste Satz sollte um das Wort „einheitlich“ ergänzt werden: „Die Antragstellung erfolgt … einheitlich zur Verfügung zu stellenden Onlineantrag.“
Zu § 5 Nachweis
Absatz 1
Für die Leistungserbringer nach § 36a Abs 2 Nr. 1 ist der Antrag beim Hauptbeleger zu stellen. Die BAGFW begrüßt, dass auch diese Bündelung das Antragsverfahren weniger aufwändig gestaltet. Sollte beim Antragsverfahren an eventuelle Nachweise der Hauptbelegerschaft gedacht sein, sollte dies bürokratiearm gehalten und ebenfalls in das Testat der Wirtschaftsprüfung integriert werden. Dem Wirtschaftsprüfer liegen diese Daten vor.
In Satz 2 regen wir eine redaktionelle Klarstellung an, dass sich der Begriff “Unterlagen” immer auf Unterlagen des Leistungserbringers bezieht.
Änderungsvorschlag:
Satz 2:
„Der Nachweis ist durch einen sachverständigen Dritten zu erstellen und die Unterlagen des Leistungserbringers auf Plausibilität zu beurteilen.“
Nach dem Satz „Die Inhalte des Nachweises ergeben sich aus der Anlage 2“ sollte nachfolgender Satz ergänzt werden: „Der Nachweis benennt den antragzuständigen Hauptbeleger im Sinne des § 2 Nr. 3 ReHV.“
Zu § 8 Verwaltungsvereinbarung
Aus Sicht der BAGFW ist es problematisch, dass das BMAS von seiner Verordnungsermächtigung nur hinsichtlich des Antragsverfahrens Gebrauch macht und keine Regelungen zur Antragsbearbeitung trifft. Die Auszahlung der Mittel soll in einer gesonderten Verwaltungsvereinbarung geregelt werden.
Aus Sicht der BAGFW sollten Antragsverfahren und Antragsbearbeitung in einem bürokratiearmen Verfahren im Rahmen der ReHV geregelt werden.
Im Sinne einer dringend notwendigen zeitnahen Unterstützung der Einrichtungen fordert die BAGFW, dass es durch die getrennten Verfahren nicht zu weiteren Verzögerungen kommt. Die sich an diese Verordnung anschließenden noch erforderlichen Verständigungen mit den Rehaträgern zu Online-Antragsverfahren, Verwaltungsvereinbarungen und auch das Zustimmungsverfahren des Bundesrates sollten zügig erfolgen. In der Richtlinie sollten zudem konkrete Fristen für die Auszahlung des Betrags nach Antragstellung genannt werden.
Zu Anlage 2
Entsprechend unserer Anmerkungen zu § 2 ist folgender Passus abzuändern:
„[…] Bei der Berechnung der entstandenen Energiekosten sind nur solche Gebäude und Räumlichkeiten berücksichtigt worden, in denen Rehabilitations- und Teilhabeleistungen im Sinne des SGB IX erbracht werden). Die Höhe der angefallenen Kosten liegt zu den verschiedenen Energieträgern einzeln dokumentiert vor und kann auf Nachfrage nachgewiesen werden.“
Die vorgeschlagene Reduzierung auf Räumlichkeiten, in denen Rehabilitations- und Teilhabeleistungen erbracht werden, ist aus Sicht der BAGFW nicht sachgemäß. Aus Sicht der BAGFW müssen bei den zu berücksichtigenden Gebäuden und Räumlichkeiten z. B. auch Büros, allgemeine Flächen und Flächen der Unterkunft ebenso volle Berücksichtigung finden, wie bspw. Therapie- und Angebotsräume, somit alle Funktionsbereiche der Gesamteinrichtung. Vorsorge, Rehabilitations- und Teilhabeleistungen können ohne die grundlegenden Räumlichkeiten nicht erbracht werden.
Um den antragszuständigen Hauptbeleger im Nachweis nach § 5 Absatz 1 zu benennen, schlagen wir vor, in der Anlage 2 „Bestätigung der Richtigkeit der Angaben über entstandene Energiekosten zum Antrag der (Rehabilitations-/Vorsorgeeinrichtung) vom …“ ein Feld mit vier Ankreuzmöglichkeiten (Antragszuständiger Hauptbeleger: BA, GKV, DGUV, DRV) für die Einrichtungen zu ergänzen.
[1] Vorschlag Härtefallfonds siehe Abschlussbericht, S. 25, Oktober 2022 „Sicher durch den Winter – Abschlussbericht ExpertInnen-Kommission Gas und Wärme (bmwk.de)
]]>Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung im Rahmen der zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel auf,
1. unverzüglich eine Regelung für eine Ausbildungsvergütung analog zur beruflichen Pflegeausbildung sowie zu § 34 des Hebammengesetzes auf den Weg zu bringen und die finanziellen Mittel hierfür zur Verfügung zu stellen, um die Attraktivität des Studiengangs zu steigern und den Studentinnen und Studenten angesichts des auf verschiedene Einsatzphasen aufgeteilten Praxisanteils des Studiums von 2300 Stunden einen auskömmlichen Lebensunterhalt zu ermöglichen;
Bewertung:
Die Ausbildungsvergütung in der beruflichen Pflegeausbildung ist über länderverwaltete Umlagefonds geregelt. Die Fonds werden in der SGB XI Langzeitpflege u.a. aus Mitteln in der Pflegeversicherung und des jeweiligen Landes und zu etwa 1/3 der Kosten durch Aufwendungen pflegebedürftiger Menschen finanziert, die SGB XI Leistungen in Anspruch nehmen.
Die fehlende Ausbildungsvergütung während des Studiums beeinträchtigt die Entscheidung für eine akademische Ausbildung[1].
Eine Anbindung der Finanzierung an das inzwischen bewährte Umlageverfahren des Pflegeberufe Gesetz (PflBG) ist pragmatisch und zielführend. Übernimmt der Bund aus Steuermitteln oder übernehmen die Länder die erforderlichen Einzahlungen in den länderbezogenen Umlagefonds, ist dies zu begrüßen und würde eine weitergehende unzumutbare Belastung der pflegebedürftigen Menschen vermeiden.
Eine Vergütung der Bachelorstudierenden analog zu den Auszubildenden der beruflichen Ausbildung, würde zumindest einen Teil der Benachteiligungen der Studierenden nivellieren.
Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung im Rahmen der zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel auf,
2. unverzüglich eine Übernahme der Refinanzierung der Praxisanleitung in den Praxiseinrichtungen analog zur berufsfachschulischen Ausbildung gesetzlich zu regeln, um die praktische Ausbildung der Studentinnen und Studenten abzusichern und die Bereitschaft der Einrichtungen zu steigern, akademische Pflegefachkräfte auszubilden;
Bewertung:
Eine zweite Benachteiligung im Vergleich zur beruflichen Ausbildung besteht in der unzureichenden Refinanzierung der Praxisanleitung in den Dienste und Einrichtungen. Das führt in vielen Fällen dazu, dass die Diensten und Einrichtungen keine praktischen Ausbildungsplätze zur Verfügung stellen oder qualifizierte Praxisanleiter:innen nicht für die Praxisanleitung der Studierenden freigestellt werden.
Die Praxisanleitung ist zwar in § 38 Absatz 3 PflBG analog zur Praxisbegleitung für die fachschulische Ausbildung geregelt, aber nicht deren Finanzierung. Diese ist derzeit auch über Landesmittel nicht gesichert. Will man die akademische Ausbildung befördern, muss diese Benachteiligung dringend behoben werden und die Praxisanleitung auch für Studierende refinanziert werden.
Sie sollte dabei wegen des praxisintegrierenden dualen Ansatzes des Studiums nicht ausdrücklich zwischen Studien- und Praxisphasen unterscheiden. Wegen des klaren Bezugs der Praxiseinsätze sollte zudem der Blick auf die betriebliche Ausbildung gerichtet und für das gesamte Vertragsverhältnis zwischen dem Träger der Einrichtung und der studierenden Person als arbeitsrechtliche Materie wie im HebG klargestellt werden. Es ist dann Aufgabe der Tarifvertragsparteien und der Arbeitsrechtlichen Kommissionen der Kirchen, diese Bedingungen zu gestalten.
Ein weiterer Fokus politischer Bemühungen muss darauf gerichtet sein, die Akquise und Qualifizierung von Personal in die Pflegepädagogik zu forcieren.
Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung im Rahmen der zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel auf,
3. zeitnah einen Bund-Länder-Gipfel zur gemeinsamen Etablierung von Arbeitsfelddefinitionen und Einsatzgebieten von hochschulisch ausgebildeten Pflegefachkräften unter Beteiligung der maßgeblichen Verbände einzuberufen und dabei auch entgeltliche Einstufungsmöglichkeiten und verbindliche Akademisierungsquoten zu thematisieren, um mit diesem gemeinsamen Fahrplan mit konkreten, gesetzlichen Handlungsaufträgen zeitnah berufliche Perspektiven zu schaffen;
Bewertung:
Eine Arbeitsfelddefinition muss praxisnah sein und die verschiedenen pflegerischen Arbeitsfelder für APN berücksichtigen. Ein Einsatzfeld kann z.B. das Community Health Nursing sein.
Die Akademisierungsquoten (10-20 Prozent) wurden bereits mit dem PflBG definiert. Grundsätzlich ist die Festlegung von entsprechenden Quoten Länderaufgabe, da die hochschulische Pflegeausbildung den Ländern obliegt.
Das ist ein notwendiges Vorgehen und eine wichtige Voraussetzung für eine Etablierung der akademisch qualifizierten Pflegefachpersonen in die Praxis.
Die Umsetzung bedeutet für die Dienste und Einrichtungen einen erheblichen Anpassungs- und Umstrukturierungsprozess.
Im Rahmen der Ausbildungsoffensive-Pflege arbeitet bereits eine Arbeitsgruppe an diesem Thema. Die Arbeitsgruppe Tätigkeitsprofile hochschulisch ausgebildeter Pflegefachpersonen (AG Tätigkeitsprofile) wird dabei von der Geschäftsstelle der Ausbildungsoffensive Pflege am Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben (BAFzA) betreut. Ein Abschlussbericht der Arbeitsgruppe soll Ende März / Anfang April 2023 vorliegen.
Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung im Rahmen der zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel auf,
4. eine entsprechende Anpassung der gesetzlichen Vorgaben zur Pflegepersonalkostenvergütung vorzunehmen, um ausdrücklich die vollständige Refinanzierung der neu geschaffenen Stellenprofile entlang der Qualifikationsschlüssel hochschulisch ausgebildeter Pflegefachkräfte über das Pflegebudget sicherzustellen.
Bewertung:
Voraussetzung für eine Etablierung akademisch qualifizierter Pflegefachpersonen in den Diensten und Einrichtungen ist eine vollständige Refinanzierung der erhöhten Personalkosten durch die Leistungsträger[2]. Daher ist die Zielsetzung zu begrüßen. In der Formulierung bleibt aber ungewiss, wie dieses Ziel rechtssicher erreicht werden kann.
Eine gute Gesundheitsversorgung braucht alle Gesundheitsberufe. Gesundheit ist Teamarbeit. Es ist deshalb erforderlich, die im Rahmen des Pflegebudgets zu berücksichtigenden Berufsgruppen zu erweitern. Das gilt zum einen, wie im vorliegenden Antrag gefordert, für akademisiertes Pflegepersonal, zum anderen aber auch für Pflegehilfs- und weiteres Gesundheitspersonal. Hierbei ist die Definition zu nutzen, die durch die Selbstverwaltungspartner nach § 17 Absatz 4 Satz 2 KHG vereinbarten Pflegepersonalkostenabgrenzungsvereinbarung 2022 etabliert worden ist.
Zugleich ist dafür Sorge zu tragen, die akademisierten Pflegefachpersonen im Rahmen eines geeigneten Grade-Skill-Mixes zum Einsatz zu bringen, um die Versorgung entlang moderner Pflegeprozesse organisieren zu können.
Weiterhin braucht es zusätzliche Anreize zum Abschluss der Pflegebudgetvereinbarungen.
[1] Angeblich sollen in Bayern und Ba-Wü. Studierende nach dem PflBG aus Landesmitteln eine Vergütung erhalten, die allerdings deutlich unter der Vergütung der beruflichen Ausbildung liegt.
https://www.bayern.de/holetschek-will-den-ausbau-von-pflege-ausbildungsverbnden-weiter-voranbringen-bayerns-gesundheits-und-pflegeminister-berreicht-in-amberg-frderbescheide/
oder
https://www.br.de/nachrichten/bayern/pflege-studium-macht-stipendium-es-attraktiver,TGqXL88
[2] Angeblich sind verschiedentliche Bemühungen am Widerstand der Leistungsträger gescheitert
]]>Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung im Rahmen der zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel auf,
1. unverzüglich eine Regelung für eine Ausbildungsvergütung analog zur beruflichen Pflegeausbildung sowie zu § 34 des Hebammengesetzes auf den Weg zu bringen und die finanziellen Mittel hierfür zur Verfügung zu stellen, um die Attraktivität des Studiengangs zu steigern und den Studentinnen und Studenten angesichts des auf verschiedene Einsatzphasen aufgeteilten Praxisanteils des Studiums von 2300 Stunden einen auskömmlichen Lebensunterhalt zu ermöglichen;
Bewertung:
Die Ausbildungsvergütung in der beruflichen Pflegeausbildung ist über länderverwaltete Umlagefonds geregelt. Die Fonds werden in der SGB XI Langzeitpflege u.a. aus Mitteln in der Pflegeversicherung und des jeweiligen Landes und zu etwa 1/3 der Kosten durch Aufwendungen pflegebedürftiger Menschen finanziert, die SGB XI Leistungen in Anspruch nehmen.
Die fehlende Ausbildungsvergütung während des Studiums beeinträchtigt die Entscheidung für eine akademische Ausbildung[1].
Eine Anbindung der Finanzierung an das inzwischen bewährte Umlageverfahren des Pflegeberufe Gesetz (PflBG) ist pragmatisch und zielführend. Übernimmt der Bund aus Steuermitteln oder übernehmen die Länder die erforderlichen Einzahlungen in den länderbezogenen Umlagefonds, ist dies zu begrüßen und würde eine weitergehende unzumutbare Belastung der pflegebedürftigen Menschen vermeiden.
Eine Vergütung der Bachelorstudierenden analog zu den Auszubildenden der beruflichen Ausbildung, würde zumindest einen Teil der Benachteiligungen der Studierenden nivellieren.
Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung im Rahmen der zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel auf,
2. unverzüglich eine Übernahme der Refinanzierung der Praxisanleitung in den Praxiseinrichtungen analog zur berufsfachschulischen Ausbildung gesetzlich zu regeln, um die praktische Ausbildung der Studentinnen und Studenten abzusichern und die Bereitschaft der Einrichtungen zu steigern, akademische Pflegefachkräfte auszubilden;
Bewertung:
Eine zweite Benachteiligung im Vergleich zur beruflichen Ausbildung besteht in der unzureichenden Refinanzierung der Praxisanleitung in den Dienste und Einrichtungen. Das führt in vielen Fällen dazu, dass die Diensten und Einrichtungen keine praktischen Ausbildungsplätze zur Verfügung stellen oder qualifizierte Praxisanleiter:innen nicht für die Praxisanleitung der Studierenden freigestellt werden.
Die Praxisanleitung ist zwar in § 38 Absatz 3 PflBG analog zur Praxisbegleitung für die fachschulische Ausbildung geregelt, aber nicht deren Finanzierung. Diese ist derzeit auch über Landesmittel nicht gesichert. Will man die akademische Ausbildung befördern, muss diese Benachteiligung dringend behoben werden und die Praxisanleitung auch für Studierende refinanziert werden.
Sie sollte dabei wegen des praxisintegrierenden dualen Ansatzes des Studiums nicht ausdrücklich zwischen Studien- und Praxisphasen unterscheiden. Wegen des klaren Bezugs der Praxiseinsätze sollte zudem der Blick auf die betriebliche Ausbildung gerichtet und für das gesamte Vertragsverhältnis zwischen dem Träger der Einrichtung und der studierenden Person als arbeitsrechtliche Materie wie im HebG klargestellt werden. Es ist dann Aufgabe der Tarifvertragsparteien und der Arbeitsrechtlichen Kommissionen der Kirchen, diese Bedingungen zu gestalten.
Ein weiterer Fokus politischer Bemühungen muss darauf gerichtet sein, die Akquise und Qualifizierung von Personal in die Pflegepädagogik zu forcieren.
Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung im Rahmen der zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel auf,
3. zeitnah einen Bund-Länder-Gipfel zur gemeinsamen Etablierung von Arbeitsfelddefinitionen und Einsatzgebieten von hochschulisch ausgebildeten Pflegefachkräften unter Beteiligung der maßgeblichen Verbände einzuberufen und dabei auch entgeltliche Einstufungsmöglichkeiten und verbindliche Akademisierungsquoten zu thematisieren, um mit diesem gemeinsamen Fahrplan mit konkreten, gesetzlichen Handlungsaufträgen zeitnah berufliche Perspektiven zu schaffen;
Bewertung:
Eine Arbeitsfelddefinition muss praxisnah sein und die verschiedenen pflegerischen Arbeitsfelder für APN berücksichtigen. Ein Einsatzfeld kann z.B. das Community Health Nursing sein.
Die Akademisierungsquoten (10-20 Prozent) wurden bereits mit dem PflBG definiert. Grundsätzlich ist die Festlegung von entsprechenden Quoten Länderaufgabe, da die hochschulische Pflegeausbildung den Ländern obliegt.
Das ist ein notwendiges Vorgehen und eine wichtige Voraussetzung für eine Etablierung der akademisch qualifizierten Pflegefachpersonen in die Praxis.
Die Umsetzung bedeutet für die Dienste und Einrichtungen einen erheblichen Anpassungs- und Umstrukturierungsprozess.
Im Rahmen der Ausbildungsoffensive-Pflege arbeitet bereits eine Arbeitsgruppe an diesem Thema. Die Arbeitsgruppe Tätigkeitsprofile hochschulisch ausgebildeter Pflegefachpersonen (AG Tätigkeitsprofile) wird dabei von der Geschäftsstelle der Ausbildungsoffensive Pflege am Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben (BAFzA) betreut. Ein Abschlussbericht der Arbeitsgruppe soll Ende März / Anfang April 2023 vorliegen.
Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung im Rahmen der zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel auf,
4. eine entsprechende Anpassung der gesetzlichen Vorgaben zur Pflegepersonalkostenvergütung vorzunehmen, um ausdrücklich die vollständige Refinanzierung der neu geschaffenen Stellenprofile entlang der Qualifikationsschlüssel hochschulisch ausgebildeter Pflegefachkräfte über das Pflegebudget sicherzustellen.
Bewertung:
Voraussetzung für eine Etablierung akademisch qualifizierter Pflegefachpersonen in den Diensten und Einrichtungen ist eine vollständige Refinanzierung der erhöhten Personalkosten durch die Leistungsträger[2]. Daher ist die Zielsetzung zu begrüßen. In der Formulierung bleibt aber ungewiss, wie dieses Ziel rechtssicher erreicht werden kann.
Eine gute Gesundheitsversorgung braucht alle Gesundheitsberufe. Gesundheit ist Teamarbeit. Es ist deshalb erforderlich, die im Rahmen des Pflegebudgets zu berücksichtigenden Berufsgruppen zu erweitern. Das gilt zum einen, wie im vorliegenden Antrag gefordert, für akademisiertes Pflegepersonal, zum anderen aber auch für Pflegehilfs- und weiteres Gesundheitspersonal. Hierbei ist die Definition zu nutzen, die durch die Selbstverwaltungspartner nach § 17 Absatz 4 Satz 2 KHG vereinbarten Pflegepersonalkostenabgrenzungsvereinbarung 2022 etabliert worden ist.
Zugleich ist dafür Sorge zu tragen, die akademisierten Pflegefachpersonen im Rahmen eines geeigneten Grade-Skill-Mixes zum Einsatz zu bringen, um die Versorgung entlang moderner Pflegeprozesse organisieren zu können.
Weiterhin braucht es zusätzliche Anreize zum Abschluss der Pflegebudgetvereinbarungen.
[1] Angeblich sollen in Bayern und Ba-Wü. Studierende nach dem PflBG aus Landesmitteln eine Vergütung erhalten, die allerdings deutlich unter der Vergütung der beruflichen Ausbildung liegt.
https://www.bayern.de/holetschek-will-den-ausbau-von-pflege-ausbildungsverbnden-weiter-voranbringen-bayerns-gesundheits-und-pflegeminister-berreicht-in-amberg-frderbescheide/
oder
https://www.br.de/nachrichten/bayern/pflege-studium-macht-stipendium-es-attraktiver,TGqXL88
[2] Angeblich sind verschiedentliche Bemühungen am Widerstand der Leistungsträger gescheitert
]]>Vor dem Hintergrund der politischen und administrativen Rahmenbedingungen (I.) und den rechtlichen Hintergründen der Ausreisepflicht (II.) halten es die Verbände für angezeigt, Anforderungen an eine Ausreise und Rückkehr in Sicherheit und Würde (III.) sowie die fachlichen Standards für eine unabhängige und qualifizierte Ausreise- und Perspektivberatung (IV.) zu formulieren.[2]
I. Politische und administrative Rahmenbedingungen
Die letzten Jahre waren von umfangreichen Gesetzespaketen mit Änderungen des Asyl-, Sozial- und Aufenthaltsrechts geprägt.[3] Ein Ziel der Maßnahmen war jeweils eine stärkere Durchsetzung der Ausreisepflicht und die Erhöhung der Zahl der Ausreisen. Ergänzt wurden diese gesetzlichen Änderungen durch eine Reihe von administrativen Maßnahmen im Kontext des „Integrierten Rückkehrmanagements“.[4] So wurde die Aufnahme von Schutzsuchenden mit Rückkehr- und Abschiebungsverfahren verbunden. Durch die Verlängerung der Wohnpflicht in der Landesaufnahme wird die Zuweisung in die Kommunen und damit Integration verzögert bzw. verhindert. Seit 2018 wurden Aufnahmeeinrichtungen für Asylsuchende zu „Ankunfts-, Entscheidungs- und Rückkehrzentren (AnkER-Zentren) bzw. zu „funktionsgleichen Einrichtungen“ umgebaut. Heute verfolgen nahezu alle Aufnahmeeinrichtungen dieses Konzept. Die Verpflichtung, dort zu wohnen, wurde deutlich verlängert und beträgt nach der aktuellen Gesetzeslage standardmäßig bis zu 18 Monaten, für Familien mit Kindern bis zu 6 Monaten, teilweise gilt sie zeitlich unbegrenzt bis zur Ausreise. Der Zugang zu Beratungsstellen sowie die Teilnahme an Integrationsangeboten ist durch die oft isolierte Lage der Einrichtungen stark eingeschränkt. In der Phase des Ankommens findet Rückkehrberatung statt und es wird auf finanzielle Anreize einer Rückkehr hingewiesen. Sogar Abschiebungen finden direkt aus der Aufnahmeeinrichtung heraus statt. Beratungsangebote im Bereich von Rückkehr- und Perspektivberatung werden zunehmend verstaatlicht, indem Angebote von Freien Trägern teilweise nicht weiter gefördert werden und stattdessen Angebote in staatlicher Trägerschaft aufgelegt werden.
Die umfangreichen gesetzlichen und administrativen Maßnahmen im Rahmen des „Integrierten Rückkehrmanagements“ haben zwar zu einer Erhöhung des Ausreisedrucks und Verunsicherung geführt, konnten das Ziel einer Reduzierung der Zahl ausreisepflichtiger Personen nicht erreichen.[5] Dennoch verfolgt auch die Bundesregierung der 20. Legislaturperiode eine stärkere Durchsetzung der Ausreisepflicht. Im Koalitionsvertrag vom 24.11.2021 kündigt sie eine „Rückführungsoffensive“ an, um Ausreisen konsequenter umzusetzen, insbesondere die Abschiebung von Straftäter :innen und sogenannten Gefährder:innen.[6]
Die vorherrschende Annahme, dass die Ausreisepflicht konsequenter durchgesetzt werden müsse, wird oftmals mit der statistisch hohen Zahl ausreisepflichtiger Personen in Deutschland begründet. In politischen Diskussionen wird daher teilweise von einem „Vollzugsdefizit“ bei der Durchsetzung der Ausreisepflicht ausgegangen. Dies lässt sich statistisch nicht belegen. Die Daten im Ausländerzentralregister, mit denen in der politischen und öffentlichen Diskussion häufig argumentiert wird, sind kaum valide.[7] In Bezug auf das Ziel, die Zahl der Ausreisen zu erhöhen, ist beispielsweise unbekannt, wie viele Ausreisen ohne Kenntnis der Behörden stattfinden. Diese Zahl ist vermutlich deutlich höher als die Zahl der behördlich registrierten Ausreisen, da diese Zahlen nur die Abschiebungen und die staatlich geförderten Ausreisen über das Programm REAG/GARP umfassen.[8]. Zudem brauchen Menschen, wenn sie ausreisepflichtig werden, Zeit, um sich neu zu orientieren und die Ausreise zu planen. Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege halten daher die an die Annahme eines Vollzugsdefizits anknüpfenden Maßnahmen und gesetzlichen Änderungen nicht für zielführend.
II. Die rechtlichen Hintergründe der Ausreisepflicht
In den letzten Jahren fand eine Diskursverschiebung statt. So wird bei der Bezeichnung „Ausreisepflichtige“ im Unterschied zu „Geduldeten“ nicht mehr deutlich, dass Gründe gegen eine Abschiebung und ggf. auch Ausreise vorliegen können. Ausreisepflichtig sind alle Personen, die nicht oder nicht mehr über einen Aufenthaltstitel verfügen (siehe § 50 AufenthG). Aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen oder aufgrund von Ermessensentscheidungen der Ausländerbehörden kann die Abschiebung, also die Durchsetzung der Ausreisepflicht mit Zwangsmitteln, jedoch ausgesetzt werden. Dies bescheinigt die Duldung (gem. § 60a ff. AufenthG).[9] Die Ausreisepflicht bleibt hiervon allerdings unberührt. Duldungsgründe, die einer Abschiebung entgegenstehen, sprechen häufig ebenso gegen eine selbstständige Ausreise wie z. B. eine laufende Ausbildung. Bei einer Ermessensduldung haben die Ausländerbehörden vorliegende Gründe, die gegen eine Abschiebung sprechen, explizit anerkannt und gewähren den weiteren Aufenthalt. Unter den geduldeten Personen befinden sich auch Menschen, die einen Schutzbedarf haben. Selbst wenn ihre Abschiebung im Rahmen politischen Ermessens durch einen Abschiebestopp ausgesetzt wird, bleiben sie ausreisepflichtig. Teilweise liegen auch mehrere Duldungsgründe vor.[10] Wenn die Abschiebung seitens der Innenbehörden ausgesetzt wird, kann es sich nicht um ein Vollzugsdefizit behördlicher Entscheidungen handeln.
Die Duldung stellt somit in vielen Fällen eine rechtliche Grauzone für Personen dar, deren Aufenthalt nicht legalisiert wird, indem sie ein Aufenthaltsrecht erhalten, deren Aufenthaltsbeendigung gleichwohl aufgrund gesetzlicher Regelungen auch seitens der Ausländerbehörden nicht weiterverfolgt wird. Der Widerspruch zwischen Ausreisepflicht und Duldungsgründen lässt sich oftmals nur schwer auflösen. Die gesetzlichen Regelungen tragen zu dieser Unklarheit bei.
Der Status der Duldung und damit die Ausreisepflicht kann zudem nicht nur durch Ausreise, sondern auch durch die Gewährung eines Aufenthaltstitels beendet werden. Bei der legitimen Forderung nach der Durchsetzung geltenden Rechts zur Aufenthaltsbeendigung sind auch die gesetzlichen Regelungen für ein mögliches Aufenthaltsrecht zu beachten.[11] Diesem trägt das in 2023 in Kraft getretene Chancenaufenthaltsrecht in § 104c Aufenthaltsgesetz teilweise Rechnung.
III. Anforderungen an eine Ausreise in Sicherheit und Würde
Eine Ausreise oder Rückkehr sollte nur in Sicherheit und Würde erfolgen. Eine humane und menschenrechtskonforme Rückkehrpolitik setzt deswegen voraus, dass bei zur Ausreise verpflichteten Menschen sorgfältig geprüft wird, ob eine Rückkehr zumutbar ist. Eine nachhaltige Rückkehrentscheidung und Integration gelingen zumeist am besten, wenn die Betroffenen die freie Entscheidung hatten, ob sie zurückkehren möchten oder nicht. Die Ausreise als Alternative zur Abschiebung wird auch als „freiwillige Rückkehr“ bezeichnet, da sie nicht mit Zwangsmitteln durchgesetzt wird. Aus Sicht der Verbände sollte jedoch eher von einer „selbstständigen Ausreise“ bzw. „unterstützten Ausreise“ – wenn sie mit Unterstützung von Rückkehrberatungsstellen erfolgt, gesprochen werden. Andernfalls kann das Missverständnis entstehen, dass sich die Freiwilligkeit auch darauf bezieht, ob jemand zurückkehren will. Dies ist bei Menschen, denen die Abschiebung droht, zumeist nicht der Fall.[12] Ist eine Ausreise in Sicherheit und Würde aus humanitären, rechtlichen oder tatsächlichen Gründen nicht möglich, sollte eine gesicherte und menschenwürdige Perspektive im Bundesgebiet ermöglicht werden.
Für die Durchsetzung der Ausreisepflicht sind vorrangig die Kommunen, unterstützt durch die Länder, zuständig. Bund und Länder fördern unter bestimmten Voraussetzungen die “freiwillige” bzw. selbstständige Ausreise mit verschiedenen Maßnahmen, etwa durch Informationsangebote des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF), Unterstützungsangebote von der International Organisation for Migration (IOM), sowie durch das REAG/GARP-Programm[13] und andere Rückkehr- und Starthilfen.
Vor diesem Hintergrund ergeben sich aus Sicht der BAGFW die folgenden konkreten Anforderungen an Rückkehrpolitik und -management:
- Im Zielland sollte eine längerfristige Lebensperspektive bestehen, welche den Betroffenen persönliche, rechtliche und materielle Sicherheit ermöglicht. Maßnahmen, die ihre Integration im Zielland unterstützen sollen, sollten nicht nur den Rückkehrenden, sondern auch der lokalen Bevölkerung zugutekommen. Ansprechpersonen und Kontaktstellen, etwa der GIZ, zur weiteren Unterstützung sollten zur Verfügung stehen.
- Die selbstständige Ausreise muss immer Vorrang vor einer Abschiebung haben, da eine Abschiebung meist mit physischer Gewalt verbunden ist und zu starker Verunsicherung, Verzweiflung und Angst führt. Abschiebungen müssen menschenrechtlichen Standards genügen. Daher ist aus Sicht der Verbände eine unabhängige Abschiebungsbeobachtung entsprechend der Rückführungsrichtlinie der Europäischen Union (2008/115/EG) notwendig.[14]
- Das staatliche Rückkehrmanagement sollte von der Flüchtlingsaufnahme getrennt werden. Die Erstaufnahme in Landesunterkünften sollte zur Durchführung des Asylverfahrens ausgestaltet sein. Asylsuchende sollten sich auf ihr Asylverfahren konzentrieren können und sich nicht mit der Möglichkeit der Rückkehr auseinandersetzen müssen. Die zunehmende Zentralisierung der Verantwortung bei übergeordneten staatlichen Stellen darf nicht dazu führen, dass die Situation des Einzelnen aus dem Blick gerät.
- Schutzbedürftige sollten immer ein Aufenthaltsrecht bekommen. Das gilt auch für Personen, die einer Gruppe angehören, für die ein Abschiebestopp erlassen wurde. Die oberste Bundesbehörde sollte einen Abschiebestopp für einzelne Länder erlassen können.[15]
- Eine behördenunabhängige Asylverfahrensberatung ist flächendeckend und bedarfsgerecht sicherzustellen. Diese fördert die Qualität der Asylentscheidungen.[16] Durch sie kann bei einem individuellen Rückkehrwunsch während des Asylverfahrens an eine Ausreise- und Perspektivberatung verwiesen werden. Die Beratungsstrukturen arbeiten eng zusammen. Im Mittelpunkt steht der Wunsch der Ratsuchenden und das Aufzeigen realistischer Perspektiven.
- Ausreise- und Perspektivberatung der freien Träger kann zu jedem Zeitpunkt über die Möglichkeit der Rückkehr und der damit einhergehenden finanziellen Unterstützung informieren. Von staatlicher Seite sollten diese Informationen allerdings frühestens nach einer ablehnenden Entscheidung im Asylverfahren erfolgen, damit die Information nicht als Signal verstanden wird, dass eine Schutzgewährung unwahrscheinlich ist. Finanzielle Anreize, die Schutzsuchende dazu verleiten, auf ein Schutzgesuch zu verzichten, es zurückzunehmen oder auf Rechtsmittel zu verzichten, sind nicht nur aus rechtsstaatlicher Perspektive ein fragwürdiges Signal.
- Allen Personen mit Fragen zu Ausreise, Rückkehr und Weiterwanderung sollte eine behördenunabhängige qualifizierte Ausreise- und Perspektivberatung angeboten werden (siehe dazu Punkt III). Die Zielgruppe der Beratungs- und Unterstützungsangebote sollte nicht auf ausreisepflichtige Menschen verengt werden. Auch Zugewanderte mit einem Aufenthaltstitel, geflüchtete Menschen, die in einen anderen Dublin-Staat ausreisen müssen und/oder Spätaussiedlerinnen und -aussiedler, sollten diese in Anspruch nehmen können.
- Bei der Beratung zur und Unterstützung der Ausreise sollen die Bedarfe der ratsuchenden Personen im Mittelpunkt stehen. Sie umfasst Informationen zu allen rechtlich und tatsächlich bestehenden Möglichkeiten und deren Grenzen. Dabei finden Bedarfe und besondere humanitäre Anliegen von schutzbedürftigen Personen besondere Berücksichtigung. Ziel der Beratung ist die Einschätzung der eigenen aufenthalts- und sozialrechtlichen Situation sowie Perspektiven sowohl in Deutschland als auch im Herkunftsland oder einem Drittland. Nur auf einer entsprechend gut informierten Grundlage kann eine selbstbestimmte und nachhaltige Entscheidung getroffen werden.
- Es sollte ausreichend Zeit für eine Entscheidungsfindung und Vorbereitung der Ausreise zur Verfügung stehen. Im Falle einer Entscheidung für eine Rückkehr sollte diese sorgfältig geplant und vorbereitet werden können. Hierbei sind die Betroffenen zu unterstützen. Den Rückkehrenden sollten Qualifizierungsmöglichkeiten und reintegrationsfördernde Maßnahmen angeboten werden, die sich an ihren Bedarfen, Ressourcen und Potenzialen orientieren und damit zu einer erfolgreichen Integration im Zielland und Nachhaltigkeit der Ausreiseentscheidung beitragen. Die individuelle Ausreisefrist gem. § 59 AufenthG muss entsprechend bemessen werden.
- Zur Vorbereitung der Ausreise gehören auch die Übersetzung und ggf. Beglaubigung von in Deutschland erworbenen Zertifikaten und Dokumenten. Hierzu zählen z. B. Nachweise über den Neuerwerb oder die Vertiefung sprachlicher, schulischer oder beruflicher Qualifikationen in Deutschland, aber auch medizinische Dokumente wie ärztliche Diagnosen. Die Rückkehrenden sollten beim Erwerb dieser Dokumente und der Inanspruchnahme entsprechender Dienstleistungen beratend und finanziell unterstützt werden.
- Damit die Ausreise in Sicherheit und Würde erfolgen kann, sind auch organisatorische und logistische Schwierigkeiten zu vermeiden. Zur Deckung der Kosten für die Vorbereitung (etwa Dokumentenbeschaffung) und Durchführung der Ausreise (etwa der Reisekosten und des Transports von persönlichen Gegenständen) müssen ausreichende Fördermittel zur Verfügung stehen. Nach Möglichkeit sollten weitere (finanzielle) Hilfen im Zielland für den Neuaufbau einer Existenz bzw. die berufliche Wiedereingliederung, aber auch zur Sicherstellung der medizinischen Versorgung vor Ort, gewährt werden.
- Abschiebungshaft darf nur als letztes Mittel Anwendung finden.[17] Minderjährige dürfen nie in Haft genommen werden. Im Abschiebehaftverfahren muss das Recht auf einen Pflichtverteidiger eingeführt werden, damit immer ein Rechtsbeistand zur Verfügung steht.[18] Das Trennungsgebot zwischen Abschiebehaft und Justizvollzug ist einzuhalten.
- Ein Monitoringmechanismus zur Überprüfung staatlicher Rückkehr- und Reintegrationsprogramme sollte eingerichtet werden und auch die Frage umfassen, ob eine sichere und nachhaltige Integration im Zielland tatsächlich erfolgt.
IV. Fachliche Standards der Ausreise- und Perspektivberatung
Im Zuge der (unter I. beschriebenen) Entwicklungen ist die Ausreise- und Perspektivberatung der Wohlfahrtsverbände zunehmend unter Druck geraten.
Einerseits wird sie von staatlichen Stellen als Teil des „Integrierten Rückkehrmanagements“ zur Durchsetzung der Ausreisepflicht angesehen. Dies widerspricht jedoch dem Anspruch der Verbände, den Menschen mit seinen Bedarfen im Mittelpunkt all ihrer Angebote zu sehen. Zielgruppe der Maßnahmen des „Integrierten Rückkehrmanagements“ sind vor allem Personen, die ausreisepflichtig sind oder keine gute Bleibeperspektive haben, während die Ausreise- und Perspektivberatung unabhängig vom Aufenthaltsstatus in Anspruch genommen werden kann. Da die Zielgruppen von Ausreise- und Perspektivberatung und dem „Integrierten Rückkehrmanagement“ nicht deckungsgleich sind, sind auch die Ziele und Maßnahmen unterschiedlich.
Andererseits ist eine Tendenz zur Verstaatlichung der Beratungsangebote erkennbar. Statt die Angebote Freier Träger zu fördern, wird die Beratung für ausreisepflichtige Personen zunehmend direkt bei Behörden angesiedelt. Für nachhaltige Rückkehrentscheidungen müssen Ratsuchende aber, unterstützt durch eine als unabhängig wahrgenommene Beratungsstelle, Möglichkeiten und Grenzen ihrer Gesamtsituation einschätzen, um eine gute und informierte Entscheidung fällen zu können.
Im Folgenden werden fachliche Standards formuliert, die an eine qualifizierte und nachhaltig arbeitende Ausreise- und Perspektivberatung zu stellen sind:
- Eine Ausreise- und Perspektivberatung wird nur dann als unabhängig angesehen und ist damit aus Sicht des Ratsuchenden vertrauenswürdig, wenn im Zentrum der Beratung die Anliegen der Ratsuchenden stehen und es Ziel der Beratung ist, der ratsuchenden Person eine gut informierte, individuelle und selbstbestimmte Entscheidung über Rückkehr, Weiterwanderung oder Verbleib im Bundesgebiet zu ermöglichen. Das ist bei überlagernden Interessen wie der Durchsetzung der Ausreisepflicht bei staatlichen Akteuren so nicht möglich. Die Ausreise- und Perspektivberatung sollte daher durch Freie Träger umgesetzt werden.
- Für die Glaubhaftigkeit der Beratung und ein vertrauensvolles Beratungsverhältnis ist zentral, dass die Inanspruchnahme einer Ausreise- und Perspektivberatung freiwillig ist. Sie darf nicht mit aufenthalts- oder sozialrechtlichem Zwang verbunden sein. Das Ausstellen von Beratungsbescheinigungen und eine fallbezogene Berichtspflicht gegenüber Ausländerbehörden sind vor diesem Hintergrund abzulehnen.
- Die Beratung ist ein Prozess - ausgehend von den Bedarfen der Ratsuchenden - und ist somit ergebnisoffen.
- Eine erfolgreiche Beratung setzt ein Vertrauensverhältnis voraus. Die Ausreise- und Perspektivberatung muss daher vertraulich sein. Das Beratungsgeheimnis wird gewahrt. Die Bestimmungen des Datenschutzes werden eingehalten.
- Bedarfe und Rechte von vulnerablen Personen, zum Beispiel von Alleinerziehenden, Frauen, Menschen mit Erkrankungen oder Behinderungen müssen in der Ausreise- und Perspektivberatung besondere Berücksichtigung finden. Bei Minderjährigen muss das Kindeswohl vorrangig beachtet werden.
- Eine qualifizierte Beratung umfasst im Wesentlichen:
- die Klärung von Fragen zu aufenthaltsrechtlichen Perspektiven, zur Zumutbarkeit und Möglichkeit der Ausreise bzw. Rückkehr. Gegebenenfalls erfolgt eine Verweisberatung zum Beispiel an die Flüchtlingsberatung oder im Falle eines möglichen Schutzbedarfes an die Asylverfahrensberatung. Des Weiteren ist die sozialrechtliche Situation (z.B. Mitnahme von Rentenansprüchen) zu prüfen.
- die Klärung von Fragen zur Situation im Ziel- bzw. Herkunftsland, etwa hinsichtlich der dortigen menschenrechtlichen Situation, der Sicherung des Lebensunterhalts, der Wohnsituation, der gesundheitlichen Versorgung, der Schul- und (Aus-)Bildungssituation etc., sowie die Vermittlung diesbezüglicher Hilfen; ggf. Unterstützung zur Gewährung einer verlängerten Ausreisefrist;
- die Vermittlung von für Rückkehrende wichtigen Qualifizierungs- und Unterstützungsleistungen und –angeboten;
- die Unterstützung bei der Organisation der Ausreise;
- die Vermittlung von Unterstützung im Herkunftsland durch Anlaufstellen vor Ort; soweit möglich, wird ein Nachkontaktangebot ermöglicht.
Eine qualifizierte Beratung durch Freie Träger kann nur gewährleistet werden, wenn sie angemessen und verlässlich gefördert wird. Bei staatlicher Förderung kann die Finanzierung der Beratungstätigkeit allein an Indikatoren gemessen werden, die dem Ziel der Beratung, ausgehend von den jeweils individuellen Perspektiven eine gut informierte Entscheidung zu treffen, entsprechen. Dem widerspricht beispielsweise eine Bindung an Rückkehrzahlen. Die Beratung soll jedem offenstehen, der Fragen zur Ausreise hat.
[1] Das Angebot hat unterschiedliche Namen: Ausreise- und Perspektivberatung, Rückkehrberatung oder Rückkehr- und Perspektivberatung.
[2] Die Verbände aktualisieren damit ihr Positionspapier vom 04.09.2006 zu Bedingungen von freiwilliger Rückkehr von Flüchtlingen.
[3] Vgl. bspw. „Gesetz zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung (2015), „Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz“ (sog. Asylpaket I, 2015), „Gesetz zur Einführung beschleunigter Asylverfahren“ (sog. Asylpaket II, 2016), „Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht“ (2017), „Zweites Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht (Geordnete-Rückkehr-Gesetz)“ (2019),
[4] Das Bundesministerium des Inneren (BMI) richtete beispielsweise 2014 zu diesem Zweck die Bund-Länder-Koordinierungsstelle „Integriertes Rückkehrmanagement“ beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) ein. Im März 2017 wurde das „Gemeinsame Zentrum zur Unterstützung der Rückkehr“ (ZUR) von Bund und Ländern gegründet. Weitere Maßnahmen wurden im Februar 2017 auf der Ministerpräsidentenkonferenz beschlossen und im Masterplan Migration des BMI 2018 avisiert.
[5] Die Zahl der ausreisepflichtigen Personen betrug (Mitte 2022) ca. 300.000 Personen. Sie lag im Jahr 2000 bei 200.000 und fiel zwischenzeitlich bis etwa 2010 korrelierend mit dem Zuwanderungssaldo auf ca. 100.000. Innerhalb dieser Gruppe findet eine große Fluktuation statt, so dass viele Menschen nur einige Zeit in diesem Status leben.
[6] Vgl. „Mehr Fortschritt wagen. Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit. Koalitionsvertrag zwischen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP” 2021, S. 140, Link: www.spd.de/fileadmin/Dokumente/Koalitionsvertrag/Koalitionsvertrag_2021-2025.pdf.Koalitionsvertrag, S. 140.
[7] Beispielsweise befanden sich etwa 15% der Ende 2021 als ausreisepflichtig gespeicherte Personen noch im Asylverfahren. Unter den etwa 10% ausreisepflichtigen Personen, die aufgrund eines Abschiebestopps geduldet waren, waren sehr viele aus Ländern, für die nie ein Abschiebestopp erlassen wurde, aber nur sehr wenige syrische Staatsangehörige, für die tatsächlich ein Abschiebestopp galt, vgl.: Bundestags-Drucksache 19/28234 vom 06.04.2021. Der „Beauftragte für Flüchtlingsmanagement“ Frank-Jürgen Weise stellte im „Leitfaden zur Verbesserung der Datenqualität im Ausländerzentralregister (AZR)“ vom 31. März 2017 so auch fest: „Somit bestehen bei über 25% der im AZR als ‚Ausreisepflichtige‘ geführten Personen erhebliche Zweifel, ob es um Fehleintragungen oder veraltete Informationen geht […] Fehlerhafte Datenbestände können die politische Berichterstattung und damit die öffentliche Rezeption der Flüchtlingsthematik negativ beeinflussen“, siehe Vorwort zur Kleinen Anfrage „Unklare Daten des Ausländerzentralregisters zu Ausreisepflichtigen“, vgl. BT-Drs. 18/12725 vom 14.06.2017.
[8] Im Jahr 2021 lag die Zahl der registrierten Ausreisen, also Abschiebungen (11.982) und staatlich geförderte Ausreisen (6.800) insgesamt bei 18.782, vgl. Überblick nach Jahren beim Mediendienst Migration
[9] Gesetzlich ist jeder Aufenthalt geduldet, wenn kein Aufenthaltsrecht besteht und die Abschiebung nicht vollzogen wird. Jedoch wird nicht immer eine Duldung ausgestellt, sondern z.B. eine sog. ”Grenzübertrittbescheinigung“. Das bedeutet jedoch nicht, dass ausreisepflichtige Personen ohne Duldung eher ausreisepflichtig sind, wie teilweise fälschlich angenommen wird.
[10] Bei vielen ausreisepflichtigen Personen spielen mehrere Duldungsgründe für die Aussetzung der Abschiebung eine Rolle. Statistisch berücksichtigt wird jedoch jeweils nur ein Grund. Bei Personen, die in der Kategorie „geduldet aufgrund fehlender Reisepapiere“ geführt werden, könnte der Aufenthalt aber auch mit gültigen Reisepapieren teilweise aufgrund weiterer Duldungsgründe nicht beendet werden. Auch die mit dem Geordnete-Rückkehr-Gesetz neu eingeführte „Duldung aufgrund ungeklärter Identität“ (§ 60b AufenthG) berücksichtigt diese multiplen Gründe nicht. Ebenso fällt fast die Hälfte der Duldungen in den Bereich der „sonstigen Gründe“, sodass nicht erkennbar ist, warum eine Person seiner Ausreisepflicht nicht nachkommt oder nicht nachkommen kann, vgl. Bundestags-Drucksache 19/19333 vom 25.03.2020, S. 29f.
[11] Die politische Debatte darüber, inwiefern die Aufenthaltsbeendigung z. B. gut integrierter Personen auch politisch sinnvoll und humanitär vertretbar ist, hat in den vergangenen Jahren zur Einrichtung von Härtefallkommissionen gemäß § 23a AufenthG und zu sog. Altfall- und Bleiberechtsregelungen zum Beispiel gemäß § 18a, neu: 19d, oder § 25a und b sowie § 25 Abs. 5 AufenthG geführt.
[12] Zudem handelt es sich bei der Ausreise häufig nicht um eine Rückkehr, sei es da die Personen in Deutschland geboren sind oder wenn sie vorher in einem Drittland gelebt haben, in das sie nicht ausreisen. Auch der häufig verwendete Begriff „Reintegration“ im Zielland ist oft nicht zutreffend, da er voraussetzt, dass zuvor eine Integration stattgefunden hatte, was häufig nicht der Fall war.
[13] Beim REAG/GARP-Programm (Reintegration and Emigration Programme for Asylum-Seekers in Germany/Government Assisted Repatriation Programme) handelt es sich um ein humanitäres Förderprogramm.
[14] Bisher findet Abschiebungsbeobachtung ausschließlich an Flughäfen in Berlin und Brandenburg, NRW, Hessen (Frankfurt /M.) und Hamburg statt. Im Jahr 2022 fanden jedoch an insgesamt 16 Flughäfen in Deutschland regelmäßig Abschiebungen statt, siehe Deutscher Bundestag, Kleine Anfrage der Fraktion die Linke, Bundestagsdrucksache 20/3130, S.11, Link: https://dserver.bundestag.de/btd/20/031/2003130.pdf Zudem kann nur ein Teil der Abschiebung beobachtet werden. Darunter fallen menschenrechtlich sensible Situationen wie die Abholung zuhause oder eine mögliche Fixierung im Flugzeug in der Regel nicht.
[15] Vgl. Koalitionsvertrag 2021-2025 von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP (Fn. 6), S. 112, Link
www.spd.de/fileadmin/Dokumente/Koalitionsvertrag/Koalitionsvertrag_2021-2025.pdf
[16] Siehe hierzu BAGFW vom 24.03.2022, https://www.bagfw.de/veroeffentlichungen/stellungnahmen/positionen/detail/eckpunkte-fuer-die-einfuehrung-einer-bundesfinanzierten-behoer-denunabhaengigen-asylverfahrensberatung.
[17] Seit 2015 ist ein Anstieg der Abschiebehaft sowohl in absoluten Zahlen als auch im Verhältnis zu den Abschiebungen zu beobachten: 2015 gab es bei knapp 21.000 Abschiebungen (Bundesdrucksachen 18/7588, Frage 1 und 2) 1.850 Abschiebehaftfälle (entspricht 0,9%, Bundesdrucksache 19/05817, Frage 2), 2019 waren es bei 22.000 Abschiebungen (Bundestagsdrucksache 19/18201, Frage 1) 5.208 Abschiebehaftfälle (Bundestagsdrucksache 19/18201, Frage 1). Im Verhältnis von Abschiebehaft zu Abschiebungen fand eine Steigerung von 9% auf 23% statt. 2020 sind mit 10.800 Abschiebungen und etwa 3.100 Abschiebehaftfälle zwar vermutlich coronabedingt die absoluten Zahlen gesunken, aber der Anteil stieg weiter auf 28%. Dies steht im Widerspruch Grundsatz der Vermeidung von Haft bei Abschiebungen und Verhängung als „ultima ratio“. Des Weiteren unterscheidet sich auch die Praxis der Bundesländer deutlich: Während Bayern im Jahr 2020 bei 1558 Abschiebungen 836 Personen in Abschiebhaft nahm (53%), waren dies in Berlin bei 968 Abschiebungen nur 16 Personen (1,7%), sodass die Notwendigkeit der Abschiebhaft nicht immer gegeben zu sein scheint, vgl. Bundestagsdrucksachen 19/27007, Frage 10 und 19/31669, Frage 8.
[18] Siehe Positionspapier „Einführung einer Pflichtbeiordnung von Anwält:innen in der Abschiebungshaft“, Link: https://www.amnesty.de/sites/default/files/2022-10/Positionspapier-Menschenrechtsorganisationen-Asylsuchende-Abschiebungshaft-Pflichtverteidigung-Oktober-2022.pdf.
]]>Die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege sind im Rahmen des Beteiligungsverfahrens gemäß § 154 Abs. 3 Satz 3 SGB XI zu einer Stellungnahme berechtigt und bedanken sich beim GKV-Spitzenverband für die Zusendung der Beteiligungsunterlagen. Von ihrem Stellungnahmerecht machen die Spitzenverbände gerne Gebrauch und geben eine gemeinsame Stellungnahme im Rahmen der BAGFW ab.
Diese Richtlinie definiert dazu das Antrags- und Abrechnungsverfahren. Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege geben vor diesem Hintergrund in ihrer Stellungnahme entsprechende Hinweise, damit die Ergänzungshilfen die betroffenen Menschen und Einrichtungen auch tatsächlich erreichen.
]]>Da in den Entscheidungsgründen des Urteils des Bundessozialgerichts vom 18. Mai 2021 (B 1 A 2/20 R) der gesetzliche Auftrag nach § 20a Absatz 3 und 4 SGB V als nicht verfassungskonform angesehen wurde, ist eine Gesetzesänderung erforderlich. Die BAGFW hatte sich stets für eine solche Änderung eingesetzt und unterstützt daher den Ansatz dieses Änderungsantrags.
Zu den Regelungen im Einzelnen
Positiv bewertet die BAGFW die Beauftragung eines unabhängigen Dritten mit der Erstellung eines Evaluationsberichts (§ 20a Absatz 4 Satz 1 Nummer 6), das unveränderte finanzielle Engagement der Krankenkassen zur Initiative „GKV-Bündnis für Gesundheit“ (siehe Begründung zu § 20 a Absatz 3), sowie die Regelungen nach § 20a Absätze 5 und 6, die einen nahtlosen Übergang der Verwaltung der bereits erteilten Zuwendungen gewährleisten sollen. Bei diesem Übergang ist darauf zu achten und sicherzustellen, dass nicht ausgeschöpfte Mittel sowie Mittel laufender Projekte weiterhin für die angedachten Leistungen bestehen bleiben.
Änderungsbedarf
Die in der Formulierungshilfe vorgeschlagenen, zu gründenden Arbeitsgemeinschaften der Krankenkassen auf Landesebene (§ 20a Absatz 3), begrüßt die BAGFW im Grundsatz, jedoch ist es aus Sicht der BAGFW dringend geboten, dass die Arbeitsgemeinschaften über die Kranken- und Ersatzkassen hinaus durch einen Beirat bestehend aus weiteren Akteuren, darunter des Öffentlichen Gesundheitsdienstes, der Verbände der Freien Wohlfahrtspflege und der Wissenschaft, beratend unterstützt werden, um eine partizipative und lebensweltorientierte Umsetzung der vereinbarten Ziele und Inhalte der Landesrahmenvereinbarungen sicherzustellen und die Kooperation aller im Handlungsfeld tätigen Akteure zu stärken. Darüber hinaus wäre eine verbindliche Einbeziehung der Kommunen und der weiteren Akteure der Zivilgesellschaft, wie der Verbände der Freien Wohlfahrtspflege, in die Landesrahmenvereinbarungen nach § 20f wünschenswert. Für eine entsprechende Änderung des § 20f SGB V hatte sich die BAGFW auch schon in früheren Stellungnahmen eingesetzt.
Generell sehen die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege Handlungsbedarf in Bezug auf die Weiterentwicklung der Nationalen Präventionskonferenz zu einem zentralen Gremium, in dem konkrete Präventionsmaßnahmen formuliert werden müssen und nicht nur Kooperation zu organisieren ist. Auch hier muss die Zivilgesellschaft, die bislang nur über das Präventionsforum eingebunden ist, stärker beteiligt werden.
]]>Kernelement des vorliegenden Gesetzentwurfes ist die Einführung eines Qualifizierungsgeldes, mit dem Unternehmen in besonders von Transformationsprozessen betroffenen Sektoren (etwa Automobilindustrie) in großem Umfang aus den Finanzmitteln der Arbeitslosenversicherung unterstützt werden, um ihre Beschäftigten für notwendige Weiterbildungen freizustellen. Dabei ist zu bedenken, dass die Beschäftigtenqualifizierung der Bundesagentur für Arbeit in jüngerer Zeit im Schwerpunkt und mit nachgewiesenermaßen guter Wirkung für Fort- und Weiterbildungen in den Pflegeberufen (siehe etwa Dauth/Lang (2017): IAB-Kurzbericht, 19/2017) eingesetzt wurde. Es muss auch gerade angesichts des nach den Pandemiejahren stark belasteten Haushalts der Bundesagentur vermieden werden, dass die erfolgreiche Beschäftigtenqualifizierung in den Pflegeberufen und anderen sozialen Berufen zurückgefahren wird, um die neuen Maßnahmen des Weiterbildungsgesetzes finanzieren zu können. Die Wohlfahrtsverbände fordern, die Beschäftigtenqualifizierung auch in den vom Fachkräftemangel stark betroffenen Gesundheits-, Erziehungs- und Sozialberufen auszubauen.
Völlig unzureichend sind die Vorhaben des Gesetzentwurfs zur Realisierung einer „Ausbildungsgarantie“. Denn gemessen an der tatsächlichen Ausbildungsstellenlücke, einer Viertelmillionen junger Menschen im Übergangssystem und dem Umstand, dass 2,33 Millionen bzw. 15,5 % der 20- bis 34-Jährigen über keinen Berufsabschluss verfügen (Zahlen für 2020, Berufsbildungsbericht 2022), sorgt das Vorhaben für nur wenig Abhilfe. Es werden einzelne, bekannte Maßnahmen zur Berufsorientierung und Praxiserprobung ausgeweitet und ab dem Jahr 2024 ein zusätzliches Angebot von lediglich 3.000 außerbetrieblichen Ausbildungsplätzen avisiert. Statt kleinteiliger Maßnahmen wäre die Zeit gekommen für einen umfassenden Lösungsansatz, mit dem Bund und Länder sich gemeinsam zur Umsetzung einer Ausbildungsgarantie verpflichten und dabei die schulischen Ausbildungen einbeziehen. Die Wohlfahrtsverbände sprechen sich zudem dafür aus, die Ausbildungsgarantie inklusiv auszugestalten. Damit würde die notwendige Zielsetzung verbunden, allen jungen Menschen – auch solchen mit Beeinträchtigung und Behinderung – einen gleichberechtigten Zugang zur regulären Berufsausbildung zu eröffnen und dafür das System der beruflichen Bildung sukzessive weiterzuentwickeln; ganzheitliche Lernkonzepte in der Berufsausbildung und der Ausbau sozialpädagogischer Begleitung / Ausbildungsassistenz wären hierfür hilfreiche Elemente.
Die Wohlfahrtsverbände kommentierten folgende Einzelregungen des Gesetzentwurfs:
Berufsorientierungspraktikum, § 48a SGB III
Grundsätzlich ist die Erweiterung der Arbeitsmarktdienstleistungen um Möglichkeiten der beruflichen Orientierung zu begrüßen – ungeachtet der Tatsache, dass Berufsorientierung grundständig in den weiterführenden Schulen verankert sein muss, um junge Menschen frühzeitig auf der Grundlage ihrer Kompetenzen und Stärken sowie ihrem Interesse im Hinblick auf eine berufliche Perspektive zu begleiten. Diese Aufgabe obliegt den Ländern, aber auch hier bedarf es der Analyse und Evaluation inwiefern die vorhandenen Maßnahmen zielführend sind. Kritisch zu bewerten ist jedoch, dass die Initiierung und Ausgestaltung der Berufspraktika und die Begleitung des gesamten Prozesses einzig bei der Berufsberatung der Agenturen für Arbeit liegen. Gerade in den zurückliegenden krisengezeichneten Monaten hat sich gezeigt, dass junge Menschen ohne Berufs- oder Schulabschluss im Übergang von der Schule in Ausbildung und Beruf eine kontinuierliche sozialpädagogische Begleitung benötigen. Aus Sicht der BAGFW fehlt daher bei den Überlegungen zur Berufsorientierung ein systematisch angelegtes Coaching, um sowohl die Jugendlichen als auch die Betriebe in diesem Prozess zu begleiten. Träger der Arbeitsförderung und Fort- und Weiterbildung können hier ihre Expertise einbringen und die Berufsberater/innen der Agenturen bei dieser anspruchsvollen Aufgabe unterstützen. Die BAGFW schlägt vor, dass die Jobcenter die Förderung gemäß § 48a SGB III in Verbindung mit § 16 Abs. 1 SGB II nutzen, um Praktika mit einem Coaching nach § 16k SGB II zu erweitern. So kann ein Coaching auf ein Berufsorientierungspraktikum hin und im Übergang in die erfolgreiche Ausbildung gewährleistet werden. Allerdings bleibt diese Möglichkeit Jugendlichen vorbehalten, die dem Rechtskreis SGB II angehören. Im Rechtskreis des SGB III fehlt ein vergleichbares Instrument und müsste dringend ergänzt werden. Auch hier müsste ein begleitetes Coaching ermöglicht werden.
Einstiegsqualifizierung, § 54a SGB III
Die flexiblere Ausgestaltung der bereits bestehenden Einstiegsqualifizierung (EQ) ist zwar zu befürworten. Jedoch stellt die BAGFW in Frage, inwieweit die im Gesetzentwurf vorgesehenen Anpassungen tatsächlich zu einer höheren Wirksamkeit und stärkeren Inanspruchnahme des Förderinstrumentes beitragen können, denn es ist bereits in der Vergangenheit hinter den Erwartungen zurückgeblieben und seitens der Ausbildungsbetriebe nicht ausgeschöpft worden. Es bedarf es der Ursachenforschung und regelmäßigen Evaluation.
Kritisch sieht die BAGFW die Öffnung der EQ für Menschen mit Behinderung allein zu dem Zweck, um sie auf die behinderungspezifischen Fachpraktikerausbildungen (Ausbildungen in besonderen Berufen nach § 66 Berufsbildungsgesetz bzw. § 42r Handwerksordnung) vorzubereiten. Nach Auffassung der BAGFW sollte die EQ nicht zusätzliche Sonderwege in der Ausbildung von Jugendlichen mit Behinderung befördern. Vielmehr sollte das Instrument dazu dienen, Ausbildungschancen für Jugendliche mit Beeinträchtigungen und Behinderung in der gesamten Bandbreite der regulären Berufsausbildungen hin zum allgemeinen Arbeitsmarkt zu eröffnen. Die Praxis zeigt, dass viele behinderungsspezifische Fachpraktikerausbildungen mit Stellenprofilen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht immer kompatibel sind und die Beschäftigungschancen der Jugendlichen mit Beeinträchtigungen und Behinderung folglich sinken.
Mobilitätszuschuss, § 73a SGB III
Grundsätzlich befürwortet die BAGFW die Förderung von Mobilität junger Menschen im Rahmen der Ausbildung, die durch den Mobilitätszuschuss nach § 73a SGB III stärker unterstützt werden soll. Dadurch können junge Menschen ein Ausbildungsangebot außerhalb ihres Wohnortes nutzen und so ihre Ausbildungschancen erhöhen. Nicht nachvollziehbar ist aus Sicht der BAGFW allerdings die Beschränkung des Mobilitätszuschusses auf die Förderung einer monatlichen Familienheimfahrt lediglich im ersten Ausbildungsjahr. Das Bedürfnis junger Menschen, mit ihren Familien und ihrem Freundeskreis in Kontakt zu bleiben, besteht auch im zweiten oder dritten Ausbildungsjahr. Allerdings bewerten es die Verbände kritisch, dass der neue Mobilitätszuschuss bis auf die Pflegeausbildungen nicht für schulische Ausbildungen greift. Jugendliche, die eine schulische Ausbildung absolvieren, erhalten auch an dieser Stelle nicht dieselbe Förderung wie Jugendliche in einer betrieblichen Berufsausbildung.
Darüber hinaus empfiehlt die BAGFW, Angebote des sozialpädagogisch begleitenden Jugendwohnens flächendeckend auszubauen, denn dieses stellt ein wichtiges Angebot dar, um junge Menschen im Ausbildungsprozess zu begleiten. Entgegen der von der Bundesagentur für Arbeit beendeten Förderung von Jugendwohnheimen nach § 80a des SGB III sollte dieses Angebot nicht auslaufen, sondern vielmehr ausgebaut werden.
Berufsausbildung in einer außerbetrieblichen Einrichtung (BaE), § 76 SGB III, Einführung einer Ausbildungsgarantie
Mit der Einführung einer Ausbildungsgarantie soll möglichst allen Jugendlichen der Zugang zu einer berufsqualifizierenden Ausbildung eröffnet werden. Das Gesetz sieht dazu vor bestehende Förderinstrumente anzupassen und – als letzte Option – ein außerbetriebliches Ausbildungsangebot zu gestalten. Vorgesehen sind Möglichkeiten der beruflichen Orientierung in Form von Betriebspraktika sowie einer forcierten Nutzung der bereits bestehenden Einstiegsqualifizierung.
Die BAGFW teilt das Ziel, möglichst allen Jugendlichen den Zugang zu einer berufsqualifizierenden Ausbildung zu eröffnen, sie hält die Umsetzung der Ausbildungsgarantie durch den Referentenentwurf jedoch für unzureichend. So soll etwa die BA-Maßnahme „Berufsausbildung in einer außerbetrieblichen Einrichtung“ (BaE) auf sogenannte marktbenachteiligte Jugendliche ausgeweitet werden, die trotz nachweislicher Bewerbungs- und Vermittlungsbemühungen nicht in eine betriebliche Ausbildung gemündet sind, § 76 Abs. 2 Satz 2 SGB III-GE. Die BAGFW bewertet dies kritisch, da das Instrument BaE für sozial benachteiligte und individuell beeinträchtigte Jugendliche mit entsprechenden Förderbedarfen konzipiert ist. Lediglich marktbenachteiligte junge Menschen haben jedoch keine spezifischen Förderbedarfe. Ihnen fehlen vielmehr passende Ausbildungsplätze, weshalb es andere Maßnahmen zur bedarfsgerechten Erweiterung des Ausbildungsstellenangebots braucht.
Durch eine Ausweitung der Zielgruppe für BaE wird hingegen keiner Gruppe gedient. Vielmehr verringern sich die Chancen der sozial benachteiligten und individuell beeinträchtigten Jugendlichen auf eine adäquate Förderung, wenn sie künftig mit lediglich marktbenachteiligten Jugendlichen konkurrieren müssen. Fraglich ist auch, ob eine Bereitstellung dieses Angebotes um vorgesehene 3.000 Plätze ausreichend ist. Die BAGFW weist an dieser Stelle auch auf den Vorschlag des Kooperationsverbundes Jugendsozialarbeit zu einem zusätzlichen inklusiven Ausbildungsangebot unter dem Titel „garantierte Ausbildung“ hin.[1]
Reform der Weiterbildungsförderung Beschäftigter, § 82 SGB III
Zielsetzung der Neuregelung ist es, die Inanspruchnahme der Beschäftigtenqualifizierung zu erleichtern. In die Weiterbildungsförderung können zukünftig auch Beschäftigte einbezogen werden, deren Berufsabschluss erst zwei Jahre zurückliegt; der Zeitraum wird von vier auf zwei Jahren verkürzt. Mit festen Fördersätzen soll die Weiterbildungsförderung für alle Beteiligten übersichtlicher gestaltet werden. Die Höhe der Arbeitsentgeltzuschüsse (AEZ) und Zuschüsse zu den Lehrgangskosten wird ohne Auswahlermessen festgeschrieben und grundsätzlich pauschaliert. Die Staffelung nach Betriebsgrößen wird von vier auf drei Betriebsgrößen reduziert. Zur Absenkung der Hürden wird auf die Betroffenheit der Tätigkeit vom Strukturwandel oder eine Weiterbildung in einem Engpassberuf verzichtet.
Es stellt eine sinnvolle Weiterentwicklung dar, Wartezeiten zwischen geförderten Weiterbildungen von vier auf zwei Jahre zu reduzieren, um notwendige Weiterbildungen zügiger fördern zu können. Da die Weiterbildungsförderung für Beschäftigte gem. § 82 SGB III eine Ermessensleistung darstellt, wäre aber auch ein vollständiger Verzicht auf die bestehende Wartezeit denkbar, denn missbräuchliche Effekte wären dadurch kaum zu befürchten. Ein Schwerpunkt der Beschäftigtenqualifizierung lag ausweislich der BA-Statistik zuletzt auf Engpassberufen der Altenpflege, wo die Fort- und Weiterbildungen zur Altenpflegehelfer/in bzw. zum Pflegefachmann/zur Pflegefachfrau einen wertvollen Beitrag zur Reduzierung des Fachkräftemangels darstellen.
Wenn wie vorgesehen bei den Fördervoraussetzungen zukünftig auf das Kriterium Engpassberuf verzichtet wird, so darf das in der Förderpraxis dennoch nicht dazu führen, die Fort- und Weiterbildung in diesem essenziellen Berufsfeld zurückzufahren. Es erschließt sich nicht, weshalb im Zuge der Vereinfachung der Regelung ausgerechnet Großunternehmen mit mehr als 2.500 Beschäftigten finanziell entlastet werden sollen; die bisherige Mindestbeteiligung an den Lehrgangskosten in Höhe von 85 Prozent soll auf 75 Prozent abgesenkt werden. Es sind jedoch in der Praxis gerade große Unternehmen, die die Weiterbildung ihrer Beschäftigten ohne öffentliche Förderung realisieren oder hierzu leichter imstande sind.
Einführung einer Bildungszeit, §§ 87 b ff. SGB III GE
Ein weiterer wichtiger Punkt des Gesetzentwurfs ist eine neue Bildungszeit, mit der sich Beschäftigte nach Vereinbarung mit ihrem Arbeitgeber für bis zu ein Jahr in Vollzeit sowie in Teilzeit bis zu 24 Monate, freistellen lassen können, um sich mit Arbeitsmarktbezug weiterzubilden. Es gibt eine Lohnersatzleistung in Höhe des Kurzarbeitergeldes. Im Regelfall sind es die Beschäftigten selbst, die die Weiterbildungs-kosten zu tragen haben. Bei Beschäftigten, die ergänzend Leistungen nach dem SGB II in Anspruch nehmen, werden die Weiterbildungskosten vollständig übernommen. Bei Geringverdienenden kann die Hälfte der Weiterbildungskosten übernommen werden. Der vorgelegte Gesetzentwurf kalkuliert infolge der Einführung der Bildungszeit anfänglich mit 15.000 zusätzlichen Weiterbildungen.
Die Wohlfahrtsverbände setzen sich dafür ein, dass Beschäftigte an den prekären Rändern des Arbeitsmarkts und gering Qualifizierte bei Weiterbildungen nicht noch zusätzlich benachteiligt werden, denn auch hier gilt seit langem das sog. „Matthäusprinzip“: wer hat, dem wird viel gegeben. Es ist fraglich, ob die Bildungszeit bestehende Benachteiligungen von Geringverdienenden und gering Qualifizierten bei der Weiterbildung abmildern kann oder nicht im Gegenteil dazu führen wird, dass sich Ungleichheiten in der Weiterbildung fortschreiben werden. Die Höhe der Lohnersatzleistung auf dem Niveau des Kurzarbeitergeldes festzulegen, wird viele Geringverdienende von der Inanspruchnahme der Bildungszeit ausschließen. Denn auch während der Pandemie hat sich die Höhe des Kurzarbeitergeldes für die vielfach in Dienstleistungsberufen mit kleinem Einkommen betroffenen Beschäftigte als zu niedrig erwiesen, um ihren Lebensunterhalt auskömmlich zu bestreiten. Faktisch hängt der Wunsch der Beschäftigten nach einer Bildungszeit vom Wohlwollen des Arbeitgebers ab. Diese notwendige Zustimmung zur Inanspruchnahme der Bildungszeit einhergehend mit einer (teilweisen) Freistellung stellt insbesondere in solchen Betrieben, die stark von Personalmangel betroffen sind aber auch in anderen Konstellationen eine relativ große Hürde dar. Es ist zu befürchten, dass eine Bildungszeit deswegen häufig nicht genommen werden kann. Hier müssen Mechanismen gefunden werden, die die Praktikabilität des Instruments fördern, dessen Bedeutung und damit auch die Position der Beschäftigten stärken.
Weitergehende Forderungen
Aus Sicht der BAGFW sollte der Gesetzentwurf um weitere Aspekte ergänzt werden, v.a. im Hinblick auf die Weiterentwicklung bestehender Förderangebote und -instrumente. Die Auswirkungen der zurückliegenden Pandemie auf junge Menschen dürfen nicht in Vergessenheit geraten, denn sie zeigen, dass es dringend geboten ist, die jungen Menschen (wieder) an das System der Qualifizierung und Ausbildung heranzuführen. Insofern sind Angebote der aufsuchenden Jugend(sozial)arbeit sowie Angebote zur Berufsvorbereitung, wie es die Jugendwerkstätten bieten, dringend auszubauen.
Auch das Förderinstrument der Assistierten Ausbildung, AsA flex, nach § 74 SGB III muss bei den Überlegungen zur Umsetzung einer Ausbildungsgarantie stärker in den Fokus rücken. Denn mit dieser wichtigen Unterstützung gelingt es, sowohl junge Menschen als auch Betriebe im Ausbildungsprozess zu begleiten, Ausbildungsabbrüche zu vermeiden und Ausbildungserfolge zu erhöhen. Jedoch leidet das Instrument AsA flex derzeit durch die Einführung von Stundenkontingenten unter einer Schwerfälligkeit, von der alle Seiten (Träger, Jugendliche, Betriebe sowie Berufsberatung und Arbeitsagenturen) gleichermaßen betroffen sind. Deshalb müssen bei diesem wichtigen Stützungselement die Stundenkontingente für die sozialpädagogische Begleitung durch feste Personalschlüssel ersetzt werden.
Ein starker Hemmschuh in der Beschäftigtenqualifizierung ist das Fehlen von passenden Weiterbildungsangeboten (siehe etwa Lang/Janssen/Kruppe/Leber/Zabel IAB-Stellungnahme 09/2022). Nach Auffassung der BAGFW muss das System der Akkreditierungs- und Zulassungsverordnung (AZAV) dringend verschlankt werden, um bürokratische Belastungen, darunter Doppel- und Mehrfachprüfungen zulasten der Arbeit der Bildungsträger, zu reduzieren. Nach immer wiederkehrenden Praxisrückmeldungen freier Träger ist der Prüfaufwand zur Zulassung von Trägern und Maßnahmen der Arbeitsförderung in der AZAV unverhältnismäßig hoch: Nachweise für Konzepte, Räume, Personal, Teilnehmerlisten, Fehlzeitenmanagement u.a. werden mehrfach und im Hinblick auf Prozesse und Ergebnisse bis ins Detail geprüft. Die Dokumentationsanforderungen sind nach Praxiserfahrungen zuletzt immer weiter gestiegen. Dies ist auch das Resultat steigender Anforderungen der Deutschen Akkreditierungsstelle GmbH (DAkkS) gegenüber den Fachkundigen Stellen (FKS). Aufwand und Kosten des Verfahrens sind insgesamt sehr hoch und im Verhältnis zum Nutzen unangemessen.
Die fortschreitende Digitalisierung auf dem Arbeitsmarkt muss sich in den Förderinstrumenten niederschlagen, damit Weiterbildungsinteressierte digitale Kompetenzen erwerben können. Weder über die Vergabemaßnahmen, noch die Gutscheinmaßnahmen oder über Förderprogramme des Bundes lassen sich für gemeinnützige Bildungsträger derzeit notwendige Finanzmittel (z. B. Investitionsmittel für technische Ausstattung oder Gelder zur Fort- und Weiterbildung des eigenen Lehrpersonals) in ausreichendem Maße generieren, während im wettbewerblichen System der Arbeitsförderung konkurrierende Träger, wie etwa Schulen oder überbetriebliche Bildungsstätten, Zugang zu einschlägigen Bundesförderprogrammen haben. Die Wohlfahrts-verbände fordern die Bundesregierung dazu auf, ein Förderprogramm zur Digitalisierung der Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen bei gemeinnützigen Trägern aufzulegen. Die gemeinnützigen Weiterbildungsträger sind in besonderem Maße in der Lage, Zugänge und Konzepte zur Förderung von sozial beeinträchtigten und bildungsbenachteiligten Zielgruppen zu schaffen, aber von einschlägigen Förderprogrammen des Bundes bis dato weitestgehend ausgeschlossen.[2]
[1] Beschluss des Steuerungskreises des Kooperationsverbundes Jugendsozialarbeit vom 29. November 2022 - Eckpunktpapier zur Ausbildungsgarantie, abrufbar unter Beschluss-KV-zur-Ausbildungsgarantie.pdf (jugendsozialarbeit.de)
[2] Siehe Positionspapier von BAGFW, GEW und verdi vom 07.06.202, „Teilhabe an Weiterbildung für alle ermöglichen - Forderungspapier zur Unterstützung der Weiterbildungseinrichtungen im Rahmen der Digitalisierung“, abrufbar unter: 2021-06-07_Forderungspapier_Digitalisierte_Weiterbildung.pdf (bagfw.de)
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Änderungsvorschläge zur DAWI-De-minimis-Verordnung
De-minimis-Beihilfen sind Zuwendungen, die zwar grundsätzlich die Tatbestands-voraussetzungen des Art. 107 Abs. 1 AEUV erfüllen, aber hinsichtlich ihrer Höhe als so gering gelten, dass ihnen „die Wirkung abgesprochen wird, den Handel tatsächlich zu beeinträchtigen und/oder den Wettbewerb zu verfälschen bzw. zu verfälschen drohen.“[1] Solche Beihilfen sind dann von der Notifizierungspflicht ausgenommen und können beihilfekonform geleistet werden, wenn gewisse Vorschriften beachtet werden.
Für De-minimis Beihilfen, die für die Erbringung von Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse (DAWI) geleistet werden, befindet sich die seit 2012 gültige DAWI-De-minimis-Verordnung jetzt ein Jahr vor Ablauf ihrer Gültigkeit am 31.12.2023.[2]
Die Freie Wohlfahrtspflege schätzt die Vereinfachungen, die die DAWI-De-minimis-Verordnung bei der Refinanzierung von Aufgaben und Investitionen im Allgemeinwohl mit sich bringt. Dennoch weist die Anwendung dieser Verordnung auch einige Schwierigkeiten auf, die letztlich auch über die reine Höhe des Schwellenwerts hinausgeht.
1. Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse (DAWI)
Einen ersten Änderungsvorschlag macht die BAGFW zu Art. 1 Abs. 1 der DAWI-De-minimis Verordnung (aktuell geltende Fassung):
In einem neuen Art. 1 Abs. 1 sollte die Beschreibung der DAWI aufgenommen werden:
Diese Verordnung gilt für Beihilfen an Unternehmen, die eine Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse im Sinne von Artikel 106 Absatz 2 AEUV erbringen. Die Mitgliedstaaten haben bei der Bestimmung einer Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse insbesondere Artikel 14 AEUV und das Protokoll Nr. 26 zum AEUV zu beachten.
Denn in Zukunft sollten unmittelbar anzuwendende Regelungen für Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse (DAWI), wie die DAWI-De-minimis-Verordnung, den weiten Ermessensspielraum der beihilfegebenden Stellen in den Mitgliedstaaten bei der Bestimmung einer DAWI deutlicher berücksichtigen, damit diese hiervon auch Gebrauch machen.
Dies vor allem auch deshalb, da Aspekte des Umwelt- und Klimaschutzes sowie der Menschenrechte bzw. der SDG insgesamt in den Begriff der DAWI einfließen können und nicht künstlich von tradierten DAWI abgespalten werden müssen. So geschieht es etwa in Deutschland mit der Förderung von eMobilität durch Erbringer von Sozialdienstleistungen. Sie werden nicht mehr als DAWI behandelt, wenn sie Investitionen im Sinne des Green Deal tätigen.
Tatsächlich lehnen beihilfegebende Stellen die Anwendung der DAWI-De-minimis-Verordnung zur beihilfenrechtlichen Freistellung häufig ab, und verweisen darauf, dass im konkreten Fall keine DAWI vorliege, selbst wenn dies von anderen Stellen in vergleichbaren Fällen geschieht.
Der Begriff der DAWI ist europarechtlich in Art. 14 AEUV sowie Protokoll Nr. 26 zum AEUV verankert. Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse kommt gemäß Art. 14 AEUV ein besonderer Stellenwert und „Bedeutung bei der Förderung des sozialen und territorialen Zusammenhangs“ zu. „Die Union und die Mitgliedstaaten [tragen] im Rahmen ihrer jeweiligen Befugnisse im Anwendungsbereich der Verträge dafür Sorge, dass die Grundsätze und Bedingungen, insbesondere jener wirtschaftlicher und finanzieller Art, für das Funktionieren dieser Dienste so gestaltet sind, dass diese ihren Aufgaben nachkommen können.“ Eine genaue Definition für das Vorliegen einer DAWI gibt es aber weder im EU-Primär- noch Sekundärrecht, sondern ist den Mitgliedstaaten vorbehalten. Dadurch entstehen erfahrungsgemäß Unsicherheiten bei Beihilfegebern. Im Protokoll Nr. 26 zum AEUV wird allerdings konkretisiert, dass die nationalen, regionalen und lokalen Behörden bei der Festlegung von DAWI einen weiten Ermessensspielraum haben und die „Vielfalt der jeweiligen Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse und die Unterschiede bei den Bedürfnissen und Präferenzen der Nutzer, die aus unterschiedlichen geografischen, sozialen oder kulturellen Gegebenheiten“ wird anerkannt.“[3]
Die Befugnisse der Kommission beschränken sich bekanntlich darauf zu kontrollieren, dass den Mitgliedstaaten bei der Festlegung kein offenkundiger Fehler unterlaufen ist und zu prüfen, ob die Ausgleichsleistungen staatliche Beihilfen umfassen.[4]
2. Anhebung des Schwellenwerts auf 1.500.000 EUR in drei Steuerjahren
Eine entscheidende Problematik birgt der Schwellenwert von 500.000 EUR in drei Steuerjahren für die Anbieter von Sozialdienstleistungen, denn zahlreiche Investitionen wie vor allem im Bereich des Klimaschutzes, aber auch innovativer und digitaler Hilfsmittel für Pflege und Pädagogik, können nicht immer durch sozialgesetzliche Entgelte refinanziert werden. Dann geht es besonders bei größeren Trägern und Einrichtungen um die Möglichkeit, auch durch finanzielle Unterstützung entsprechende Ausstattungen für die gute Qualität der Dienstleistungen herbeiführen zu können. Der finanzielle Spielraum ist dann häufig bei einem dreijährigen Schwellenwert von 500.000 EUR ausgeschöpft.
Von daher bringt die BAGFW einen Änderungsvorschlag zu Art. 2 Abs. 2 der DAWI-De-minimis Verordnung ein:
Der Gesamtbetrag einer DAWI-De-minimis-Beihilfe, die einem Unternehmen, das Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse erbringt, gewährt wird, darf in drei Steuerjahren 1.500.000 EUR nicht übersteigen.
Dies begründet sich damit, dass eine Anhebung des Schwellenwerts von derzeit 500.000 EUR auf 1,5 Mio. EUR in drei Steuerjahren einen größeren Anwendungsspielraum und eine bessere Praxistauglichkeit der DAWI-De-minimis-Verordnung schafft. Die hier vorgeschlagene Anhebung des Schwellenwertes trägt dieser Abwägung Rechnung und wird fast zehn Jahre nach der Festlegung des geltenden Schwellenwertes dem tatsächlichen Finanzierungsbedarf von Erbringern von DAWI gerecht. Schließlich forderte bereits in einer Stellungnahme aus dem Jahr 2012 der Ausschuss der Regionen die Anhebung des Schwellenwerts auf 800.000 EUR pro Steuerjahr (also 2,4 Mio. EUR in drei Steuerjahren). Dies wurde u.a. damit begründet, dass auch bei Beihilfen zur Förderung von DAWI dieser Größenordnung davon ausgegangen werden könne, dass sich diese nicht auf den Wettbewerb und Handel zwischen den Mitgliedstaaten i.S.v. Art. 107 Abs. 1 AEUV auswirken. Eine im Vergleich moderate Anhebung auf 1,5 Mio. EUR in drei Steuerjahren stellt dies erst recht sicher.
Die EU-Kommission ist bekanntlich der Auffassung, dass bei Beihilfenempfängern, die Waren oder Dienstleistungen nur in einem geografisch begrenzten Gebiet in einem Mitgliedstaat anbieten und es unwahrscheinlich ist, dass Kunden aus anderen Mitgliedstaaten gewonnen werden ein Indiz dafür sein kann, dass keine Auswirkung auf den Handel zwischen den Mitgliedstaaten gegeben ist.[5] Häufiger als im Falle von „allgemeinen“ Dienstleistungen, dient die Erbringung von DAWI der lokalen Daseinsvorsorge. Viele Erbringer von DAWI üben diese Tätigkeit in erster Linie mit dem Ziel der Erfüllung dieser Aufgabe aus, nicht mit der Absicht einer Gewinnmaximierung. Zudem sind diese DAWI-Erbringer in der Regel flächendeckend tätig, d.h. auch in Gebieten, die für gewinnorientierte Anbieter wirtschaftlich unrentabel sind. Damit kann zwar nicht ausgeschlossen werden, dass diese Leistungen nicht auch durch (potentielle) Wettbewerber aus anderen EU-Mitgliedstaaten angeboten werden, macht dies aber weniger wahrscheinlich. Das bedeutet aber auch, dass insbesondere DAWI-Erbringer, die ohne eine Absicht der Gewinnmaximierung tätig sind, häufig auf externen Finanzierungsbedarf angewiesen sind. Wägt man diese besondere gesellschaftliche Rolle sowie den spezifischen Finanzierungsbedarf vieler DAWI-Erbringer auf der einen mit dem geringen Risiko einer signifikanten Auswirkung auf den Wettbewerb und Handel zwischen den Mitgliedstaaten auf der anderen Seite ab, ist ersteres im Ergebnis deutlich stärker zu gewichten.
3. Anpassung der Kumulierungsregelungen
Zur Kumulierung der Beihilfen im Kontext der DAWI-De-minimis-Verordnung schlägt die BAGFW folgende Präzisierung vor:
In Art. 2 Abs. 7 der DAWI-De-minimis Verordnung bezieht sich die Regelung auf De-minimis-Beihilfen, die bis zu dem in Absatz 2 der Verordnung festgelegten Höchstbetrag mit De-minimis- Beihilfen nach anderen De-minimis Verordnungen kumuliert werden können.
Geändert werden sollte Art. 5 Abs. 1 der (allgemeinen) De-minimis-Verordnung wie folgt:
Im Einklang mit der vorliegenden Verordnung gewährte De-minimis-Beihilfen dürfen bis zu dem in Artikel 3 Absatz 2 dieser Verordnung festgelegten einschlägigen Höchstbetrag mit De-minimis-Beihilfen nach anderen De-minimis Verordnungen kumuliert werden. Im Einklang mit der vorliegenden Verordnung gewährte De-minimis-Beihilfen dürfen bis zu dem Höchstbetrag kumuliert werden, der sich aus der Kumulierung des in Artikel 3 Absatz 2 festgelegten Höchstbetrags mit dem Höchstbetrag der [neuen Verordnung (EU) Nr. 360/2012] ergibt. Im Einklang mit der vorliegenden Verordnung gewährte De-minimis-Beihilfen dürfen bis zu dem in Artikel 3 Absatz 2 dieser Verordnung festgelegten einschlägigen Höchstbetrag mit De-minimis-Beihilfen nach anderen De-minimis Verordnungen kumuliert werden.
Dies begründet die BAGFW wie folgt: Bislang gilt gemäß Art. 2 Abs. 7 der DAWI-De-minimis-Verordnung und Art. 5 Abs. 1 der (allgemeinen) De-minimis-Verordnung, dass bei einem Unternehmen DAWI- und allgemeine De-minimis-Beihilfen nur bis zu dem Höchstbetrag, der nach der DAWI-De-minimis-Verordnung (derzeit 500.000 EUR in drei Steuerjahren) gilt, kumuliert werden dürfen. Dies wird der besonderen und wichtigen Funktion, die Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse in den Mitgliedstaaten erfüllen und dem im Vergleich zu anderen besonderen Finanzierungsbedarf dieser Unternehmen nicht gerecht.
Stattdessen sollten bei einer tatsächlichen Kumulierung von allgemeinen De-minimis-Beihilfen und DAWI-De-minimis-Beihilfen auch die jeweiligen Höchstbeträge miteinander kumuliert werden können. Eine Neuregelung der Kumulierungsvorschriften für die Kumulierung von De-minimis-Beihilfen, die nicht unter die DAWI-De-minimis-Verordnung fallen, erscheint hingegen nicht notwendig.
Eine weitere Änderung, hier deklaratorischer aber dennoch klarstellender Natur, bringt die BAGFW in Bezug auf Art. 2 Abs. 8 der DAWI-De-minimis Verordnung ein.
De-minimis-Beihilfen nach dieser Verordnung können nicht mit Beihilfen für dieselbe DAWI kumuliert werden.
Die BAGFW begründet diese Positionierung wie folgt: Nach der bisherigen Fassung von Art. 2 Abs. 8 können De-minimis-Beihilfen nach der DAWI-De-minimis-Verordnung nicht mit Ausgleichsleistungen für dieselbe DAWI kumuliert werden, unabhängig davon, ob es sich bei dem Ausgleich überhaupt um eine staatliche Beihilfe handelt oder nicht. Dieses Verbot der Kumulierung von De-minimis-Beihilfen mit sonstigen Ausgleichsleistungen für dieselbe Dienstleistung sollte aber nur dann gelten, wenn es sich bei diesen Leistungen tatbestandlich um Beihilfen handelt. Dies schafft nicht nur Klarheit darüber, um was für Ausgleichsleistungen es sich handelt, sondern wird vor allem auch dem Ziel des freien und fairen Wettbewerbs gerecht: Wenn eine Ausgleichsleistung schon keine Beihilfe i.S.v. Art. 107 Abs. 1 AEUV darstellt, ist ihre Auszahlung schon „von Amts wegen“ mit dem Binnenmarkt vereinbar. Eine Kumulierung mit DAWI-De-minimis-Beihilfen schafft somit kein „Mehr“ an grundsätzlich verbotenen Beihilfen.
4. Der Begriff des „Unternehmens“ gemäß der DAWI-De-minimis-Verordnung
Schließlich geht es der BAGFW um die Klarstellung bei der Anwendung des Unternehmensbegriffs. Was dabei die Anwendung der DAWI-De-minimis-Verordnung betrifft, wäre es aus Sicht der BAGFW sehr zu begrüßen, das Erfordernis der Betrauung deutlicher mit dem Begriff des Unternehmens in Verbindung zu bringen. Da die Verordnung das Erfordernis eines solchen Betrauungsakts lediglich in ihren Erwägungsgründen vorsieht (Erwägungsgrund Nr. 6)[6], unterstützt die BAGFW eine
Kodifizierung des Betrauungsakts im Rechtstext der Norm.
Denn erst mit der Einbettung des Betrauungsakts in den Rechtstext der Verordnung wird klar, dass bei der Betrachtung der selektiven Begünstigung eines Unternehmens die jeweils betraute Einheit heranzuziehen ist. Mitunter kommt es in der Praxis vor, dass von DAWI erbringenden Unternehmen eine Betrachtung im Sinne eines „einzigen Unternehmens“ gem. Art. 2 Abs. 2 der allgemeinen De minimis-Verordnung verlangt wird. Dies trotz der Betrauung, die in der allgemeinen De-minimis-Verordnung nicht erforderlich ist, so dass die Charakterisierung einer Tätigkeit als DAWI sowie die Kategorisierung einer allgemein wirtschaftlichen Tätigkeit entsprechend der allgemeinen De-minimis-Verordnung nicht kompatibel sind.
Von daher spricht sich die BAGFW von einer Aufnahme der Betrauung als Erfordernis für eine DAWI in den rechtlich verbindlichen Verordnungstext aus.
[1] Von Wallenberg/Schütte in Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 71. EL August 2020, Art. 107, Rn. 80.
[2] Vgl. Verordnung (EU) Nr. 2020/1474 vom 13.10.2020 zur Änderung der Verordnung 360/2012 hinsichtlich der Verlängerung der Geltungsdauer und einer befristeten Ausnahmeregelung für Unternehmen in Schwierigkeiten zur Berücksichtigung der Auswirkungen der COVID-19-Pandemie.
[3] Protokoll (Nr. 26) zum AEUV. Vgl. auch Mitteilung über die Anwendung der Beihilfevorschriften der Europäischen Union auf Ausgleichsleistungen für die Erbringung von Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse vom 11.1.2012, 2012/C 8/02 (sog. „DAWI-Mitteilung“).
[4] S. DAWI-Mitteilung, Rz. 46 mit Verweis auf EuG Urt. v. 12.2.2008, T-289/03, Rz. 166-169, 172 – BUPA/Kommission
[5] Vgl. Bekanntmachung der EU-Kommission zum Begriff der staatlichen Beihilfe i.S.d. Art. 107 Abs. 1 AEUV vom 19.7.2016, (2016/C 262/01), Rz. 196.
[6] Verordnung (EU) Nr. 360/2012 der Kommission vom 25.04.2012, Erwägungsgrund 6.
]]>Damit sowohl die effektive, transparente und unbürokratische Erbringung sozialer Dienstleistungen auf der einen als auch auf der anderen Seite die Beachtung des EU-Beihilferechts gewährleistet ist, muss nicht nur die rechtmäßige Anwendung der Vorschriften durch alle Akteure erfolgen, sondern müssen auch vereinfachende und praxistaugliche Anpassungen der relevanten Vorschriften vorgenommen werden. Hierzu gehören u.a. die (allg.) De-minimis-Verordnung (1407/2013) sowie die DAWI-De-minimis-Verordnung (360/2012).
Zur korrekten Anwendung des EU-Beihilfenrechts gehört auch deren Nicht-Anwendung, wenn die Tatbestandsvoraussetzungen des Art. 107 AEUV nicht vorliegen.
Zu den Transparenzanforderungen und einem verbindlichen öffentlichen Register
Durch die Mitwirkung von nationalen Behörden und das rechtskonforme Verhalten der beihilfeempfangenden Unternehmen wird die Wettbewerbspolitik der EU jeweils auf der nationalen, regionalen oder lokalen Ebene umgesetzt.
Dies gilt gerade für die Anwendung der De-minimis-Verordnungen und insbesondere für die Pflicht der begünstigten Unternehmen, De-minimis-Bescheinigungen der fördergebenden Stelle 10 Jahre aufzubewahren. Hintergrund ist, dass die Überprüfung, ob der jeweilige Schwellenwert bei einer erneuten Begünstigung eingehalten ist, konstitutiv ist für die Rechtfertigung der entsprechenden Beihilfe. Die Verbände der BAGFW und ihre Mitglieder kommen dieser Verpflichtung nach. Dabei unterstützen sie auch ein effektives Monitoring von transparenter Beihilfegewährung, um einen fairen Wettbewerb und eine effiziente Beihilfenutzung zu unterstützen.
Gleichwohl begegnet die BAGFW dem Vorschlag eines zentralen Registers zur Aufbewahrung der De-minimis-Bescheinigungen mit einer gewissen Skepsis, da insbesondere im Falle rechtlicher Entscheidungen, die mit der Erteilung von De-minimis-Bescheiden etwa mangels Vorliegens aller Tatbestandsmerkmale des Art. 107 Abs. 1 AEUV fehlerhaft ergangen sein können, die Gefahr besteht, dass sich diese Rechtsfehler in einem elektronischen System verfestigen. Hier wird es auf hinreichende Instrumente für einen effektiven Rechtsschutz etwa in Form einer Beschwerde gegen den Registereintrag ankommen. Unklar ist bei der Ausgestaltung eines solchen Zentralregisters zudem, wie datenschutzrechtliche Garantien im Detail umgesetzt werden, damit die zentrale Vorhaltung von De-minimis-Bescheinigungen keinen unfairen Wettbewerbsvorteil für Unternehmen ohne Zugriffsberechtigung mit sich bringt. Entscheidend für das gute Funktionieren eines solchen Registers ist, dass die begünstigten Unternehmen jederzeit Zugriff auf ihre Bescheinigungen haben und bei erkannten Fehlern eine unbürokratische Berichtigung und gegebenenfalls Löschung des Registereintrags, auf dem Wege einer Beschwerde oder eines Widerrufs, erfolgen kann.
Zur Anhebung des Schwellenwerts
Konkret sollte der Schwellenwert von De-minimis-Beihilfen i.H.v. derzeit 200.000,- EUR auf Grundlage der Verordnung 1407/2013 deutlich angehoben werden. Da die ursprüngliche Festsetzung in der Verordnung 1998/2006 bereits 16 Jahre zurückliegt, ist schon mit Blick auf die Inflationsentwicklungen eine signifikante Anpassung zwingend erforderlich. Mit Blick darauf, dass mit einer weiteren Anhebung des Schwellenwerts erst wieder in einigen Jahren zu rechnen ist, sind auch zukünftige Inflationsentwicklungen zu berücksichtigen. Bei einer angenommenen jährlichen Inflationsrate von 2% müsste im Jahr 2022 die Obergrenze bei knapp unter 275.000,- EUR festgesetzt werden um aktuell den Wert in Preisen von 2006 widerzuspiegeln. So gesehen handelt sich bei dem von der EU-Kommission vorgeschlagenen Schwellenwert um eine bloße Inflationsbereinigung, nicht jedoch um eine echte Anhebung dessen.
Geht man davon aus, dass eine Anpassung erst wieder in 16 Jahren, also demselben Zeitraum wie von 2006 bis 2022, angepasst wird, könnte sich ein neuer Schwellenwert an demselben Wert nach der Hälfte des genannten Zeitraums, also nach acht Jahren, orientieren. Legt man zur Ermittlung dieses u. E. fairen Werts eine den Entwicklungen und zu erwartenden entsprechende Inflationsrate von 4% zugrunde,[1] ist ein Schwellenwert in Höhe von mindestens 375.000,- EUR angemessen. Mit anderen Worten: Der Schwellenwert von mindestens 375.000,- EUR entspricht für die kommenden Jahre und nach realistischer Einschätzung dem Schwellenwert in Höhe von 200.000,- EUR im Jahr 2006.
Entsprechend können De-minimis-Beihilfen mit einem Schwellenwert von 375.000,- EUR auch im Sinne der geltenden Fiktion der (allgemeinen) De-minimis-Verordnung als Beihilfen angesehen werden, die nicht alle Kriterien des Art. 107 Abs. 1 AEUV erfüllen und den Wettbewerb im Binnenmarkt nicht verfälscht oder zu verfälschen drohen.
Angesichts der hier zugrunde gelegten allgemeinen Inflationsentwicklungen sind die Träger und Einrichtungen der BAGFW als Erbringer von Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse (DAWI) in ebensolchem Maße von einer realistischen Einschätzung und Bewertung der Geringfügigkeitsgrenze abhängig. So muss bei einer Anhebung der Geringfügigkeitsgrenze im Rahmen der Verordnung 1407/2013 auch eine Anhebung des Schwellenwerts für Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse (DAWI) gem. Verordnung 360/2012 berücksichtigt werden. Dieser liegt aktuell bei 500.000 EUR in drei Steuerjahren (Art. 2 Abs. 2). Eine Anhebung auf 1,5 Mio. EUR in drei Steuerjahren würde eine bessere Praxistauglichkeit der Verordnung sicherstellen. DAWI dienen vorwiegend der lokalen, allenfalls regionalen Daseinsvorsorge. Die Mitgliedseinrichtungen der Verbände der BAGFW sind vor allem in einem geografisch begrenzten Gebiet für die örtlich bestehenden Bedarfe der Bevölkerung aktiv. Auch die EU-Kommission ist u.a. der Auffassung, dass bei Beihilfenempfängern, die Waren oder Dienstleistungen nur in einem geografisch begrenzten Gebiet in einem Mitgliedstaat anbieten und bei denen es unwahrscheinlich ist, dass Kunden aus anderen Mitgliedstaaten gewonnen werden, ein Indiz vorliegt, dass keine Auswirkung auf den Handel zwischen den Mitgliedstaaten gegeben ist (vgl. Bekanntmachung 2016/C 262/01 vom 19.7.2019, Rz. 196).
Vor allem üben Erbringer von DAWI diese Tätigkeit üblicherweise nicht mit Gewinnerzielungsabsicht aus und sind auch in Gebieten tätig (etwa dem ländlichen Raum), die für gewinnorientierte Anbieter wirtschaftlich unrentabel sind. Es ist dadurch weniger wahrscheinlich, dass diese Leistungen auch durch (potenzielle) Wettbewerber aus anderen Mitgliedstaaten angeboten werden. Das bedeutet aber auch, dass insbesondere DAWI-Erbringer, die ohne Gewinnerzielungsabsicht tätig sind, häufig auf externen Finanzierungsbedarf angewiesen sind. Wägt man die besondere gesellschaftliche Rolle sowie den spezifischen Finanzierungsbedarf vieler DAWI-Erbringer auf der einen mit dem geringen Risiko einer signifikanten Auswirkung auf den Wettbewerb und Handel zwischen den Mitgliedstaaten auf der anderen Seite ab, ist ersteres im Ergebnis deutlich stärker zu gewichten und muss sich daher auch in einer Anhebung des Schwellenwerts widerspiegeln.
Weitere konkrete Forderungen zu den De-minimis-Verordnungen sind unserer beigefügten Stellungnahme zu entnehmen, die hier (in deutscher und englischer Sprache) abrufbar ist: https://bit.ly/3AzHYgU.
[1] Vgl. etwa Umfrage des Ifo-Instituts, wonach zwischen 2023 und 2026 „Inflationsraten von weltweit durchschnittlich 6,2% und 4,5%“ erwartet werden (https://www.ifo.de/pressemitteilung/2022-07-14/volkswirte-erwarten-weltweit-hohe-inflation-fuer-die-naechsten-jahre).
]]>Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) fordert:
- Aufbauend auf der Ratsempfehlung muss eine EU-Rahmenrichtlinie für Mindestsicherung in der EU geschaffen werden.
- Mindestsicherungsleistungen müssen eine angemessene, armutsfeste Einkommensunterstützung gewährleisten.
- Es muss ein universeller, diskriminierungsfreier Zugang zu existenzsichernden Leistungen gewährleistet werden.
- Mindestsicherung muss einen nachhaltigen Zugang zu hochwertiger Arbeit ermöglichen (Aktivierung).
- Es muss ein Zugang zu hochwertigen, grundlegenden Dienst- und Unterstützungsleistungen geschaffen werden.
- Überwachungs- und Berichterstattungsmechanismen müssen zeitnah erfolgen, nicht erst 2032.
Ein zentrales Mittel zur Bewältigung der genannten Herausforderungen sind armutsfeste Systeme der Mindestsicherung in jedem EU-Mitgliedstaat. Alle Mitgliedstaaten verfügen zwar über eine jeweilige Mindestsicherung, allerdings sind sie hinsichtlich ihrer Zugänglichkeit und Angemessenheit uneinheitlich und kaum armutsfest. Dies heißt jedoch nicht, dass sie nicht mit ähnlichen Problemlagen konfrontiert sind.
Eine EU-Rahmenrichtlinie für Mindestsicherung in der EU
Bereits seit 1992, als die erste Ratsempfehlung der EU für die Einrichtung von nationalen Mindestsicherungssystemen verabschiedet wurde,[2] wird mit jedem Schritt hin zu einer Regelung für eine solche Mindestsicherung deutlich, dass es vor allem eines, nämlich eine rechtsverbindliche Regelung für die Einrichtung von armutsfesten Systemen für eine jeweilige Mindestsicherung braucht. Die bisherigen Instrumente zur Stärkung der Mindestsicherungssysteme sind für die EU-Mitgliedstaaten nicht rechtsverbindlich, weshalb ihre Auswirkungen auf die Verbesserung der Mindesteinkommensregelungen in der EU sehr begrenzt geblieben sind. Nur wenn jeder Mitgliedstaat verpflichtet wird, ein angemessenes, befähigendes und zugängliches Mindestsicherungssystem zu schaffen, kann Armut und soziale Ausgrenzung in der Europäischen Union wirksam bekämpft werden.
Deshalb sollte letztlich aufbauend auf der Ratsempfehlung ein rechtsverbindlicher Rechtsakt in Form einer EU-Rahmenrichtlinie für die Mindestsicherung initiiert werden. Dazu ist in der Ratsempfehlung anzuerkennen, dass es in den Verträgen tatsächlich eine Rechtsgrundlage für eine EU-Richtlinie über ein angemessenes Mindesteinkommen gibt und weder Art. 153 (2) (a) noch Art. 153 Abs. 4 AEUV einer solchen Richtlinie entgegenstehen, solange keine Harmonisierung angestrebt wird und solange die „Grundprinzipien“ der Sozialversicherungssysteme der Mitgliedstaaten nicht berührt werden.
Die BAGFW begrüßt den vorgelegten Vorschlag der EU-Kommission, da er inhaltlich sehr nahe an die Forderung einer armutsfesten Mindestsicherung heranreicht. Gleichzeitig kritisiert die BAGFW aber diesen Vorschlag, da er erneut keine Rechtsverbindlichkeit mit sich bringt. Eine bloße politische Empfehlung mit einem zudem spät angesetzten Monitoring im Jahr 2032, zögert die Umsetzung von bloßen politischen Empfehlungen hin zu konkreten und verbindlichen Maßnahmen erneut hinaus: Zwar soll die Ratsempfehlung 92/441/EWG aus dem Jahr 1992 durch die aktuelle Ratsempfehlung ersetzt werden. Ein bloßes „Ersetzen“, wenn auch mit inhaltlicher Aktualisierung, ändert jedoch nichts am Charakter des gewählten Instruments.
Entscheidend ist, dass die Inhalte als Ziele für jeden Mitgliedstaat rechtsverbindlich werden und in die Rechtsform einer Richtlinie gem. Art. 292 AEUV in Verbindung mit Art. 153 (Abs. 1 h) AEUV gefasst werden. Es liegen wissenschaftliche Gutachten vor, die im bestehenden Primärrecht der EU Rechtsgrundlagen für die Einführung einer EU-Rahmenrichtlinie erkennen.[3] Bestärkt werden diese Stimmen durch den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA), der eine EU-Rahmenrichtlinie als konkrete Initiative für die Stärkung der Mindestsicherung empfiehlt.[4]
Nach Auffassung der BAGFW müssen zum Regelungsgegenstand einer EU-Rahmenrichtlinie mindestens ein einklagbares, armutsfestes Leistungsniveau (zumindest das (soziokulturelle) Existenzminimum muss garantiert werden), zugängliche und erschwingliche unterstützende sowie essentielle Dienstleistungen, ein universeller und diskriminierungsfreier Zugang und die Möglichkeit der sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Teilhabe und Befähigung von Leistungsempfänger:innen gehören.
Gemessen an den von der EU-Kommission im Empfehlungsvorschlag formulierten Zielen, um den Grundsatz 14 der Europäischen Säule sozialer Rechte zu verwirklichen, äußert sich die BAGFW zu dem Vorschlag der EU-Kommission für eine Empfehlung des Rates für ein angemessenes Mindesteinkommen zur Gewährleistung einer aktiven Inklusion vom 28.09.2022:
Angemessenheit der Mindestsicherungsleistungen
Der Empfehlungsvorschlag soll dazu beitragen, dass die Angemessenheit der Einkommensunterstützung verbessert wird: das Recht des einzelnen auf soziale Unterstützung, das Recht auf eine Wohnung, das Recht auf Zugang zu unterstützenden, sozialen Diensten und insgesamt auf ein menschenwürdiges Leben im Sinne eines soziokulturellen Existenzminimums – dies sind einige Anknüpfungspunkte für eine angemessene Einkommensunterstützung bei Armut und sozialer Ausgrenzung, die in dem Vorschlag unter anderem mit Bezug auf die Europäische Grundrechtecharta und die Europäische Säule sozialer Rechte genannt werden. Darüber hinaus gehend wurden jedoch nur zwei konkrete Maßstäbe zur Bemessung von Armut in den Vorschlag einer Ratsempfehlung aufgenommen. Die relative Armutsschwelle von 60% des Einkommensmedians sowie ein Modell eines Waren- und Dienstleistungskorbs. Außerdem kann ein vergleichbares Niveau gewählt werden, das durch nationale Gesetze oder Praxis etabliert ist.
Die genannten Maßstäbe können von den Mitgliedstaaten alternativ aufgegriffen werden, sollten aus Sicht der BAGFW allerdings kumulativ verwendet werden, um ein zumindest annähernd realistisches Bild für den existenzsichernden Bedarf zu haben. Denn eine Leistungsbemessung kann in einigen Regionen der Mitgliedstaaten dazu führen, dass auch mit einem Einkommen von 60 % des Medians noch der Indikator der materiellen Deprivation erfüllt ist. Damit muss die Mindestsicherungsleistungen begründende Armutsschwelle mittels kombinierter Indikatoren definiert werden.
Universeller Zugang zu Mindestsicherung
Neben der Angemessenheit der Leistungen ist ebenso der universelle Zugang zu existenzsichernden Leistungen unabdingbar. Um den Zugang zur Mindestsicherung zu verbessern, wird empfohlen, dass die Anspruchsvoraussetzungen transparent, nicht-diskriminierend und online wie offline gleichwertig zugänglich sein sollten. Mitgliedstaaten sollen einen wirksamen Zugang zur Mindestsicherung insbesondere für junge Erwachsene und unabhängig vom Bestehen eines ständigen Wohnsitzes gewährleisten.
Nach Ansicht der BAGFW setzt die Empfehlung wichtige Impulse, um den Zugang zur Mindestsicherung zu verbessern. Die BAGFW betont jedoch, dass eine Zugangsbeschränkung, z. B. aufgrund des Aufenthaltsstatus oder des Alters, grundsätzlich ausgeschlossen werden muss. Insbesondere für junge Menschen über 18 Jahre darf es keine Altersgrenze für die Anspruchsberechtigung geben, da junge Menschen, die nicht über die erforderliche Qualifikation und Ausbildung verfügen (NEETS), in der Regel besonders armutsgefährdet sind und oft besondere Schwierigkeiten haben, den Kreislauf der Armut zu durchbrechen. Hinzu kommen bedürftige Personengruppen, die dem Arbeitsmarkt nicht oder nicht mehr zur Verfügung stehen, wie Menschen mit Behinderung oder Ältere.
Für bedürftige nicht erwerbstätige Unionsbürger:innen muss eine Zugangsbeschränkung ebenfalls ausgeschlossen werden. Dahin gehendes Ermessen der Mitgliedstaaten lässt die Unionsbürgerrichtlinie jedoch zu.[5] Im Grundsatz 14 der Europäischen Säule sozialer Rechte heißt es, dass „jede Person, die nicht über ausreichende Mittel verfügt“, ein Recht auf angemessene Grundsicherungsleistungen“ hat. Ausnahmen dürfen das soziokulturelle Existenzminimum nicht einschränken. Denn hier geht es um die Verwirklichung von grundlegenden Menschenrechten, wie sie beispielsweise im Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte der Vereinten Nationen, in der EU-Grundrechtecharta und der Europäischen Sozialcharta niedergelegt sind. Diese sind als jedem Menschen gegeben anerkannt.
Die BAGFW sieht die Notwendigkeit, Anreize zu setzen, die dazu beitragen, die Inklusion von Menschen, die nicht erwerbstätig sind, in den Arbeitsmarkt zu fördern, betont aber, dass mit diesen Anreizen keine Möglichkeit zur Kürzung existenzsichernder Leistungen verbunden sein darf, mit denen existenzbedrohende Lebenslagen erzeugt werden. Die Ermutigung und soziale Beteiligung der Betroffenen sollte ein wesentlicher Maßstab sein.
Zugang zum Arbeitsmarkt (Aktivierung)
Die Ratsempfehlung soll die Mitgliedstaaten dazu auffordern, Hindernisse für den (Wieder-)Einstieg in den Arbeitsmarkt bzw. für den Verbleib auf dem Arbeitsmarkt zu beseitigen, dann aber bei der Aufnahme einer Beschäftigung keine prekären, unter dem Mindestlohn vergütete oder nicht angemeldete Erwerbstätigkeiten an die Betroffenen zu vermitteln. Es muss sich um eine nachweislich hochwertige Beschäftigung handeln, wie es der Entwurf vorschlägt, so dass die Aufnahme einer Arbeit dem Betreffenden eine nachhaltige Perspektive zur Qualifizierung, Weiterbeschäftigung und Bestreiten seines Lebensunterhalts verschafft.
Zudem wird empfohlen, dass Aktivierungsmaßnahmen ausreichende befähigende und ermutigende Anreize bieten, wobei ein besonderes Augenmerk auf die Unterstützung junger Erwachsener gelegt werden sollte.
Zugang zu unterstützenden und grundlegenden Dienstleistungen
Die Ratsempfehlung soll die Mitgliedstaaten dazu aufrufen, einen wirksamen Zugang zu hochwertigen Unterstützungsdiensten wie Gesundheitsversorgung, Kinderbetreuung sowie Aus- und Weiterbildung zu gewährleisten. Außerdem soll der ununterbrochene effektive Zugang für die Begünstigten zu grundlegenden Dienstleistungen wie Energieversorgung und Transport gewährleistet werden. Im Bedarfsfall soll zudem der Zugang zu Dienstleistungen der sozialen Inklusion wie Beratung und Coaching bestehen.
Die BAGFW unterstützt insbesondere den Ansatz der Begleitung und des Coachings nach Aufnahme einer hochwertigen Beschäftigung nachdrücklich, da dies dazu beitragen kann, den Betroffenen in der gerade aufgenommenen Beschäftigung zu halten und seine Fähig- und Fertigkeiten auszubauen bzw. an die Erfordernisse der neuen Arbeit anzupassen.
Überwachungs- und Berichterstattungsmechanismen
Nach Ziffer 16 Buchstabe e des Empfehlungsvorschlags soll die Umsetzung der Empfehlung von der Kommission evaluiert und eine Bilanz der Maßnahmen gezogen werden, die als Reaktion auf diese Empfehlung ergriffen wurden. Dies soll insbesondere im Hinblick auf ihre Auswirkungen auf die Verringerung von Armut und sozialer Ausgrenzung, die Erhöhung des Beschäftigungsniveaus und die Verbesserung der Ausbildungsbeteiligung geschehen. Allerdings sieht der Vorschlag für die Berichtspflicht gegenüber dem Rat ein Zeitfenster bis 2032 vor. Das Armutsbekämpfungsziel des Aktionsplans der Europäischen Säule sozialer Rechte soll bis 2030 umgesetzt werden. Im Jahr 2024 werden außerdem die Wahlen für die neue Legislaturperiode des Europäischen Parlamentes stattfinden. Die BAGFW fordert deshalb eine Evaluierung bereits 2025 anzusetzen – spätestens jedoch fünf Jahre nach der Annahme der Empfehlung – und weist auf die dringende Notwendigkeit einer effektiven Umsetzung der Empfehlung in den Mitgliedsstaaten hin.
Sollte es nach der Evaluierung zu einer Weiterentwicklung, Nachbesserung oder Anpassung der Ratsempfehlung kommen, ist die substantielle Beteiligung von Menschen mit Armutserfahrung oder Erfahrung von Langzeitarbeitslosigkeit – neben weiteren Stakeholdern der Zivilgesellschaft - ein wesentliches Element des weiteren (gesetzgebenden) Verfahrens. So wenn es etwa zum Entwurf einer Richtlinie oder auch zur Konkretisierung der Angemessenheit der Leistungen, von Maßnahmen zur Qualifizierung und zur Bestimmung einer hochwertigen Beschäftigung kommt. Denn um eine Ausgestaltung der Mindestsicherungsregelungen zu haben, die sich auf reale Bedingungen und Situationsbeschreibungen bezieht, ist es der BAGFW wichtig, dass diese Expert:innen aus Erfahrung an der Gestaltung, Umsetzung, Überwachung, Weiterentwicklung und Bewertung von Mindestsicherungsregelungen wirksam beteiligt und gegebenenfalls dazu befähigt werden.
Da häufig Mitgliedstaaten mit mangelndem Sozialschutz genau diejenigen sind, die keinen hinreichenden finanziellen Spielraum für die Erhöhung ihrer Sozialausgaben haben, schlägt die BAGFW folgenden Schritt zur Finanzierung von nationalen armutsfesten Systemen der Mindestsicherung vor: Um die Mitgliedstaaten bei der Implementierung und Weiterentwicklung von Mindestsicherungssystemen zu unterstützen, ist die Anpassung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes durch die Einführung einer „Goldenen Regel“ sinnvoll. Sie würde es den Mitgliedstaaten erlauben, bestimmte Arten der öffentlichen Investitionen von der Berechnung ihres öffentlichen Defizits abzuziehen (z. B. bei kindlicher Früherziehung, Fortbildung und aktiver Arbeitsmarktpolitik, bei erschwinglichem und angemessenem Wohnraum). Langfristig sollte die EU die Konvergenz zwischen den Mitgliedstaaten bei der Fortentwicklung von sozialen Mindestsicherungssystemen fördern.
Berlin/Brüssel 21.11.2022
Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege e. V.
Dr. Gerhard Timm
Geschäftsführer
Kontakt:
Dr. Stephanie Scholz, dr.stephanie.scholz(at)diakonie.de
Marius Isenberg, marius.isenberg(at)awo.org
[1] Eurostat (09/2022). Online abrufbar hier.
[2] Empfehlung des Rates (92/441/EWG) vom 24. Juni 1992 über gemeinsame Kriterien für ausreichende Zuwendungen und Leistungen im Rahmen der Systeme der sozialen Sicherung, abrufbar hier.
[3] Vgl. Benz, Benjamin, Gutachten: Ausgestaltung eines europäischen Rechtsrahmens für Mindestsicherung, 2019; vgl. Kingreen, Thorsten, Gutachten: Ein verbindlicher EU-Rechtsrahmen für soziale Grundsicherungssysteme in den Mitgliedstaaten, 2017.
[4] Vgl. Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss, Stellungnahme: Für eine europäische Rahmenrichtlinie zum Mindesteinkommen, SOC/584, 2019. Online abrufbar hier.
[5] Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38 v. 29.04.2004 „Unionsbürgerrichtlinie“.
]]>Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) zum
Jahressteuergesetz 2022
Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) nimmt zum Entwurf des Jahressteuergesetzes 2022 (JStG 2022) als nicht zur Anhörung geladene Organisation wie folgt Stellung.
Im Jahr 2022 haben Mitarbeitende in Pflegeeinrichtungen einen so genannten Corona-Bonus erhalten. Mit der Neufassung des Infektionsschutzgesetzes zum 1. Oktober 2022 wurde für Mitarbeitende in stationären Pflegeeinrichtungen eine weitere Sonderzahlung nach § 150c SGB XI für Mitarbeitende geschaffen, die im Rahmen des § 35 Infektionsschutz (IfSG), der Umsetzung von Corona-bedingten Hygienemaßnahmen sowie beim Testen und Impfen verantwortliche Aufgaben übernehmen. Die Sonderzahlung beträgt je nach Einrichtungsgröße bis zu 1.000 Euro pro Person pro Monat vom 1. Oktober 2022 bis zum 30. April 2023.
Diese Sonderzahlungen sind gemäß § 3 Nr. 11b Einkommenssteuergesetz (EstG) entsprechend den Boni im Rahmen der Corona-Krise für besondere Leistungen bis zu einem Betrag von 4.500 Euro von Steuer- und Sozialabgaben befreit. Die entsprechende Regelung läuft jedoch zum 31. Dezember 2022 aus, so dass für die Sonderleistungen ab 1. Januar 2023 Steuern und Sozialabgaben (Arbeitnehmer:innen- sowie Arbeitgeberanteil) zu zahlen sind.
Die BAGFW hält es nicht für wünschenswert und sachgerecht, dass ab dem 1. Januar 2023 für diese Sonderzahlungen Steuern und Sozialabgaben anfallen. Die Sonderzahlung stellt ein Zeichen der Wertschätzung für die nach § 35 IfSG übernommenen Aufgaben dar, die durch den Abzug von Steuern und Sozialabgaben konterkariert wird.
Die BAGFW schlägt daher vor, die Regelung gemäß § 3 Nr. 11b EstG für die Dauer der Sonderzahlung bis zum 30. April anzupassen und auf 4.000 Euro zu begrenzen. Da die Auszahlung für die Sonderzahlung ggf. auszahlungstechnisch auch erst im darauffolgenden Monat erfolgt, ist § 3 Nr. 11b bis zum 31. Mai 2023 zu verlängert.
Änderungsbedarf
Der § 3 Nr. 11b EstG wird wie folgt geändert:
„11b zusätzlich zum ohnehin geschuldeten Arbeitslohn vom Arbeitgeber in der Zeit vom 18. November 2021 bis zum 31. Dezember 2022 31. Mai 2023 an seine Arbeitnehmer zur Anerkennung besonderer Leistungen während der Corona-Krise gewährte Leistungen bis zu einem Betrag von 4 000 Euro. […]“
Berlin, 04.11.2022
Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege e. V.
Dr. Gerhard Timm
Geschäftsführer
Kontakt:
Erika Stempfle, erika.stempfle(at)diakonie.de
Claus Bölicke, claus.boelicke(at)awo.de
Dr. Elisabeth Fix, elisabeth.fix(at)caritas.de
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Die Verbände teilen die Auffassung, dass die Demokratie in Deutschland geschützt, gestärkt und aktiv gestaltet werden muss; insbesondere angesichts der Zunahme menschenfeindlicher Einstellungen, rechtsterroristischer und antisemitischer Attentate und Anfeindungen und der wachsenden Verbreitung von Ideologien der Ungleichwertigkeit.
Vor diesem Hintergrund geben wir zu bedenken, dass der im Gesetzesentwurf eine zentrale Rolle einnehmende Begriff des Extremismus interessengeleitet missbraucht werden kann. Aus Sicht der Wohlfahrtsverbände müssen in diesem Zusammenhang der Schutz für Betroffene von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und die Prävention Leitprinzip sein. Damit verbunden ist die demokratische Stärkung von Gleichstellungspolitik und die Bekämpfung jedweder Ideologie, die Abwertung und Ausgrenzung von Menschen und gesellschaftliche Ungleichheit vertritt.
Politische Bildung sollte in allen Formen des Lernens (formal, non-formal und informell) Aufgabe sowohl staatlicher wie zivilgesellschaftlicher Akteure sein; die Prinzipien der Subsidiarität sind zu beachten.
Entsprechende rechtliche Rahmenbedingungen zu verbessern und die Fördermaßnahmen nachhaltig abzusichern, liegt im unmittelbaren Interesse der Verbände, zu deren Selbstverständnis es gehört, als Anwält:innen vulnerabler Gruppen, als sozialer Dienstleister:innen und Treiber:innen sozialer Innovationen ebenso wie als Gestalter:innen von Möglichkeitsräumen freiwilligen Engagements den gesellschaftlichen Zusammenhalt und das demokratische Gemeinwesen zu stärken.
Aus Sicht der Verbände trägt nicht zuletzt auch die Soziale Arbeit unserer Einrichtungen und Dienste mit ihrem breit verstandenen Empowerment-Ansatz in besonderer Weise zu einer demokratischen, offenen und vielfältigen Gesellschaft bei. Damit fördert sie eine diskriminierungssensible Praxis sowie die Partizipation aller gesellschaftlichen Gruppen und verankert so die Stärkung von Demokratie und Diversität arbeitsfeldübergreifend als Querschnittsaufgabe.
Mit dem DFördG eine Förderkompetenz des Bundes zu stärken, um zivilgesellschaftliches Engagement um Maßnahmen der Demokratieförderung zu unterstützen, ist nach unserer Einschätzung geeignet die Rahmenbedingungen zu verbessern. Dadurch können auch die Wohlfahrtsverbände ihre Arbeit fortsetzen, verstetigen und zukunftsgerichtet weiterentwickeln. Die Verbände begrüßen und unterstützen daher die Absicht des Bundes mit dem Gesetz entsprechende Fördermaßnahmen nachhaltig abzusichern und demokratisches zivilgesellschaftliches Engagement zu stärken.
Der Referent:innenentwurf bietet hierfür eine geeignete Grundlage.
Die Verbände regen für das DFördG im Einzelnen ergänzend an:
In den §§ 1 (2) und 2 gilt es den Zusammenhang von Engagement, Partizipation und Demokratie noch deutlicher herauszustellen. Nach Auffassung der BAGFW gehört bürgerschaftliches Engagement, das sich „einmischt“ und Menschen zu aktiven Mitgestalter:innen macht, als Wesenskern zu einer Demokratie. Dies muss in der Gesetzgebung und als Gegenstand der Förderung sichtbar werden.
In § 1 (2) sehen wir diese Ergänzung wie folgt „…zivilgesellschaftliche Maßnahmen und bürgerschaftliches Engagement mit gesamtgesellschaftlicher Bedeutung sowie
§ 2 (4) „… von Empowerment und bürgerschaftlichem Engagement,“
§ 2 sollte des Weiteren als Ziffer 6 neu wie folgt ergänzt werden: „… Sensibilisierung für die Folgen von Ideologien der Ungleichwertigkeit und Diskriminierung sowie die Förderung von aktivem Handeln oder zivilgesellschaftlichem Engagement gegenüber allen Formen von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“ müssen Förderschwerpunkt des DFördG sein.
In § 2 sollte auf Basis der Formulierung im Koalitionsvertrag „Friedliches Zusammenleben und Zusammenhalt in einer vielfältigen Gesellschaft erfordern Unterschiede zu achten und divergierende Interessen konstruktiv auszuhandeln“ (S. 103) hierum als Ziffer 10 neu wie folgt ergänzt werden: „10. die Stärkung und Förderung des konstruktiven Umgangs mit gesellschaftlichen Konflikten zur Überwindung von gesellschaftlicher Polarisierung.“
Aus § 2 folgt die Notwendigkeit, Maßnahmen dieser Art auch auf Strukturen öffentlicher Einrichtungen und Institutionen anzuwenden. Diese sollten Fortbildungskonzepte zur Bekämpfung von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und Diskriminierung entwickeln, auf deren Grundlage beispielsweise Fachkräfte der Sozialen Arbeit, aber auch Mitarbeitende in öffentlichen Behörden zu sensibilisieren und fortzubilden sind. Es sollen bei Bedarf Empowermenträume für Betroffene geschaffen werden.
Gem. § 4 (1) sollen Maßnahmen Dritter nur gefördert werden, wenn sie überregionalen Charakter haben und zusätzlich ein erhebliches Bundesinteresse vorliegt. Damit soll der föderalen Kompetenzverteilung Rechnung getragen werden. Nach Auffassung der BAGFW ergibt sich das Bundesinteresse hier aber schon aus der Sache selbst: Es besteht per se ein erhebliches Bundesinteresse an der Förderung von Demokratie und der Bekämpfung von Extremismus und allen Formen von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit.
Zu § 4 (3) schlagen die Verbände vor, eine paritätische Beteiligung der Zivilgesellschaft einschließlich der Wohlfahrtsverbände und Interessenvertretung der Betroffenen wie Migrant:innenorganisationen sowohl bei der Erarbeitung der Förderrichtlinien als auch durch eine geeignete kontinuierliche Struktur in der Begleitung der Förderprogramme zu gewährleisten.
Um die in § 6 identifizierte „Finanzierung der Maßnahmen“ wirksam erreichen zu können, bedarf es einer verlässlichen, bedarfsgerechten, dauerhaften Finanzierung. Nur so kann sichergestellt werden, dass die angestrebte nachhaltige Absicherung und Wirkung der Maßnahmen gelingen.
Die in § 8 festgelegte wissenschaftliche Begleitung und Berichterstattung an den Deutschen Bundestag teilen wir. Die Ziele der wissenschaftlichen Begleitung sind unter Einbeziehung der beteiligten Institutionen und gesellschaftlichen Gruppen zu konkretisieren.
Wir äußern zudem die Erwartung, dass entsprechende Qualifizierungsmaßnahmen im Bereich Wirkungsorientierung und notwendige Organisationsentwicklungsprozesse auch für kleinere zivilgesellschaftliche Strukturen im Rahmen des DFördG förderfähig sind. Wir empfehlen die Etablierung einer partizipativen Evaluationspraxis. Es ist darauf zu achten, dass der generelle Dokumentationsaufwand zivilgesellschaftliche Organisationen nicht überfordert.
Schlussbemerkung
Im Referent:innenentwurf des DFördG sehen wir ein maßgebliches Instrument, um zu einer langfristigen und strategischen Zusammenarbeit zwischen Politik, Verwaltung und Zivilgesellschaft zu gelangen, mit dem Ziel, die Demokratie auch in Form von bürgerschaftlichem Engagement gegen den Einfluss von Ideologien der Ungleichwertigkeit zu stärken. Demokratiestärkung, das Demokratiefördergesetz und seine ihm noch nachfolgenden Förderrichtlinien müssen in Kombination mit der im Koalitionsvertrag angekündigten Nationalen Engagementstrategie gedacht und entwickelt sein.
Die BAGFW plädiert dementsprechend dafür, existierende und zukünftige Instrumente für die Demokratiestärkung (inkl. seiner Förderung und entsprechender Richtlinien) zusammenzudenken und miteinander strategisch zu verknüpfen. Dazu würde die Weiterentwicklung und Verstetigung der erfolgreichen Förderprogramme „Demokratie Leben!“ und „Zusammenhalt durch Teilhabe“ mit ihren jeweiligen ministeriellen Zuordnungen gehören.
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Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie (EU) 2019/1158 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Juni 2019 zur Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben für Eltern und pflegende Angehörige und zur Aufhebung der Richtlinie 2010/18/EU des Rates vom 10.09.2022 Drucksache 20/3447
Öffentliche Anhörung im Familienausschuss Deutscher Bundestag 07.11.2022
Die in der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) kooperierenden Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege nehmen gemeinsam wie folgt Stellung:
Zu Artikel 1
Änderung des Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetzes
Hinsichtlich der Elternzeit soll die in Artikel 9 Absatz 2 Satz 2 der Richtlinie (EU) 2019/1158 enthaltene Begründungspflicht des Arbeitgebers bei Ablehnung eines Antrags auf flexible Arbeitsregelungen eingeführt werden. Diese solle auch gegenüber Beschäftigten in Kleinbetrieben gelten, wobei die Begründung formlos möglich ist. An den Inhalt der Begründung sind keine hohen Anforderungen zu stellen.
Die BAGFW begrüßt diese Neu-Regelung. Arbeitnehmer:innen und Arbeitgeber:innen haben Rechte und Pflichten, die sich aus dem Arbeitsvertrag, aus Gesetzen und anderen Rechtsnormen ergeben. Diese Rechte und Pflichten lassen oft erhebliche Ermessensspielräume zu. Mit dieser Regelung wird die Möglichkeit eröffnet, gleichberechtigt mit dem Arbeitgeber für den jeweiligen Betrieb und die betroffenen Arbeitnehmer:innen sinnvolle und anwendbare konkrete Regelungen zu finden und einen faireren Ausgleich zwischen den Interessen des Arbeitgebers und denen der Arbeitnehmenden zu schaffen.
Zu Artikel 2
Änderung des Pflegezeitgesetzes und
Artikel 3 Änderung des Familienpflegezeitgesetzes
Die Intentionen, dass auch Beschäftigte in Kleinbetrieben (unterhalb einer Betriebsgröße von 15 bzw. 25 Beschäftigten) das Recht haben, binnen 4 Wochen Antwort auf ihren Antrag auf Pflegezeit oder Familienpflegezeit zu erhalten, und im Fall der Ablehnung zu begründen sowie die Pflegezeit oder Familienpflegezeit vorzeitig zu beenden oder für die Dauer der Freistellung einen Kündigungsschutz zu erhalten, werden nachdrücklich begrüßt.
Die Änderungen im Pflegezeit- und Familienpflegezeitgesetz stärken die Stellung der pflegenden Angehörigen, begünstigen eine bessere Vereinbarkeit von Pflege und Beruf und verringern dadurch langfristig den Ausstieg aus dem Erwerbsleben.
Da viele der pflegenden Erwerbstätigen Frauen sind, wird mit den Gesetzesänderungen insbesondere die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen am Erwerbsleben gefördert.
Perspektivisch sieht die BAGFW allerdings Handlungsbedarf in Bezug auf eine Harmonisierung von Pflegezeitgesetz und Familienpflegezeitgesetz. Beide Gesetze sollten möglichst zu einem einheitlichen Gesetz zusammengeführt werden. Die Auszeiten der Familienpflegezeit und Pflegezeit sind durch eine Lohnersatzleistung zu unterfüttern, die sich in Analogie zum Verfahren beim Elterngeld berechnen sollte.
Zur Sicherung der finanziellen Ressourcen von pflegenden Angehörigen für die Dauer der Arbeitszeitreduzierung nach § 2 Familienpflegezeitgesetz (FPfZG) und § 3 Pflegezeitgesetz (PflegeZG) kann nach § 3 FPfZG beim Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben (BAFzA) ein zinsloses Darlehen beantragt werden. Aktuelle Zahlen des Amtes für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben bestätigen allerdings die geringe Wirkkraft dieser politischen Maßnahme[1] und unterstreichen die Notwendigkeit einer tatsächlichen finanziellen Unterstützung, wie sie auch der Beirat für die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf empfiehlt.
Der unabhängige Beirat für die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf hat bereits in seinem ersten Bericht empfohlen, das Darlehen einzustellen und stattdessen eine Lohnersatzleistung gefordert und im Juli 2022 dazu Handlungsempfehlungen zur Ausgestaltung einer Familienpflegezeit und eines Familienpflegegeldes vorgelegt. Im Kern sieht das Modell des Beirats vor, dass für jede pflegebedürftige Person 36 Monate Familienpflegezeit in Anspruch genommen werden können. Die steuerfinanzierte Freistellung für die Pflegenden soll mit dem Familienpflegegeld analog dem Elterngeld ausgestaltet werden. Dabei liegt der Schwerpunkt des Konzeptes auf der Parallelität von Pflege und Berufstätigkeit.[2]
Weiterer Handlungsbedarf - Vereinbarkeit mit dem Recht der Europäischen Union und völkerrechtlichen Verträgen
Die Richtlinie (EU) 2019/1158 des Europäischen Parlamentes und des Rates vom 20. Juni 2019 zur Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben für Eltern und pflegende Angehörige und zur Aufhebung der Richtlinie 2010/18/EU des Rates ist am 1. August 2019 in Kraft getreten. Sie ist von den Mitgliedstaaten bis zum 2. August 2022 in nationales Recht umzusetzen.
Allerdings legt die Richtlinie 2019/1158 auch individuelle Rechte fest und zwar in Bezug auf die Arbeitsfreistellung für Väter oder gleichgestellte zweite Elternteile anlässlich der Geburt eines Kindes zum Zweck der Betreuung und Pflege, die Arbeitsfreistellung von Eltern anlässlich der Geburt oder Adoption eines Kindes zur Betreuung dieses Kindes (siehe u.a. Nummer 11, 16, 23, 30, 37 der EU-Vereinbarkeitsrichtlinie).
Aus Sicht der BAGFW kann daher die Umsetzung der Richtlinie (EU) 2019/1158 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Juni 2019 zur Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben für Eltern und pflegende Angehörige und zur Aufhebung der Richtlinie 2010/18/EU des Rates auch mit dem vorgelegten Gesetzentwurf der Bundesregierung nicht als abgeschlossen gelten und bedarf einer weiteren gesetzlichen Umsetzung.
Im Koalitionsvertrag wurde als familienpolitisches Ziel die Einführung einer zweiwöchigen vergüteten Freistellung für die Partnerin oder den Partner nach der Geburt eines Kindes festgeschrieben.
Die BAGFW unterstützt mit Nachdruck diese verbindliche (mindestens)10-tägige bezahlte (Elternzeit-) Freistellungsregelung für den Vater/den zweiten gleichgestellten Elternteil rund um den Zeitpunkt der Geburt. Diese Regelungen könnten eine frühe und enge Bindung des Vaters zum Kind, die Unterstützung der Mutter rund um die Geburt und die partnerschaftliche Verteilung von familiären und beruflichen Aufgaben in der Familie fördern.
Entgegen dem Antrag der Abgeordneten Gökay Akbulut, Susanne Ferschl, Matthias W. Birkwald, Ates Gürpinar, Jan Korte, Pascal Meiser, Sören Pellmann, Heidi Reichinnek, Dr. Petra Sitte, Jessica Tatti, Kathrin Vogler und der Fraktion Die Linke, das bestehende Mutterschutzgesetz zu einem Elternschutzgesetz weiterzuentwickeln und darin einen Rechtsanspruch auf Elternschutz festzuschreiben, hält die BAGFW eine Verortung bzw. Verankerung des Rechtsanspruches auf eine vergütete Freistellung für die Partnerin oder den Partner nach der Geburt eines Kindes im Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz (BEEG) für sachgerecht. Denn die erklärten Ziele des BEEG sind zum einen die Gewährung eines finanziellen Schonraums im ersten Lebensjahr eines Kindes, damit sich Familien in dieser Zeit in ihr Familienleben hineinfinden und der Betreuung ihrer Kinder widmen können. Zum zweiten soll das Elterngeld durch die Ausgestaltung als Lohnersatzleistung beiden Elternteilen eine wirtschaftliche Selbstständigkeit ermöglichen wie auch vor einer Kündigung schützen. Drittens wird als explizites Ziel im BEEG formuliert, dass die Teilhabe an Beruf und Familie von Frauen und Männern verbessert werden sollte. Durch das Mutterschutzgesetz als wichtiges Arbeitsschutzgesetz soll dagegen in erster Linie die Gesundheit der Frau und ihres Kindes am Arbeits-, Ausbildungs- und Studienplatz während der Schwangerschaft, nach der Entbindung und in der Stillzeit geschützt werden. Eine Regelung im Mutterschutzgesetz ist daher nicht sachgerecht.
Zu Artikel 4
Änderung des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes
Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes wird für Fragen im Zusammenhang mit Diskriminierungen, die unter die Richtlinie (EU) 2019/1158 fallen, als zuständig bestimmt.
Die BAGFW begrüßt, dass auch Eltern oder pflegende Angehörige unter den Schutz der Antidiskriminierungsstelle des Bundes fallen sollen und damit ihr Schutz vor Schlechterstellung durch Beantragung oder Inanspruchnahme ihrer Rechte erhöht wird.
Abschließende Bemerkung
In der EU Richtlinie zur Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben werden wichtige Mindeststandards definiert. Mit den in dem vorliegenden Gesetzentwurf formulierten Regelungen werden nun weitere Rahmenbedingungen zur Absicherung und Versorgung von Kindern und von pflegebedürftigen Angehörigen sowie von erwerbstätig Pflegenden geschaffen.
Zur Absicherung der Versorgung pflegebedürftiger Menschen sowie zur besseren Vereinbarkeit von Pflege und Beruf sowie zur Unterstützung von Familien, wenn sie sich Erwerbs- und Familienarbeit partnerschaftlich aufteilen wollen, werden diese Mindeststandards jedoch nicht ausreichen. Nach Ansicht der BAGFW sollten deshalb Regelungen bezüglich der Nicht-Übertragbarkeit von Elterngeldmonaten (Nummer 20) der EU-Vereinbarkeitsrichtlinie aufgenommen werden sowie die Empfehlungen des Unabhängigen Beirats für die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf insbesondere zur Familienpflegezeit und zum Familienpflegegeld.
Berlin, 01.11.2022
Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege e.V.
Dr. Gerhard Timm
Geschäftsführer
Kontakt:
Ulrike Gebelein (ulrike.gebelein@diakonie.de)
[1] Nach Angaben des BAFzA sind im Jahr 2021 217 Anträge (von 132 Frauen und 85 Männer) und in 2022 (Stand März 2022) 72
Anträge (45 Frauen und 27 Männer) auf Bewilligung des zinslosen Darlehens eingegangen.
[2] Teilbericht des unabhängigen Beirats für die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf (zweite Berichtsperiode); Stand 1.7.2022
]]>Mit Blick auf anderweitige Überlegungen zum Umgang mit Preissteigerungen ist darauf hinzuweisen, dass es sich hier um die Antwort des Vergaberechts auf die Krise handelt. Daraus ergeben sich keine Rückschlüsse auf andere in der Sozialwirtschaft erprobte und bewährte Wege zur Krisenbewältigung.
Im Einzelnen:
In seinem Schreiben erkennt das BMWK an, dass die gegenwärtige wirtschaftliche Lage die Kalkulation von Angebotspreisen zu einem Risiko macht, das für Anbieter extrem schwer zu kalkulieren ist. Unter diesen Umständen erklärt das Ministerium vorübergehen einen besonders umsichtigen Umgang von Auftragsgeber und Auftragsnehmer mit bestehenden Verträgen aber auch laufenden und anstehenden Vergabeverfahren für erforderlich und gibt Auslegungshinweise zum Umgang mit dieser Situation. Kurz zusammengefasst gibt das BMWK den öffentlichen Auftraggebern
Folgendes mit:
- Jeder Fall verlangt eine Einzelfallbetrachtung. Zu prüfen ist, welche Anpassungen die Haushaltslage mit dem Grundsatz der sparsamen Mittelverwendung und das Vergaberecht zulassen. Grundsätzlich ist es möglich, die Auswirkungen des Ukraine-Kriegs als außergewöhnliches Ereignis zu werten, das die Risikosphären beider Vertragsparteien überschreitet.
- Zulässige Folge dieser Einschätzung kann im Einzelfall eine Anpassung laufender Verträge bzw. die Aufnahme von Preisgleitklauseln in noch abzuschließende Verträge sein.
- Das Schreiben erläutert zudem vergaberechtliche Fragen im Zusammenhang mit der Anpassung bestehender Verträge (Grenzen der Vertragsanpassung aus § 132 GWB, unter II, S. 4) und zur Möglichkeit zur Ergänzung laufender Vergabeverfahren um Preisgleitklauseln (s. unter III, S. 5).
- Insbesondere erläutert das Schreiben die einzelnen möglichen Instrumente der Vertragsanpassung. Dabei weist es darauf hin, dass das Ersuchen und die Begründung von Vertragsanpassungen von den Auftragnehmern ausgehen muss und zu begründen ist.
- Wegfall der Geschäftsgrundlage nach § 313 BGB, S. 2
Hier geht es darum, mit einer Vertragsanpassung oder einem besonderen Rücktrittsrecht auf eine Änderung der Rahmenbedingungen zu reagieren, die so gravierend ist, dass die Parteien bei ihrer Kenntnis den Vertrag nicht in seiner ursprünglichen Form abgeschlossen hätten. Sofern dies der Fall ist und unter diesen neuen Bedingungen ein Festhalten am alten Vertrag für den Anbieter unzumutbar ist, hat er einen Anspruch auf Vertragsanpassung.
In Bezug auf die aktuelle Lage erklärt das BMWK, dass der Ukrainekrieg und seine Folgen grundsätzlich geeignet sind, die Geschäftsgrundlage des geschlossenen Vertrags i.S.v. § 313 BGB zu stören.
Ob der konkret zu bewerten Fall als Störung zu werten ist, sei im Einzelfall im Rahmen einer Gesamtbetrachtung des Vertrages zu prüfen. Nach Aussage des BMWK gibt es keine allgemeinen Werte, deren Überschreitung ohne weiteres als Unzumutbarkeit zu werten ist.
Für die Preisanpassung seitens des Auftraggebers gibt das Ministerium dabei folgende Hinweise: eine umfassende Übernahme aller Mehrkosten schließt es aus und erklärt eine Übernahme von mehr als der Hälfte der Mehrkosten durch den Auftraggeber für „jedenfalls regelmäßig unangemessen“.
Sofern eine Preisanpassung nicht ausreicht, um ein Festhalten am Vertrag zumutbar zu machen, weist das Schreiben ersatzweise auf ein Rücktritts- oder Sonderkündigungsrecht hin. Aber auch hier seien Interessen des Auftraggebers zu berücksichtigen, die gegebenenfalls der vollständigen Beendigung des Vertrags entgegenstehen können.
- Veränderungen von bestehenden Verträgen nach § 58 Bundeshaushaltsordnung, S. 3
Vertragsänderungen, die mit einer Preisanpassung einseitig den Auftragnehmer begünstigen, sind auch ohne Störung der Geschäftsgrundlage i.S.v. § 313 BGB möglich. Bei diesem Anpassungsinstrument entfallen damit auch die komplizierten Einzelfallabwägungen. Eine für den Auftraggeber nachteilige Vertragsänderung ist im begründeten Ausnahmefall zulässig, z. B. wenn die Nichtanpassung des Vertrages für den Anbieter unzumutbar wäre.
Ob die Preisanpassung zum Nachteil des Auftraggebers erfolgt und damit rechtfertigungsbedürftig ist, ist nach Aussage des BMWK im Rahmen einer Gesamtbewertung im Hinblick auf den Auftrag festzustellen; dabei weist das BMWK ausdrücklich darauf hin, dass für diese Prüfung nicht allein die wirtschaftliche Situation des betroffenen Bieters ausschlaggebend ist. Wenn die Preisanpassung die termingerechte Fortführung der Leistungen fördert, liegt von vornherein kein Nachteil für den Auftraggeber vor.
- Wegfall der Geschäftsgrundlage nach § 313 BGB, S. 2
Berlin, 07.10.2022
Bundesarbeitsgemeinschaft
der Freien Wohlfahrtspflege e. V.
Dr. Gerhard Timm
Geschäftsführer
Kontakt:
Dr. Friederike Mußgnug (friederike.mussgnug(at)diakonie.de)
]]>Deutschland hat eine lange Tradition von gemeinnützigen Erbringern sozialer Dienstleistungen. Die sechs Verbände der Freien Wohlfahrtspflege (FW) sind die größten Anbieter gemeinnütziger Sozialdienstleistungen in Deutschland mit 1,9 Millionen Beschäftigten und etwa 3 Millionen Freiwilligen. Die besondere Rolle der Freien Wohlfahrtspflege ergibt sich aus dem Sozialstaatsprinzip in Artikel 20 Absatz 1 des Grundgesetzes sowie dem Subsidiaritätsprinzip. Soweit durch die vorgesehenen Vorschläge die Stärkung eines größeren zivilgesellschaftlichen Zusammenhalts in Europa, die Vereinfachung von grenzüberschreitenden Projekten sowie der Schutz von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedsstaaten erreicht wird, begrüßen wir dies. Wir stellen fest, dass zivilgesellschaftliche Organisationen in einzelnen EU-Staaten unter politischem Druck stehen und ihre zivilgesellschaftliche Funktion nur eingeschränkt wahrnehmen können. Dies sind aber aus unserer Sicht Probleme in einzelnen EU-Staaten, die insbesondere über einen durchsetzungsstarken EU-Rechtsstaatsmechanismus gelöst werden sollten.
Die EU-Kommission bezieht im Fragebogen der Konsultation den Begriff „Verein“ auf die Rechtsform von Vereinen oder Wohltätigkeitsorganisationen, sofern es sich um mitgliedschaftsbasierte Organisationen von Personen handelt. Die Einrichtungen und Träger der Freien Wohlfahrtspflege sind häufig in Unternehmensverbünden tätig. Diese können neben Vereinen, insbesondere Stiftungen und gGmbHs, aber auch gemeinnützige Genossenschaften und gemeinnützige Aktiengesellschaften umfassen. Die EU-Kommission beabsichtigt die Rechtslage europäischer Vereine und anderer Organisationen ohne Erwerbszweck im Hinblick auf die grenzüberschreitende Anerkennung und die Regelungen zu grenzüberschreitenden Tätigkeiten zu harmonisieren und zu stärken. In den von der Kommission vorgesehenen Analysen und Studien zu den geplanten Legislativvorschlägen sind in Bezug auf die Freie Wohlfahrtspflege auch etwaige Auswirkungen auf die übrigen Einrichtungen in nicht mitgliedschaftsbasierten Rechtsformen, insbesondere innerhalb eines Unternehmensverbundes, zu bedenken.
Ein prägendes Merkmal der Einrichtungen der Freien Wohlfahrtspflege ist die Gemeinnützigkeit. Die Gemeinnützigkeit bestimmt das Organisationsrecht der gemeinnützigen Körperschaft. Sie stellt sicher, dass die vorhandenen Mittel effizient und zeitnah zu Gunsten der hilfsbedürftigen Menschen verwandt werden. Das deutsche Gemeinnützigkeitsrecht ist durch eine hohe Regelungsdichte gekennzeichnet. Gemeinnützige Körperschaften arbeiten selbstlos. Die Selbstlosigkeit bedeutet dabei keine Reduzierung auf ein Gewinnausschüttungsverbot. Gemeinnützigkeitsrechtlich gebundene Mittel, sind ausschließlich für die satzungsmäßigen Zwecke einzusetzen. Es besteht ein Drittbegünstigungsverbot. Danach müssen zum Beispiel von der Körperschaft gezahlte Gehälter stets angemessen und verhältnismäßig sein. Es besteht ein Gebot der zeitnahen Mittelverwendung. Danach sind gemeinnützigkeitsrechtlich gebundene Mittel innerhalb von zwei Kalender- oder Wirtschaftsjahren für die steuerbegünstigten satzungsmäßigen Zwecke zu verwenden. Nach dem Ausschließlichkeitsgebot darf die gemeinnützige Körperschaft nur ihre steuerbegünstigten satzungsmäßigen Zwecke verwirklichen. Nach dem Unmittelbarkeitsgebot muss eine gemeinnützige Körperschaft die steuerbegünstigten Zwecke unmittelbar selbst bzw. durch eine Hilfsperson verwirklichen. Sollte eine Hilfsperson eingeschaltet sein, sind die rechtlichen und tatsächlichen Beziehungen zwischen Körperschaft und Hilfsperson, wie eigenes Wirken der Körperschaft anzusehen. Die Umsetzung der Regelungen führt in den Einrichtungen der Freien Wohlfahrtspflege zu einem erheblichen Aufwand. Die Gemeinnützigkeit stellt somit ein Gütesiegel für die Tätigkeit der Einrichtungen der Freien Wohlfahrtspflege in Deutschland dar.
Das Gemeinnützigkeitsrecht ist stark nationalstaatlich geprägt. Dies entspricht auch dem Subsidiaritätsgedanken der Sozialpolitik und der Sozialgesetzgebung in Deutschland. Eine Berücksichtigung bzw. Anerkennung der Gemeinnützigkeit im europäischen Recht würden wir prinzipiell begrüßen. Die in der Verordnung über das Statut für den europäischen Verein vorgeschlagene Regelung der Gemeinnützigkeit wird dem nicht gerecht. Dies gilt auch für den vorgeschlagenen Gemeinnützigkeitsstatus der Mindeststandardrichtlinie. Eine Reduzierung der Gemeinnützigkeit auf ein reines Gewinnausschüttungsverbot lehnen wir ab. Sofern in den Tätigkeitsbereichen der Freien Wohlfahrtspflege in Deutschland künftig Unternehmen und Einrichtungen der Freien Wohlfahrtspflege nach dem bisherigen deutschen Gemeinnützigkeitsrecht parallel zu Unternehmen mit einer Gemeinnützigkeit „light“ im Wettbewerb stehen, führt dies zu signifikanten Wettbewerbsnachteilen für die Einrichtungen der Freien Wohlfahrtspflege. Von den Wettbewerbsnachteilen wären auch weitere gemeinnützige Unternehmen betroffen, die sich z.B. in den Arbeitsbereichen Heimerziehung, Blindenfürsorge oder Wissenschaft und Forschung wirtschaftlich betätigen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Freie Wohlfahrtspflege in Deutschland soziale Dienstleistungen und eine kostenintensive soziale Infrastruktur in allen Bereichen der sozialen Daseinsvorsorge, unabhängig von ihrer Rentabilität aufrechterhält. Die Stabilität dieser sozialen Infrastruktur und der dort erbrachten Leistungen für hilfsbedürftige Menschen wäre gefährdet.
Um dies zu vermeiden, fordern wir eine Streichung der Regelungen zur Gemeinnützigkeit in der Verordnung über das europäische Vereinsstatut und in der Mindeststandardrichtlinie.
Die Mindeststandardrichtlinie soll nach den Vorschlägen des Europäischen Parlaments für alle Organisationen „ohne Erwerbszweck“, mithin auch für Stiftungen oder gGmbHs, gelten. Mehrere Vorschriften des Richtlinienvorschlages setzen die Existenz von Mitgliedern einer Organisation ohne Erwerbszweck voraus und passen daher nicht auf Stiftungen oder gGmbHs. Die Überlegungen der EU-Kommission zu einer Beschränkung auf Vereine begrüßen wir daher. Im Interesse einer erleichterten grenzüberschreitenden Zusammenarbeit von Vereinen unterstützt die BAGFW die vorgeschlagenen Bestimmungen, die einer gegenseitigen Anerkennung förderlich sind. Insbesondere trifft dies auf das Prinzip der Nichtdiskriminierung zu, auf die Vereinfachung von Verwaltungsvorschriften in einer der vielfältigen Vereinstätigkeiten adäquaten Art und Weise, auf das Recht auf eine gute Verwaltung sowie auf das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf.
Die Regelungen zum europäischen Vereinsstatut müssen nach ihrer Einführung periodisch evaluiert werden. Eine starre Regelung zum europäischen Vereinsstatut wird den aktuellen dynamischen Prozessen nicht gerecht.
Die Sondierung kann auf der Webseite der Europäischen Kommission eingesehen werden: https://ec.europa.eu/info/law/better-regulation/have-your-say/initiatives/13538-Binnenmarkt-Vorschlag-fur-eine-Gesetzgebungsinitiative-zu-grenzuberschreitenden-Tatigkeiten-von-Vereinen/F3352904_de.
]]>Deutschland hat eine lange Tradition von gemeinnützigen Erbringern sozialer Dienstleistungen. Die sechs Verbände der Freien Wohlfahrtspflege (FW) sind die größten Anbieter gemeinnütziger Sozialdienstleistungen in Deutschland mit 1,4 Millionen Beschäftigten und über 3 Millionen Freiwilligen.
Die Unternehmen und Träger der FW können im Rahmen des deutschen Gemeinnützigkeitsrechts nur begrenzt Überschüsse erzielen, müssen diese in ihren sozialen Zweck reinvestieren und können nur begrenzt Rücklagen bilden. Sie sind bei der Wahl ihres Geschäftsfeldes und ihrer Mittelverwendung ausschließlich an die bestehenden gemeinnützigen Zwecke der Abgabenordnung gebunden. Dies unterscheidet sie maßgeblich von nicht-gemeinnützigen Erbringern von sozialen Dienstleistungen. Eine Gewinnausschüttung ebenso wie eine Begünstigung Dritter ist nach deutschem Gemeinnützigkeitsrecht nicht möglich. Deshalb brauchen die gemeinnützigen Unternehmen und Träger der FW u.a. maßgeschneiderte EU-Förderprogramme, die sie zum Beispiel bei der Umsetzung des „European Green Deals“, zur Digitalisierung ihrer Einrichtungen und Dienste oder bei der kurzfristig anfallenden Unterbringung und Inklusion von geflüchteten Menschen unterstützen. Als gemeinnützige Unternehmen und Träger können sie solche Investitionen nur bedingt aus ihren Rücklagen finanzieren und brauchen entsprechend niedrige Ko-Finanzierungssätze, kurze Erstattungsfristen oder Vorauszahlungen bei europäischen oder nationalen Förderprogrammen sowie eine unbürokratische Förderung.
Eine weitere Herausforderung für die FW stellt das EU-Beihilfenrecht dar. Viele Aktivitäten der FW fallen unter das EU-Beihilfenrecht und die für die Dienstleistungserbringung benötigten öffentlichen Gelder übersteigen schnell die Schwellenwerte der De-minimis Verordnung für Dienstleistungen von Allgemeinem Wirtschaftlichen Interesse (DAWI). Als FW fordern wir deshalb eine Anhebung der Schwellenwerte auf 1,5 Mio. in drei Steuerjahren.
Das deutsche Gemeinnützigkeitsrecht enthält eine partielle Steuerbefreiung für gemeinnützige Organisationen und bestimmt über das Organisationsrecht maßgeblich die komplexen, rechtlichen Rahmenbedingungen eines gemeinnützigen Unternehmens. Die Standards der Überprüfung des Gemeinnützigkeitsrechts/ NPO-Rechts in den europäischen Ländern sind sehr unterschiedlich. Bei der Regelung grenzüberschreitender Aktivitäten von Vereinen müssen diese Besonderheiten Berücksichtigung finden. Für eine reibungslose Erfüllung der sozialen Aufgaben der gemeinnützigen Unternehmen und Träger bedarf es einer permanenten Anpassung des nationalen Rechtsrahmens an aktuelle Gegebenheiten. Notwendige Anpassungen können mit wettbewerbsrechtlichen Regelungen kollidieren. Wir fordern eine unionsrechtliche Sicherung des nationalen Gemeinnützigkeitsrechts sowie rechtssichere und klare Regelungen für notwendige Anpassungen.
Weiterhin stellt das EU-Vergaberecht die FW vor Herausforderungen. Die EU-Vergaberechtsrichtlinie gibt Behörden die Möglichkeit auch soziale und nachhaltige Kriterien bei der Auswahl zu berücksichtigen. In der Praxis entscheidet aber leider i.d.R. der Preis über den Zuschlag bei einem Vergabeverfahren. Die Verbände der FW fordern deshalb, dass bei einer Überarbeitung der EU-Vergaberechtsrichtlinie die Berücksichtigung von sozialen und ökologischen Kriterien verbindlich vorgeschrieben wird.
Schließlich unterstützt die BAGFW ausdrücklich die Empfehlungen der EWSA-Stellungnahme INT/906 „Stärkung der gemeinnützigen Sozialunternehmen als wesentliche Säule eines sozialen Europas“ vom 8.9.2020.
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Stellungnahme der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) zum Entwurf der Förderrichtlinie „Klimaanpassung in sozialen Einrichtungen“ (AnpaSo)
Wir freuen uns sehr, dass das Programm verstetigt wird, denn der Bedarf an Klimaanpassungsmaßnahmen in sozialen Einrichtungen ist durch den fortschreitenden Klimawandel enorm.
Deshalb ist unsere wichtigste Anmerkung, dass die Ausstattung des Förderprogramms mit insgesamt 60 Millionen Euro für die Jahre 2023 bis 2026 unserer Ansicht nach die Bedarfe bei Weitem nicht decken wird. Schon die eingesetzten Fördermittel von 150 Millionen Euro für die Jahre 2020 bis 2023 waren im ersten Förderfenster 2020 ausgeschöpft und viele Antragstellende konnten nicht berücksichtigt werden. Die als zu gering eingeschätzte Ausstattung des Förderprogramms wirkt zudem hemmend auf die Motivation der Antragstellenden, da der Aufwand einen Antrag einzureichen in keinem guten Verhältnis zur Förderwahrscheinlichkeit steht.
Wir begrüßen sehr, dass nun auch auf übergeordneter Ebene eines freien Trägers Personalausgaben für „Beauftragte für Klimaanpassung in der Sozialwirtschaft“ gefördert werden können. Wir fänden es sehr wünschenswert, wenn auch auf regionaler Ebene die Möglichkeit zur Schaffung von Personalstellen für dieses Thema möglich wäre, um eine gezielte Betreuung einzelner Einrichtungen (z.B. bei der Antragstellung) gewährleisten zu können. Eine Konkretisierung, wer genau antragsberechtigt ist, wäre sehr hilfreich.
Wir begrüßen die Möglichkeit einer Anschlussförderung.
Unsere Anmerkungen für eine mögliche Verbesserung des Antrags- und Umsetzungsverfahrens sind folgende:
- Antragsfristen und Projektzeiträume sollten mit den angestrebten Maßnahmen harmonieren. Das bedeutet, dass zum Beispiel Arbeiten wie Begrünungen nicht im Herbst oder Winter durchgeführt werden können.
- Die Zeiträume für die Umsetzung der Maßnahmen dürfen nicht zu eng gefasst sein. Denn die aktuellen Schwierigkeiten bei eingeschränkten Lieferketten und Handwerker:innenmangel müssen Berücksichtigung finden.
- Der Antrag und die Bewilligung dürfen nicht zu weit auseinanderliegen, da sonst Angebote ablaufen und Preise ggf. steigen. Hierdurch entsteht ein wirtschaftliches Risiko und ein doppelter Aufwand bei Antragstellenden und Anbieter:innen.
- Einzelne Maßnahmen benötigen bei der Beantragung umfassende Vorabanalysen. Diese standen in der Vergangenheit zum Teil nicht im Verhältnis zur Maßnahme als solche. Zudem waren aufgrund des engen Antragsfensters viele Berater:innen ausgelastet und schwer zu buchen.
- Der bisherige erforderliche Einsatz nachweislich qualifizierter Personen für die Antragskonzepte ist schwierig umzusetzen. Der Antrag sollte möglichst niedrigschwellig sein, so dass auch kleinere Einrichtungen davon profitieren können.
- In diesem Zusammenhang ist das Augenmerk im Auswahlverfahren auf Antragstellende mit einem breiten Netzwerk als schwierig anzusehen, da besonders bei kleinen Trägern Mittel für die Klimaanpassung fehlen und es dringend Mittel braucht, um investive Anpassungsmaßnahmen durchzuführen.
- Eine Förderquote von 100 Prozent bei investiven Maßnahmen wäre speziell für kleinere Träger ein wichtiger Baustein.
- Zu 5.3 Zuwendungsfähige Ausgaben Förderschwerpunkte 1 und 2:
Es werden keine Personalkosten zur Leitung/Koordinierung des Vorhabens gefördert. Diese Leistungen müssen jedoch erbracht werden, insbesondere dann, wenn überwiegend externe Leistungen zur Umsetzung eingesetzt werden. Hier würden wir gerne anregen, dass Personalkosten (ggf. in definiertem Umfang und Eingruppierung) als förderfähige Kosten aufgenommen werden, unter der Bedingung, dass die Personalkosten ausschließlich als Eigenleistung erbracht werden. Mit einer solchen Regelung könnte:
- Die notwendig zu erbringende Leistung der Koordination dargestellt werden.
- Vor allem kleinere Einrichtungen, die bare (ungebundene) Eigenmittel mitunter nur schwer aufbringen können, könnten so die Förderung beantragen.
- Die maximale Fördersumme im FSP 1 beträgt 100.000 EUR. Eine Konkretisierung, ob die förderfähigen Gesamtkosten bei einer Förderquote von 90% dann bei 111.111,00 € liegen, wäre sehr hilfreich.
- Die Bereitstellung von Arbeitshilfen wie die erwähnte Fortschrittsmatrix zum Grad der Klimaanpassung, zu De-minimis und AGVO wären wünschenswert.
- Die Beweiserbringung mittels Fotos erwies sich in der Vergangenheit als aufwändig und wenig praktikabel, da die Anforderungen an die Fotos nicht klar waren.
Unsere Anmerkungen zu den vorgeschlagenen naturbasierten Lösungen im Förderschwerpunkt 2:
- Solar-Gründächer zur Kombination aus Begrünung und Stromerzeugung und Smart-Home-Technologien für Soziale Einrichtungen, z.B. zur Steuerung von Heizungs- / Kühlungsanlagen und intelligente Verschattungssysteme (Jalousien) sollten auch förderfähig sein.
Neben dem Globalen Verhaltenskodex der WHO für die internationale Anwerbung von Gesundheitsfachkräften sind kaum Maßstäbe guter Praxis für ethisch vertretbare Personalgewinnung in Drittstaaten vorhanden.
In Anbetracht des entstandenen undurchsichtigen Marktes für die Anwerbung von Pflegepersonal hatte die BAGFW die Schaffung eines Gütesiegels zur Bescheinigung von ethischen, nachhaltigen und qualitativ hochwertigen Personalgewinnungsprozessen im Sommer 2021 grundsätzlich begrüßt.
Zugleich hatte die BAGFW auch kritisch auf die Ausgestaltung des Prüfsystems hingewiesen und infrage gestellt, dass mit diesem die Qualitätsstandards sowohl in den Herkunftsländern als auch nach der Einreise der Adressaten in Deutschland ausreichend gewährleistet werden können. Unklar blieb vor allem, welche Maßnahmen in den Herkunftsländern ergriffen werden, damit Menschen besser zwischen seriösen und unseriösen Anbietern, die immer wieder Geld von den Adressaten verlangen oder einen Teil der ersten Monatslöhne bzw. in unseriöse Beschäftigungsverhältnisse vermitteln, unterscheiden können.
Vor dem Hintergrund der geäußerten Kritikpunkte und den ersten Erfahrungen mit dem Gütesiegel aus dem Jahr 2021/2022 ist die jetzt angedachte Weiterentwicklung des Gütesiegels „Faire Anwerbung Pflege Deutschland“ folgerichtig. Die BAGFW bedankt sich für die Einbeziehung und nutzt die Möglichkeit zur Stellungnahme.
Zu ausgewählten Weiterentwicklungsvorschlägen des Anforderungskataloges sowie der Durchführungsbestimmungen im Einzelnen:
- Anforderungskatalog mit den Güte- und Prüfbestimmungen
Gütebereich I: Information zur Erwerbsmigration in die Pflege nach Deutschland
Gütebereich I der Siegelanforderungen umfasst die Kriterien Berufsfeld, Erwerbstätigkeit, Einwanderungsprozess und Integrationsförderung, Anerkennungsprozess, Spracherwerb, neutrale Beratung und sonstige Überstützung und neu aufgenommen die Weitergabe der Informationsgrundlage, zu denen der Gütesiegeltragende sich verpflichtet nachweislich Informationen zur Verfügung zu stellen.
Die BAGFW hat bereits im Jahr 2021 angemerkt, dass der Indikator 1.2.2. einer Ergänzung hinsichtlich der Möglichkeiten der zusätzlichen Alterssicherung bedarf.
Die Präzisierung von weiterzugebenden Informationen im Kriterium 1.4. zu Wahlmöglichkeiten und verschiedenen Optionen bei den Ausgleichmaßnahmen, die internationale Pflegekräfte im Rahmen des Anerkennungsprozesses ggf. zu durchlaufen haben, werden von der BAGFW begrüßt, insbesondere im Hinblick auf die möglichen Verknüpfungen zum Arbeitsplatzangebot.
Zu den Anpassungen bei Kriterium 1.5 (Spracherwerb) bringt die BAGFW zum Ausdruck, dass qualitativ hochwertige Sprachschulkurse für den Sprachlernerfolg unerlässlich sind und ein angemessenes hohes Sprachniveau der internationalen Pflegekräfte zentral für die Berufsausübung ist. Es wird begrüßt, dass Unternehmen im Vorfeld aufgefordert sind, Qualitätskriterien der Sprachschulkurse zu überprüfen und die Pflegekräfte darüber zu informieren. Es sollten nur die Sprachschulkurse empfohlen werden, welche den GER-Kriterien genügen. Im Indikator 1.5.2 wurde der Passus „die in der Pflege praktizierte Fachsprache“ gestrichen. Dieser Passus ist ergänzend wieder aufzunehmen: „die in der Akut- und Langzeitpflege praktizierte Fachsprache“. Außerdem sollte erklärt werden, wer die Kosten zum adäquaten
(Fach-)Spracherwerb zu tragen hat.
Die Einführung des neuen Kriteriums 1.7 zur verpflichtenden Weitergabe der Informationssammlung „Informationen zur Erwerbsmigration in die Pflege nach Deutschland“ (KDA) in unveränderter Form wird im Hinblick auf Einheitlichkeit, Standardisierung und Vergleichbarkeit der Informationsweitergabe begrüßt.
Gütebereich II: Unternehmensverantwortlichkeit
Gütebereich II umfasst Vorgaben zum Leitbild eines anwerbenden “Unternehmens”, Vorgaben zu den AGBs und zu öffentlich zu machenden Informationen.
Zu den Anpassungen der Unternehmensgrundsätze (Kriterium 2.1) stellt die BAGFW fest, dass die in der vorherigen Fassung des Indikators 2.1.1 geforderten „Bekenntnisse“ der Unternehmen in „Selbstverpflichtungen“ abgeändert wurden. Ob dies die Verbindlichkeit erhöht und eine entsprechende Wirkung bei den siegelbewerbenden und siegeltragenden Unternehmen erzielt, bleibt abzuwarten. Ausdrücklich begrüßt werden die detaillierteren Ausführungen zu den Selbstverpflichtungen im Hinblick auf das „Employer Pays Prinzip“ und der Selbstverpflichtung, dass nicht in Vertragsverhältnisse angeworben wird, in denen Rückzahlungs- und Bindungsklauseln enthalten sind.
Hinsichtlich der beschriebenen Vorgaben an das Unternehmen und Geschäftspartner unter Kriterium 2.2, wird die stärkere Trennung zwischen PSA und selbstanwerbenden Unternehmen grundsätzlich begrüßt (siehe Indikator 2.2.1). So werden die PSA dazu angehalten, Leitlinien wie das „Employer Pays Prinzip“ und die gütesiegelkonformen Unternehmensgrundsätze (auch im Hinblick der Beachtung des Verhaltenskodex der WHO) in ihre AGB aufzunehmen. Weiterhin sieht die BAGFW positiv, dass die PSA dazu angehalten wird, das betriebliche Integrationsmanagementkonzept des Kunden auf Vollständigkeit zu überprüfen wie auch Integrationsmanagementkonzepte im Hinblick auf die Ermöglichung des Familiennachzugs zu erweitern. Im Indikator 2.2.1, dass, „das Unternehmen zu einem Arbeitsplatzangebot ein übersetztes, verschriftlichtes, betriebliches Integrationsmanagementkonzept vorlegt“ sollte die Präzisierung „in der Verkehrssprache des jeweiligen Landes“ eingeführt werden, analog zu 2.2.7. und 2.3.7.
Die BAGFW begrüßt ferner die Konkretisierung der vorgesehenen schriftlichen Qualifizierungsvereinbarung. Zentral sind insbesondere die zuzusichernden Kostenübernahmen der Leistungen und der Ausschluss von Rückzahlungsverpflichtungen bei Abbruch des Qualifizierungsprozesses.
Gütebereich III: Transparenz im Vermittlungsprozess für internationale Pflegekräfte gewährleisten
Der dritte Gütebereich stellt sicher, dass Pflegekräfte ausreichend Informationen zum persönlichen Prozess der Anwerbung erhalten. Dieser enthält Vorgaben mit Transparenzansprüchen an Prozesse zwischen dem Unternehmen, gegebenenfalls seinen Kunden und internationalen Pflegekräften.
Die Herstellung von Transparenz im Vermittlungsprozess ist zentraler Bestandteil einer ethisch vertretbaren Anwerbung von ausländischen Arbeits- und Fachkräften in der Pflege. Wirkliche Transparenz kann nur durch individualisierte Informationen, die sich auch tatsächlich auf das konkrete Arbeitsangebot beziehen, hergestellt werden. Globale Informationen (“Hochglanzbroschüren”) einer Personalserviceagentur (PSA), die nicht auf die individuelle Anwerbesituation passen, sind nur bedingt hilfreich.
Vor diesem Hintergrund begrüßt die BAGFW die angedachten Konkretisierungen und Individualisierungen in den Kriterien 3.1, 3.2 und 3.3 ausdrücklich und befürwortet, dass die Informationen vor Abschluss eines Arbeitsvertrages der internationalen Pflegekraft zur Verfügung gestellt werden müssen.
Die BAGFW lehnt jedoch, bezüglich der Ausrichtung des Matchings (Kriterium 3.2), den Empfehlungscharakter ab und spricht sich für einen verpflichtenden Austausch mit dem zukünftigen Arbeitgeber aus.
Im besonderen Maße gilt die Herstellung der Transparenz hinsichtlich der tatsächlichen Kostenbeteiligung für die angeworbene Person. Um Missbrauch zu vermeiden, dürfen keine versteckten Kosten bestehen; die angeworbene Pflegekraft muss bereits vor Unterzeichnung des Arbeitsvertrages über die vollständige Aufstellung der Kosten verfügen.
Die Herauslösung der Kriterien 3.4 (Kooperationen) und 3.5 (Beschwerden) aus dem Gütebereich III ist akzeptabel, sofern diese wichtigen Aspekte auch in der angepassten Systematik ausreichend deutlich dargestellt werden. Insbesondere müssen angeworbenen Personen die Möglichkeiten für Beschwerden transparent dargelegt werden. Hier haben alle Akteure im Anwerbeprozess eine herausgestellte anwaltschaftliche Verantwortung der Pflegekraft gegenüber. Zusätzlich ist zu gewährleisten, dass eine geeignete Stelle benannt wird, um mit möglichen Diskriminierungserfahrungen seitens der Pflegekräfte aufgrund von ethnischen bzw. religiösen Zugehörigkeiten, oder Hautfarbe umzugehen, da in der Praxis von solchen Erfahrungen nicht selten berichtet wird. In diesem Fall sollte die Definition von Beschwerde auch auf dem geeigneten Schutz von Diskriminierung erweitert werden. in diesem Zusammenhang sollten die angeworbenen Pflegekräfte über die Schutzmaßnahmen und Instrumente bereits im Rahmen der Anwerbung sensibilisiert/informiert werden.
Gütebereich IV: Gewährleistung der Transparenz im Vermittlungsprozess für Kunden
Der vierte und letzte Gütebereich umfasst ausschließlich Vorgaben für Personalserviceagenturen zur Informationstransparenz und zu Prozessen zwischen PSA, deren Kunden und den anzuwerbenden Pflegekräften.
Die BAGFW begrüßt auch hier die Präzisierungen und Individualisierungen und erachtet die Transparenzanforderungen für maßgebend für faire Anwerbeprozesse.
Die BAGFW begrüßt, bezüglich der Ausrichtung des Matchings (Kriterium 4.2), die Ergänzung 4.2.3 grundsätzlich. Jedoch lehnen wir auch hier den Empfehlungscharakter ab und sprechen uns für einen verpflichtenden Austausch mit dem zukünftigen
Arbeitnehmer aus.
Wie bereits im Gütebereich III zum Ausdruck gebracht, ist die Herauslösung der Kriterien 4.4 (Kooperationen) und 4.5 (Beschwerden) aus dem Gütebereich IV akzeptabel, sofern diese wichtigen Aspekte auch in der angepassten Systematik ausreichend deutlich dargestellt werden.
Weiterhin fordert die BAGFW weitere Transparenzanforderungen zum Recruitingprozess im Herkunftsland selbst. Aus Sicht der BAGFW wird seitens einiger PSA, aufgrund der Zusammenarbeit mit unseriösen Partnern vor Ort, häufig (absichtlich/unab-sichtlich) gegen eine faire Anwerbung verstoßen. Das Gütesiegel kann nur durch möglichst strenge Transparenzanforderungen einem Missbrauch vorbeugen.
- Durchführungsbestimmungen als Vorgabe an die Erteilungsstelle
Zur Weiterentwicklung des Gütesiegels
Im Abschnitt 2.3 ist festgehalten, dass die Gütesiegel-Erteilungsstelle unangemeldete Betriebsprüfungen vornehmen und Betriebe besichtigen dürfen soll. Hierzu sollten konkrete Regelungen fixiert und den das Gütesiegel verwendenden Betrieben mitgeteilt werden. Hier werden insbesondere die Themen Zutrittsverweigerung durch nicht informierte Beschäftigte und Haftungsfragen beim Betreten der Betriebe durch Dritte geklärt werden müssen. Das gilt insbesondere auch für die unter 4.4. genannten Zutritte durch Fremdprüfer (Ausweis, Legitimation, Haftung).
Zudem regt die BAGFW bei der Erstprüfung (4.1.1) nachstehende Formulierungsanpassung an. Es sollte heißen: „Bei der Erstprüfung der Erteilungsvoraussetzung werden 10% der angeworbenen, bzw. an der Anwerbung interessierten Pflegekräfte befragt. Hier muss ferner festgelegt werden, dass der Antragsteller keine Kenntnis darüber hat, welche Pflegekräfte befragt werden. Diese sind außerdem im Losverfahren zu ermitteln.“ Diese Regelung ist auch analog bei der Fremdüberwachung (4.1.3) anzuwenden. Ein „kann“ ist nicht ausreichend.
Unter 6.2 wird der Fall geschildert, dass bei Abweisung einer Beschwerde eines Gütesiegelträgers gegen eine Erteilungsstelle der Beschwerdeführer binnen vier Wochen nach Zustellung den Rechtsweg beschreiten kann. Hier sollte gründlich geprüft werden, inwieweit es bei Beschwerdeabweisungen nicht zu unvorhersagbaren Schadensersatzforderungen kommen könnte.
Bei den nun vorliegenden Anpassungsvorschlägen zu den Vorgaben für die Erteilungsstelle (Durchführungsbestimmungen) ist die Thematik “Fremdprüfung” nach wie vor virulent. Fremdprüfer sollen die Möglichkeit erhalten, bis zu 10 % der vermittelten Kandidatinnen und Kandidaten zu befragen, ob die Vermittlungsprozesse tatsächlich wie dokumentiert erfolgt sind. Hier muss konkretisiert werden, wie die Auswahl der Befragten stattfinden soll. Für die BAGFW ist zu hinterfragen, wer über die auszuwählenden 10 Prozent der Vermittelten entscheidet und ob alle Vermittelten von Anfang an ihre Einwilligung, befragt zu werden, gegeben haben. Sollen die Befragungen offen oder anonym (zur Nachteilsvermeidung bei kritischen Antworten) erfolgen?
Beim Punkt kostenpflichtiger Fremdüberprüfung ist aus Sicht der BAGFW ferner zu klären, wer der Erbringer der Prüfungsleistung ist (Gütesiegel-Erteiler selbst oder Fremdprüfer im Auftrag) und wie die Leistungsausschreibung und Angebotsvergabe konkret erfolgen soll.
Beim “Kodex für Anwerbung” wird angesprochen, dass dieser für “alle Vereinsmitglieder” verpflichtend sein soll. Hier ist zu klären, wie dieser Verein beschaffen sein soll (Satzung), wer Mitglied werden kann und wie der Vorstand (Haupt- oder Ehrenamt) besetzt werden soll?
In den Erläuterungen des KDA wird beschrieben, “dass eine mit dem Gütesiegel ausgezeichnete Agentur oder selbstanwerbende Einrichtung dem „Geschädigten“, die bisher für die Vermittlung und Anwerbung entstandenen Kosten erstattet.” Hier bedarf es unbedingt der Definition eines wie auch immer gearteten Schadens.
Arbeitgeber sollen als eine unter verschiedenen Voraussetzungen auch durch den Nachweis eines betrieblichen Integrationsmanagementkonzepts das Gütesiegel erwerben können. Gleichzeitig wird erläutert, dass eine Überprüfung der Umsetzung des betrieblichen Integrationsmanagementkonzeptes durch die Gütegemeinschaft nicht gewährleistet werden kann. Die BAGFW regt diesbezüglich eine Präzisierung an sowie der Benennung von hierfür kompetenten Partnern, ähnlich wie es im Zusammenhang mit der Sprachkompetenz der Angeworbenen vorgesehen ist. (Goethe-Institut)
]]>Damit sowohl die effektive, transparente und unbürokratische Erbringung sozialer Dienstleistungen auf der einen und auf der anderen Seite die Beachtung des EU-Beihilferechts gewährleistet ist, muss nicht nur die rechtmäßige Anwendung der Vorschriften durch alle Akteure erfolgen, sondern müssen auch vereinfachende und praxistaugliche Anpassungen der relevanten Vorschriften vorgenommen werden. Hierzu gehören u.a. die (allg.) De-minimis-Verordnung (1407/2013) sowie die DAWI-De-minimis-Verordnung (360/2012).
Zur korrekten Anwendung des EU-Beihilfenrechts gehört auch deren Nicht-Anwendung, wenn die Tatbestandsvoraussetzungen des Art. 107 AEUV nicht vorliegen.
Zudem müssen die Transparenzanforderungen möglichst einfach gestaltet sein, so dass auf allen Ebenen der Verwaltung eine unbürokratische und dennoch nachweisbare Nutzung des Instruments der De-minimis-Beihilfen erfolgt.
Konkret sollte der Schwellenwert von De-minimis-Beihilfen i.H.v. derzeit 200.000 EUR auf Grundlage der Verordnung 1407/2013 deutlich angehoben werden. Da die ursprüngliche Festsetzung in der Verordnung 1998/2006 bereits 16 Jahre zurückliegt, ist schon mit Blick auf Preis- und Inflationsentwicklungen eine signifikante Anpassung zwingend erforderlich. Mit Blick darauf, dass mit einer weiteren Anhebung des Schwellenwerts erst wieder in einigen Jahren zu rechnen ist, sind auch zukünftige Preis- und Inflationsentwicklungen zu berücksichtigen.
In jedem Fall muss bei einer Anhebung der Geringfügigkeitsgrenze im Rahmen der Verordnung 1407/2013 auch eine Anhebung des Schwellenwerts für Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse (DAWI) gem. Verordnung 360/2012 erfolgen. Dieser liegt aktuell bei 500.000 EUR in drei Steuerjahren (Art. 2 Abs. 2). Eine Anhebung auf 1,5 Mio. EUR in drei Steuerjahren würde eine bessere Praxistauglichkeit der Verordnung sicherstellen. DAWI dienen vorwiegend der lokalen Daseinsvorsorge. Ihre Anbieter sind in der Regel nur lokal, höchstens regional tätig. Auch die EU-Kommission ist u.a. der Auffassung, dass bei Beihilfenempfängern, die Waren oder Dienstleistungen nur in einem geografisch begrenzten Gebiet in einem Mitgliedstaat anbieten und bei denen es unwahrscheinlich ist, dass Kunden aus anderen Mitgliedstaaten gewonnen werden, ein Indiz vorliegt, dass keine Auswirkung auf den Handel zwischen den Mitgliedstaaten gegeben ist (vgl. Bekanntmachung 2016/C 262/01 vom 19.7.2019, Rz. 196).
Vor allem üben Erbringer von DAWI diese Tätigkeit üblicherweise nicht mit Gewinnerzielungsabsicht aus und sind auch in Gebieten tätig (etwa dem ländlichen Raum), die für gewinnorientierte Anbieter wirtschaftlich unrentabel sind. Es ist dadurch weniger wahrscheinlich, dass diese Leistungen auch durch (potenzielle) Wettbewerber aus anderen Mitgliedstaaten angeboten werden. Das bedeutet aber auch, dass insbesondere DAWI-Erbringer, die ohne Gewinnerzielungsabsicht tätig sind, häufig auf externen Finanzierungsbedarf angewiesen sind. Wägt man die besondere gesellschaftliche Rolle sowie den spezifischen Finanzierungsbedarf vieler DAWI-Erbringer auf der einen mit dem geringen Risiko einer signifikanten Auswirkung auf den Wettbewerb und Handel zwischen den Mitgliedstaaten auf der anderen Seite ab, ist ersteres im Ergebnis deutlich stärker zu gewichten und muss sich daher auch in einer Anhebung des Schwellenwerts widerspiegeln.
Weitere konkrete Forderungen sind unserer beigefügten Stellungnahme zu entnehmen, die hier (in deutscher und englischer Sprache) abrufbar ist: https://bit.ly/3AzHYgU.
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Die BAGFW bedankt sich für die Möglichkeit, zum vorliegenden Gesetzentwurf Stellung zu nehmen. Eine Anpassung des Rechts der Kostenerstattung junger Menschen in der Kinder- und Jugendhilfe mit Blick auf die Abschaffung der Kostenheranziehung begründet sich aus Sicht der BAGFW wesentlich in den Rechten der betroffenen jungen Menschen sowie auch in den Zielen der Kinder- und Jugendhilfe. Darüber hinaus besteht im Rahmen der aktuellen Rechtslage eine erhebliche Disparität und Rechtsunsicherheit bei der Umsetzung des geltenden Rechts der Kostenheranziehung.
Die BAGFW teilt die Auffassung des Gesetzgebers, von der einkommensabhängigen Kostenheranziehung von jungen Menschen und Leistungsberechtigten nach § 19 SGB VIII im Rahmen der stationären und teilstationären Kinder- und Jugendhilfe abzusehen und den Tatbestand der Kostenheranziehung von Ehegatten und Lebenspartnern entsprechend ganz aufzuheben. Dadurch besteht die Möglichkeit, dass junge Menschen und Leistungsberechtigte nach § 19 SGB VIII sowie Ehegatten und Lebenspartner vollständig, zumindest über ein selbst erzieltes Einkommen, verfügen. Die Abschaffung des Kostenbeitrags junger Menschen entspräche im Übrigen einer Anregung der BAGFW in der Stellungnahme[1] zum KJSG-RefE.
Insofern ist zu beachten, dass die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe der Förderung der Entwicklung junger Menschen zu einer selbstbestimmten, eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit dienen (vgl. § 1 Abs. 1 SGB VIII). Die Eigenverantwortung als Leitziel der Kinder- und Jugendhilfe enthält damit die Vorgabe, auf eine Verselbständigung hinzuwirken. Dieser Aspekt wird zudem im Regelungsbereich der Leistungen der stationären Kinder- und Jugendhilfe an mehreren Stellen im SGB VIII besonders hervorgehoben. Zur eigenverantwortlichen Lebensführung gehören vor allem die Fähigkeiten und Möglichkeiten den Lebensunterhalt selbst zu bestreiten und mit dem eigenen Einkommen zu wirtschaften. Das eigene Einkommen stellt eine wesentliche Motivation junger Menschen dar, sich in den Arbeitsmarkt zu integrieren.
Des Weiteren müssen junge Menschen die Möglichkeit haben mit dem eigenen Einkommen, bspw. für die Zeit nach der stationären Kinder- und Jugendhilfe, Rücklagen zu bilden. Relevant dürften an dieser Stelle finanzielle Aufwendungen für beispielsweise einen Führerschein, eine Mietkaution und die Verauslagung von Kosten für eine Erstausstattung der Wohnung sein. Zwar können solche Mittel im Rahmen von Jugendhilfeleistungen übernommen oder bezuschusst werden. Jedoch gestaltet sich die Gewährungspraxis von Kostenübernahmen und Zuschüssen nicht einheitlich und verlässlich. Indes ergibt sich daraus auch, dass die Situation junger Menschen, die sich in stationärer Unterbringung befinden, gerade nicht vergleichbar ist mit der Lage junger Menschen, die bei ihren Eltern leben. Daher dürfte es mit Blick auf den Gleichbehandlungsgrundsatz im letztgenannten Fall gerechtfertigt sein, dass sich Unterhaltsansprüche gegen die Eltern und damit der Anspruch auf Versorgung durch Dritte reduzieren kann, wenn junge Menschen, die bei ihren Eltern leben, eigenes Arbeitseinkommen erzielen. Die bedingt sich mithin durch die bessere Absicherung von jungen Menschen im Haushalt der Eltern.
Im Übrigen dürften in der Vergangenheit präsente Rechtsstreitigkeiten, insbesondere zur Berechnung der Kostenheranziehung in Härtefällen im Rahmen von Ermessensregelungen, mit dessen einkommensunabhängiger Ausgestaltung bzw. Aufhebung in dieser Form obsolet werden.
Die BAGFW begrüßt daher die im vorliegenden Referentenentwurf getroffenen Regelungen. Hier ist vor allem auch der Wegfall der Heranziehung junger Menschen aus ihrem Vermögen zu nennen. Außerdem entfallen die Regelungen zur Rangfolge der kostenbeitragspflichtigen Personen und die entsprechenden Bestimmungen zum Umfang der Kostenheranziehung sowie auch die Auskunftspflicht über Einkommens- und Vermögensverhältnisse gegenüber dem öffentlichen Leistungsträger.
Die BAGFW weist zusätzlich noch auf eine weitere Zielgruppe junger Menschen im SGB VIII hin, die von dieser Gesetzesänderung nicht profitieren würde und es daher weiteren Regelungsbedarf gäbe, der in dieses Gesetzesvorhaben integriert werden sollte:
Nachbesserungsbedarf besteht beim „Ausbildungsgeld“. Das Ausbildungsgeld steht jungen Menschen während der Teilnahme an berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahmen (einschließlich einer Grundausbildung), einer individuellen betrieblichen Qualifizierung im Rahmen der unterstützten Beschäftigung (nach § 55 SGB IX), einer Maßnahme im Eingangsverfahren oder Berufsbildungsbereich einer anerkannten Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) oder während einer beruflichen Erstausbildung zur Sicherstellung des Lebensunterhalts zu, wenn kein Anspruch auf Übergangsgeld existiert. Dies betrifft zum einen jungen Menschen mit Behinderung nach § 122 SGB III und junge Menschen, die keine Behinderung haben, aber auf Grund ihrer individuellen Situation, wenn sie nicht sofort in den ersten Ausbildungsmarkt einmünden, entsprechende (berufsvorbereitende) Bildungsmaßnahmen nach SGB III erhalten.
Mit dem aktuellen Gesetzesentwurf soll die Kostenheranziehung für junge Menschen entfallen. Für alle jungen Menschen, die eine Ausbildung auf dem ersten Arbeitsmarkt machen, würde sich damit die Situation deutlich verbessern, weil keine Kostenheranziehung in Bezug auf die Ausbildungsvergütung erfolgt. Aber nicht wenige junge Menschen, die in Pflegefamilien oder sonstigen stationären Formen der Hilfe zur Erziehung (§ 34 SGB VIII) oder Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII leben, hat diese Regelung keine Auswirkungen, da diese jungen Menschen eine Berufsausbildung für Menschen mit Behinderung absolvieren bzw. eine geförderte Ausbildung über das Arbeitsamt oder Jobcenter sowie als berufsvorbereitende Bildungsmaßnahme. Diese jungen Menschen bekommen keine sozialversicherungspflichtige Ausbildungsvergütung, sondern eine Netto-Unterhaltszahlung. Tatsächlich wird dieser Unterhaltsbetrag aber als Ausbildungsgeld bezeichnet, so für junge Menschen mit Behinderung in § 122 SGB III aber auch in Zusammenhang mit den Unterhaltszahlungen gemäß §§ 61, 62 SGB III.
Im § 93 Absatz 1 Satz 3 SGB VIII wird festgelegt, dass Geldleistungen, die dem gleichen Zweck dienen, nicht als Einkommen anzusehen sind und unabhängig vom Kostenbeitrag zur Finanzierung der Kinder- und Jugendhilfeleistung einzusetzen sind. Für viele junge Menschen, die in stationären Formen der Jugendhilfe (§§ 33, 34, 35a, 13 SGB VIII) leben, wird somit der gesamte Betrag des Unterhalts von der Jugendhilfe einbehalten. Die jungen Menschen sehen sich in hohem Maße benachteiligt, zumal diese Unterhaltszahlungen als Ausbildungsgeld tituliert werden. Hier sehen wir hier einen Nachbesserungsbedarf und schlagen folgende Regelungsmöglichkeiten vor:
Möglich wäre, dass „Ausbildungsgeld“, welches für die benannten Adressat:innen gemäß SGB III gezahlt wird, statt eines Unterhalts zumindest teilweise als Ausbildungsvergütung analog zu anderen Ausbildungsvergütungen zu definieren. Die Ausbildungsvergütung ist dann gemäß SGB VIII Einkommen und wird durch die Streichung der Kostenheranziehung nicht mehr berührt.
Auch eine Ergänzung des § 93 Abs.1 S.3 SGB VIII ist denkbar. Demnach zählen Geldleistungen, die dem gleichen Zweck wie die jeweilige Leistung der Jugendhilfe dienen, nicht zum Einkommen und sind unabhängig von einem Kostenbeitrag einzusetzen. Eine Ausnahme könnte zumindest teilweise für den Unterhalt bzw. das Ausbildungsgeld nach SGB III für die genannten Adressat*innen formuliert werden, in dem dieser Teil als nicht zweckgleich definiert wird und der Motivation der jungen Menschen im Rahmen ihrer Ausbildung dient.
Oder es könnte eine Ergänzung in § 92 Abs.5 S. 1 SGB VIII erfolgen, wonach von der Heranziehung im Einzelfall ganz oder teilweise abgesehen werden soll, wenn sonst Ziel und Zweck der Leistung gefährdet würden oder sich aus der Heranziehung eine besondere Härte ergäbe. Dies wäre anzunehmen, wenn Unterhalt bzw. Ausbildungsgeld für die genannten Adressat*innen nach SGB III vollständig angerechnet werden und den jungen Menschen keinerlei Vergütung ihrer Ausbildung als Motivation verbleibt.
In allen drei Varianten erhält das „Ausbildungsgeld“ motivierenden Charakter und wird von den jungen Menschen analog zur Ausbildungsvergütung als Anerkennung der Ausbildungsleistung verstanden.
Berlin, 27.06.2022
Bundesarbeitsgemeinschaft
der Freien Wohlfahrtspflege e. V.
Dr. Gerhard Timm
Geschäftsführer
Kontakt:
Angelika Wolff (angelika.wolff(at)diakonie.de)
Carsten Saremba (carsten.saremba(at)diakonie.de)
[1] BAGFW-Stellungnahme v. 26.10.2020 zum KJSG RefE, S.34, www.bagfw.de/fileadmin/user_upload/Veroeffentlichungen/Stellungnahmen/2020/2020-10-26_Stellungnahme_St%C3%A4rkung_von_Kindern_und_Jugendlichen_KJSG.PDF
]]>A.Allgemeiner Teil und Zusammenfassung
Die Datenverarbeitung nach dieser Verordnung umfasst u.a. „die altersgerechte Nutzbarkeit“ der DiPa. Pflegebedürftigkeit ist jedoch keine Frage eines bestimmten Alters, auch wenn die älteren Generationen die größte Gruppe der pflegebedürftigen Menschen darstellen. Bei der Nutzbarkeit muss es daher um Barrierefreiheit in vielfältiger Weise gehen. Das Wort „altersgerecht“ ist durch „barrierefrei“ zu ersetzen.
Es ist zu begrüßen, dass der Verordnungsgeber vorgibt, dass dem Verbraucher die Anwendung in Form von kurzen, einfachen und allgemeinverständlichen Informationen zu Funktionsumfang und Zweckbestimmung sowie zu Einweisung, Anleitung und Schulung zur Verfügung gestellt wird. Hierbei sollte jedoch der Begriff „einfache Sprache“ zu„leichter Sprache“ hin konkretisiert werden.
Wenn ein ambulanter Pflegedienst als einbezogener Dritter die Leistung erbringt, muss auch die Refinanzierung der Schulung der Mitarbeitenden der Pflegedienste sichergestellt sein. Offen bleibt wie die Weiterbildung der Mitarbeiter:innen (Skillvermittlung an die Pflegekräfte) bzw. einbezogener Dritter refinanziert wird und unter welchem Leistungskomplex bei der Pflegekasse abgerechnet werden kann oder der Verdienstausfall der Mitarbeitenden des Pflegedienstes durch die DIPA-Anbieter finanziert werden muss. Diese ist unserer Auffassung zwingend zu klären.
Darüber hinaus regen wir an, dass die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung eine Broschüre erstellt, die den Versicherten eine Übersicht bietet über die digitalen Gesundheitsanwendungen, die digitalen Pflegeanwendungen, die digitalen Hilfsmittel und die digitalen Pflegehilfsmittel.
B. Besonderer Teil
Im Folgenden nimmt die BAGFW nur zu den Regelungen der Verordnung Stellung, in denen er Nachbesserungsbedarfe sieht.
§ 2 Antragsinhalt
Bereits im Antragsinhalt sollte als Kriterium der Nachweis der Barrierefreiheit der Nutzung neben der allgemeinverständlichen Form genannt werden. Dies ist in Nummer 6 zu ergänzen.
Die Bedarfe von pflegebedürftigen Menschen bezüglich DiPas lassen sich nicht nach bestimmten Gruppen pflegebedürftiger Menschen klassifizieren und differenzieren. Daher ist Nummer 11, die sich auf Gruppen von Pflegebedürftigen, für die der pflegerische Nutzen nachgewiesen wurde, bezieht zu streichen.
Da die digitalen Pflegeanwendungen grundsätzlich auch mit Unterstützung durch Dritte, z.B. pflegende Angehörige, zur Anwendung kommen können, gibt es keine Beeinträchtigungen, die per se die Anwendung der DiPa ausschließt. Dies ist in Nummer 16 entsprechend zu korrigieren.
Änderungsbedarf:
Ergänzung Nummer 6:
„Zweckbestimmung, Wirkungsweise, Inhalt und Nutzung der digitalen Pflegeanwendung in einer allgemeinverständlichen und barrierefreien Form“
Streichung der Nummer 11
Ziffer 5 lautet: „Zielsetzung, Inhalt und barrierefreie Nutzung der digitalen Pflegeanwendung in einer allgemeinverständlichen Form.“
In Nummer 16 wird der zweite Halbsatz „insbesondere zu Beeinträchtigungen, die eine Nutzung ausschließen“ gestrichen.
§ 5 Anforderungen an Datenschutz und Datensicherheit
Die Anforderungen an den Datenschutz sind gerade bei sensiblen versichertenbezogenen Gesundheitsdaten sehr hoch. Dem trägt die vorliegende Regelung nicht Rechnung. Es muss geprüft werden, ob der Datenschutz bei der jeweiligen DiPA auch eingehalten wird. Diese Prüfung sollte dem BfArM übertragen werden. Es gibt zudem keine Bestimmungen, welche Rechtsfolgen eine Verletzung des Datenschutzes hat. Dies ist nicht hinnehmbar. Da die Datenverarbeitung immer auf einer Hardware stattfindet, muss sichergestellt sein, dass die Hardwarebetreiber keinen Zugriff auf die Gesundheitsdaten erhalten. Es wird vorgeschlagen, zu diesem Zweck Vorkehrmechanismen zu etablieren, anhand derer der/die Nutzer:in erkennt, dass auf seine/ihre Gesundheitsdaten durch Dritte zugegriffen wurde. Hierzu könnte z.B. geregelt werden, dass der/die Nutzer:in bei jedem externen Datenzugriff eine automatische Benachrichtigung erhält.
In Absatz 6 wird zwar geregelt, dass die Hersteller von DiPas alle für sie tätigen Personen, die Zugang zu versichertenbezogenen Daten haben, zur Verschwiegenheit verpflichten. Es muss daher eine Sanktionsfolge, z.B. vergleichbar § 203 StGB für Berufsgeheimnisträger:innen, geben, wenn die Mitarbeiter:innen eines Herstellers die Verschwiegenheitspflicht verletzen.
Die Datenverarbeitung nach Absatz 3 umfasst in Nummer 2 u.a. „die altersgerechte Nutzbarkeit“ der DiPa. Pflegebedürftigkeit ist jedoch keine Frage eines bestimmten Alters, auch wenn die älteren Generationen die größte Gruppe der pflegebedürftigen Menschen darstellen. Bei der Nutzbarkeit muss es daher um Barrierefreiheit in vielfältiger Weise gehen, was u.a. auch alterungsbedingte Einschränkungen und Beeinträchtigungen umfasst. Das Wort „altersgerecht“ ist durch „barrierefrei“ zu ersetzen.
Darüber hinaus ist unserer Auffassung nach die DIPA in die Telematikinfrastruktur durch die Hersteller einzubinden.
Änderungsbedarf:
In Absatz 3 Satz 1 Nummer 2 wird das Wort „altersgerechten“ durch „barrierefreien“ ersetzt.
§ 6 Anforderungen an Qualität
Es ist zu begrüßen, dass der Verordnungsgeber vorgibt, dass dem Verbraucher die Anwendung in Form von kurzen, einfachen und allgemeinverständlichen Informationen zu Funktionsumfang und Zweckbestimmung sowie zu Einweisung, Anleitung und Schulung zur Verfügung gestellt wird. Dabei ist das Kriterium „kurz“ schwierig zu operationalisieren. Der Umfang der Information muss in Relation zu dem zu vermittelnden Inhalt stehen. Zudem sollte der Begriff „einfache Sprache“ auf „leichte Sprache“ hin konkretisiert werden.
Es ist in der Begründung klarzustellen, dass die Hersteller dabei mit Symbolen arbeiten sollten, die auch Menschen mit Einschränkungen gut verstehen.
Um für die Hersteller der digitalen Pflegeanwendungen einen entsprechenden Anreiz zu schaffen, ihre Angebote auch für Menschen mit Behinderung auszugestalten, sollten Barrierefreiheit und Verfügbarkeit in leichter Sprache eine Anforderung für die Aufnahme in das Verzeichnis für Pflegeanwendungen sein. Maßgeblich sollte dafür die Barrierefreie Informationstechnik Verordnung (BITV) sein. Im Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, das über den Antrag entscheidet, muss ausreichend Expertise sichergestellt werden, um den Nutzen der Anwendungen, für die die Hersteller den Antrag gestellt haben, für Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen bewerten zu können.
In Absatz 5 ist erneut der Begriff „altersgerechte Nutzbarkeit“ durch „barrierefreie Nutzbarkeit“ zu ersetzen. Wir verweisen auf die Begründung zu § 5.
In Absatz 4 wird geregelt, dass die DiPA frei von Werbung sein muss. Hier ist zu ergänzen, dass sie auch nicht für Werbezwecke, z.B. für bestimmte Produkte, die der Hersteller oder ein mit ihm wirtschaftlich verbundenes Unternehmen, genutzt werden darf. Zudem regt die BAGFW an, nicht nur die Nutzerfreundlichkeit, sondern auch die Zugänglichkeit für Menschen mit Behinderung in den Blick zu nehmen.
In Absatz 7 ist zu ergänzen, wie ‚einbezogene Dritte‘ definiert werden. Auf jeden Fall sind die Schulungen der einbezogenen Dritten durch den DIPA-Anbieter für die einbezogenen Dritten kostenfrei zu erbringen. Wenn ein ambulanter Pflegedienst als einbezogener Dritter die Leistung erbringt, muss auch die Refinanzierung der Leistung sichergestellt sein. Zwar ist bereits bestimmt, dass Versicherte maximal 50 Euro für die Nutzung einer DiPA und notwendige ergänzende Unterstützungsleistungen durch einen ambulanten Pflegedienst aufteilen können. Allerdings bleibt offen, wie die Weiterbildung der Mitarbeiter:innen (Skillvermittlung an die Pflegekräfte) bzw. einbezogener Dritter refinanziert wird und unter welchem Leistungskomplex bei der Pflegekasse abgerechnet werden kann oder der Verdienstausfall der Mitarbeitenden des Pflegedienstes durch die DIPA-Anbieter geleistet werden muss.
Dieser Aspekt gilt auch für die Informationsvermittlung zu DiPas nach § 37 Abs.3 SGB XI durch die Pflegeberatung. Pflegeberater:innen müssen sich zum aktuellen Stand und die Grenzen/Möglichkeiten der DiPa Wissen aneignen, um den möglichen Mehrwert der Anwendungen an die Versicherten zu transportieren.
Anlage 2 im Themenfeld III. Verbraucherschutz beinhaltet das Item zur Umsetzung von Unterstützungsmaßnahmen durch die Hersteller der digitalen Pflegeanwendung. Der Hersteller oder die Herstellerin stellt demnach zur Unterstützung der Pflegebedürftigen und der weiteren Nutzer:innen (auch für einbezogene Dritte) eine kostenlose deutschsprachige Anwenderbetreuung bei der Bedienung der DiPa und zur Beantwortung der Anfragen spätestens innerhalb von 24 Stunden zur Verfügung. Es ist zu ergänzen, in welcher Form die Anwenderbetreuung (persönliche Ansprechpartner:innen, Hotline oder Videocall) durchgeführt wird und welche Option für Versicherte besteht, die nur eingeschränkte deutsche Sprachkenntnisse besitzen.
Änderungsbedarf:
Absatz 3 Satz 2 soll lauten:
„Insbesondere müssen digitale Pflegeanwendungen den Pflegebedürftigen und sonstigen Nutzern vor Beginn der Nutzung einen Zugang zur Gebrauchsanweisung in möglichst kurzer Form und Informationen in leichter Sprache allgemeinverständlich zu Funktionsumfang und Zweckbestimmung der digitalen Pflegeanwendung, zu Einweisung, Anleitungen und Schulungen sowie zu den vertraglichen Bedingungen der Zurverfügungstellung und Nutzung geben“.
Absatz 4 ist wie folgt zu formulieren:
„Die digitale Pflegeanwendung muss frei von Werbung sein und darf nicht für Werbezwecke genutzt werden.“
In Absatz 5 Satz 1 ist das Wort „altersgerechten“ durch „barrierefreien“ zu ersetzen.
Absatz 6 ist nach Satz 1 wie folgt zu ergänzen:
„Digitale Pflegeanwendungen sind von dem Hersteller barrierefrei im Sinne der Barrierefreie Informationstechnik Verordnung (BITV) auszugestalten.“
Absatz 7 ist wie folgt zu ergänzen:
„Ist es nach der Zweckbestimmung der digitalen Pflegeanwendung erforderlich, dass Dritte in die Nutzung der digitalen Pflegeanwendung einbezogen werden und ihnen insofern eine Rolle und Aufgabe zugesprochen wird, ohne die der pflegerische Nutzen nicht erreicht werden kann, gewährleistet die digitale Pfleganwendung, dass die einbezogenen Dritten in geeigneter Weise kostenlos geschult, eingewiesen und regelhaft unterstützt werden, das Einverständnis der Pflegebedürftigen vorausgesetzt.“
§ 8 Nachweis durch Zertifikate
Der Hersteller soll nach Auffassung der BAGFW dem BfArM die Erfüllung der Anforderungen nach den §§ 3 bis 6 nicht nur teilweise, sondern grundsätzlich nur im vollen Umfang durch Zertifikate bestätigen müssen. Vor dem Hintergrund des steten technischen Fortschritts wird positiv bewertet, dass die Zertifikate nicht älter als 12 Monate sein dürfen.
Änderungsbedarf:
In Absatz 1 Satz 2 sind die Wörter „oder teilweise“ zu streichen.
§ 9 Pflegerischer Nutzen digitaler Pflegeanwendungen
In Absatz 3 werden pflegende Angehörige unter die Kategorie „ehrenamtlich Pflegende“ subsummiert, indem neben pflegenden Angehörigen von „oder sonstigen ehrenamtlich Pflegenden“ die Rede ist. Das ist nicht sachgerecht, denn Angehörige sind nicht ehrenamtlich tätig.
Änderungsbedarf:
Streichung des Wortes „sonstige“
§ 10 Nachweis des pflegerischen Nutzens
Die Bedarfe von pflegebedürftigen Menschen bezüglich DiPas lassen sich nicht nach bestimmten Gruppen pflegebedürftiger Menschen klassifizieren und differenzieren. Daher sind in Absatz 1 Satz 1 in Nummer 2 die Wörter „die Gruppe von“ zu streichen.
§ 11 Studien zum Nachweis des pflegerischen Nutzens
Grundsätzlich ist es positiv zu bewerten, dass Hersteller:innen die Evidenz der DiPas anhand von Studien nachweisen müssen. Dennoch sollte auch eine qualitative Möglichkeit geschaffen werden, um den pflegerischen Nutzen der DiPas zu belegen. Hintergrund ist, dass sich das ambulante Setting der DiPas vom klinischen Setting unterscheidet. Klinische Studien sind nicht in jedem Fall indiziert, daher sollte auch eine qualitative Nachweisoption des pflegerischen Nutzens – beispielsweise durch Expertengremien- in bestimmten Fällen ermöglicht werden. Vom kausalen Nutzen her ist es schwierig, eine Studie zur Nutzung einer DIPA vorzulegen, die noch nicht in der Anwendung ist. Es liegen letztlich noch keine klaren Messkriterien vor und eigentlich müsste es klare Parameter geben, aus denen dann der Nutzen abgeleitet wird.
§ 12 Bewertungsentscheidung über das Vorliegen eines hinreichenden Nachweises
Es wird ausdrücklich begrüßt, dass Hersteller Erkenntnisse sowohl über die positiven als auch negativen Wirkungsweisen nachweisen müssen und auch darstellen müssen, in welchen pflegerischen Kontexten die DiPas getestet wurden. Auf diese Weise lässt sich die geforderte Abwägungsentscheidung über die Zulassung einer DiPa sachgerecht durchführen.
§ 14 Wesentliche Veränderungen
Absatz 1 Satz 2 sieht vor, dass im Umfang geringfügige und lediglich redaktionelle Änderungen der Angaben und Informationen im Verzeichnis für digitale Pflegeanwendungen nicht angezeigt werden müssen. Die BAGFW weist darauf hin, dass der Begriff „geringfügige Änderungen“ ein unbestimmter Rechtsbegriff ist, der streitbehaftet sein wird.
Änderungsbedarf:
Streichung der Wörter „Im Umfang geringfügige und“ in Absatz 1 Satz 2.
§ 16 Inhalte des elektronischen Verzeichnisses
Es wird begrüßt, dass das BfArM bezüglich der Inhalte des Verzeichnisses den jeweils nachgewiesenen pflegerischen Nutzen und die dazu vorgelegten Studien (Design, Ergebnisse) vollumfänglich veröffentlicht und die Verbraucher:innen auch über die Preise und vor allem die Mehrkosten, die sie selbst zu tragen haben, informiert. Dies entspricht der notwendigen Transparenz gegenüber den Verbraucher:innen. Zu ergänzen sind jedoch Informationen, die den/die Verbrauch:in über den Datenschutz informieren. Dieses Kriterium ist in der Auflistung des Absatzes x als neue Ziffer zu ergänzen.
Nach § 39a SGB XI haben Pflegebedürftige bei der Nutzung von DiPas Anspruch auf ergänzende Unterstützungsleistungen durch ambulante Pflegedienste, sofern das BfArM die Erforderlichkeit einer Unterstützung festgestellt hat. Daher sollten in Absatz 3 Satz 1 Nummer 5 im Zusammenhang mit der Unterstützungsleistung nach § 39a SGB XI ausdrücklich die ambulanten Pflegedienste und nicht unbestimmte Dritte genannt werden.
Änderungsbedarf:
Absatz 1 Satz 1 Nummer 5 wird wie folgt geändert:
„den Bedarf an den erforderlichenfalls ergänzenden Unterstützungsleistungen Dritter durch zugelassene ambulante Pflegeeinrichtungen nach § 39a des Elften Buches Sozialgesetzbuch.“
Ergänzung einer neuen Nummer x:
„Informationen über den Datenschutz und die Datensicherheit“
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1. Zur Verlängerung der Gültigkeit der ImpfV
Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die Impfquote in Deutschland dringend erhöht werden muss, wird die Verlängerung der Coronavirus-ImpfV bis zum 25.11.2022 ausdrücklich begrüßt. Der Erhalt der in den letzten Monaten aufgebauten Impf-Infrastruktur, flexibel ausgerichtet an die Inanspruchnahme, ist auch angesichts der Unsicherheit über die weitere Entwicklung der Pandemie sinnvoll.
2. Zu § 1 Anspruch
Nach wie besteht in der Praxis Unsicherheit bzw. Unkenntnis hinsichtlich der Anspruchsberechtigung von Menschen in der aufenthaltsrechtlichen Illegalität, obwohl ihr Anspruch rechtlich zweifelsfrei besteht (vgl. Antwort des BMG vom 21.09.2021 auf die Kleine Anfrage von MdB Dr. Kessler und Fraktion Die Linke)
Die BAGFW hatte in ihrer Stellungnahme zur Änderung der ImpfV im August letztens Jahres (vgl. Mail vom 12.08.2021) begrüßt, dass in dem Entwurf der Begründung formuliert wurde, dass alle (anderen) Personen Anspruch auf Impfung haben, die nach dem Asylbewerberleistungsgesetz leistungsberechtigt sind. Wir haben wiederholt dafür plädiert, genau diese Klarstellung auch im Verordnungstext selbst nachzuvollziehen. Stattdessen wurde die Passage in der Begründung gestrichen.
Änderungsvorschlag:
Um Personen in aufenthaltsrechtlicher Illegalität explizit vom Rechtsanspruch zu umfassen, wird Absatz 1 nach Satz 2 wie folgt ergänzt:
„Anspruchsberechtigt nach Satz 1 sind auch Personen, die leistungsberechtigt nach dem Asylbewerberleistungsgesetz sind“.
3. Zu § 1a Schutzimpfung gegen weitere Infektionskrankheiten
Mit dem neuen § 1a wird auf die Herausforderung geantwortet, dass der Impfstatus von Geflüchteten oftmals nicht ausreichend ist. Die BAGFW begrüßt ausdrücklich, dass Geflüchtete aus der Ukraine, die unter die sogenannte Massenzustromrichtlinie (RL 2001/55/EG) fallen, ein niedrigschwelliges Impfangebot erhalten. Dieses umfasst auch eine zweite Masernschutzimpfung für Personen, die nach dem 31.12.1970 geboren wurden und das 18. Lebensjahr vollendet haben.
Wir begrüßen die Klarstellung des Absatzes 1 Satz 2, dass die Schutzimpfungen nicht nur in den Impfzentren oder durch mobile Impfteams, sondern auch bei niedergelassenen Ärzten auf der Grundlage des § 4 AsylbLG oder gemäß § 20i SGB V erbracht werden können.
Es wird ausdrücklich begrüßt, dass (durch Änderung des § 2) die Leistungen auch Folge- und Auffrischungsimpfungen umfassen.
4. Zu § 3 Leistungserbringer
Die Erweiterung des Kreises der Leistungserbringer um die Zahnarztpraxen wird begrüßt, da so ein weiterer Zugangsweg zur Impfung geschaffen wird.
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Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege legen im Folgenden den psychosozialen Bedarf der Schutzsuchenden, das Angebot der Psychosozialen Zentren (PSZ) und den zusätzlichen (Finanzierungs-)bedarf zur Umsetzung dar.
Diese Berechnung bezieht sich auf die durchschnittliche Anzahl der Schutzsuchenden in Deutschland der letzten fünf Jahre. Die Bedarfe derzeit aus der Ukraine flüchtender Menschen sind dabei noch nicht berücksichtigt. Wie sich ihre Anzahl entwickeln wird, ist derzeit kaum seriös zu schätzen, wird voraussichtlich jedoch eine erhebliche Bedeutung haben. Anfang April 2022 waren bereits knapp 300.000 geflüchtete Menschen aus der Ukraine in Deutschland offiziell registriert.
Zusammenfassung
- Besondere Schutzbedarfe von Geflüchteten werden in Deutschland nicht systematisch erfasst. Laut Studien sind zwischen 25% und 50% der nach Deutschland geflüchteten Menschen psychisch stark belastet, traumatisiert oder leiden an einer psychischen Erkrankung wie Depressionen oder Angstzuständen. Rückmeldungen aus den Verbänden vor Ort zeigen, dass es einen großen ungedeckten Bedarf bei der Unterstützung und Versorgung von Geflüchteten mit besonderen Schutzbedarfen gibt.
- Die Verbände schätzen, dass ca. 60.000 geflüchtete Menschen, die jedes Jahr nach Deutschland kommen, psychosoziale Versorgung (Beratung, Stabilisierung, Begleitung und Behandlung/Therapie) benötigen. Dabei wird von einer durchschnittlichen Zuwanderung von 150.000 Asylsuchenden[3] und einem Unterstützungsbedarf bei ca. einem Drittel der Asylsuchenden ausgegangen. Weitere etwa 30.000 Personen kommen im Rahmen des Familiennachzuges, humanitärer Aufnahmeprogramme oder des Resettlements nach Deutschland. Hier wird von 10.000 Geflüchteten mit einem entsprechenden Bedarf an Unterstützung ausgegangen.
- Psychosoziale Zentren (PSZ) leisten mit ihrem multimodalen Komplexangebot therapeutische Behandlung sowie psychosoziale Beratung und Begleitung. Sie ergänzen das gesundheitliche Regelsystem, da die Bedarfe hier häufig nicht gedeckt werden können. Die meisten PSZ befinden sich in Trägerschaft der Wohlfahrtsverbände und sind Mitglied in der Bundesarbeitsgemeinschaft der Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer e.V. (BAfF).
- Entsprechend einer Erhebung der BAfF e.V. und Hochrechnungen der Verbände erhalten 65 PSZ insgesamt etwa 50 Mio. Euro pro Jahr aus unterschiedlichen Quellen, mit denen ca. 30.000 Klient:innen versorgt werden können.[4] Somit kann lediglich die Hälfte der Personen mit einem Bedarf versorgt werden. Nach Schätzung der Verbände ergibt sich ein Gesamtfinanzierungsbedarf in Höhe von 100 Mio. Euro für 60.000 Klient:innen bzw. ein zusätzlicher Finanzierungsbedarf von ca. 50 Mio. Euro. Dieser Bedarf erhöht sich zudem durch die Aufnahme von geflüchteten Menschen aus der Ukraine. Eine fundierte Einschätzung zur Entwicklung der Fluchtbewegungen und damit eine Konkretisierung der Bedarfe ist derzeit noch nicht möglich.
1. Bedarf an psychosozialer Beratung und psychotherapeutischer Behandlung
Viele der nach Deutschland einreisenden Schutzsuchenden sind psychisch schwer belastet oder traumatisiert. Auch weil es bisher in Deutschland an einer systematischen Identifizierung besonders Schutzbedürftiger[5] im Zuge des Aufnahme- bzw. Asylverfahrens fehlt, gibt es zu ihrer Anzahl keine exakten Daten. In Deutschland durchgeführte Studien weisen darauf hin, dass etwa ein Drittel der erwachsenen Schutzsuchenden an einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) leidet bzw. Unterstützungsbedarf aufgrund erlittener Traumata hat.[6]
Zum Krankheitsbild von Traumafolgestörungen gehört, Erinnerungen an traumatische Erlebnisse so weit wie möglich zu vermeiden, da sie als besonders belastend empfunden werden. Die individuelle Bereitschaft und Fähigkeit, sich mit eigenen Traumata auseinanderzusetzen, entsteht deshalb teilweise erst dann, wenn die betroffene Person zur Ruhe kommt, zum Beispiel, nachdem Schutz gewährt oder eine eigene Wohnung bezogen wurde, teilweise auch erst mehrere Jahre nach Einreise. Andere psychisch belastete, geflüchtete Menschen suchen erst eine Behandlung, wenn körperliche Symptome wie anhaltende Schlafstörungen oder Schmerzen auftreten. Unbearbeitete Traumata können mit großem Leid verbunden sein und zu Selbst- und Fremdgefährdung führen. Durch Chronifizierung drohen auch hohe Folgekosten bei der Gesundheitsversorgung. Auch in vielen anderen relevanten gesellschaftlichen Bereichen zeigen sich schwerwiegende Folgen. Die Eingliederung in Schule, Ausbildung oder den Arbeitsmarkt wird erschwert, so dass unbehandelte Traumafolgestörungen oder andere psychische Erkrankungen oftmals ein erhebliches Integrationshindernis darstellen.[7]
Daher ist es sinnvoll, in die frühzeitige Identifizierung und Versorgung von psychischen Erkrankungen bei Geflüchteten zu investieren.[8] Durch therapeutische Interventionen ist es möglich, körperliche, emotionale und kognitive Beeinträchtigungen von psychisch belasteten Geflüchteten zu behandeln und langfristige negative Folgen zu verhindern bzw. abzumildern.
Psychisch belastete Geflüchtete treffen in Deutschland jedoch auf ein Versorgungssystem, in dem vielerorts bereits der bestehende Bedarf an psychosozialer und psychotherapeutischer Unterstützung nicht gedeckt werden kann. Die Folge sind häufig fehlende, zu späte oder wenig wirksame Behandlungen.
2. Angebote der PSZ
Die PSZ leisten bundesweit psychosoziale Unterstützung und Psychotherapie von traumatisierten Flüchtlingen. Sie arbeiten mit einem ganzheitlichen Ansatz und halten bedarfsorientiert eine Vielzahl von Angeboten vor: niedrigschwellige psychosoziale Beratung und Begleitung, Psychoedukation, psychotherapeutische Angebote, psychiatrische Angebote, Krisenintervention, sozialpädagogische Angebote sowie Rechtsberatung. Diese Angebote ermöglichen individuelle Unterstützung und sind mit unterschiedlichem zeitlichem Aufwand verbunden. In niedrigschwelligen Angeboten findet unter Umständen schon allein durch die Schaffung sicherer Lebensumstände durch Begleitung und Beratung (sicheres Wohnumfeld, soziale Kontakte, Aufenthalt, Familiennachzug) eine psychische Stabilisierung vieler Menschen statt. Schnell verfügbare, niedrigschwellige psychosoziale Angebote, wie die aktive Einbindung in soziale Netzwerke oder gezielte Verhaltensaktivierungen, können bereits eine wichtige Hilfestellung sein. Einem Teil der Betroffenen kann jedoch nur mit professioneller, langfristiger Psychotherapie geholfen werden.
Psychotherapie mit Geflüchteten wird deutlich geprägt durch migrationsspezifische Umstände. Die persönliche Lebenslage und die möglicherweise nicht vorhandene externe Stabilität und Sicherheit müssen - ebenso wie zumeist fehlende deutsche Sprachkenntnisse - im Kontext einer Therapie beachtet werden. Für eine erfolgreiche Behandlung ist ein multimodaler Ansatz, wie ihn die PSZ verfolgen, daher unabdingbar. Das heißt, dass neben Psychotherapie auch psychosoziale Beratung, kreative und soziale Aktivitäten angeboten werden, die kulturelle Prägungen, krankmachende Erfahrungen und den rechtlichen Status der geflüchteten Menschen berücksichtigen. Darüber hinaus ist eine gute Vernetzung zu Sozialarbeiter:innen, Sprachmittler:innen und Ehrenamtlichen vorhanden.
Die Praxis der PSZ zeigt, dass gerade diese Breite des Angebotes den Bedarfen vieler Betroffener entspricht und anderweitige Behandlung gezielt eingesetzt oder auch vermieden werden kann. Als Koordinations- oder Kompetenzzentren wirken die PSZ darüber hinaus auch unterstützend und vermittelnd für andere Leistungserbringer im Gesundheits- und Sozialbereich.
Zu den Aufgaben der PSZ gehört insbesondere auch, die mit geflüchteten Menschen arbeitenden Akteure zu sensibilisieren und damit die Versorgung von psychisch belasteten und traumatisierten Asylsuchenden und geflüchteten Menschen in Einrichtungen der Flüchtlingssozialarbeit und in Regelinstitutionen zu verbessern. Dazu leisten sie Multiplikator:innenarbeit, um Netzwerk- und Unterstützungsstrukturen vor Ort aufzubauen oder zu stärken, ebnen Zugänge, qualifizieren niedergelassene Psychotherapeut:innen und sonstige medizinische Regelstrukturen. Oftmals werden PSZ auch von staatlichen Institutionen um Gutachten gebeten, um die besonderen Bedarfe, zum Beispiel im Asylverfahren, berücksichtigen zu können. Dies ist notwendig, um gerade für psychisch belastete und traumatisierte Flüchtlinge ein faires Asylverfahren gewährleisten zu können
3. Verhältnis zu anderen Angeboten und Leistungen
Niedrigschwellig erreichbare, passgenaue und wirksame psychosoziale als auch psychotherapeutische Angebote für geflüchtete Menschen sind bislang nicht in ausreichendem Maße vorhanden. Für die Versorgung psychisch belasteter Geflüchteter sind grundsätzlich Regeldienste wie psychiatrische Einrichtungen und niedergelassene Psychotherapeut:innen zuständig. Eine Versorgung durch diese Regeldienste kann häufig nicht erfolgen, da sie - zumindest nach bisheriger Erfahrung - den Bedarfen geflüchteter Menschen mit psychischer Erkrankung oft nicht gerecht werden können. Sie hängt auch maßgeblich davon ab, ob die betreffende Person bereits über eine Krankenversicherung versichert ist. Die Gesundheitsversorgung geflüchteter Menschen, die sich noch im Asylverfahren befinden und von Personen, die lediglich geduldet werden, ist in den ersten 18 Monaten ihres Aufenthaltes in Deutschland grundsätzlich auf eine Versorgung gem. §§ 4 und 6 AsylbLG beschränkt. Es besteht kein Anspruch auf den vollen Umfang notwendiger medizinischer Leistungen, wie ihn die Krankenkassen definieren. So besteht u.a. kein Anspruch auf Psychotherapie, obwohl psychische Erkrankungen – wie die meisten körperlichen Erkrankungen auch – meist dringend behandlungsbedürftig sind.
Oftmals ist auch das Arbeiten mit Dolmetschenden für Mitarbeitende der Regeldienste ungewohnt oder wird sogar abgelehnt. Gründe dafür sind, neben dem hohen Aufwand, Unsicherheiten bezüglich der Finanzierung der Gesundheits- und Dolmetschleistungen, da beispielsweise die Psychotherapie nach SGB V und die Dolmetscherleistungen separat nach SGB XII beantragt werden müssen. Eine Vermittlung von psychisch belasteten Geflüchteten in die Regeldienste stellt sich daher noch immer als sehr schwierig dar. Die Neuregelung in der Ärztezulassungsverordnung, nach der sich Psychotherapeut:innen, die keinen Kassensitz haben, für die Behandlung von Flüchtlingen berechtigen lassen und mit den Krankenkassen abrechnen können, führte hinsichtlich der Situation der Unterversorgung psychisch kranker Flüchtlinge bisher kaum zu einer Verbesserung.[9]
Die aufenthaltsrechtliche Situation der Klient:innen in den PSZ unterscheidet sich deutlich von der aller geflüchteten Menschen, die in Deutschland leben. Während 2019 in Deutschland insgesamt 74% aller geflüchteten Menschen einen relativ gesicherten Aufenthalt hatten, traf dies nur auf durchschnittlich 25 % der PSZ-Klient:innen zu. Dies ist vor allem darauf zurückzuführen, dass viele PSZ prioritär Klient:innen mit einem unsicheren Aufenthaltsstatus und entsprechend schlechteren Chancen auf eine Behandlung durch die gesetzlich verankerte gesundheitliche Regelversorgung aufnehmen.[10]
Die über die Krankenkassen abrechenbaren sog. Richtlinientherapien (nach den Psychotherapie-Richtlinien von 1967; tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie, Psychoanalyse und Verhaltenstherapie) dienen der Bearbeitung des Traumas selbst, wobei dazu zum Beispiel ein sicheres Lebensumfeld Voraussetzung ist, da die Konfrontation mit dem Trauma emotional sehr belastend ist. Über ein entsprechendes Lebensumfeld verfügen viele geflüchtete Menschen nicht. Sie benötigen dringend ganzheitliche Unterstützung zur psychischen Stabilisierung, die auch sozialpädagogische Unterstützung für einen gelingenden Alltag umfasst und können sich vorerst jedoch nicht mit ihrem Trauma selbst auseinandersetzen. Dieses interdisziplinäre, bedarfsgerechte Komplexangebot für geflüchtete Menschen bieten die Psychosozialen Zentren an, die darüber hinaus über ein hohes Maß an interkulturellen Kompetenzen verfügen und so als ergänzend, bzw. vorbereitend für die therapeutischen Angebote des Regelsystems wirken.
So stellen die PSZ ein sinnvolles, ergänzendes Angebot des Regelsystems dar. Jedoch werden derzeit nur 4 % der Leistungen der PSZ von den Leistungsträgern des Regelsystems (Krankenkassen, Sozialämtern, Jugendamt) finanziert.
4. Derzeitige Versorgungssituation
Die PSZ erleben eine ungebrochen hohe Nachfrage. Auf Grundlage einer Erhebung der BAfF im Jahr 2019 und ergänzenden Berechnungen der Verbände werden derzeit im Jahr etwa 30.000 Klient:innen versorgt.[11]
Im Jahr 2019 haben diese Klient:innen je nach Bedarf unterschiedliche Teile des multimodalen Leistungsspektrums wahrgenommen:
- 69% stabilisierende Beratung
- 43% psychotherapeutische Behandlung sowie weitere Angebote
- 15% waren ausschließlich in Psychotherapie
- 18% weitere psychosoziale Angebote[12]
Aufgrund der unzureichenden Finanzierung können die PSZ der großen Nachfrage nach therapeutischer und psychosozialer Unterstützung der Zielgruppe nach wie vor nicht adäquat gerecht werden. Bislang werden die PSZ nur durch eine unzureichende, stark diversifizierte und nicht nachhaltig angelegte Finanzierungsstruktur getragen. So ist zwar das Angebot von ca. 30 PSZ in 2015/2016 auf mittlerweile auf 65 PSZ gestiegen, Klient:innen nehmen aber weiterhin vor allem im ländlichen Raum oft mehrstündige Anfahrtswege in Kauf, um Beratung und Therapie zu erhalten.
Die Wartelisten der einzelnen Zentren sind seit Jahren lang. Immer wieder müssen PSZ ihre Wartelisten schließen, da sie eine Behandlung aus Kapazitätsgründen nicht in Aussicht stellen können. Laut Datenerhebung der BAfF wurden in 2019 bei 40 PSZ ca. 12.000 Menschen registriert, denen aufgrund fehlender Kapazitäten in den Psychosozialen Zentren keine Versorgung angeboten werden konnte.[13] Dies ist nur ein Hinweis auf die Unterversorgung. Die Zahl derer, die nicht versorgt wurden, ist vermutlich deutlich höher, da sich viele aufgrund der fehlenden Versorgungsstrukturen vor Ort gar nicht erst an ein Psychosoziales Zentrum wenden.
5. Derzeitige Finanzierung der PSZ
Psychosoziale Zentren finanzieren sich häufig aus mehreren Quellen mit jeweiligen Antrags- und Nachweisverfahren. Entsprechend einer Erhebung der BAfF und einer Hochrechnung der Verbände erhalten die 65 PSZ etwa 50 Mio. Euro pro Jahr. Sie stammen zu etwa 40% aus Landesmitteln, ca. 10% aus kommunalen Mitteln und 8% aus Bundesmitteln. Nur etwa 4% der Leistungen der Psychosozialen Zentren können über das Asylbewerberleistungsgesetz mit dem Sozialamt, über das SGB V mit den gesetzlichen Krankenversicherungen oder über das SGB VIII mit den Jugendämtern abgerechnet werden.[14] Die übrigen Kosten werden über private Mittel von Stiftungen oder aus Spenden getragen.
Die genannten Bundesmittel erhielten die PSZ aus dem „Programm zur Beratung und Betreuung ausländischer Flüchtlinge“ (Kapitel 1710, Titel 684 05) des BMFSFJ. Seit 2016 werden jährlich ca. 3,8 Mio. Euro an Psychosoziale Zentren über die Verbände weitergeleitet. Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege als Zuwendungsempfänger haben die Mittel so eingesetzt, dass in jedem Bundesland mindestens ein Psychosoziales Zentrum gefördert wird.
6. Tatsächlicher Bedarf
Da Studien davon ausgehen, dass zwischen 25% und 50% der Asylsuchenden an einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) leiden bzw. Unterstützungsbedarf aufgrund erlittener Traumata haben[15], gehen die Wohlfahrtsverbände bei ihrer Kalkulation des Gesamtbedarfs von einem Drittel der Asylerstanträge aus. Dies entspricht 50.000 Menschen. Weitere etwa 30.000 Personen kommen im Rahmen des Familiennachzuges, humanitärer Aufnahmeprogramme oder des Resettlements nach Deutschland. Hier wird von 10.000 Geflüchteten mit einem entsprechenden Bedarf an Unterstützung ausgegangen. Insgesamt ist davon auszugehen, dass jährlich ca. 60.000 geflüchtete Menschen psychosoziale Versorgung (Beratung, Stabilisierung, Begleitung und Behandlung/Therapie) benötigen.
Da im Rahmen der bisherigen Kapazitäten ca. 30.000 Klient:innen jährlich versorgt werden können, fehlt die Kapazität für weitere ca. 30.000 Klient:innen. Da einige Geflüchtete Leistungen der PSZ nicht nur in einem Jahr in Anspruch nehmen, handelt es sich um eine eher konservative Schätzung. Daraus ergibt sich nach Schätzung der Verbände ein Gesamtfinanzierungsbedarf in Höhe von 100 Mio. Euro für 60.000 Klient:innen bzw. ein zusätzlicher Finanzierungsbedarf von 50 Mio. Euro.
Diese Berechnung bezieht sich auf die durchschnittliche Anzahl der Schutzsuchenden in Deutschland der letzten fünf Jahre. Die Bedarfe derzeit aus der Ukraine flüchtender Menschen sind dabei noch nicht berücksichtigt. Wie sich ihre Anzahl entwickeln wird, ist derzeit kaum seriös zu schätzen, wird voraussichtlich jedoch eine erhebliche Bedeutung haben. Anfang April 2022 waren bereits knapp 300.000 Personen/ Geflüchtete aus der Ukraine in Deutschland offiziell registriert. Für diese Gruppe der Schutzsuchenden sind vor allen Dingen zunächst schnell verfügbare, niedrigschwellige psychosoziale Angebote, wie eine erste Stabilisierung, eine aktive Einbindung in soziale Netzwerke oder gezielte Verhaltensaktivierungen, hilfreich und notwendig. Auch hier können niedrigschwellige Angebote der PSZ greifen.
Wichtig ist, dass die Fördermittel längerfristig zur Verfügung stehen, um die kontinuierliche Arbeit der PSZ gewährleisten zu können und den Abbruch von Therapien sowie den Verlust von qualifiziertem Fachpersonal zu vermeiden. Vielerorts ist es aufgrund des Fachkräftemangels schwierig, insbesondere Psychotherapeut:innen, aber auch Sozialpädagog:innen, für diese verantwortungsvolle Aufgabe zu gewinnen.
Die PSZ sind fast alle Mitglied in einem der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrpflege. Die Verbände übernehmen die Koordinierung und fachliche Unterstützung und leiten die entsprechenden Fördergelder an die PSZ weiter. Sie engagieren sich in der Qualifizierung der Fachkräfte, der Qualitätssicherung, fördern die Vernetzung und stimmen sich hinsichtlich der Förderung der PSZ ab.
Die BAfF als Dachverband der Psychosozialen Zentren ist seit 25 Jahren zentraler Akteur für die Bündelung der Kompetenzen in den Bereichen psychosoziale Versorgung und Trauma nach kollektiver Gewalterfahrung, Folter und Flucht die Begleitung, die Qualitätssicherung und Weiterentwicklung der Arbeit der Psychosozialen Zentren im gesamten Bundesgebiet. Mit den steigenden Anforderungen in der strukturellen Weiterentwicklung der PSZ wachsen auch die Anforderungen an die Verbände und die BAfF.
Für die fachliche Begleitung der PSZ und die Koordinierung im Rahmen der Flüchtlingssozialarbeit braucht es ebenfalls eine angemessene öffentliche Förderung.
[1] „Mehr Fortschritt wagen. Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit. Koalitionsvertrag zwischen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP 2021, S. 140, Link: https://www.spd.de/fileadmin/Dokumente/Koalitionsvertrag/Koalitionsvertrag_2021-2025.pdf, weiter heißt es dort: „Dazu gehört auch weiterhin eine Beteiligung des Bundes an den Kosten der Flüchtlingsunterbringung, -versorgung und –integration”, S. 128
[2] Vgl. Link: https://www.baff-zentren.org/aktuelles/appell-an-die-bundesregierung/
[3] Durchschnittliche Zahl der Erstasylanträge von 2017 bis 2021 (keine Folgeanträge), dabei bedingt durch die Corona-Pandemie deutlicher Rückgang in 2020
[4] Die Finanzierung ist jedoch nicht bedarfsdeckend. 40 PSZ meldeten im Jahr 2019, dass sie ca. 12.000 behandlungs- oder unterstützungsbedürftigen Menschen, aufgrund fehlender Kapazitäten kein Angebot machen konnten. Darüber hinaus gibt es zahlreiche Menschen, die einen entsprechenden Bedarf haben, aber nicht bei einem PSZ registriert sind. Dies ergibt sich bereits daraus, dass mehrere Regionen in Deutschland nicht über das Angebot eines PSZ verfügen.
[5] Entsprechend Art. 22 Richtlinie 2013/33/EU (Aufnahmerichtlinie)
[6] Vgl. Gäbel, U., Ruf, M., Schauer, M., Odenwald, M. & Neuner, F. (2006). Prävalenz der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTSD) und Möglichkeiten der Ermittlung in der Asylverfahrenspraxis. Zeitschrift für Klinische Psychologie und Psychotherapie, 35 (1), S. 12–20, siehe auch Referenzen in: Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina (2018). Stellungnahme. Traumatisierte Flüchtlinge – schnelle Hilfe ist jetzt nötig, S. 8. Die AOK hat im Jahr 2018 eine Studie zur subjektiven Einschätzung des (mentalen) Gesundheitszustands von Geflüchteten aus den damaligen Hauptherkunftsländern Syrien, dem Irak und AFG durchgeführt. Ca. 30 bis 40% beklagen klassische Symptome, die mit PTBS und Trauma in Verbindung gebracht werden, siehe Gesundheit von Geflüchteten in Deutschland – Ergebnisse einer Befragung von Schutzsuchenden aus Syrien, Irak und Afghanistan (aok-bv.de)
[7] Vgl. Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina (2018): Stellungnahme. Traumatisierte Flüchtlinge – schnelle Hilfe ist jetzt nötig, S. 18f, Link: 2018_Stellungnahme_traumatisierte_Fluechtlinge.pdf (leopoldina.org)
[8] Vgl. Leopoldina, ebd. S 8.
[9] Vgl. https://www.baff-zentren.org/aktuelles/keine-behandlung-mit-der-ermaechtigung/
[10] Siehe Bundesweite Arbeitsgemeinschaft der Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer e. V. (2020). Datenbericht. Datenlage zur psychosozialen Versorgung von Überlebenden von Krieg, Folter und Flucht in Deutschland, S. 4 Link: https://www.baff-zentren.org/wp-content/uploads/2022/01/Datenbericht-Versorgung-BAfF-2019.pdf
[11] Ebd.
[12] Ebd.
[13] Ebd., S. 8
[14] Siehe Bundesweite Arbeitsgemeinschaft der Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer e. V. (2020). Datenbericht. Datenlage zur psychosozialen Versorgung von Überlebenden von Krieg, Folter und Flucht in Deutschland, URL: Datenbericht-Versorgung-BAfF-2019.pdf (baff-zentren.org)
[15] siehe Abschnitt 1, Fußnote 6
]]>Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege bedankt sich für die Gelegenheit zur Stellungnahme. In unserem Verbund sind ca. 600 Betreuungsvereine, sowie ca. 140 vormundschaftsführende Vereine aktiv. In den Arbeitsfeldern Altenhilfe, Behindertenhilfe, Sozialpsychiatrie und Kinder- und Jugendhilfe mit ihren zahlreichen Diensten und Einrichtungen erfahren Menschen Beratung, Begleitung und Unterstützung.
Der Verordnungsentwurf enthält im Wesentlichen die Voraussetzungen, die für die Registrierung gem. § 23 Absatz 3 BtOG vorliegen müssen: die persönliche Eignung und Zuverlässigkeit, eine ausreichende Sachkunde und der Nachweis einer Berufshaftversicherung. Diese Kriterien zur Steigerung und Sicherung der Qualität in der rechtlichen Betreuung werden ausdrücklich begrüßt.
Wir setzen hier allerdings voraus, dass die im Reparaturgesetz vorgesehene Änderung rechtzeitig in Kraft tritt, die es beruflichen Betreuern, die rechtliche Betreuungen als Mitarbeiter:innen eines anerkannten Betreuungsvereins führen wollen, ermöglicht, den zur Registrierung als beruflicher Betreuer erforderlichen Sachkundenachweis im Laufe eines Jahres zu vervollständigen und bereits vorher als berufliche/r Betreuer:innen tätig zu sein. Für die Betreuungsvereine ist es unerlässlich, dass neue Mitarbeitende von Beginn an Betreuungen führen, die auch mit dem Gericht abgerechnet werden können.
Im Folgenden soll es wesentlich um die Regelungen zum Nachweis der ausreichenden Sachkunde gehen.
In § 3 BtRegV-E wird der Inhalt und Umfang der erforderlichen Sachkunde konkretisiert. Hier sind folgende Sachgebiete genannt und näher definiert:
- Kenntnisse des Betreuungs- und Unterbringungsrechts (einschließlich Verfahrensrecht und Personen- und Vermögenssorge)
- Kenntnisse des sozialrechtlichen Unterstützungssystems
- Kommunikationskompetenz und Methoden unterstützter Entscheidungsfindung
Diese Kenntnisse sind geeignet und erforderlich, da von jeder/m beruflichen Betreuer:in zu erwarten ist, dass sie/er für die Übernahme von verschiedenen Arten von Betreuungsfällen mit unterschiedlichen Graden der Komplexität zur Verfügung stehen und damit letztlich auch die gesamte Bandbreite der eventuell zu besorgenden Angelegenheiten mit der notwendigen Qualität erfüllen kann.
Nach § 4 BtRegV-E kann diese Sachkunde durch unterschiedliche Nachweise erbracht werden:
- Ein Zeugnis über den erfolgreichen Abschluss eines anerkannten Studien-, Aus- oder Weiterbildungslehrgangs,
- Ein Zeugnis über den erfolgreichen Abschluss eines anerkannten Sachkundelehrgangs oder
- Durch anderweitige Nachweise
In der Praxis wird die Sachkunde in den ersten Jahren durch den Besuch eines zertifizierten Sachkundelehrgangs erworben werden. Bisher gibt es nur wenige Hochschulen, die im Studiengang Soziale Arbeit die erforderlichen Kenntnisse ausreichend vermitteln. In unseren Betreuungsvereinen machen wir die besten Erfahrungen mit Absolvent:innen Sozialer Arbeit, die sich noch zusätzlich rechtliche Kenntnisse angeeignet haben. Sie stellen auch die größte Gruppe der Vereinsbetreuer:innen dar. Dies sollte unserer Auffassung nach auch so bleiben. Daran ist der vorliegende Entwurf der BtRegV zu messen. Wir machen darauf aufmerksam, dass Absolvent:innen des Studiengangs Soziale Arbeit eine staatliche Anerkennung erhalten. Trotzdem werden sie nun, in aller Regel, für die Registrierung als berufliche/r Betreuer:in, welches eine gesetzliche Aufgabe ist, einen zusätzlichen Sachkundelehrgang absolvieren müssen. Dieser Lehrgang ist bis jetzt nicht kostenfrei geplant.
Hierdurch ergeben sich für die Betreuungsvereine zwei grundsätzliche Probleme.
1. Nicht refinanzierte Vergütung der Qualifikation
Mit der Notwendigkeit für Mitarbeitende, die zum 1.1.2023 noch nicht drei Jahre als Berufsbetreuer:in bestellt sind, sowie für neue Mitarbeitende den Sachkundelehrgang zu finanzieren, sind erhebliche Kosten für die Betreuungsvereine verbunden.
Ein gesamter Sachkundelehrgang umfasst 360 UE (270 Zeitstunden), das entspricht ca. 45 Arbeitstagen, bei 8 UE pro Tag bzw. 9 Arbeitswochen.
Zwar stellen viele Betreuungsvereine in Trägerschaft der Wohlfahrtsverbände bevorzugt Absolventen des Studiengangs Soziale Arbeit ein, die lediglich den Nachweis von Sachkundelehrgängen mit 160 UE (120 Zeitstunden) benötigen. Allerdings entspricht auch dies noch ca. 20 Arbeitstagen, bei 8 UE pro Tag, bzw. 4 Arbeitswochen.
Mitarbeitende in Betreuungsvereinen haben während des notwendigen Erwerbs der Sachkunde bereits einen vollen Anspruch auf Lohnzahlungen gegenüber dem Betreuungsverein. Insofern ist die Kostenrechnung des Entwurfs an dieser Stelle verkürzt. Denn sie berücksichtigt nicht, dass die Betreuungsvereine noch die Kosten für die notwendige Freistellung zur Absolvierung des Lehrgangs werden tragen müssen.
Für die Betreuungsvereine entstehen diese Kosten (in Gänze oder Teilweise) für alle Mitarbeitenden, die im Verein seit dem 1.1.2020 eingestellt wurden! Diese Kosten lassen sich zurzeit nicht durch die VBVG-Vergütung refinanzieren. Für die Vereine potenzieren sich durch die angedachten Regelungen die entstehenden Kosten, hierdurch wird für viele Vereine eine existenzielle Bedrohung entstehen.
2. Wohlfahrtsverbände als Anbieter von Sachkundelehrgängen
Die BAGFW spricht sich für eine Anerkennung von Sachkundelehrgängen aus. Dies fördert die Qualität der Lehrgänge und stellt eine Sicherheit für die Absolventen dar, dass ihre Nachweise auch anerkannt werden.
Die Wohlfahrtsverbände bilden schon jetzt berufliche Betreuer:innen fort und sind daher grundsätzlich geeignet, auch zukünftig die entsprechenden Sachkundelehrgänge anzubieten. Aufgrund der in vielen Betreuungsvereinen geltenden, internen Qualitätsstandards beschäftigen die uns angeschlossenen Vereine überwiegend Sozialarbeiter:innen. Daher besteht bei den Wohlfahrtsverbänden das Interesse, zukünftig lediglich kürzere Sachkundelehrgänge für die Module 1 bis 7 anzubieten und sich dafür anerkennen zu lassen. Es sollte deswegen die Möglichkeit bestehen, sich als gemeinnütziger Anbieter von Sachkundelehrgängen auch für die verkürzten Sachkundelehrgänge anerkennen zu lassen.
Des Weiteren scheint es aus unserer Sicht sinnvoll, die im Entwurf genannte maximale Selbstlernzeit von 15 % für die Module 1 bis 9 zu erhöhen. Insbesondere dann, wenn die Teilnehmenden bereits über einen ersten Studienabschluss verfügen, der bereits Teilkenntnisse aus den Inhalten des Sachkundelehrgangs vermittelt hat. Diese Zeiten könnten dann z.B. mit der Anfertigung von Praxisarbeiten verbracht werden, die zu einer wissenschaftlich geprägten Reflexion der eigenen Berufspraxis genutzt werden.
Fazit:
Wir begrüßen die Einführung eines verbindlichen Qualifikationsprofils für rechtliche Betreuer:innen, da dies die Qualität in der rechtlichen Betreuung insgesamt sichern wird.
Aus Sicht der BAGFW wird es jetzt darauf ankommen, die Umsetzung der BtRegV in der Praxis zu beobachten, auszuwerten und angemessen auf Regelungen, die in der Praxis nicht praktikabel sind, zu reagieren.
Außerdem wird die Frage der Erhöhung der Betreuervergütung wieder aufgegriffen werden müssen, denn die Erbringung der rechtlichen Betreuung in höherer Qualität hat auch eine Kostensteigerung für die Betreuungsvereine zur Folge. In der Stellungnahme zum Gesetz zur Reform des Vormundschafts- und Betreuungsrechts wurde bereits angeregt, dessen Evaluierung mit der Evaluierung des VBVG in 2024 zu verbinden. Dieser Hinweis soll in diesem Zusammenhang bekräftigt werden.
]]>Zusammenfassende Bewertung
Die BAGFW bewertet die Empfehlungen insgesamt positiv, weil dadurch die Weiterführung einer zuverlässigen Unterstützung für Betriebe und Menschen mit Behinderungen beim Thema Teilhabe am Arbeitsleben unterstützt und gesichert wird.
Die BAGFW begrüßt die Verdeutlichung, dass der IFD der zentrale Dienst für alle genannten Themen für alle Rehabilitationsträger unter Koordination des Integrationsamtes ist.
Zu §§ 1, 5 Rechtliche Grundlagen und Anlässe für eine Beauftragung
Nach § 1 Abs. 3 der GE ist die in § 193 Abs. 2 Nr. 2. SGB IX genannte Aufgabe (Berufsorientierung und Berufsberatung in den Schulen) nicht Teil der Gemeinsamen Empfehlung. Dies ist systemkonform, da es sich um keine Leistung der Rehabilitation handelt. Da die Änderung in der Praxis für Irritation gesorgt hat, regt die BAGFW an, durch einen entsprechenden Halbsatz in § 1 Abs. 3 der GE den Hintergrund des Ausschlusses zu erläutern.
Nach § 5 Abs. 2 der GE können die Übergänge aus der Schule Anlass für eine Beauftragung des IFD sein. Nach Auffassung der BAGFW sollte die vielerorts gute und enge Zusammenarbeit gerade am Übergang von der Schule zum allgemeinen Arbeitsmarkt weiter ausgebaut werden, um die Chancen schwerbehinderter junger Menschen zur Teilhabe am Arbeitsleben zu erhöhen und einen schnellen und nahtlosen Übergang schwerbehinderter junger Menschen in Ausbildungsverhältnisse zu ermöglichen. Dies gilt insbesondere für Schülerinnen und Schüler mit Behinderungen, die inklusiv beschult werden. Dafür sollte die sehr allgemeine Formulierung in § 5 Abs. 2 der GE mit konkreten Beispielen unterlegt werden, wie beispielsweise der Vermittlung in ein Ausbildungsverhältnis.
Zu § 2 Strukturverantwortung
Die BAGFW begrüßt, dass die Begrenzung auf den Bereich der betrieblichen Ausbildung (§ 193 Abs. 2 Nr. 3) in der neuen GE IFD nicht mehr enthalten ist. Dies ermöglicht nun eine Vermittlung auch in außerbetriebliche Ausbildungsgänge und führt zu einer Verbreiterung der Zugangsoptionen der Zielgruppe und somit zu mehr Inklusion.
Zu § 9 Zusammenarbeit auf Bundes- und Landesebene
Die BAGFW begrüßt die Einberufung eines Bundesausschusses IFD. In der Praxis zeigt sich, dass die Kooperation der Rehabilitationsträger in den Bundesländern sehr unterschiedlich ausgestaltet werden. Es kommt vor, dass die Integrationsfachdienste in sehr wenigen Fällen beauftragt werden. Die Rehabilitationsträger beauftragen andere Träger mit den IFD-typischen Unterstützungsleistungen, diese Leistung wird gar nicht erbracht oder es werden andere Maßnahmen belegt.
Der Bundesausschuss sollte zu einer Vereinheitlichung der Zugangswege und Umsetzung des IFD und somit zu mehr Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse für Menschen mit Behinderungen in Deutschland führen. Er kann befördern, dass in Zukunft in allen Bundesländern ein kompetenter und leistungsstarker IFD Arbeitgebern und Menschen mit Behinderungen als niedrigschwelliger Ansprechpartner zur Verfügung steht. Der Bundesausschuss kann auch dazu beitragen, dass sich die teilweise sehr unterschiedlichen Umsetzungsbedingungen in den Ländern nicht zu Lasten der Menschen und Betriebe auswirken.
Zu Anlage Vergütungspauschalen Absatz 4 und 5
Als Vergütung für eine fachdienstliche Stellungnahme werden monatliche Pauschalen von 528 Euro festgelegt. Dies ist gegenüber der bisher geltenden Vergütung eine Anhebung von 48 Euro.
Dies ist aus Sicht der BAGFW nicht ausreichend: Legt man z.B. den aktuell in Hessen geltenden Fachleistungsstundensatz zugrunde, ergäbe sich daraus eine Finanzierung im zeitlichen Umfang von sechs Stunden. Das Integrationsamt Hessen hat die zu vergütenden Fachleistungsstunden für eine fachdienstliche Stellungnahme auf neun Stunden erhöht (da der Stundensatz in Hessen 79 Euro beträgt, ergibt sich sein Betrag von 711 Euro). Zwar sieht die Regelung die Möglichkeit vor, im Einzelfall vor Inanspruchnahme eine abweichende Regelung zu treffen. Mit Blick auf den regelmäßig höheren zeitlichen Aufwand liegt es näher, die monatliche Pauschale grundsätzlich höher anzulegen.
]]>Im Folgenden äußern wir uns unter II. zu den Fragen, die der Senat in seiner Anfrage an die sachverständigen Dritten formuliert hat. Die vollständigen Ergebnisse einer Umfrage, die die Verbände der BAGFW durchgeführt haben, um die Fragen möglichst aussagekräftig beantworten zu können, sind im Anhang wiedergegeben.
]]>Da gemeinsame Standards entscheidend sind, um die soziale Aufwärtskonvergenz zwischen den EU-Mitgliedstaaten zu verwirklichen, muss das mittelfristige Ziel jedoch weiterhin sein, einen rechtsverbindlichen (!) EU-Rahmen für Mindestsicherungssysteme zu schaffen, zum Beispiel in Form einer EU-Richtlinie.
Bereits in der Vergangenheit wurden mehrere unverbindliche Initiativen zur Unterstützung von angemessenen Mindesteinkommensregelungen angestoßen. Zuletzt durch die Ratsschlussfolgerungen vom 9. Oktober 2020 zur „ Stärkung der Mindestsicherung in der COVID-19-Pandemie und darüber hinaus “. Die im November 2017 verabschiedete Europäische Säule sozialer Rechte beinhaltet als 14. Grundsatz zudem, dass „jede Person, die nicht über ausreichende Mittel verfügt, […] in jedem Lebensabschnitt das Recht auf angemessene Mindesteinkommensleistungen, die ein würdevolles Leben ermöglichen, und einen wirksamen Zugang zu dafür erforderlichen Gütern und Dienstleistungen […] “ hat. Keines dieser Instrumente ist für die EU-Mitgliedstaaten rechtsverbindlich, weshalb ihre Auswirkungen auf die Verbesserung der Mindesteinkommensregelungen in der EU sehr begrenzt geblieben sind. Nur wenn jeder Mitgliedstaat verpflichtet wird, ein angemessenes, befähigendes und zugängliches Mindestsicherungssystem zu schaffen, kann Armut und soziale Ausgrenzung in der Europäischen Union wirksam bekämpft werden. Starke Mindestsicherungssysteme können Chancengleichheit, Teilhabe, Zukunftsperspektiven und ein Leben in Würde ermöglichen. Menschen werden vor verfestigter Armut und sozialer Ausgrenzung geschützt und sozialer Zusammenhalt wird gefördert.
Der Vorschlag für die geplante Ratsempfehlung sollte daher insbesondere eine möglichst zeitnahe Festlegung auf einen rechtsverbindlichen Rahmen in Form einer Richtlinie beinhalten, ohne die nationalen Mindestsicherungssysteme zu harmonisieren. Ein rechtlicher Rahmen für nationale Mindestsicherungssysteme sollte lediglich dazu dienen, Mindeststandards zu setzen, die weniger leistungsfähige Mitgliedsstaaten nicht überfordern, leistungsstarke Mitgliedstaaten aber nicht daran hindern, ein höheres Schutzniveau zu gewährleisten. Weniger leistungsfähige Mitgliedstaaten sollten für die Schaffung bzw. Stärkung sozialer Mindestsicherungssysteme zudem Unterstützung, gegebenenfalls auch finanziell, erhalten.
Ein verpflichtender Rahmen sollte insbesondere Kriterien für die hinreichende Ermittlung, Finanzierung und Gewährleistung des Existenzminimums beinhalten. Der Maßstab für die Existenzsicherung muss die individuelle Teilhabe in sozialer, kultureller und wirtschaftlicher Hinsicht sein. Bei der Festlegung der Höhe muss zudem berücksichtigt werden, dass eine existenzsichernde Mindestsicherung ausreichend bemessen sein sollte, um in besonderen Krisensituationen besondere Härten abfedern zu können. Arbeitsförderung und eine auskömmliche Existenzsicherung müssen als gleichberechtigte Ziele behandelt werden, um auch für Menschen, die nicht mehr oder noch nicht in die Arbeitswelt einbezogen sind, das Recht auf Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu sichern. Eine rechtliche Absicherung der existenzsichernden Grundlagen ist eine geeignete Maßnahme zur Armutsbekämpfung und essentiell, um die selbstgesetzte Zielvorgabe zu erreichen, die von Armut betroffenen Menschen in der EU bis 2030 um 15 Millionen zu senken. Die sozialen Mindestsicherungssysteme in den Mitgliedstaaten sollten an der Europäischen Grundrechtecharta ausgerichtet werden.
]]>Die in der BAGFW zusammengeschlossenen Wohlfahrtsverbände verfügen über langjährige Erfahrung in der Durchführung behördenunabhängiger Asylverfahrensberatung. Sie setzen sich bereits seit vielen Jahren für die Förderung einer flächendeckenden, behördenunabhängigen und bundesgeförderten Asylverfahrensberatung ein[2] und begrüßen sehr, dass sich die neue Bundesregierung dazu verpflichtet hat
Wenn Geflüchtete Zugang zu unabhängiger, unentgeltlicher Asylverfahrensberatung haben, wirkt sich dies positiv auf Rechtsstaatlichkeit, Fairness, Qualität und Effizienz des Asylverfahrens aus. Weiterhin können besondere Bedarfe (zum Beispiel auf Grund von Traumatisierung, Krankheit oder Behinderung) im Rahmen des Asylverfahrens besser identifiziert werden. Die Erfahrungen der Verbände decken sich insofern mit den Ergebnissen des im Jahr 2017 von drei Wohlfahrtsverbänden und dem BAMF durchgeführten Pilotprojekts „Asylverfahrensberatung“, welches von UNHCR und der Forschungsabteilung des BAMF evaluiert wurde. Eine behördenunabhängige Asylverfahrensberatung kann zudem dazu beitragen, dass die Stellung aussichtsloser Asylanträge vermieden wird. Sie trägt zur Steigerung der Qualität der Asylbescheide bei, wodurch mittelbar auch die Verwaltungsgerichte entlastet werden. Die Verbände verfügen über langjährige Erfahrung in der Beratungsarbeit und ein umfangreiches Netzwerk unterschiedlicher Beratungs- und Unterstützungsangebote wie Psychosozialen Zentren, Schwangerschaftsberatung, Asylsozialberatung.
Folgende Eckpunkte sind aus Sicht der BAGFW für die bevorstehende Einführung einer bundesgeförderten, behördenunabhängigen Asylverfahrensberatung wesentlich:
Gesetzesgrundlage
- Die aktuelle Regelung des § 12a AsylG weist die Zuständigkeit für die Asylverfahrensberatung in erster Linie dem BAMF zu, erst auf der sog. Stufe 2 sind die Wohlfahrtsverbände genannt. Zur Umsetzung einer behördenunabhängigen Asylverfahrensberatung bedarf es daher einer gesetzlichen Änderung.
- Ein entsprechender Gesetzesentwurf sollte eng mit den Verbänden abgestimmt werden und folgende Kriterien enthalten:
- Eine behördenunabhängige Asylverfahrensberatung umfasst eine rechtliche Beratung im Sinne des Rechtsdienstleistungsgesetzes (RDG).
- Die Asylsuchenden haben schon vor der Asylantragsstellung die Möglichkeit, die Asylverfahrensberatung in Anspruch zu nehmen. Hierfür wird in Zusammenarbeit mit den für die Aufnahme zuständigen Bundesländern ein geeignetes Zeitfenster insbesondere schon vor der Antragsstellung sichergestellt.
- Die Durchführung des Bundesprogrammes zur Asylverfahrensberatung wird durch die Wohlfahrtsverbände verantwortet.
- Die entsprechenden Mittel werden aus dem Bundeshaushalt zur Verfügung gestellt.
- Allgemeine Informationen über den Ablauf des Asylverfahrens erfolgen durch das BAMF gem. § 24 Abs. 1 Satz 2 AsylG.
Gesicherte Finanzierung
- Die Sicherstellung einer behördenunabhängigen flächendeckenden Asylverfahrensberatung erfordert die feste Verankerung im Bundeshaushalt im Sinne einer mehrjährig zu bewilligenden sachgerechten und umfassenden Finanzierung.
- Die Verbände gehen bei angenommen 175.000 Asylantragstellenden im Jahr von einem jährlichen Finanzierungsbedarf seitens des Bundes von 61 Mio. EUR aus. Darin enthalten sind 43 Mio. EUR Personalkosten und Sachkosten, 13 Mio. EUR für Sprachmittlung, weitere 2,1 Mio. EUR für Maßnahmen der Qualitätssicherung und 2,9 Mio. EUR für die koordinierende Fachbegleitung.[3]
Zielgruppe und Zeitraum der Beratung
- Zielgruppe der unabhängigen Asylverfahrensberatung sind alle Schutzsuchenden, einschließlich der Folgeantragstellenden.
- Der Zugang zur Asylverfahrensberatung ist frühestmöglich vor der Asylantragstellung und bis zum rechtskräftigen Abschluss des Asylverfahrens sicherzustellen.
- Um die Ratsuchenden auch tatsächlich zu erreichen und deren Aufnahmefähigkeit nach den Belastungen durch die Flucht sicher zu stellen, müssen von Beginn an und im weiteren Verfahrensablauf ausreichende Zeitfenster für die Beratung eingeplant werden.
- Die Inanspruchnahme der Asylverfahrensberatung ist freiwillig.
Ort und Räumlichkeiten der Beratung
- Es muss gewährleistet sein, dass während des gesamten Asylverfahrens ein niedrigschwelliger Zugang zur Asylverfahrensberatung seitens der Schutzsuchenden gewährleistet wird. Dies kann auch ein Beratungsangebot außerhalb der Erstaufnahmeeinrichtung erfordern.
- Der Zugang zu Erstaufnahmeeinrichtungen mit dem Zweck der Beratung muss sichergestellt werden. In der Regel sollte die Asylverfahrensberatung in den Erstaufnahmeeinrichtungen über eigene Räume verfügen.
- Auf die Angebote wird transparent und mehrsprachig hingewiesen.
- Die Beratungsstelle ist räumlich und technisch für ihre Aufgaben ausgestattet.
Zentrale Inhalte der Beratung
- Die Asylverfahrensberatung beinhaltet eine individuelle Rechtsberatung im Sinne des Rechtsdienstleistungsgesetzes sowohl zum Dublin- als auch zum Asylverfahren.
- Gegenstand der individuellen Beratung sind insbesondere Ziel und Zweck, Ablauf, Zuständigkeiten, Rechte und Pflichten, Handlungsmöglichkeiten im Asyl- und Aufnahmeverfahren sowie Rechtsfolgen des Asylverfahrens. Es erfolgt eine Beratung zu den individuellen Erfolgsaussichten und ggf. Erörterung von Alternativen zum Asylverfahren.
- Eine weitere zentrale Aufgabe der Asylverfahrensberatung ist die Vorbereitung auf die Anhörung, auf Wunsch auch die Begleitung in die Anhörung, die Nachbereitung der Anhörung inklusive der Durchsicht des Protokolls auf Richtigkeit und Vollständigkeit, die Beratung zum Bescheid und ggf. zu weiteren Folgeschritten.
- Aufgabe der Asylverfahrensberatung ist es, Asylantragstellende bei der Erfüllung ihrer Mitwirkungspflichten (z. B. Beschaffung von Ausweisdokumenten und Attesten) während des gesamten Asylverfahrens bis zu seinem rechtskräftigen Abschluss zu unterstützen.
- Die Asylverfahrensberatung unterstützt bei der Identifizierung besonderer Schutzbedarfe und der Geltendmachung von besonderen Verfahrensgarantien.
- Sie arbeitet bei Bedarf mit zuständigen Behörden und anderen, einschlägigen Fachberatungsstellen und Rechtsanwält*innen zusammen.
Qualität der Beratung
- Um eine zielgerichtete, effiziente Aufgabenwahrnehmung sicherzustellen, werden hauptamtliche Asylverfahrensberatende eingesetzt, die über ein hohes Maß an fachlicher und persönlicher Qualifikation verfügen. Der Beratungsschlüssel übersteigt 1:150 nicht.
- Die Berater*innen verfügen über ein abgeschlossenes Hochschulstudium der Sozialen Arbeit, Rechts- oder Sozialwissenschaft oder eine vergleichbare Qualifikation, Kenntnisse von und Erfahrung in unterschiedlichen Beratungsmethoden, fundierte Kenntnisse im Asyl- und Aufenthaltsrecht sowie über Herkunftsländerinformationen. Beratende, die die Aufgabe neu übernehmen, werden mithilfe von Schulungen qualifiziert.
- Während des Einsatzes in der Asylverfahrensberatung erfolgt eine kontinuierliche Anleitung durch Volljurist*innen (z. B. Mitgliedern der Rechtsberaterkonferenz der Verbände) sowie Fort- und Weiterbildung der Mitarbeitenden (entsprechend § 6 Abs. 2 RDG). Dazu kommen ein regelmäßiger fachkollegialer Austausch sowie Supervision durch externe Fachkräfte.
- Ein Kodex in Anlehnung an den Nairobi Code (2007) und auf der Basis berufsethischer Standards der Sozialen Arbeit regelt das professionelle Verhalten der Beratenden gegenüber den Ratsuchenden und Behörden.
- Es werden qualifizierte Sprachmittelnde eingesetzt.
- Alle Beteiligten halten die Schweigepflicht und datenschutzrechtliche Vorgaben ein.
- Die Verbände stellen eine koordinierende Fachbegleitung, die die Qualitätssicherung und Qualifizierung der Asylverfahrensberatung zum Beispiel durch die Entwicklung und Durchführung von Fortbildungen unterstützt und als Koordinationsstelle für alle Fragen der fachlichen Begleitung dient. Die Finanzierung und Abwicklung erfolgt im sog. Zentralstellenverfahren.
- Die Qualitätssicherung erfolgt auf der Basis der von den Verbänden erarbeiteten Indikatoren und Verfahren.
Kooperation und Zusammenarbeit mit relevanten Akteuren
- Das Bundesprogramm zur Asylverfahrensberatung wird durch die Wohlfahrtsverbände umgesetzt. Die Asylverfahrensberatung vor Ort kann bei Bedarf in Kooperation mit anderen Akteuren der Flüchtlingsarbeit und Migrantenselbstorganisationen mit entsprechender Expertise durchgeführt werden.
- Ein regelmäßiger Austausch aller relevanten Akteure vor Ort sowie auf Bundes- und Landesebene stellt sicher, dass die Informations- und Beratungsangebote gut ineinandergreifen und sich sinnvoll ergänzen.
- Die Träger der Asylverfahrensberatung stehen im Austausch mit den zuständigen Behörden in den Ländern. Sie werden in relevante Prozesse des Aufnahmeverfahrens einbezogen, damit Beratungsprozesse optimal angepasst werden können. Dies ist für die Sicherstellung passender Zeitfenster für die Beratung notwendig, aber auch für die Verortung von Angeboten in Abhängigkeit von der Zuweisungspraxis aus der Erstaufnahme in die Kommunen. Nur so ist es möglich, dass Ratsuchende die Beratung zeitnah niedrigschwellig während des gesamten Asylverfahrens aufsuchen können.
- Die Asylverfahrensberatung arbeitet mit relevanten Fachberatungsstellen wie beispielsweise Psychosozialen Zentren, Fachberatung für Opfer von Menschenhandel, Angebote zur Unterstützung von vulnerablen Geflüchteten zusammen und bindet diese sachgerecht ein.
[1] Vgl. „Mehr Fortschritt wagen. Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit. Koalitionsvertrag zwischen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP” 2021, Zeilen 4711 – 4713, Link: https://www.spd.de/fileadmin/Dokumente/Koalitionsvertrag/Koalitionsvertrag_2021-2025.pdf.
[2] Stellungnahmen der BAGFW „Unabhängige Asylverfahrensberatung – ein Beitrag zur Verbesserung von Fairness, Qualität und Effizienz des Asylverfahrens“ vom 14.11.2017:
Stellungnahme der BAGFW zur gesetzlichen Verankerung der Asylverfahrensberatung (§ 12a AsylG-E)vom 04.06.2019: https://www.bagfw.de/fileadmin/user_upload/Veroeffentlichungen/Stellungnahmen/2019/2019-06-04_BAGFW_Asylverfahrensberatung.pdf;
Stellungnahme der BAGFW „Bundesgeförderte, qualifizierte und behördenunabhängige
Asylverfahrensberatung (§ 12a Asylgesetz) Neue gesetzliche Aufgaben der Wohlfahrtsverbände vom 12.09.2019:
[3] Eine detaillierte Berechnung ist findet sich in: „Finanzierung einer bundesweiten flächendeckenden behördenunabhängigen Asylverfahrensberatung“ vom 16.03.2022.
]]>Beim Schutz von vulnerablen Personengruppen, die in Einrichtungen und Diensten nach § 23 Absatz 3 Satz 1 und § 36 Absatz 3 IfSG betreut und versorgt werden, ist dagegen jetzt schon klar, dass Testen auch über diesen Zeitraum hinaus erforderlich ist. Beispielhaft seien hier nur die Pflegeeinrichtungen oder Einrichtungen der Eingliederungshilfe genannt. Die Länder können gemäß § 28a Absatz 7 IfSG von ihrer Möglichkeit Gebrauch machen, Testungen in den Einrichtungen und Diensten bis längstens 23. September 2022 verpflichtend zu machen. Die Verbände der BAGFW fordern daher, dass die Test- und Testpersonalkosten in den Einrichtungen und Diensten in dem Maße und solange refinanziert werden, wie die Länder von dieser Verordnungsmöglichkeit Gebrauch machen. Aus Sicht der BAGFW muss ausgeschlossen werden, dass die Testkosten auf die Einrichtungen umgelegt und z.B. über Pflegesätze und Punktwerte refinanziert werden und letztendlich die Pflegebedürftigen mit ihren Eigenanteilen hierfür zahlen müssen.
Änderungsbedarf:
§ 18 Absatz 2 neu wird wie folgt geändert:
„Ausschließlich b Bis zum 31. Mai 2022 erbrachte Leistungen und entstandene Kosten können nach den §§ 7 bis 13 vergütet und abgerechnet werden. Sofern die Länder von ihrer Möglichkeit zur Verpflichtung zur Testung auf das Vorliegen einer Infektion mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 gemäß § 28a Absatz 7 Satz 1 Nr. 2 Gebrauch machen, können erbrachte Leistungen und entstandene Kosten nach den §§ 7 bis 13 über den 31. Mai 2022 hinaus bis längstens 23. September 2022 hinaus vergütet und abrechnet werden.“
]]>Mit großem Bedauern und großer Sorge nehmen wir jedoch zur Kenntnis, dass die gesetzgeberische Umsetzung in § 113c SGB XI, sowohl von den Ergebnissen des Projekts „PeBeM“ als auch von der Roadmap zur Umsetzung der Personalbemessung in der stationären Langzeitpflege des Bundesgesundheitsministeriums (BMG), deutlich abweicht. Wir fordern daher, eine volle Umsetzung der Ergebnisse des Projekts ohne willkürliche Abschläge, einhergehend mit einer Finanzreform der Pflegeversicherung. Vor allem darf bei der schrittweisen Umsetzung das Personalniveau in denjenigen Bundesländern, die bereits einen höheren Personalstandard haben, keine Unsicherheit entstehen. Der Gesetzgeber muss dazu den beabsichtigten Bestandsschutz lückenlos ausgestalten und ausweiten. Darüber hinaus ist zwingend eine Zielvorgabe als Garantie dergestalt zu formulieren, dass alle Einrichtungen am Ende ein höheres Personalniveau erzielen. Dafür sollte grundsätzlich für alle Einrichtungen der Weg eröffnet werden, auf Grundlage des Personalbemessungsinstrumentes mehr umzusetzen, als derzeit im Gesetz vorgesehen ist.
Aus Sicht der in der BAGFW organisierten Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege sind für eine erfolgreiche Umsetzung folgende Aspekte von besonderer Bedeutung:
- Der größte Bedarf an mehr Personal bei der Umsetzung entsteht bei den Pflegeassistenzkräften nach Landesrecht auf Ebene des Qualifikationsniveaus QN 3
- Es bedarf daher vor allem auch zusätzlicher Lehrkräfte, aber auch zusätzlicher Schulplätze.
- Die Ausbildung der Pflegeassistenzkräfte mit QN 3 muss in den Ländern forciert und finanziert werden, unterstützt durch eine bundesweite Ausbildungsoffensive.
- Dabei soll die Pflegeassistenzausbildung bundeseinheitlich geregelt werden und analog zur Pflegefachkraftausbildung finanziert und schließlich generalistisch sein. Dies ist auch erforderlich, um die Krankenhäuser für eine QN 3-Ausbildung zu gewinnen.
- Die Pflegeassistenzausbildung muss auch berufsbegleitend angeboten werden können.
- Es darf dabei keine Verschiebung von Kapazitäten der QN 4-Ausbildung (Fachkraftausbildung) zur Ausbildung der QN 3 geben.
- Es ist festzulegen, dass nach vollständiger Umsetzung des Personalbemessungsinstruments die den Personen mit QN 3 zugewiesenen Aufgaben nicht von Hilfspersonal ohne Ausbildung (QN 1 und 2) erbracht werden dürfen.
- Wenn in der Konvergenzphase aufgrund des Mangels an QN 3 eine Substitution bei QN 3 durch QN 4 erforderlich ist, muss dies in den Pflegesätzen berücksichtigt werden.
- Der Personalbedarf nach dem Algorithmus des Personalbemessungsinstruments lt. PeBeM-Studie ist perspektivisch zu 100 % umzusetzen.
- Aus unserer Sicht sollen 100 % des Personalmehrbedarfs aus PeBeM erreicht werden. Der Gesetzgeber muss zügig festlegen, in welchem Umfang die wissenschaftlichen Erkenntnisse aus PeBeM umgesetzt werden sollen. Hierzu ist ein langfristiger Stufenplan über einen Zeitraum von mindestens 10 Jahren mit allen Ausbaustufen festzulegen. Das bedeutet auch die Streichung bzw. Änderung von § 113c Absatz 7 SGB XI.
- Im ersten Schritt muss neben der im GVWG vorgesehenen Umsetzung von 40 % des Algorithmus 1.0 für Einrichtungen optional die Umsetzung von bis zu 100 % eröffnet werden.
- Der Algorithmus 1.0 muss spätestens zum 01.07.2022 in geeigneter Form veröffentlicht werden, möglichst früher.
- Der Algorithmus 1.0 muss zur einrichtungsindividuellen Berechnung des Personalbedarfs verankert werden.
- Das Modellprojekt nach § 8 Absatz 3b SGB XI muss mit möglichst oder zumindest annähernd 100 % des Algorithmus 1.0 durchgeführt werden und alle bisher nicht bearbeiteten Themen (Nachtdienst, Sterbebegleitung, Pflegefachkräfte höher als QN 4 etc.) sind im Modellprojekt aufzugreifen. Ebenso sind Empfehlungen für die Umsetzung in der Praxis sowohl für die erste Personalaufbaustufe nach § 113c SGB XI als auch für die volle Umsetzung des Algorithmus zu entwickeln.
- Eine Finanzreform der Pflegeversicherung muss der Umsetzung des Personalbemessungsinstrumentes vorausgehen.
- Die Umsetzung, einschließlich der Personal- und Organisationsentwicklung, muss refinanziert werden und das nicht zu Lasten der Pflegebedürftigen.
- Eine Finanzreform der Pflegeversicherung muss die Bewohner:innen konkret von diesen Zusatzkosten entlasten. Ohne diese Entlastung ist mindestens § 113 Absatz 6 SGB XI zu streichen, da ansonsten für die zusätzlichen Stellen nach § 8 Absatz 6 SGB XI und § 84 Absatz 9 SGB XI die Eigenanteile ab Juli 2023 steigen.
- Die Attraktivität des Pflegeberufs muss gesteigert werden, um entsprechend des steigenden Personalbedarfs Menschen für den Pflegeberuf zu gewinnen.
- Die Gleichwertigkeit aller Abschlüsse innerhalb der Generalistik sowie die gleiche Bezahlung muss sichergestellt werden, um mehr Menschen für die Ausbildung zu gewinnen und eine Abwanderung von Fachkräften aus sowie eine Dequalifizierung der Langzeitpflege zu verhindern.
- Darüber hinaus kann durch eine Weiterbildung oder eine der Pflegefachausbildung nachgelagerte, fachliche Spezialisierung auch in der Langzeitpflege berufliche Weiterentwicklungs- und Aufstiegsmöglichkeiten mit entsprechender besserer Bezahlung analog der stationären Akutpflege erreicht werden.
- Der Wertschöpfungsanteil im zweiten und dritten Ausbildungsjahr der generalistischen Pflegeausbildung ist abzuschaffen.
- Außerdem ist bei nicht vollständig abgeschlossener generalistischer Pflegeausbildung eine Berufsanerkennung auf QN 3 Niveau nach Landesrecht zu regeln.
- Die länderindividuellen ordnungsrechtlichen Regelungen sind mit dem Leistungsrecht zu verzahnen und mit dem Personalbemessungsinstrument zu harmonisieren.
- Insbesondere die Schnittstelle zum Ordnungsrecht der Länder u. a. in Bezug auf die Fachkraftquote, die perspektivisch im Personalmix durch einen Fachkraftanteil entsprechend dem Algorithmus ersetzt wird, ist zu klären.
Um ein solches Angebot flächendeckend zu etablieren, bedarf es einer verlässlichen Finanzierung, die fest im Bundeshaushalt verankert ist – also keinen Projektcharakter hat – und den tatsächlichen Bedarfen entspricht. Hierfür bietet sich eine mehrjährig zu bewilligende sachgerechte, umfassende Finanzierung an. Dazu ist eine Sicherstellung im Rahmen der mittelfristigen Finanzplanung notwendig, um den Trägern die nötige Planungssicherheit zu geben, so dass qualifiziertes Fachpersonal gewonnen und gehalten und die hohe Qualität der Beratung gesichert werden kann.
Die Wohlfahrtsverbände haben kalkuliert, dass für eine bundesweite flächendeckende, unabhängige und qualifizierte Asylverfahrensberatung mittelfristig jährlich ca. 61 Mio. EUR notwendig sind.
Folgende Parameter wurden für die Berechnung herangezogen:
- Ausgehend von den Zahlen der Asylanträge der vergangenen Jahre[1] gehen die Verbände von insgesamt ca. 175.000 Personen aus, die 2022 einen Asylantrag in Deutschland stellen werden. Unter den Antragstellenden sind häufig Familien, die zum Teil gemeinsam beraten werden können.[2] Daher sind 50% von den potentiell zu beratenden Personen abzuziehen. Es bleibt eine Summe von ca. 87.500 zu beratenden Personen. Die Verbände gehen davon aus, dass die Beratung faktisch von ca. 80% der Asylantragstellenden in Anspruch genommen wird, also von ca. 70.000 Personen.[3]
- Die Beratung erfolgt bedarfsgerecht, was insbesondere eine sorgfältige Anhörungsvorbereitung beinhaltet. Es sollte somit kein höherer Beratungsschlüssel als 150 zu beratende Personen pro Vollzeitkraft und Jahr angesetzt werden.
- Bei 70.000 Beratungsfällen und einem Beratungsschlüssel von max. 1:150 bedarf es ca. 470 Vollzeitstellen. Ausgehend von einer Eingruppierung in die Stufe EG 11 TVöD-Bund[4] ist mit ca. 92.000 EUR für Personalkosten und Sachkosten (gem. Sachkostenpauschale BMF) pro Vollzeitstelle zu rechnen, insg. 43 Mio. EUR.
- Mindestens während einem Viertel der Arbeitszeit einer Vollzeitstelle ist eine Sprachmittlung durch eine qualifizierte Fachkraft erforderlich. Es wird analog JVEG ein Stundenlohn von bis zu 70 EUR angesetzt. Bei 200 Arbeitstagen und 2 Stunden Sprachmittlung pro Vollzeitstelle täglich ergeben sich Kosten von ca. 13 Mio. EUR.
- Hinzu kommen Maßnahmen der Qualitätssicherung, wie Supervision und Weiterbildung der Beratungskräfte sowie die juristische Anleitung durch Volljuristinnen und Volljuristen. Hierfür werden 4.500 EUR pro Vollzeitstelle angesetzt. Es ergeben sich Kosten von 2,1 Mio. EUR.
- Darüber hinaus bedarf es der koordinierenden Fachbegleitung durch die Verbände. Zu den bereits berechneten Kosten von 58,1 Mio. EUR werden zu diesem Zweck 5 %, also 2,9 Mio. EUR, Overhead-Kosten addiert.
Insgesamt ergibt sich ein Bedarf für eine sachgerechte umfassende Finanzierung in Höhe von 61 Mio. EUR pro Jahr seitens des Bundes, ausgehend von 175.000 Asylantragstellenden im Jahr.
Bestehende Landesförderprogramme
Einige Bundesländer finanzieren bereits eine Beratung in Aufnahmeeinrichtungen für Flüchtlinge. Selbst dann, wenn eine Förderung der Asylverfahrensberatung der Verbände als Rechtsberatung entsprechend den jeweiligen Vorgaben des Landes grundsätzlich möglich ist, ist die Förderung zumeist bei weitem nicht bedarfsdeckend. Die Verbände wirken darauf hin, dass bestehende und neue Angebote gut aufeinander abgestimmt werden.
Stufenweiser Aufbau
Durch die MBE und eine Vielzahl von Beratungsangeboten insbesondere auch im Bereich der Flüchtlingssozialberatungen haben die Verbände jahrelange Erfahrung im Aufbau und der Unterhaltung von Beratungsstrukturen gesammelt. Insbesondere aufgrund des Fachkräftemangels in der Sozialen Arbeit wird es im ersten Jahr nicht möglich sein, die volle Leistungsfähigkeit herzustellen, so dass sich ein stufenweiser Aufbau empfiehlt. Hinzu kommt, dass eine Bewilligung und somit der Start des Bundesprogrammes im Jahr 2022 frühestens zur Jahresmitte erfolgen wird:
- 2022: 5 Mio. EUR für 80 Vollzeitstellen[5] (nur 2. Halbjahr)
- 2023: 20 Mio. EUR für 160 Vollzeitstellen
- 2024: 40 Mio. EUR für 320 Vollzeitstellen
- 2025: 61 Mio. EUR bzw. Anpassung an den Bedarf
[1] Siehe: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/76095/umfrage/asylantraege-insgesamt-in-deutschland-seit-1995/
[2] Vgl. hierzu die Zahlen des BAMF aus dem Jahr 2021:148.233 Asylerstantragstellende, davon 67.604 unter 16 Jahren, siehe: BAMF Asylgeschäftsstatistik Aktuelle Zahlen, S. 8: Asylgeschäftsstatistik Aktuelle Zahlen Bericht 12 / 2021 (bamf.de)
[3] Aufgrund der schnellen Taktung der Asylverfahren werden derzeit viele Antragstellende nicht vor der Anhörung erreicht. Deswegen sprechen die Verbände sich für einen angemessenen Zeitraum sowohl zwischen Asylgesuch und Antragstellung als auch zwischen Antragstellung und Anhörung aus.
[4] Die Eingruppierung erfolgt entsprechend des Tarifmerkmals des TVöD infolge der besonderen Schwierigkeit und Bedeutung der Beratungstätigkeit.
[5] einschließlich Kosten der Sprachmittlung, Qualitätssicherung und koordinierenden Fachbegleitung.
]]>Vor diesem Hintergrund bedanken sich die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege nachdrücklich für die Verlängerung des Schutzschirms nach § 150 SGB XI. Wir hoffen, dass die Impf- und Teststrategie zusammen mit der weiterhin gebotenen Einhaltung der Hygieneregelungen und der Abstandsgebote dazu führen wird, dass der Schutzschirm nach § 150 SGB XI ab dem Sommer 2022 nur noch wenig aufgespannt werden muss. Wir sind überzeugt und hoffen, dass die Impfquoten in Deutschland so gesteigert werden können, dass wir aus der Krise der Pandemie in eine endemische Phase gelangen können.
Neben den Regelungen zur Kostenerstattung für die Maßnahmen nach § 150 Absätze 1 bis 4 begrüßen wir die Verlängerung der Kostenerstattungsregelungen für die pandemiebedingten Mindereinnahmen und Mehraufwendungen der nach Landesrecht anerkannten Unterstützungsangebote im Alltag gemäß § 150 Absatz 5a. Viele Gruppenangebote haben behördliche Auflagen und Leistungserbringer können wegen des Abstandsgebots und der Hygieneregelungen ihre Betreuungsangebote nur in reduzierter Form anbieten.
Sehr positiv zu bewerten ist auch die Verlängerung des flexiblen Einsatzes des Entlastungsbetrags bei Pflegegrad 1 und die Verlängerung der Sonderregelung zum Pflegeunterstützungsgeld, das bis zum 30.6.2022 für bis zu 20 Arbeitstage statt regulär 10 Arbeitstage in Anspruch genommen werden kann. Mit diesen Maßnahmen werden pflegebedürftige Menschen und die sie betreuenden und versorgenden Angehörigen wirkungsvoll unterstützt.
Des Weiteren begrüßen wir, dass die Beratungsbesuche nach § 37 Absatz 3 SGB XI gemäß § 148 SGB XI weiterhin auf Wunsch des Pflegebedürftigen telefonisch oder digital stattfinden können. Dies hat sich bewährt und es sollte überlegt werden, auch nach der Krise diese Maßnahme mit Ausnahme des ersten Beratungsbesuchs zu verstetigen.
Auch sollte es weiterhin möglich sein, Pflegebegutachtungen gemäß § 147 Absatz 1 SGB XI auf der Grundlage von strukturierten Interviews telefonisch oder digital durchzuführen. Eine telefonische oder digitale Begutachtung sollte allerdings wirklich nur dann durchgeführt werden, wenn eine Begutachtung in der Häuslichkeit bzw. im Wohnbereich pandemisch nicht geboten scheint und dies auch der Pflegebedürftige nicht wünscht.
Weitergehender gesetzgeberischer Änderungsbedarf zu § 150 SGB XI
Es ist zeitnah damit zu rechnen, dass mit der Einführung der einrichtungsbezogenen Impfpflicht nach § 20a IfSG weitere Personalengpässe, die zu Versorgungsengpässen führen, erfolgen werden. Insbesondere in Regionen mit einem hohen Anteil an Impfskeptikern und Impfgegnern ist es trotz hohen Aufwands und Engagements, Pflegekräfte von der Wirksamkeit der Impfung zu überzeugen, nicht gelungen, die Impflücken flächendeckend zu schließen. Wir rechnen damit, dass es ab dem 15. März 2022 in bestimmten Einrichtungen zu erheblichen Beeinträchtigungen der Versorgung kommen kann, wenn die Gesundheitsämter gegenüber ungeimpften Mitarbeitenden ein Betretungsverbot aussprechen. Es muss diesen Einrichtungen ermöglicht werden, gemäß § 150 Absatz 1 SGB XI auch für diesen Fall eine Problemanzeige gegenüber den Pflegekassen abgeben zu können. Bislang regelt § 150 Absatz 1 SGB XI jedoch die Anzeigeverpflichtung der nach § 72 SGB XI zugelassenen Pflegeeinrichtungen, wenn wesentliche Beeinträchtigungen der Leistungserbringung in Folge des Coronavirus auftreten. Da die einrichtungsbezogene Impfpflicht keine unmittelbare, sondern nur eine mittelbare Folge des Auftretens des Coronavirus ist, sind Versorgungslücken in Folge der Einführung der einrichtungsbezogenen Impfpflicht in § 150 Absatz 1 SGB XI nicht rechtssicher umfasst. Entsprechend kann es zu unterschiedlichen Interpretationen kommen, ob diese Konstellationen auch vom Pflegeschutzschirm gemäß § 150 Absatz 2 bzw. Absatz 5 SGB XI gedeckt sind. Wir bitten zu prüfen, ob und wie diese Lücke entweder durch gesetzliche Regelungen oder untergesetzlich geregelt werden kann. Vorsorglich möchten wir einen entsprechenden gesetzlichen Änderungsvorschlag unterbreiten, wie folgt:
Änderungsbedarf:
§ 150 Absatz 1 ist wie folgt zu ergänzen:
„Im Fall einer wesentlichen Beeinträchtigung der Leistungserbringung in Folge des neuartigen Coronavirus SARS-Cov2 oder der einrichtungsbezogenen Impfpflicht gemäß § 20a IfSG ist der Träger einer Einrichtung nach § 72 verpflichtet, diese umgehend den Pflegekassen anzuzeigen.“
In § 150 Absatz 2 ist als neuer Satz 2 zu ergänzen: „Absatz 1 Satz 1 gilt entsprechend.“
§ 150 Absatz 5 ist wie folgt zu ergänzen:
„Die Pflegekassen können nach ihrem Ermessen zur Vermeidung von durch das neuartige Coronavirus SARS-CoV 2 oder der einrichtungsbezogenen Impfpflicht gemäß § 20a IfSG im häuslichen Bereich verursachten pflegerischen Versorgungsengpässen Kostenerstattung in Höhe der ambulanten Sachleistungsbeträge (§ 36) nach vorheriger Antragstellung gewähren, wenn die Maßnahmen nach Absatz 1 Satz 3 nicht ausreichend sind; dabei haben sie vorrangig Leistungserbringer zu berücksichtigen, die von Pflegefachkräften geleitet wurden.“
]]>Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege bedankt sich für die Gelegenheit zur Stellungnahme. In unserem Verbund sind ca. 600 Betreuungsvereine, sowie ca. 140 vormundschaftsführende Vereine aktiv. In den Arbeitsfeldern Altenhilfe, Behindertenhilfe, Sozialpsychiatrie und Kinder- und Jugendhilfe mit ihren zahlreichen Diensten und Einrichtungen erfahren Menschen Beratung, Begleitung und Unterstützung.
Der Referentenentwurf enthält im Wesentlichen die durch die Neufassung von EuZVO und EuBVO erforderlichen Änderungen der Zivilprozessordnung. Darüber hinaus sind Änderungen bei der grenzüberschreitenden Zustellung in Drittstaaten und bei der grenzüberschreitenden Beweisaufnahme vorgesehen, sowie weitere Anpassungen.
Der Entwurf enthält zudem Änderungen in sonstigen Vorschriften, die im Gefolge des Gesetzes zur Reform des Vormundschafts- und Betreuungsrechts vom 4. Mai 2021(BGBl. I S. 882) umzusetzen sind und spätestens zeitgleich mit diesem am 1. Januar 2023 in Kraft treten müssen.
Im Folgenden soll es wesentlich um die Regelungen zur Registrierung durch die Stammbehörde, die Voraussetzung für die berufliche Betreuungsführung ist, gehen.
Der vorliegende Referentenentwurf stellt eine konsequente Vervollständigung des Gesetzes zur Reform des Vormundschafts- und Betreuungsrechts vom 4. Mai 2021(BGBl. I S. 882) dar. Die meisten Regelungen ergeben sich zwingend aus dem genannten Reformgesetz und wurden in den Beratungen der vom BMJ eingesetzten Arbeitsgruppen ausführlich besprochen. Sie werden daher von uns ausdrücklich begrüßt.
Zu Artikel 6 (Änderung des Betreuungsorganisationsgesetzes BtOG)
In § 23 BtOG sollen erstmals durch die Einführung von Mindesteignungsanforderungen Vorrausetzungen für eine einheitliche Qualität aller beruflich geführten Betreuungen sichergestellt werden. Neben der persönlichen Eignung und Zuverlässigkeit des beruflichen Betreuers ist jetzt die fachliche Eignung durch den Nachweis bestimmter Sachkenntnisse zu belegen.
Was den Nachweis der Sachkunde betrifft, soll in Zukunft unterschieden werden zwischen selbstständig Tätigen und Mitarbeiter/innen von Betreuungsvereinen.
Diese Regelung wird ausdrücklich begrüßt, denn die Tätigkeit in einem Betreuungsverein stellt bereits eine Gewähr für die Erfüllung von Mindestanforderungen bei der Qualität der Betreuungsführung dar. Betreuungsvereine müssen schon immer gemäß § 14 Absatz 1 Nummer 2 und 3 BtOG im Anerkennungsverfahren nachweisen, dass sie eine ausreichende Anzahl geeigneter Mitarbeiter/innen beschäftigen, beaufsichtigen, weiterbilden und einen Erfahrungsaustausch zwischen diesen ermöglich. Das Vorliegen dieser Voraussetzungen wird jährlich überprüft. Es ist daher sachgerecht, Berufsanfängern in Betreuungsvereinen zu gestatten, ihre erforderliche Sachkunde innerhalb eines Jahres nach Registrierung nachzuweisen. Anders wäre den Betreuungsvereinen die Anstellung neuen Personals – ohne erhebliches, finanzielles Risiko – nicht möglich: durch die vorläufige Registrierung kann die/der neue Mitarbeiter/in bereits vollumfänglich abrechenbare Betreuungen übernehmen. Die vorläufige Registrierung kann als sachlicher Grund für einen befristeten Arbeitsvertrag benannt werden, sodass sich der Verein, sollte die Registrierung widerrufen werden, weil die Sachkunde nicht erbracht wird, von der/dem Mitarbeiter/in trennen kann.
Kritisch zu sehen ist, dass diese Frist nur verlängert werden kann, wenn die/der Mitarbeiter/in ohne sein Verschulden verhindert ist, die Frist einzuhalten. Als beispielhafte Gründe werden längere Krankheit oder Elternzeit genannt. Es bleibt abzuwarten, ob auch notwendige Vertretungen von Kolleg/innen als Verhinderungsgrund anerkannt werden.
Nicht berücksichtigt wurde bei der Bemessung der Frist, dass die/der neue Mitarbeiter/in u.U. bis zu einem Viertel seiner Arbeitszeit nicht zur Verfügung steht, da sie/er die notwendige Sachkunde erlangen muss. Dies stellt eine hohe finanzielle Belastung für die Betreuungsvereine dar, einerseits durch die entgangenen Einnahmen, andererseits durch Aufwendungen für die Schulungen der/des Mitarbeiter/in. Zu berücksichtigen ist auch die Frage, ob und in welchem Umfang geeignete Plätze für den Erwerb der Sachkunde zur Verfügung stehen. Ggf. werden Wartelisten geführt werden müssen und die/der Mitarbeiter/in hat tatsächlich nicht die Möglichkeit, die Sachkunde fristgerecht zu erwerben. Dem trägt die Übergangsregelung für neue Betreuer/innen bis 30.6.2025 Rechnung. Doch bleibt abzuwarten, ob danach das Fortbildungsangebot bereits auskömmlich ist. Je nach Grundausbildung der/des Mitarbeiter/in werden die Aufwendungen/Ausfälle unterschiedlich ausfallen. Daher wäre die Aufnahme weiterer Begründungen zur Fristverlängerung geboten gewesen.
Fazit
Wie bereits eingangs festgestellt, ist der Referentenentwurf, das Betreuungsrecht betreffend, die konsequente Folge der in Gang gesetzten Reform des Betreuungsrechts.
Es wird jetzt darauf ankommen, die Umsetzung in der Praxis zu beobachten, auszuwerten und angemessen auf festzustellende Nichterfüllung der ursprünglichen Annahmen zu reagieren. In der Stellungnahme zum Gesetz zur Reform des Vormundschafts- und Betreuungsrechts wurde bereits angeregt, dessen Evaluierung mit der Evaluierung des VBVG in 2024 zu verbinden. Dieser Hinweis soll in diesem Zusammenhang bekräftigt werden.
]]>
Angesichts der begrenzten PCR-Testkapazitäten und vor dem Hintergrund der Zunahme des Infektionsgeschehens hält auch die BAGFW die vorrangige Befundung von Körpermaterial von bestimmten Personengruppen für vertretbar. Dies darf jedoch nur eine vorübergehende, zeitlich begrenzte Priorisierung darstellen. Zur Bewältigung der Pandemie, deren weiterer Verlauf unbestimmt ist, ist es notwendig, dass die PCR-Test- und Laborkapazitäten deutlich ausgebaut werden.
Die BAGFW begrüßt die Neuregelung der TestV in § 6 Absatz 5, wonach die Labore die PCR-Testungen von Beschäftigten in Krankenhäusern, Arztpraxen, stationären Pflegeeinrichtungen und ambulanten Pflegediensten sowie Einrichtungen der Eingliederungshilfen und ambulanten Diensten der Eingliederungshilfe vorrangig untersuchen soll.
Zu ergänzen sind die Beschäftigten der Reha- und Vorsorgeeinrichtungen, da auch diese vulnerable Patientinnen und Patienten behandeln. Darüber hinaus sind die Beschäftigten im Rettungsdienst sowie der Fahrdienste zu berücksichtigen, deren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter täglich direkten Kontakt („Erstkontakt“) zu Patientinnen und Patienten und zudem regelmäßig Kontakt zu und zwischen den priorisierten Einrichtungen (Krankenhäusern, Arztpraxen, Pflegeeinrichtungen) haben. Diesen gleichgestellt sind die Helferinnen und Helfer aus den Verstärkungseinheiten des Gesundheitlichen Bevölkerungsschutzes.
Positiv zu bewerten ist auch, dass der Anspruch nach § 2 auf einen PCR-Test auch auf Personen ausgedehnt werden kann, die sich noch nicht in Absonderung befinden, sodass im Einzelfall auch hier eine Bestätigung durch PCR-Testung erfolgen kann.
Die BAGFW kritisiert, dass mit den vorgesehenen Änderungen in § 4b und einem dynamischen Verweis auf entsprechende Regelungen auf der Internetseite des BMG ansonsten in der Verordnung genannte Ansprüche sich jederzeit ändern können. Dadurch entstehen für Bürgerinnen und Bürger und Leistungserbringende unübersichtliche, ggf. täglich wechselnde Bedingungen. Dies widerspricht dem Bestimmtheitsgrundsatz und ist nicht hinnehmbar. Beispielhaft sei dargestellt für den Personenkreis nach § 4 Satz 1 Nummer 1, der in den im Infektionsschutzgesetz in § 23 Abs. 3 S. 1 Nr. 1-5 genannten Gesundheitseinrichtungen, wie Krankenhäuser, Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen aufgenommen und behandelt werden soll, dass dauerhafte, verlässliche und für alle an der Leistungskette Beteiligten transparente Testkonzepte vor Aufnahme zwingend sind, um Eintragungen zu verhindern. Die Test-Regelungen als Bestandteil der mit dem Öffentlichen Gesundheitsdienst vor Ort abgestimmten Hygienekonzepte können nicht per dynamischem Verweis auf eine Internetseite täglich zur Disposition gestellt werden.
Änderungsbedarf zu § 4b:
Streichung der Neuregelungen.
Die BAGFW begrüßt des Weiteren, dass die prioritäre Auswertung von PCR-Tests auch Versicherte umfasst, die aufgrund ihres Alters oder Gesundheitszustandes ein erhöhtes Risiko für einen schweren oder tödlichen Krankheitsverlauf bei Covid-19-Infektionen aufweisen. Allerdings ist es zwingend erforderlich, diesen Personenkreis in der Verordnung zu konkretisieren, bspw. durch Verweis auf die Einschätzung von Risikopatientinnen und -patienten durch das RKI. Das ist umso bedeutsamer, als die betroffenen Personen nach § 6 Absatz 5 Satz 3 Nummer 1 darzulegen haben, dass sie zu diesem Personenkreis gehören. Dafür benötigen sie die entsprechenden Informationen und auch die Ärztinnen und Ärzte, die dieses Risiko einschätzen müssen, benötigen entsprechende Rechtssicherheit.
Neben den Beschäftigten der in § 6 Absatz 5 genannten Einrichtungen müssen auch obdachlose Menschen, die in Notunterkünften, in der Kältehilfe/Winternothilfe und in anderen niedrigschwelligen Einrichtungen und Angeboten für obdachlose Menschen versorgt werden, vorrangig Zugang zu einem PCR-Test erhalten, sofern sie einen positiven Antigen-Test aufweisen. Denn der PCR-Test ist die Voraussetzung für die Aufnahme dieser vulnerablen Personen in gesundheitliche Hilfen für Corona-Erkrankte (bspw. sog. „Quarantäne-Einrichtungen“). Eine schnelle Auswertung der PCR-Tests für diese Personengruppe ist aus existentiellen Gründen sicherzustellen.
Angesichts der hohen Verbreitung der Omikron-Variante unter Kindern und Jugendlichen weist die BAGFW darauf hin, dass auch in Deutschland die in Österreich bewährte und niedrigschwellig zugängliche Testung mittels PCR-Tools zur Anwendung kommen sollte, um das Risiko von Distanzunterricht oder Schließung von Kitagruppen deutlich zu verringern.
Änderungsbedarf zu § 6 Absatz 5:
In Satz 1 sind als Nummern 2 und 3 neu zu ergänzen:
2. Rehabilitations- und Vorsorgeeinrichtungen
3. Rettungsdienste
In Satz 1 ist nach den Wörtern „die aufgrund ihres Alters oder Gesundheitszustands ein signifikant erhöhtes Risiko für einen schweren oder tödlichen Krankheitsverlauf bei einer Infektion mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 haben zu ergänzen „oder die in Einrichtungen nach § 36 Absatz 1 Nummer 3 (Obdachlosenunterkünften) versorgt werden“
Zu § 6 Absatz 4 Leistungserbringung/Anzahl der PoC-Antigen-Tests und Antigen-Tests zur Eigenanwendung
Angesichts begrenzter PCR-Testkapazitäten und vor dem Hintergrund einer drastischen Zunahme des Infektionsgeschehens durch die Omikron-Variante (B.1.1.529) des Coronavirus SARS-CoV-2 kommt es zu einer Priorisierung des Einsatzes von PCR-Textkapazitäten und damit einhergehend zu einem verstärkten Einsatz von PoC-Antigen-Tests und Antigen-Tests zur Eigenanwendung auf der Basis der nationalen Textstrategie. Wir halten es deshalb für erforderlich, dass während der Zeit der befristeten Fokussierung während des stark erhöhten Infektionsgeschehens auch die in § 6 Absatz 4 TestV festgelegten Testmengen überschritten werden können.
Zu § 11 Vergütung von Sachkosten für PoC-Antigen-Tests und Antigen-Tests zur Eigenanwendung
Nach § 11 Satz 2 TestV betrugen die Pauschalen für Leistungen vom 1. Dezember 2021 bis zum 31. Januar 2022 nach Satz 1 je Test 4,50 Euro. Wir erhalten weiterhin Hinweise, dass die in Satz 1 festgelegten 3,50 € für die Sachkosten nicht ausreichend sind und halten den erhöhten Erstattungsbetrag von 4,50 Euro in der Zeit der befristeten Priorisierung der PCR-Testungen während des stark erhöhten Infektionsgeschehens analog der nationalen Teststrategie weiterhin für erforderlich.
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Zusammenfassende Bewertung
Die BAGFW begrüßt die Sicherstellung einer ganzheitlichen und passgenauen Beratung unter Berücksichtigung der individuellen Lebenslage von Menschen mit Behinderungen. Eine verbesserte Koordination, Kooperation und Vernetzung aller am Teilhabeprozess beteiligten Akteure und Leistungen erhöht die Chancen, dass Leistungsberechtigte die notwendigen und passgenauen Angebote erhalten. Hierzu trägt die klare Darstellung der Position der Sozialdienste im Teilhabeprozess bei.
Kritisch hinterfragt die BAGFW, inwieweit die erforderliche Refinanzierung des Aufwands für Sozialdienste von Leistungserbringern berücksichtigt wird. Er umfasst zeitliche und finanzielle Ressourcen für die Qualifizierung der Mitarbeitenden im Sozialdienst (vor allem zu interdisziplinären Kenntnissen), für die Beteiligung oder Zuarbeit im Teilhabeprozess und für den regionalen Austausch.
Zu § 2 Sozialdienste nach Leistungsgruppen gemäß § 5 SGB IX
(2)
Das Aufgabenspektrum der Sozialdienste (Teilhabe am Arbeitsleben oder Teilhabe an Bildung) sollte erweitert werden um Leistungen zur sozialen Teilhabe.
(3)
In diesem Abschnitt sollten die Inklusions-/Integrationsfachdienste ergänzt werden.
(5)
Die Aufzählung der Sozialdienste sollte ergänzt werden um Beratungsstellen der Selbsthilfeorganisationen und um die Ergänzende Unabhängige Teilhabeberatung (EUTB). EUTB sind zwar keine Sozialdienste im Sinne des § 3. Sie sind unabhängige, im SGB IX neu verankerte Beratungsstellen. Sie unterstützen aber ebenso wie Sozialdienste die Rehabilitationsträger bei der Erfüllung von Ansprüchen von Menschen mit Behinderungen, wie sie im geltenden Rehabilitations- und Teilhaberecht (SGB IX) sowie in der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) verankert sind.
Zu § 4 Kooperation zwischen Sozialdiensten und Rehabilitationsträgern
(1)
Die Bereitschaft zur Zusammenarbeit von Rehabilitationsträger und Sozialdienst ist zu begrüßen. Notwendig ist hierzu stets das Einverständnis der betroffenen Person einzuholen, sofern es um personenbezogene Sachverhalte geht.
Zu § 5 Berichterstattung
Die Gemeinsame Empfehlung klärt, dass Rehabilitationsträger jährlich berichten, ob die Zusammenarbeit nach der Gemeinsamen Empfehlung erfolgreich ist. Aus Sicht der BAGFW wäre es für die Arbeit der Sozialdienste gewinnbringend, wenn sie die Ergebnisse/Erkenntnisse/Informationen der Rehabilitationsträger erhalten. Eine Datenschutzbestimmung ist bereits enthalten.
Redaktionelle Hinweise:
Es wird in der Gemeinsamen Empfehlung auf § 13 Abs. 2 Nr. 10 SGB IX verwiesen. Es ist wohl § 26 Abs. 2 Nr. 10 SGB IX gemeint.
Zu § 7
(2) Die Vereinbarungspartner und die anderen Rehabilitationsträger … einschließlich der Verbände der Freien Wohlfahrtspflege, …
]]>Gerne greift die BAGFW die Möglichkeit auf, zu den jetzt vom BMAS vorgelegten Zielen Stellung zu nehmen. Dabei konzentriert sich die BAGFW auf aus ihrer Sicht besonders zentrale Fragen:
Zu den einzelnen Zielen:
Das vorgeschlagene Ziel, die Erwerbstätigenquote insgesamt auf 83% zu erhöhen, ist angesichts der bereits 2020 erreichten allgemeinen Erwerbstätigenquote in Deutschland von 80% ausreichend ambitioniert.
Eine Differenzierung in drei Unterziele, die auf die Steigerung der Erwerbstätigkeit von Frauen, Älteren und Ausländer/innen fokussieren ist allerdings unzureichend, da es sich um eine sehr pauschale Kategorisierung handelt, die nicht näher ausdifferenziert wird. Insbesondere die Kategorien „Frauen“ und „Ausländer“ sind unspezifische Begrifflichkeiten, die keine Zielgruppe konkret adressieren. So fehlen in dieser Betrachtung Langzeiterwerbslose sowie Menschen mit Behinderung – die mit besonderen Hürden beim Zugang zum Arbeitsmarkt konfrontiert sind. Während der Pandemie hat sich die Langzeitarbeitslosigkeit erhöht und verfestigt. Nur wenn die konkreten sozialen Lebenslagen in Deutschland passgenau im hier relevanten Beschäftigungsziel berücksichtigt sind, kann es letztlich zu einer nachhaltigen Verbesserung der Erwerbsbeteiligung auch von Langzeitarbeitslosen, Alleinerziehenden, Älteren, Berufsrückkehrer/innen, Menschen mit Behinderung, Geflüchteten und chronisch Kranken kommen.
Die BAGFW regt deshalb an, das Beschäftigungsziel weiter zu differenzieren, denn in Deutschland ist eine Erhöhung der reinen Erwerbsbeteiligung in den letzten Jahren insgesamt bis zur Pandemie gelungen[1], jedoch nicht hinreichend in Bezug auf die genannten besonderen Gruppen. Sie muss zielgruppenspezifisch erfolgen. Zudem kann nur dann von einer wirklichen Verbesserung der Erwerbsbeteiligung gesprochen werden, wenn sie sich in der nachhaltigen Schaffung und Sicherung von qualitativ guten und existenzsichernden Arbeitsverhältnissen widerspiegelt. Beispielsweise ist es aus Sicht der BAGFW relevant, ob eine Steigerung der Erwerbsbeteiligung von Frauen zu einem Großteil auf Minijobs zurückzuführen ist. Die BAGFW schlägt daher vor, neben den rein quantitativen Quoten des Beschäftigungsziels auch qualitativ relevante Indikatoren vorzusehen, wie etwa Art und Qualität des Beschäftigungsverhältnisses, Verdienstverteilung und Geschlechterungleichheiten sowie durchschnittliche Arbeitszeit. In jedem Fall kann nur dann von einer nachhaltig gelungenen Arbeitsmarktintegration gesprochen werden, wenn Arbeitsverhältnisse sozialversicherungspflichtig sind, nicht nur kurzzeitige Beschäftigung bieten, das Qualifikationsniveau der Beschäftigten abbilden und mindestens soweit ausreichend bezahlt werden, um die wesentlichen Lebensbedürfnisse problemlos decken zu können.
Die vom BMAS vorgeschlagenen Unterziele bewertet die BAGFW hinsichtlich der gewählten quantitativen Indikatoren wie folgt:
- Unterziel Ältere: Steigerung Erwerbstätigenquote auf 77%. (Aktuell: 71,8%)
- Unterziel Frauen: Steigerung Erwerbstätigenquote auf 80%. (Aktuell: 76,7%)
- Unterziel Ausländer/innen: Steigerung Erwerbstätigenquote auf 75% (Aktuell: 65,9%)
In Bezug auf die genannten Unterziele wäre eine differenziertere und qualitative Bewertung wichtig. So wäre bei der Erwerbsbeteiligung Älterer nach Männern und Frauen sowie nach unterschiedlichen Einkommens- und Qualifikationsniveaus zu differenzieren.
Bei Frauen ist insbesondere eine Steigerung der Erwerbsbeteiligung von Müttern, insbesondere mit mehreren Kindern sowie von Alleinerziehenden und Frauen mit Fluchtgeschichte erstrebenswert.
Der Begriff „Ausländer/innen“ müsste aufgegliedert werden nach EU-Bürger/innen, Drittstaatsangehörigen und die besondere Situation von Geflüchteten im Vergleich zu Arbeitsmigrant/innen berücksichtigen.
Weiterbildung
Das Ziel der Weiterbildungsbeteiligung von 65% ist gegenüber der Quote aus 2018 (52%) rein quantitativ betrachtet eine Verbesserung. Allerdings sind auch hier weitere Unterziele erforderlich, um den einzelnen Gruppen mit unterschiedlichen Bedarfen an Weiterbildung gerecht zu werden. So muss die relativ schlechtere Weiterbildungsbeteiligung von Personen in einkommensschwachen Haushalten, mit niedrigem Qualifikationsniveau beziehungsweise mit sozialen Problemen, insbesondere auch Frauen, Menschen mit Migrationsgeschichte, mit Behinderung, Lebensälteren oder Menschen in ländlichen Gebieten, (Langzeit-)Erwerbslosen oder sogenannten bildungsfernen Menschen in den Fokus genommen werden. Für eine bessere Weiterbildungsbeteiligung benachteiligter Personen sollten insbesondere auch die Möglichkeiten, welche EU-Programme wie Erasmus+ oder ESF+ bieten, von der Bundesregierung noch stärker genutzt werden. Die integrierte Weiterbildungsberichterstattung auf Bundesebene[2] stellt die entsprechenden Daten zusammen und sollte für ein differenziertes Unterziel zur Weiterbildungsbeteiligung herangezogen werden. Auch legt die Europäische Kompetenzagenda hierzu spezifische Indikatoren vor, die für nationale Zielsetzungen maßgeblich sind. So sollen bis 2025 beispielsweise 50% aller 25-64-Jährigen und 30% der geringqualifizierten 25-64-Jährigen in den letzten 12 Monaten an einer Weiterbildungsmaßnahme teilgenommen haben.[3] Die zentrale Bedeutung der Weiterbildung für die Erhöhung der Erwerbstätigenquote und vor allem für die Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung wird auch durch den 6. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung belegt, der die hohe Bedeutung von gezielter Weiterbildung für die Überwindung von verfestigter Langzeitarbeitslosigkeit oder von andauernden Armutslagen betont.[4] Dort wird auch auf die Bedeutung zunehmender Unterschiede in der Inanspruchnahme von Weiterbildungsmöglichkeiten zwischen Personen mit mittlerem oder höherem Bildungsniveau und denjenigen mit geringen formalen Qualifikationen, die stärker von Arbeitslosigkeit, Niedriglohn und unsicherer Beschäftigung betroffen sind, hingewiesen.
Ebenso sollte die digitale Teilhabe im Kontext der Weiterbildungsbeteiligung eine zentrale Rolle einnehmen. Ein Unterziel, das die Digitalisierung innerhalb unterschiedlicher Weiterbildungsmaßnahmen darstellt, ist nicht zuletzt wegen der zunehmenden Digitalisierung aller Lebensbereiche während der Covid-19-Pandemie dringend erforderlich. Auch nach Ende der Pandemie werden sich digitalisierte Formate erhalten und entsprechende Kenntnisse von Erwerbstätigen und außerhalb des Arbeitsmarkts verlangen. Dies entspricht auch dem Ziel der EU-Kommission zu „digitalen Kompetenzen“ im Rahmen der digitalen Dekade der EU, demzufolge in 2030 80% der erwachsenen EU-Bevölkerung über grundlegende digitale Kompetenzen verfügen sollen im Vergleich zu 56% in 2021.[5] Diese Zielsetzung sollte an dieser Stelle Berücksichtigung finden. Schließlich ist es für die Messung von effektiver Weiterbildung unabdingbar, ein weiteres Unterziel mit qualitativem Inhalt – neben digitaler Teilhabe – vorzusehen und die Wirkung der Weiterbildung als Baustein der Verbesserung der individuellen beruflichen und sozialen Situation zu berücksichtigen. Gerade gering qualifizierte Beschäftigte und Arbeitslose müssen verstärkt Möglichkeiten zur abschlussbezogenen Nachqualifizierung erhalten, damit sie längerfristig am Arbeitsmarkt teilhaben und guter Beschäftigung nachgehen können.
Insgesamt muss umfassende Reduktion von Armutslagen ein wesentliches Ziel sein und unter anderem durch bessere Erwerbsmöglichkeiten verwirklicht werden. Doch die vorgeschlagene Zielsetzung - Reduzierung der von Armut bedrohten Menschen in Deutschland um 1,2 Mio., davon 300.000 Kinder in Haushalten mit sehr niedriger Erwerbsintensität - greift zu kurz. Bemisst man aber die Zahlen entsprechend dem EU-Durchschnittsziel ausgehend von 15 Mio. Menschen in der EU, die von Armut bedroht sind einschließlich einer Zahl von 5 Mio. Kindern, so bleibt das vom BMAS vorgeschlagene Szenario bereits weit hinter dem Ziel des Aktionsplans zur Europäischen Säule sozialer Rechte zurück, zu dessen Umsetzung sich die Bundesregierung politisch verpflichtet hat. Ausgehend von den rund 98 Mio. von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedrohten Menschen in den 27 Mitgliedstaaten der EU in 2020[6], ist das EU-Ziel zur Senkung der Armutszahlen dann erreicht, wenn diese im EU-Durchschnitt insgesamt um 15 Millionen EU-Bürger/innen und damit rund 15 Prozentpunkte zurückgehen. Wenn Deutschland in demselben Maß Armut reduzieren würde, dann wären das bei rund 12,8 Mio. von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedrohten Menschen (15,9% der Bevölkerung in Deutschland in 2019[7])[8] rund 2 Millionen Menschen (davon mindestens rund 665.000 Kinder), die aus der Armut geholt werden müssten.
Dieses Ziel muss konkret und belastbar anhand ausreichender Daten gemessen werden. Es wird deutlich, dass der Ziel-Vorschlag des BMAS wenig herausfordernd ist. Dies gilt insbesondere dann, wenn die europäische Vergleichsstatistik EU-SILC als einziger Maßstab für Erfolge der Armutsbekämpfung in Deutschland herangezogen wird. Aufgrund der relativ kleinen Stichprobe sind die Daten zur Einkommensarmut, die mit EU-SILC erhoben werden, zum einen nicht ausreichend aussagekräftig, um jahresübergreifend Effekte von Armutsbekämpfung national im Detail belegen zu können. Zum anderen bildet der gewählte Indikator der Haushalte mit sehr niedriger Einkommensintensität ein nicht hinreichend differenziertes Bild der Armutssituation ab. Denn auch die Indikatoren der relativen Einkommensarmut sowie der materiellen Deprivation sind hier zu berücksichtigen.
Es ist vor diesem Hintergrund von zentraler Relevanz, die Daten zu Armut und sozialer Ausgrenzung genauer zu betrachten. So nimmt die Altersarmut in Deutschland seit Jahren kontinuierlich zu, insbesondere bei Frauen. Von Armut und sozialer Ausgrenzung besonders betroffen sind Alleinerziehende, Alleinlebende, Arbeitslose, Menschen in Überschuldungssituationen, Menschen mit Migrationshintergrund, Menschen mit Behinderung und kinderreiche Familien. Die empirischen Daten zeigen darüber hinaus, dass bereits vor der Covid-19-Pandemie jedes fünfte Kind in Armutslagen aufgewachsen ist. In der Altersgruppe der jungen Erwachsenen zwischen 18 und 24 Jahren ist das Armutsrisiko sogar noch höher. In dieser Altersgruppe ist jede/r Vierte armutsgefährdet. Insofern muss ein Rückgang von Armutslagen auch anhand dieser besonderen Betroffenheiten gemessen werden.[9]
Ein zentrales Element zur Verringerung der Zahl der von Armut und sozialer Ausgrenzung gefährdeten Kinder um mindestens fünf Millionen ist die „Empfehlung des Rates zur Einführung einer Europäischen Garantie für Kinder“ [10] und deren ambitionierte Umsetzung in Deutschland. Für die Umsetzung der „Europäischen Kindergarantie“ in Deutschland ist zu berücksichtigen, dass die Definition der „bedürftigen Kinder“ von jedem EU-Mitgliedstaat selbst festgelegt wird, um nationale Besonderheiten zu berücksichtigen.[11] Deutschland sollte sich bei der Ausgestaltung nicht nur am Armuts- und Reichtumsbericht orientieren, sondern ebenfalls Verbände und andere Organisationen konsultieren und einbeziehen. Als Kriterien sollten neben dem Armutsrisiko auch der Transferleistungsbezug sowie weitere lebenslagenbasierte Indikatoren diskutiert werden.
Auf Grundlage einer differenzierten Datenanalyse sind beim Ziel der Bekämpfung von Armut aus Sicht der BAGFW zwingend nationale Unterziele zu bilden. Nur bei einer Berücksichtigung der unterschiedlichen von Armut betroffenen Gruppen lässt sich Armut wirklichkeitsnah darstellen und messen. Erst auf dieser Grundlage lassen sich letztlich effektive Maßnahmen zur Armutsbekämpfung gestalten und umsetzen. Dies gilt insbesondere für die Ermittlung, Finanzierung und Gewährleistung des Existenzminimums. Hier sehen die Wohlfahrtsverbände weiterhin erheblichen Verbesserungsbedarf.
[1] Siehe statistischer Überblick der Bundeszentrale für politische Bildung: https://www.bpb.de/nachschlagen/zahlen-und-fakten/soziale-situation-in-deutschland/61688/erwerbstaetigkeit-nach-geschlecht-und-alter
[2] Siehe https://www.bibb.de/de/129419.php sowie https://www.bibb.de/de/1656.php
[3] Europäische Kommission (2020), European Skills Agenda. For sustainable competitiveness, social fairness and resilience, abrufbar unter: https://ec.europa.eu/migrant-integration/sites/default/files/2020-07/SkillsAgenda.pdf, Seite19.
[4] 6. Armuts- und Reichtumsbericht, S. 242 ff.
[5] Factsheet “Ein Weg in die digitale Dekade“ ec.europa.eu/newsroom/dae/redirection/document/79265
[6] https://ec.europa.eu/eurostat/web/income-and-living-conditions/visualisations
[7] https://www.bpb.de/nachschlagen/zahlen-und-fakten/soziale-situation-in-deutschland/61785/armutsgefaehrdung
[8] https://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php?title=Income_poverty_statistics/de&oldid=507716
[9] Diese Schlussfolgerungen sind vor dem Hintergrund der im Indikatorentableau des 6. ARB zusammengestellten Datensätze belegt, siehe S. 489 ff.
[10] Empfehlung des Rates zur Einführung einer Europäischen Garantie für Kinder vom 4.6.2021
[11] Teil Governance und Berichterstattung, (11) b), S. 28.
]]>In den Einrichtungen und Diensten der Kinder- und Jugendhilfe werden auch Kinder mit seelischen Behinderungen nach § 35a SGB VIII betreut. Diese Personengruppe ist ebenso vulnerabel wie die Personen, die in den Einrichtungen und Diensten der Eingliederungshilfe betreut werden. Daher sollten auch die Beschäftigten solcher Einrichtungen prioritären Zugang zu PCR-Testungen erhalten.
Unklar ist, warum in der Begründung zu einer Regelung, die die prioritäre Auswertung von PCR-Tests und anderen Testmethoden der Nukleinsäureamplifikationstechnik betrifft, erwähnt wird, dass im Falle der Knappheit von PCR-Testungen auch Antigen-Tests, unter Beachtung von deren Leistungsfähigkeit, zum Einsatz kommen können.
Neben den Beschäftigten der in § 6 Absatz 5 genannten Einrichtungen müssen auch obdachlose Menschen, die in Notunterkünften, in der Kältehilfe/Winternothilfe und in anderen niedrig-schwelligen Einrichtungen und Angeboten für obdachlose Menschen versorgt werden, vorrangig Zugang zu einem PCR-Test erhalten, sofern sie einen positiven Antigen-Test aufweisen. Denn der PCR-Test ist die Voraussetzung für die Aufnahme dieser vulnerablen Personen in gesundheitliche Hilfen für Corona-Erkrankte (bspw. sog. „Quarantäne-Einrichtungen“). Eine schnelle Auswertung der PCR-Tests für diese Personengruppe ist aus existentiellen Gründen sicherzustellen und sollte in einem neuen Absatz 6 des § 6 analog zu den Beschäftigten in den Einrichtungen nach Absatz 5 geregelt werden.
]]>§ 7 Teilfinanzierung der Kosten der Impfzentren und der mobilen Impfteams
Die in der BAGFW zusammengeschlossenen Verbände begrüßen, dass die Impfzentren und mobilen Impfteams wieder hälftig vom Bund und zur anderen Hälfte von den Ländern finanziert werden.
Artikel 2: Änderung der Coronavirus-Testverordnung
Zu § 4b Bestätigende Diagnostik- und variantenspezifische PCR-Testung/Sofortiger Anspruch auf bestätigende Diagnostik mittels PCR-Test
§ 4b sieht vor, dass Personen nach einem positiven Antigen-Test, auch mittels Eigentests oder nach einem positiven Pooling-Test, Anspruch auf einen bestätigenden PCR-Test haben. In der Praxis vergehen jedoch mehrere Tage bis ein tatsächlicher Zugang zu einem PCR-Test besteht. Arztpraxen haben am Wochenende nicht geöffnet. Testzentren lehnen symptomatische Personen ab.
Es muss daher ein flächendeckender niedrigschwelliger Zugang zu PCR-Testzentren bzw. zu einer vom Antigen-Schnelltest-Testzentrum logistisch abgetrennten Testeinheit für PCR-Testungen geben. Es muss gewährleistet sein, dass sich asymptomatische Kontaktpersonen und Haushaltsangehörige nach der vom jeweiligen Gesundheitsamt vorgegebenen Zeit durch einen zum jeweiligen Zeitpunkt vorgesehenen kostenlosen PCR-Test freitesten können.
Änderungsbedarf:
§ 4b Sätze 1 und 2 sind wie folgt zu ergänzen:
„Nach einem positiven Antigen-Test oder einem positiven Pooling-Tests mittels Nukleinsäurenachweises hat die getestete Person einen Anspruch auf eine bestätigende Testung mittels eines Nukleinsäurenachweises des Coronavirus SARS-CoV-2. Der sofortige Zugang zu einer solchen Testung ist sicherzustellen. Dies gilt auch nach einem positiven Antigen-Test zur Eigenanwendung. Asymptomatische Kontaktpersonen und Haushaltsangehörige, für die das Gesundheitsamt Quarantäne angeordnet hat, haben für den Zeitpunkt, zu dem die Quarantäne nach negativem PCR-Test aufgehoben werden kann, Anspruch auf eine kostenlose bestätigende Testung mittels eines Nukleinsäurennachweises des Coronavirius SARS-CoV-2.
Zu § 6 Leistungserbringung/Anzahl der PoC-Antigen-Tests und Antigen-Tests zur Eigenanwendung
Nach § 6 Absatz 4 TestV sind Einrichtungen und Unternehmen nach § 36 Absatz 1 Nummer 2 des Infektionsschutzgesetzes, die nach § 28b IfSG einer erhöhten Testpflicht unterliegen, berechtigt im Rahmen ihres einrichtungs- oder unternehmensbezogenen Testkonzepts bis zu 30 PoC-Antigen-Tests oder Antigen-Tests zur Eigenanwendung je behandelter, betreuter, gepflegter oder untergebrachter Person pro Monat in eigener Verantwortung zu beschaffen und zu nutzen. Analoges gilt auch für die ambulante Intensivpflege sowie für stationäre Hospize.
Angesichts der Neuregelung in § 28b Abs. 2 IfSG halten wir die Zahl 30 für die Pflegeeinrichtungen und die Einrichtungen der Eingliederungshilfe in § 6 Absatz 4 Satz 1 Nr. 1 TestV nicht für ausreichend. Des Weiteren halten wir die Zahl 30 in § 6 Absatz 4 Satz 2 TestV für Einrichtungen und Unternehmen der ambulanten Intensivpflege sowie für die Hospize nicht für ausreichend.
Dies soll anhand einer vollstationären Pflegeeinrichtung, eines stationären Hospizes, der (Kinder) Intensivpflegedienste sowie der ambulanten Dienste der Eingliederungshilfe beispielhaft dargestellt werden:
Die vollstationäre Pflegeeinrichtung hat 94 Bewohnende und damit einen Anspruch auf 2.820 PoC-Antigen-Tests oder Antigen-Tests zur Eigenanwendung. Werden die Bewohnenden dreimal pro Woche getestet, dann sind dies 1.128 Tests. Bekommt jeder Bewohnende z. B. 14 Besuchende pro Monat, dann sind dies nochmal 1.316 Tests, die die Pflegeeinrichtung anbieten muss. Außerdem sind in dieser Pflegeeinrichtung 66 geimpfte Mitarbeitende beschäftigt. Dies sind bei 3 „Tests“ pro Woche 792 Tests in vier Wochen. Zusätzlich sind in der Pflegeeinrichtung noch 4 nicht-geimpfte/nicht genesene Mitarbeitende tätig. Dies macht bei 24 Arbeitstagen nochmal 96 „Tests“. Neben den Angehörigen kommen noch weitere Besuchende in die Pflegeeinrichtung wie Therapeuten, Handwerker, ehrenamtliche Besuchsdienste, … dies sind sicherlich nochmal 200 Testungen im Monat.
In diesem Beispielfall sind nur 4 von insgesamt 70 Mitarbeitenden nicht geimpft. Wir haben jedoch einige Einrichtungen, in denen auch 20 Prozent der Mitarbeitenden oder mehr nicht geimpft sind. Wenn Bewohner überdies nicht nur alle zwei Tage, sondern wie gerade jetzt in der Advents- und Weihnachtszeit täglich einen Besuch erhalten, erhöht sich die benötigte Stückzahl gegenüber dem Rechnungsbeispiel nochmals.
Stationäre Hospize sind in der Regel kleine Organisationseinheiten, nicht wenige Hospize haben eine Platzzahl von 8. Die durchschnittliche Verweildauer liegt zwischen 10 und 11 Tagen. Die Sterbephase ist in der Regel auch eine Phase des Abschiednehmens von den An- und Zugehörigen. Die Anzahl der Besuchenden ist hier nicht mit vollstationären Pflegeeinrichtungen vergleichbar, sondern wesentlich höher. Im Gegensatz zu den stationären Pflegeeinrichtungen werden hier jedoch die Patienten (auch Hospizgäste genannt) in der Sterbephase seltener getestet. Das stationäre Hospiz führt ca. 24 Testungen bei den Patienten durch. Es hat mit 8 Patienten 21 geimpfte/genesene Beschäftigte. Dies macht 252 Tests bei drei Testungen pro Woche. Zusätzlich arbeiten im stationären Hospiz 2 nichtgeimpfte/nichtgenesene Beschäftigte. Hierfür sind bei 24 Arbeitstagen 48 Tests erforderlich. Für 40 Besuchende An- und Zugehörigen und durchschnittlich 12 Besuchen pro An- und Zugehörigen muss das stationäre Hospiz 480 Tests anbieten. Hinzukommen nochmal weitere Besuchende wie Therapeuten, Handwerker. Hier muss sicherlich auch ein Test pro Tag angeboten werden.
Bei den (Kinder)Intensivpflegediensten handelt es sich in der Regel um Organisationseinheiten mit einer geringeren Patientenzahl und einer hohen Mitarbeitendenzahl, da eine 24 Stunden-Pflege auch mit vielen Teilzeitmitarbeitenden sichergestellt werden kann/muss. Ein (Kinder)Intensivpflegedienst mit beispielsweise 20 Patienten hat einen Anspruch auf bis 600 PoC-Antigen-Tests oder Antigen-Tests zur Eigenanwendung. Im Schnitt hat ein Intensivpflegedienst 3- bis 4-mal so viele Mitarbeitende wie Patienten. Auch wenn hier in Relation zu den stationären Versorgungsettings keine Besuchende getestet werden (müssen), reichen die 30 PoC-Antigen-Tests oder Antigen-Tests zur Eigenanwendung je behandelter, betreuter, gepflegter oder untergebrachter Person, die pro Monat im Rahmen ihres einrichtungs- oder unternehmensbezogenen Testkonzepts in eigener Verantwortung beschaffen und genutzt werden können, je nach einrichtungsbezogenem Testkonzept und Landesverordnungen nicht aus. Dies gilt insbesondere dann, wenn sowohl die Patienten als auch die geimpften Mitarbeitenden mehr als 3-mal pro Woche getestet werden müssen und/oder die Anzahl der ungeimpften/nicht genesenen Mitarbeitenden hoch ist. Sollten perspektivisch auch die Angehörigen getestet werden müssen, müsste sich die Testmenge nochmals erhöhen.
Bei den ambulanten Diensten für Assistenzleistungen von Menschen mit Behinderungen handelt sich um die Versorgung von Menschen mit komplexen Beeinträchtigungen, die bis zu 24 Stunden ambulante Pflege- und Assistenzleistungen benötigen, die über eine Vielzahl von Unterstützer/innen erbracht wird. Uns erreichten Rückmeldungen, dass aufgrund der individuellen Versorgungssituationen bis zu 80 Tests im Monat pro Klient/in und deren Assistent/innen notwendig sind. Die im Einzelfall bis zu 60 zusätzlichen und notwendigen PoC-Tests pro Monat pro Klient/in werden bisher nicht refinanziert, da ambulanten Diensten der Eingliederungshilfe laut Testverordnung nur die Beschaffung und Nutzung von bis zu 20 PoC-Antigentests pro Klient/in pro Monat refinanziert werden.
Wir halten es deshalb für erforderlich, in § 6 Absatz 4 Satz 1 Nr. 1 für die Einrichtungen und Unternehmen nach § 4 Absatz 2 Satz 1 Nummer 2 die Zahl 30 auf 50 zu erhöhen.
Des Weiteren halten wir es für erforderlich, in § 6 Absatz 4 Satz 2 für die ambulante Intensivpflege, die ambulanten Dienste der Eingliederungshilfe und für die stationären Hospize die Zahl 30 auf 90 zu erhöhen.
Unserer Auffassung nach bedarf es zwingend einer Erhöhung der Testmengen, die die Einrichtungen und Dienste im Rahmen ihres einrichtungs- oder unternehmensbezogenen Testkonzepts berechtigt in eigener Verantwortung zu beschaffen und zu nutzen. Da von der Testmenge sowohl die Abrechnung der Leistungen nach § 7 TestV als auch die Übernahme der Sachkosten nach § 11 TestV sowie die Übernahme der Durchführungskosten nach § 12 TestV abhängt.
Bei behördlichen Anordnungen durch die zuständigen Landesbehörden, die eine Testmenge fordern, die über die in § 6 Absatz 4 TestV hinausgeht, muss ebenfalls eine Refinanzierung der Sachkosten und der Durchführungskosten möglich sein.
Zu § 11 Vergütung von Sachkosten für PoC-Antigen-Tests und Antigen-Tests zur Eigenanwendung
Wir erhalten im Augenblick Hinweise darauf, dass sich die Sachkosten zwischen 2,67 Euro und 8 Euro im Großeinkauf bewegen mit einer steigenden Tendenz. Außerdem gibt es keine Liefergarantien. Es wird sich in den nächsten zwei Wochen zeigen, ob die erforderlichen Testmengen auch geliefert werden können. Wir werden den Markt in den nächsten zwei Wochen sorgsam beobachten und fordern bzw. erwarten, dass wir mit dem zuständigen Fachressort im BMG spätestens am 15. Dezember 2021 die Ausgestaltung der in der TestV geregelten Stückpreise überprüfen und ggf. zu einer Anpassung kommen. Ziel muss es sein, noch in diesem Jahr den Einrichtungen und Diensten Sicherheit in Bezug auf die Kostenerstattung zu geben, da diese kurzfristig weitere Test-Bestellungen in Auftrag geben müssen. Andernfalls ist die flächendeckende Teststrategie in dieser vulnerablen Gruppe ernsthaft in Gefahr.
Wir gehen davon aus, dass analog zum Dezember 2020 auch in dieser Phase das BMG mit dafür Sorge trägt, dass die Träger der Einrichtungen und Dienste zu akzeptablen Preisen PoC-Antigen-Tests und Antigen-Tests beschaffen können, indem beispielsweise wieder auf Kontingente des BMG bei überprüften Testanbietern zurückgegriffen werden kann.
Zu § 12 Vergütung von weiteren Leistungen
Wir machen darauf aufmerksam, dass die Einrichtungen der med. Rehabilitation und Vorsorge sowie die SAPV-Dienste und ambulanten Hospizdienste die Durchführungskosten für die Testungen nicht refinanziert bekommen. Dies ist vor dem Hintergrund der gebotenen Anzahl systematischer Testungen nicht länger akzeptabel.
]]>Das Wettbewerbsregister speichert und liefert Informationen darüber, ob bestimmte Unternehmen als Bieter vom Vergabeverfahren zwingend auszuschließen sind
(§ 123 GWB) bzw. ausgeschlossen werden können (§ 124 GWB). Gegenstand der Informationen sind Hinweise auf einschlägige Vorstrafen oder Bußgeldbescheide. Der Zugang zu diesen sensiblen Informationen ist entsprechend registrierten öffentlichen Auftraggebern und deren mit der Abfrage speziell betrauten Mitarbeiter*innen vorbehalten.
Das Wettbewerbsregister nunmehr in Betrieb.
Das bedeutet:
- künftige Nutzer sind aufgefordert, sich beim Bundeskartellamt zu registrieren. Zu diesen Nutzern gehören auch solche Mitglieder der BAGFW, die wegen einer überwiegenden Finanzierung aus öffentlichen Fördermitteln nach § 99 Nr. 2 oder 4 GWB öffentliche Auftraggeber sind und deshalb Vergaberecht anzuwenden haben (s. hierzu nachstehend unter 1).
Ob die Voraussetzungen für die Auftraggebereigenschaft nach § 99 Nr. 2a oder 4 GWB erfüllt sind, ist jeweils vor Ort und in Bezug auf die Finanzierungsverhältnisse des jeweiligen Auftraggebers feststellen. Mitglieder der BAGFW und deren Mitgliedseinrichtungen, bei denen dies nicht der Fall ist und die allein nach den ANBest-P oder ANBEst-I zur Anwendung von Vergaberecht verpflichtet sind, erhalten keinen Zugang zum Wettbewerbsregister und brauchen sich deshalb nicht registrieren zu lassen.
- Die gesetzliche Verpflichtung zur Nutzung des Wettbewerbsregisters für Abfragen nach § 6 Wettbewerbsregistergesetz (WRegG) tritt mit dem 1. Juni 2022 in Kraft (s. hierzu nachstehend unter 2).
Registrierungsverfahren
Die Registrierung von Auftraggebern beginnt mit dem Registrierungsantrag (abzurufen hier). Die Antragstellung erfolgt über ein sog. elektronisches Behördenpostfach (beBPo), d.h. einen sicheren Übermittlungsweg zur elektronischen Kommunikation mit Behörden. Da Mitgliedseinrichtungen der BAGFW aufgrund ihrer privatrechtlicher Organisationsform kein eigenes beBPo haben, können sie ihre Antrag über das beBPo derjenigen Stelle versenden, von der sich die Auftraggebereigenschaft (§ 99 GWB) ableitet. Weitere Informationen zum Registrierungsprozesses enthält der Registrierungsleitfaden für das Wettbewerbsregister.
Im Registrierungsantrag hat der Antragsteller bis zu drei sog. Identitätsadministratoren zu benennen. Diese verwalten in späteren Vergabeverfahren die anfallenden Abfragen beim Wettbewerbsregister (s. dazu unten). Um diese Aufgaben wahrnehmen zu können, sind folgende weitere Schritte erforderlich:
- Registrierung im sog. Identitätsmanagementsystem SAFE (Secure Access to Federated e-Justice/e-Government), das die Justiz und die öffentliche Verwaltung für die Authentisierung von Nutzern verwendet;
- Erwerb eines personengebundenen Software-Zertifikats für die Anmeldung beim SAFE-Portal.
Detaillierte Informationen zur Nutzerfreigabe und -verwaltung geben die folgenden Leitfäden:
Abfragepflicht und –möglichkeit
Ab einem Auftragswert von in der Regel 30.000 € (ohne Umsatzsteuer)[i] verpflichtet
§ 6 Wettbewerbsregistergesetz (WRegG) öffentliche Auftraggeber, sich vor der Zuschlagserteilung durch Abfrage beim Wettbewerbsregister über die Unbedenklichkeit und Zuverlässigkeit des ausgewählten Bieters zu vergewissern. Bleibt der Auftragswert unter dieser Wertgrenzen, liegt es in ihrem Ermessen, die Abfrage zu stellen. Ebenfalls erlaubt § 6 WRegG ihnen, im Rahmen eines Teilnahmewettbewerbs (also im Rahmen einer beschränkten Vergabe, eines Verhandlungsverfahrens, eines Wettbewerblichen Dialogs oder vor der Begründung einer Innovationspartnerschaft) Informationen des Wettbewerbsregisters über die Unternehmen einholen, die sie zur Abgabe eines Angebotes einladen möchten.
Die Abfrage beim Register ist demnach immer bezogen auf bestimmte Unternehmen zu stellen, die den Zuschlag bekommen oder jedenfalls als geeignete Bieter zu einer weiteren Verfahrensstufe zugelassen werden sollen.
Derzeit unterliegen die von Zuwendungsempfängern durchgeführten Vergabeverfahren einer strengen Kontrolle. Es ist anzunehmen, dass auch die Einhaltung der Abfragepflicht aus § 6 WRegG, sobald sie in Kraft getreten ist, überprüft und Verstöße dagegen geahndet werden.
Hintergrund: Ausschluss unzuverlässiger Unternehmen vom Wettbewerb
§ 123 und § 124 GWB regeln den Ausschluss vom Vergabeverfahren. Zum Ausschluss kommt es, wenn ein Unternehmen Personen für sich handeln lässt, die wegen Wirtschaftsdelikten einschlägig vorbestraft sind, wenn gegen ein Unternehmen selbst wegen einschlägiger Ordnungswidrigkeiten ein Bußgeld verhängt worden ist oder wenn sich ein Unternehmen in anderer schwerwiegender Weise als unzuverlässig erwiesen hat; diese Ausschlussregelungen kommen über § 31 UVgO auch für Unterschwellen-Vergabeverfahren zur Anwendung.
Um (öffentlichen) Auftraggebern die für einen solchen Ausschluss erforderlichen Informationen zu verschaffen, ist beim Bundeskartellamt das sog. Wettbewerbsregister errichtet worden. Diese elektronische Datenbank speichert Informationen über einschlägige rechtskräftige Verurteilungen und Bußgeldbescheide und erteilt anfragenden Auftraggebern Auskunft über vorliegende Einträge zu betroffenen Unternehmen.
Für die Abfrage dieser Informationen ist ein elektronisches Verfahren vorgesehen. Sobald dieses freigeschaltet ist, treten nacheinander zunächst die Verpflichtung der Strafverfolgungsbehörden und der mit der Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten betrauten Behörden zur Mitteilung einschlägiger Verurteilungen und Bußgeldbescheide an das Wettbewerbsregister und ein halbes Jahr später auch die Verpflichtung öffentlicher Auftraggeber zu Abfragen in Kraft.
Umfang der Informationen aus dem Wettbewerbsregister
Auf die Anfrage hin übermittelt das Bundeskartellamt dem Auftraggeber entweder die bezüglich der benannten Unternehmen gespeicherten Daten oder teilt mit, dass keine Eintragungen vorliegen.
Eine Mitteilung über einen Eintrag im Wettbewerbsregister führt allerdings selbst bei Vorliegen von zwingenden Ausschlussgründen nach § 123 GWB nicht automatisch zum Ausschluss des betroffenen Unternehmens. § 6 Abs. 5 S. 1 WRegG weist die Verantwortung für diese Entscheidung ausdrücklich und ausschließlich den jeweiligen Auftraggebern zu.[ii]
Soweit Auftraggeber für diese zu treffende Vergabeentscheidung ergänzende Informationen für erforderlich halten, erlaubt ihnen § 6 Abs. 6 WRegG, weitere Fragen bei den Strafverfolgungsbehörden oder den zur Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten berufenen Behörden zu stellen, die dem Bundeskartellamt die Hinweise gegeben haben. Eine solche Anfrage kann insbesondere erforderlich sein, wenn die Informationen des Wettbewerbsregisters auf einen fakultative Ausschlussgrund nach § 124 GWB hinweisen und der Auftraggeber für seine Abwägungsentscheidung weitere Informationen braucht.
Schutz der Vertraulichkeit der Informationen
Informationen über bestehende Vorstrafen oder die Verhängung von Bußgeldern sind hoch sensibel. Entsprechend unterstreicht § 6 WRegG die besondere Vertraulichkeit dieser Daten.[iii]
Ein weiteres Element zum Schutz dieser Daten und zur Umsetzung des datenschutzrechtlichen Erforderlichkeitsgrundsatzes ist die Verpflichtung der Auftraggeber zur Löschung der Daten nach Ablauf der rechtlich vorgesehenen Aufbewahrungsfristen. Eine solche ergibt sich z.B. aus § 8 Absatz 4 der Vergabeverordnung (VgV)[iv].
[i] Bei der Erteilung von Konzessionen nur soweit diese den europarechtlichen Schwellenwert erreichen
[ii] S. hierzu ausdrücklich auch die Begründung zu § 6 WRegG in BT Drs. 18/12051 S. 31
[iii] Damit sind diese Informationen gem. § 3 Nr. 4 Informationsfreiheitsgesetz nicht über den allgemeinen Informationsanspruch abrufbar.
[iv] Nach § 8 Abs. 4 VgV sind u.a. die Vergabedokumentation und der Vergabevermerk, die ein positives Abfrageergebnis und die auf dieser Grundlage getroffene Vergabeentscheidung dokumentieren müssen, bis zum Ende der Laufzeit des Vertrags oder der Rahmenvereinbarung, mindestens jedoch für drei Jahre ab dem Tag des Zuschlags, aufzubewahren.
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Die Überarbeitung der Fassung der Gemeinsamen Empfehlungen von 2012 sind insgesamt gelungen. Das Dokument hat an Struktur gewonnen.
Präambel
Die BAGFW begrüßt ausdrücklich die zentrale Maßgabe, dass die Maßnahmeteilnehmenden bei der Gestaltung und Durchführung der Leistungen im Mittelpunkt stehen und aktiv einzubeziehen sind.
Absatz 5
Die BAGFW begrüßt, dass im Rahmen der Empfehlung spezifische Inhalte der entsprechend § 37a SGB IX zu erstellenden Gewaltschutzkonzepte definiert werden.
§ 4 Besondere Hilfen
Die BAGFW begrüßt die Ausführungen zu den Besonderen Hilfen in einem eigenständigen Paragraphen.
§ 6 Wohnen der Leistungsberechtigten
Absatz 1
Doppelzimmer sind aus Sicht der BAGFW nicht mehr als Standard vertretbar. Im Bereich der Ersteingliederung sollte wie im Bereich der Wiedereingliederung die Unterbringung im Einzelzimmer der Standard sein.
Entfallen ist im vorliegenden Entwurf der Empfehlungen die Möglichkeit für Teilnehmende, die Unterbringung auch während der Wochenenden und andere „unterweisungsfreier Zeiten“ (Ferien) bewohnen zu können. Aus Sicht der BAGFW sollte diese Möglichkeit für die Leistungsberechtigten beibehalten werden.
§ 7 Leitung und Fachpersonal der Einrichtungen
Die BAGFW kritisiert, dass der Entwurf der Gemeinsamen Empfehlung im Gegensatz zur geltenden Fassung keine Regelungen zur Vergütung des Personals mehr vorsieht. Eine angemessene Entlohnung ist auch im Sinne der Qualität der Leistung von Bedeutung. Der Gesetzgeber hat die Bedeutung tariflicher Entlohnung im Zuge der Erarbeitung des BTHG durch die Formulierung in § 38 Abs. 2 SGB IX hervorgehoben. Es sollte eine Lösung gefunden werden, die tarifliche Entlohnung des Personals über eine entsprechende Formulierung in der Empfehlung sicherzustellen.
Eine Abhängigkeitserkrankung ist laut ICD 10 zu den psychischen Erkrankungen zu zählen. Um eine gute Unterstützung suchterkrankter Leistungsberechtigter zu gewährleisten regt die BAGFW an, die Disziplinen des Fachpersonals um die Soziale Arbeit zu erweitern. §7 Absatz 3 sollte entsprechend ergänzt werden.
§ 8 Fachliche Aufgaben, Prozesse und Leistungen
Absatz 6
Die BAGFW begrüßt, dass in der neuen Fassung der Gemeinsamen Empfehlung die Bedürfnisse von Leistungsberechtigten mit pflegenden Angehörigen in den Blick genommen werden.
§ 9 Durchführung von betrieblichen Phasen der Qualifizierung
Absatz 3
Die „konkreten Unterstützungsleistungen“ werden im Unterschied zur geltenden Fassung der Gemeinsamen Empfehlung (§ 5 (2)) nicht mehr im Einzelnen aufgeführt.
Die BAGFW schlägt vor, die Auflistung des Leistungskatalogs der Unterstützungsleistungen für die Arbeitgeber beizubehalten, um die Bandbreite der Unterstützungsmöglichkeiten deutlich zu machen (im Sinne eines Ideenfundus).
§ 10 Individuelle Integrationsunterstützung
Aus Sicht der BAGFW sollte auf eine einheitliche Verwendung von Begriffen geachtet werden. Anstelle der Bezeichnung „Individuelle Integrationsunterstützung“ schlägt die BAGFW vor, § 10 mit „Leistungen zur individuellen Unterstützung bei der Teilhabe am Arbeitsleben“ zu überschreiben.
Die Aufnahme der Unterstützungsangebote in die Empfehlungen begrüßt die BAGFW ausdrücklich.
§ 12 Beteiligung und Mitwirkung der Leistungsberechtigten
Den Leistungsberechtigten soll die Mitwirkung an der Ausführung der Leistungen als Teil der Ausbildungsmethode und der handlungsorientierten Qualifizierung ermöglicht werden. Es soll eine Vertretung der Leistungsberechtigten gewählt werden. Eine Mitwirkungsordnung ist zu erstellen.
Die Mitwirkungsrechte der Beschäftigten in Werkstätten für Menschen mit Behinderungen wurden seit 2017 ausgeweitet. Diese Entwicklung sollte im Bereich der Berufsbildung nachvollzogen werden, um sich auch hier den Bedingungen der Arbeitswelt weiter anzunähern und die Partizipationsmöglichkeiten der Leistungsberechtigten zu stärken.
Die Empfehlungen machen nicht deutlich, auf welchem Weg eine „Mitwirkungsordnung“ bzw. „ein entsprechendes konsensbasiertes Regelwerk in den Einrichtungen“ erarbeitet und in Kraft gesetzt werden sollte. Es sollte sichergestellt werden, dass sie unter Mitwirkung der Interessenvertretung der Leistungsberechtigten erstellt wird.
Anlage
Die BAGFW begrüßt, dass die neuen Regelungen zu den Strukturmerkmalen der Einrichtungen in der Anlage graphisch dargestellt werden. Sie möchte darauf hinweisen, dass mit dem Symbol des Blitzes keine eindeutig verständliche Bildsprache gewählt wurde. Hier böte sich ein anderes Symbol oder eine ergänzende schriftliche Erläuterung an.
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Vor diesem Hintergrund bedanken sich die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege nachdrücklich für die Verlängerung des Schutzschirms nach § 150 SGB XI. Wir sind überzeugt, dass die ab September in den Bundesländern anlaufenden Auffrischungsimpfungen für die besonders vulnerable Gruppe der pflegebedürftigen Menschen und die sie versorgenden Pflegefachkräfte die Ausgaben begrenzen werden.
Neben den Regelungen zur Kostenerstattung für die Maßnahmen nach § 150 Absätze 1 bis 4 begrüßen wir die Verlängerung der Kostenerstattungsregelungen für die pandemiebedingten Mindereinnahmen und Mehraufwendungen der nach Landesrecht anerkannten Unterstützungsangebote im Alltag gemäß § 150 Absatz 5a.
Aufgrund behördlicher Auflagen z. B. das Abstandsgebot und weitere Hygieneregelungen können die Einrichtungen ihre Gruppen- und Betreuungsangebote nur in
reduzierter Form anbieten. Daher ist es auch sinnvoll und geboten, die Ansparmöglichkeit für in den Jahren 2019 und 2020 nicht verbrauchte Leistungsbeträge für den Entlastungsbetrag nach § 45b Absatz 1 Satz 1 gemäß § 1 Absatz 4 dieses RefE zu verlängern.
Sehr positiv zu bewerten ist auch die Verlängerung des flexiblen Einsatzes des Entlastungsbetrags bei Pflegegrad 1 und die Verlängerung der Sonderregelung zum Pflegeunterstützungsgeld, das bis zum 31.12.2021 für bis zu 20 Arbeitstage statt regulär 10 Arbeitstage in Anspruch genommen werden kann. Mit diesen Maßnahmen werden pflegebedürftige Menschen und die sie betreuenden und versorgenden Angehörigen wirkungsvoll unterstützt.
Des Weiteren begrüßen wir, dass die Beratungsbesuche nach § 37 Absatz 3 SGB XI gemäß § 1 Absatz 3 weiterhin auf Wunsch des Pflegebedürftigen telefonisch oder digital stattfinden können. Dies hat sich bewährt und es sollte überlegt werden, auch nach der Krise diese Maßnahme mit Ausnahme des ersten Beratungsbesuchs zu verstetigen.
Auch sollte es weiterhin möglich sein, Pflegebegutachtungen gemäß § 1 Absätze 1 und 2 auf der Grundlage von strukturierten Interviews telefonisch oder digital durchzuführen. Eine telefonische oder digitale Begutachtung sollte allerdings wirklich nur dann durchgeführt werden, wenn eine Begutachtung in der Häuslichkeit bzw. im Wohnbereich pandemisch nicht geboten scheint.
]]>- Mit ihren über 100.000 Einrichtungen und Diensten kann sie einen wichtigen Beitrag zur Reduktion von Treibhausgasemissionen und damit zum Erreichen der deutschen Klimaziele leisten.
- Eine perspektivisch treibhausgasneutrale Freie Wohlfahrtspflege ermöglicht es ihren Klient/innen, selbst klimafreundlich zu leben und Teil der sozial-ökologischen Transformation zu sein.
- Die Freie Wohlfahrtspflege stellt eine wichtige Schnittstelle in die Gesellschaft dar und kann auf diesem Wege neue Zielgruppen erreichen und sie für den Klimaschutz gewinnen.
Viele Organisationen haben bereits begonnen, Maßnahmen umzusetzen und würden gerne mehr tun, während andere gerade starten. Sehr häufig scheitert die Umsetzung von Klimaschutz jedoch an den Rahmenbedingungen. Hieraus leiten sich folgende Forderungen an die Politik und insbesondere an die Bundesregierung ab:
1. Klimaschutz planbar und dauerhaft refinanzieren
Für soziale Einrichtungen und Dienste ist die Finanzierung die größte Herausforderung in der Umsetzung von Klimaschutzmaßnahmen. Derzeit mangelt es in nahezu allen Arbeitsfeldern der Wohlfahrtspflege an einer verlässlichen, planbaren und dauerhaften Refinanzierung solcher Maßnahmen. Zumeist sind Mittel aus der Regelfinanzierung nicht in ausreichender Höhe vorhanden oder in ihrer Verwendung eingeschränkt. Darüber hinaus ermöglicht die übliche Befristung von Förderprogrammen keine kontinuierliche Finanzierung, was längerfristige Entwicklungsprozesse hemmt.
In der Pflege zeigen sich die Schwierigkeiten beispielhaft: Erstens sind die verfügbaren Investitionsmittel zu niedrig, um ausreichend stark in den Klimaschutz investieren zu können. Zweitens sind selbst mit den vorhandenen Mitteln die Investitionen häufig nicht wirtschaftlich, weil Einsparungen, beispielsweise durch energetische Sanierungen, in den Pflegesatzverhandlungen an anderer Stelle wieder gestrichen werden und den Trägern somit nicht für die Refinanzierung ihrer Investitionen zur Verfügung stehen.
Wenn es darum geht, Ausgaben für den Klimaschutz in der Freien Wohlfahrtspflege dauerhaft zu refinanzieren, erlaubt die Vielfalt der Kostenträger und Finanzierungsmodelle keine One size fits all-Lösung. Es gilt, zuwendungs-, ausschreibungs- wie entgeltfinanzierte Bereiche zu beachten, Bundes-, Landes- und kommunale Zuständigkeiten sowie die Rolle von Sozialversicherungs- bzw. Leistungsträgern in den unterschiedlichen Sozialgesetzbüchern.
- Wir fordern daher von der Bundesregierung, dass sie ein Verfahren auf den Weg bringt, um die Refinanzierung von Ausgaben für den Klimaschutz in der Freien Wohlfahrtspflege sicherzustellen. Dieses Verfahren muss die Vielfalt der Finanzierungsformen und beteiligten Akteure berücksichtigen und eine verbindliche Regelung der Refinanzierung in allen Bereichen der Freien Wohlfahrtspflege zum Ergebnis haben. Ziel muss es sein, dass Ausgaben für den Klimaschutz Teil der jeweiligen Regelfinanzierung bzw. Finanzierungsart werden.
2. Kurzfristig wirksame Klimaschutzmaßnahmen ermöglichen
Aufgrund des hohen Handlungsdrucks (siehe u.a. Verschärfung des Klimaschutzgesetzes) müssen parallel zu dem oben beschriebenen Ansatz kurzfristige Maßnahmen eingeleitet werden, mit deren Hilfe Einrichtungen und Dienste den Klimaschutz unmittelbar angehen und umsetzen können. Hierbei können neu aufgelegte bzw. ausgeweitete Förderprogramme eine wichtige Rolle spielen. Diese müssen jedoch unbürokratisch und schnell abrufbar sein. Zudem ist es zwingend notwendig, etwaige Eigenanteile auf ein absolutes Mindestmaß zu reduzieren und zu vermeiden, dass die Projekte unter die Beihilferegelungen fallen und ihre Nutzung dadurch eingeschränkt wird.
a) Klima-Manager/innen für gemeinnützige soziale Einrichtungen und Dienste
Die fortschreitende Klimakrise sowie der Charakter von Klimaschutz als fachübergreifendes Querschnittsthema machen es notwendig, dass Einrichtungen und Dienste die Umsetzung von Klimaschutzmaßnahmen systematisch planen, koordinieren sowie auch evaluieren können. Dies erfordert den Einsatz entsprechender Personalressourcen, welche mit den vorhandenen und ohnehin überlasteten Stellen keinesfalls abgedeckt werden können.
- Wir schlagen daher vor, den gemeinnützigen Trägern von sozialen Einrichtungen und Diensten kurzfristig im Rahmen eines Bundesförderprogramms, wie z.B. der Nationalen Klimaschutzinitiative, auf regionaler Ebene die Einstellung von Klima-Manager/innen zu ermöglichen. Diesen Stellen käme die Aufgabe zu, die Entwicklung des Klimaschutzes in den Organisationen und ihren Einrichtungen zu koordinieren und fachlich zu begleiten.
b) Befähigung der Einrichtungen und Dienste durch individuelle Einstiegsberatung
Einrichtungen und Diensten des gemeinnützigen sozialen Sektors mangelt es nach eigener Aussage oft an dem notwendigen Know-How, um Klimaschutzmaßnahmen wirkungsorientiert entwickeln und umsetzen zu können. Hier muss zeitnah eine entsprechende Befähigung erreicht werden, welche den heterogenen Anforderungen der Standorte gerecht werden muss.
- Wir schlagen daher vor, im Rahmen einer Bundesförderung den einzelnen gemeinnützigen Einrichtungen und Diensten eine kostenlose, individuelle Einstiegsberatung zugänglich zu machen, mit deren Hilfe die Einrichtungen Klimaschutzkonzepte entwickeln und bei der Umsetzung wirkungsvoller Klimaschutzmaßnahmen begleitet werden. Die Kompetenzvermittlung sollte dabei auch den Aspekt der Bewusstseinsbildung in der Belegschaft der Einrichtungen umfassen.
c) Investitionsoffensive Gebäude
Ein besonders großer Hebel zur Umsetzung der Klimaschutzziele Deutschlands liegt im Bereich der Immobilien. Die Einrichtungen der Freien Wohlfahrtspflege besitzen bzw. nutzen eine große Zahl teils sehr energieintensiver Gebäude.
Auf diesem Gebiet kommt es jedoch schon seit längerem zu einem regelrechten “Sanierungsstau”, da finanzielle Engpässe, rechtliche Hürden und abstimmungsintensive Prozesse - nicht zuletzt durch die Sozialplanungshoheit der Länder und Kommunen - entsprechende Aktivitäten verzögern.
Bestehende Förderungen wie etwa die neu aufgestellte “Bundesförderung für effiziente Gebäude” sind ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung, gerade wenn die Unterstützung beihilfefrei gestellt ist. Allerdings bedarf es für den sozialen Bereich weiterer Erhöhungen der Förderquoten.
- Wir schlagen für die Freie Wohlfahrtspflege eine “Investitionsoffensive Gebäude” vor, die in großem Umfang zielgerichtete Förderangebote ausbaut und entwickelt. Hierbei sind die spezifischen Voraussetzungen gemeinnütziger Einrichtungen und Dienste zu berücksichtigen, um das CO2-Einsparpotenzial auf diesem Gebiet kurz- bis mittelfristig zu heben. Ein Element der Investitionsoffensive Gebäude sollte ein konzertierter Vorstoß zur Stärkung der Eigenstromnutzung durch Photovoltaik sein.
der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW)
zum Entwurf der Richtlinien des GKV-Spitzenverbandes nach § 8 Absatz 7 SGB XI zur Förderung von Maßnahmen ambulanter und stationärer Pflegeeinrichtungen zur Vereinbarkeit von Pflege, Familie und Beruf
Zu § 1 Gegenstand der Förderung
Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege begrüßen, dass von der Förderung der Maßnahmen zur besseren Vereinbarkeit von Pflege, Familie und Beruf auch ausdrücklich der Bereich der Rückgewinnung und damit verbundenen Einarbeitung der in den Pflegeeinrichtungen tätigen Mitarbeitenden umfasst wird.
Positiv zu bewerten ist, dass förderfähige betriebliche Konzepte explizit auch die Rückgewinnung und den Wiedereinstieg z.B. nach Elternzeit oder auch einer Pflegezeit umfasst. Gerade für diese Mitarbeitenden sind Arbeitszeitmodelle, die familiäre Verpflichtungen berücksichtigen, besonders relevant.
Grundsätzlich sollte nicht nur die Entwicklung, sondern auch die Optimierung bereits bestehender Konzepte zur Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf zu den förderfähigen Tatbeständen gehören.
Die Richtlinie will offenbar auch den Wechsel von der klassischen Pflegetätigkeit zur Betreuungstätigkeit fördern. Zu diesem Zweck sollen auch Konzepte für eine kompetenzorientierte und lebensphasenorientierte Aufgabenverteilung für Pflege- und Betreuungskräfte förderfähig sein. Zu diesem Zweck wird wohl auch in § 1 Absatz 2 zwischen Pflege- und Betreuungskräften differenziert. Dieser Aspekt kann insbesondere eine Rolle spielen, wenn es um die Rückgewinnung von Mitarbeitenden in der Pflege geht und wird daher begrüßt. Allerdings sollte der Terminus der „Kompetenzorientierung“ auch in Absatz 4 Satz 1 Nummer 1 verwendet werden und dort den Begriff der „Mitarbeiterorientierung“ ersetzen. Mitarbeiterorientierung sollte grundsätzlich ein zentrales Kriterium für die Gestaltung jeglicher Arbeitszeitmodelle sein.
Prinzipiell begrüßen wir es, dass nach Absatz 6 mehrere Pflegeeinrichtungen auch Maßnahmen im Verbund durchführen können. Aus organisatorischen Gründen ist es sicherlich auch sinnvoll, dass ein Träger/eine Einrichtung hierfür die Federführung übernimmt. Interpretationsspielraum bietet hier jedoch der unbestimmte Begriff „in örtlicher Nähe befindliche“. Erfahrungen in anderen Kontexten haben gezeigt, dass es hier dann zu subjektiven Definitionen kommen kann, wann eine Förderung im Verbund genehmigt wird und wann nicht oder zu weiteren detaillierten Auslegungen durch die Landesverbände der Pflegekassen. Beides trägt dann dazu bei, Förderungen zu verhindern. Wir schlagen deshalb die Streichung des Terminus „in örtlicher Nähe befindliche“ vor.
Änderungsbedarf:
In Absatz 4 sind die Wörter „mitarbeiterorientiert“ durchgängig durch „kompetenzorientiert“ zu ersetzen.
In Absatz 4 Nummern 2 und 3 sind nach dem Wort „Entwicklung“ die Wörter „oder Optimierung“ zu ergänzen.
Absatz 6 lautet wie folgt:
„Die Maßnahmen können durch mehrere in örtlicher Nähe befindliche Pflegeeinrichtungen im Verbund durchgeführt werden, sofern der Träger einer einzelnen Einrichtung die Gesamtverantwortung für die zweckmäßige Verwendung der Fördermittel übernimmt.“
Zu § 3 Voraussetzungen für die Förderung
Absatz 3 entspricht der Absicht des Gesetzgebers. Im Sinne der Transparenz halten wir es hier jedoch für erforderlich, dass er zuständige Landesverband der Pflegekassen eine Statistik über die Anträge führt, die aufgrund der bereits ausgeschöpften Fördermittel abgelehnt wurden.
Änderungsbedarf:
Absatz 3 wird um folgenden Satz 2 ergänzt:
„Eine Förderung kann nur erfolgen, sofern die nach § 2 Absatz 2 an das jeweilige Bundesland zugewiesenen Fördermittel vor Ablauf des Kalenderjahres nicht ausgeschöpft sind. Der zuständige Landesverband der Pflegekassen führt eine Statistik über die aufgrund der bereits ausgeschöpften Fördermittel abgelehnten Anträge.“
Zu § 4 Antragsverfahren
Unserer Auffassung nach kann der Antrag, wie bereits im vorausgehenden Stellungnahmeverfahren ausgeführt, nicht bereits die Nachweise über die verausgabten Mittel mittels Rechnungsbeleg enthalten, sondern neben der Beschreibung des Inhalts und des Umfangs der Fördermaßnahme(n) einen gesonderten Kosten- bzw. Finanzierungsplan je Maßnahme. Die Nachweise über die verausgabten Mittel mittels Rechnungsbeleg je Fördermaßnahme können nicht vor Förderbeginn vorgelegt werden, sondern erst nach erfolgreicher Durchführung der Maßnahme.
Neu eingefügt in die Förderrichtlinie wurde, dass die Beschreibung von Inhalt und Umfang der Fördermaßnahmen „detailliert“ erfolgen soll. Da die Detailtiefe strittig sein kann, sollte der Begriff „detailliert“ durch „ausführlich“ ersetzt werden. Auch mit dieser Formulierung wird erreicht, dass der Antrag nicht auf stichpunktartigen Angaben beruhen darf, sondern hinreichend begründet sein muss.
Änderungsbedarf:
In Absatz 3 wird das Wort „detaillierte“ durch das Wort „ausführliche“ ersetzt,
Absatz 4 wird wie folgt formuliert:
„Der Antrag bedarf der Schriftform und muss folgende Angaben beinhalten:
• den Namen, den Sitz und das Institutionskennzeichen (IK) der nach § 72 SGB XI zugelassenen Pflegeeinrichtung,
• Name und Anschrift des Trägers der Einrichtung,
• Beschreibung des Inhalts und des Umfangs der Fördermaßnahme(n),
• Kostenangabeplan je Fördermaßnahme
• oder Nachweis(e) über die verausgabten Mittel mittels Rechnungsbeleg je Fördermaßnahme.
Zu § 5 Verwaltungsverfahren
In Absatz 2 werden nicht näher bezeichnete „weitere Nachweise“ eingeführt, welche die Pflegekasse „im Einzelfall“ für ihren Förderbescheid benötigen könnte. Eine solch unspezifische Nachweispflicht lehnen die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege ab. Die Nachweispflichten sind in § 4 Absatz 3 hinreichend spezifiziert, nämlich als Rechnungsbeleg über die verausgabten Mittel je Fördermaßnahme bzw. Kostenvoranschlag je geplanter Maßnahme.
Änderungsbedarf:
Streichung des Satzes 2 in Absatz 2:
„Sofern die Pflegekasse weitere Nachweise benötigt, um die Bewilligung der Fördermittel zu bescheiden, kann die Pflegekasse im Einzelfall weitere Nachweise zur Vorlage verlangen“.
Berlin, 02.07.2021
Bundesarbeitsgemeinschaft
der Freien Wohlfahrtspflege e. V.
Dr. Gerhard Timm
Geschäftsführer
Kontakt:
Dr. Elisabeth Fix (elisabeth.fix(at)caritas.de)
Erika Stempfle (erika.stempfle(at)diakonie.de)
]]>der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW)
zum Entwurf der Richtlinien des GKV-Spitzenverbandes
nach § 8 Absatz 8 SGB XI zur Förderung der Digitalisierung in
stationären und ambulanten Pflegeeinrichtungen
Zu § 1 Gegenstand der Förderung
Vorweg sei bemerkt: Die in dem vorliegenden Entwurf beschriebenen förderungsfähigen Anschaffungen und Maßnahmen haben dementsprechend gemeinsam, dass sie sich vorrangig auf das Pflegepersonal beziehen und Menschen mit Pflegebedarf nur zu einem geringen Anteil adressieren. Die Maßnahmen zur Entlastung der Pflegekräfte durch digitale und technische Anwendungen sind nach Auffassung der in der BAGFW zusammengeschlossenen Verbände deutlich weiter zu fassen. Dafür bedurfte es allerdings einer entsprechenden gesetzlichen Grundlage, die nicht gegeben ist.
Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege lehnen es weiterhin ab, dass die Aufwendungen, die im Zusammenhang mit der elektronischen Abrechnung pflegerischer Leistungen im Rahmen des DTA nach § 105 SGB XI bzw. nach § 302 SGB V entstehen, aus den Fördermitteln nach § 8 Absatz 7 zu finanzieren sind. Die elektronische Abrechnung pflegerischer Leistungen stellt eine gesetzliche Aufgabe dar, die alle Pflegeeinrichtungen zu erfüllen haben. Die förderfähigen Anschaffungen von digitaler oder technischer Ausrüstung nach § 8 Absatz 7 SGB XI stellen im Gegensatz zu den digitalen Aufwendungen für den elektronischen DTA freiwillige Anschaffungen der Einrichtungen dar, die aus diesem Grunde auch nur anteilig vom Gesetzgeber gefördert werden. Die Voraussetzung für den elektronischen DTA ist eine Anbindung an die Telematikinfrastruktur. Inzwischen existiert eine gesetzliche Grundlage für den Anschluss der Pflegeeinrichtungen an die TI und für die Finanzierung der Aufwendungen, die im Zusammenhang mit der Anschaffung der für den DTA erforderlichen technischen Hardware, der Software sowie der Wartungen und Schulungen entstehen. Die elektronische Abrechnung pflegerischer Leistungen ist daher aus dem Katalog der förderfähigen Maßnahmen zu streichen.
Förderfähig sollten zudem neben den digitalen Ausrüstungen für Videosprechstunden auch solche für weitere telepflegerische Maßnahmen sein, wie z.B. die digitale Beratung im Rahmen der Beratungseinsätze nach § 37 Absatz 3 SGB XI oder für digitale Pflegekurse für pflegende Angehörige nach § 45 SGB XI.
Zudem merken die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege an, dass die in § 1 abgebildeten Fördertatbestände die gesetzliche Grundlage des § 8 Absatz 8 nicht vollständig abbilden. § 8 Absatz 8 Satz 2 sieht vor, dass neben den digitalen und technischen Ausrüstungen auch die Schulungen zu ihrer Anwendung förderfähig sind. Dieser Tatbestand ist dringend in der Richtlinie zu ergänzen.
Änderungsbedarf:
In § 1 Satz 1 ist zu streichen:
„die elektronische Abrechnung pflegerischer Leistungen nach § 105 SGB XI“
Zu ergänzen ist nach dem Spiegelstrich zu den Videosprechstunden:
- Telepflegerische Maßnahmen (z.B. im Rahmen der digitalen Pflegeberatung nach § 37 Absatz 3 SGB XI oder digitale Pflegekurse nach § 45 SGB XI)
Folgender Satz 2 ist zu ergänzen:
„Förderfähig sind weiterhin Schulungen zur Anwendung der im Rahmen der Förderung angeschafften digitalen oder technischen Ausrüstungen“
Zu § 5 Verwaltungsverfahren
In Absatz 2 werden nicht näher bezeichnete „weitere Nachweise“ eingeführt, welche die Pflegekasse „im Einzelfall“ für ihren Förderbescheid benötigen könnte. Eine solch unspezifische Nachweispflicht lehnen die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege ab. Die Nachweispflichten sind in § 4 Absatz 3 hinreichend spezifiziert, nämlich als Rechnungsbeleg über die verausgabten Mittel je Fördermaßnahme bzw. Kostenvoranschlag je geplanter Maßnahme.
Änderungsbedarf:
Streichung des Satzes 2 in Absatz 2:
„Sofern die Pflegekasse weitere Nachweise benötigt, um die Bewilligung der Fördermittel zu bescheiden, kann die Pflegekasse im Einzelfall weitere Nachweise zur Vorlage verlangen“.
Berlin, 02.07.2021
Bundesarbeitsgemeinschaft
der Freien Wohlfahrtspflege e. V.
Dr. Gerhard Timm
Geschäftsführer
Kontakt:
Dr. Elisabeth Fix (elisabeth.fix(at)caritas.de)
Erika Stempfle (erika.stempfle(at)diakonie.de)
]]>zum Entwurf der Verordnung zur Verlängerung von Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der pflegerischen Versorgung während der durch das Coronavirus SARS-CoV-2 verursachten Pandemie
Die Verbände der BAGFW begrüßen die Verlängerung des Schutzschirms für die Pflegeeinrichtungen nachdrücklich.
Zwar werden sich die Mindereinnahmen in den Pflegeeinrichtungen aufgrund der Impfungen und des Schutzes, der davon für die pflegebedürftigen Menschen und die Einrichtungen ausgeht, voraussichtlich immer mehr verringern, dennoch bedarf es vor allem wegen der Mehraufwendungen für die Hygiene- und Schutzmaßnahmen sowie der erforderlichen Testungen z.B. von Mitarbeitenden, Besucher/innen oder auch der Bewohner/innen weiterhin des Schutzschirms nach § 150 SGB XI. Diese Mehrkosten können auch nicht in die Pflegesätze eingepreist werden, da diese pandemiebedingten Kosten dann den Eigenanteil weiter erhöhen würden.
Des Weiteren kommt es insbesondere in den Pflegeeinrichtungen und Regionen mit hohen Infektionsraten und Reinfektionen trotz Impfung zu einem Nachfragerückgang. Generell sind die Angehörigen vor dem Hintergrund des hohen Infektionsgeschehens im Frühjahr vergangenen Jahres nach wie vor zurückhaltend, ihre pflegebedürftigen Angehörigen in einer Einrichtung versorgen zu lassen. Des Weiteren begünstigt die Kurzarbeit die Pflege zuhause. Sobald sich die Arbeitssituation aber wieder durch Rückkehr an den Arbeitsplatz normalisiert, wird die Nachfrage wieder zunehmen. Daher darf das bestehende Platzangebot nicht abgebaut werden. Des Weiteren können Plätze auch wegen verhängter Quarantänen nicht belegt werden. Diese drei Faktoren bedingen Mindereinnahmen, die Pflegeeinrichtungen gegenwärtig nicht kompensieren können.
Nach wie vor sind die Tagespflegeeinrichtungen wegen des Abstandsgebots und der Hygienevorschriften besonders stark von Belegungsrückgängen betroffen. Hart trifft diese dann auch der Rückgang von Einnahmen zur Deckung der notwendigen Investitionen. Das attraktive, Angehörige entlastende Angebot der Tagespflegen, das mühsam über die Jahre aufgebaut wurde, gilt es zu erhalten.
Eine dritte Umfrage der Bank für Sozialwirtschaft von April bis Mai 2021 bestätigt im Übrigen, dass insbesondere stationäre Einrichtungen und Tagespflegen weiterhin mit Auslastungsdefiziten infolge von gesetzlichen Auflagen, Nachfrageeinbrüchen und Personalausfällen durch Krankheit sowie Kindernotbetreuung umgehen müssen (https://www.sozialbank.de/covid-19/umfrage).
Vor diesem Hintergrund bedanken sich die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege nachdrücklich für die Verlängerung des Schutzschirms nach § 150 SGB XI. Wir hoffen, dass die Impf- und Teststrategie zusammen mit der weiter gebotenen Einhaltung der Hygieneregelungen und der Abstandsgebote dazu führen wird, dass der Schutzschirm nur noch wenig aufgespannt werden muss. Wir sind überzeugt, dass auch bei den Auffrischungsimpfungen die besonders vulnerable Gruppe der pflegebedürftigen Menschen und die sie versorgenden Pflegefachkräfte weiterhin prioritär im Blick sein werden. Daher hoffen wir, dass der Schutzschirm nach § 150 SGB XI auch im Herbst und Winter 2021/22 nicht in größerem Umfang benötigt wird. Allerdings ist nicht vorhersehbar, ob alle Einrichtungen bzw. Einrichtungsformen ab Oktober 2021 aus eigener Kraft ihr Leistungsangebot aufrechterhalten können. Gleichzeitig möchten wir Sie bitten, auch bei erneuter Verschlechterung der pandemischen Lage die Situation neu zu bewerten und eine eventuell notwendige Verlängerung nach der Bundestagswahl per Verordnung im Blick zu halten.
Neben den Änderungen zu § 150 Absätze 1 bis 4 begrüßen wir die Verlängerung der Kostenerstattungsregelungen für die pandemiebedingten Mindereinnahmen und Mehraufwendungen der nach Landesrecht anerkannten Unterstützungsangebote im Alltag gemäß § 150 Absatz 5a. Viele Gruppenangebote haben behördliche Auflagen und können wegen des Abstandsgebots und der Hygieneregelungen ihre Betreuungsangebote nur in reduzierter Form anbieten.
Sehr positiv zu bewerten ist auch die Verlängerung des flexiblen Einsatzes des Entlastungsbetrags bei Pflegegrad 1 und die Verlängerung der Sonderregelung zum Pflegeunterstützungsgeld, das bis zum 31.12.2021 für bis zu 20 Arbeitstage statt regulär 10 Arbeitstage in Anspruch genommen werden kann. Mit diesen Maßnahmen werden pflegebedürftige Menschen und die sie betreuenden und versorgenden Angehörigen wirkungsvoll unterstützt.
Des Weiteren begrüßen wir, dass die Beratungsbesuche nach § 37 Absatz 3 SGB XI weiterhin auf Wunsch des Pflegebedürftigen telefonisch oder digital stattfinden können. Dies hat sich bewährt und es sollte überlegt werden, auch nach der Krise diese Maßnahme mit Ausnahme des ersten Beratungsbesuchs zu verstetigen.
Berlin, 09.06.2021
Bundesarbeitsgemeinschaft
der Freien Wohlfahrtspflege e. V.
Dr. Gerhard Timm
Geschäftsführer
Kontakt:
Erika Stempfle (erika.stempfle(at)diakonie.de)
]]>Vorbemerkung:
Der aus dem vorliegenden Arbeitsentwurf konsentierte Expertenstandard „Förderung der Mundgesundheit in der Pflege“ wird der zehnte pflegerische Expertenstandard des Deutschen Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege (DNQP) in 20 Jahren sein. Zugleich ist er der erste multiprofessionell erarbeitete Expertenstandard, denn er wurde vom DNQP in Kooperation mit der Bundeszahnärztekammer (BZÄK), der Deutschen Gesellschaft für Alterszahnmedizin (DGAZ) und der Arbeitsgemeinschaft Zahnmedizin für Menschen mit Behinderungen und besonderem Unterstützungsbedarf (AG ZMB) erarbeitet. Die interprofessionelle Zusammensetzung der Expertengruppe aus Pflege und Zahnmedizin wird von der BAGFW ausdrücklich begrüßt, denn die Förderung der Mundgesundheit erfordert ein kooperatives Miteinander mehrerer Berufsgruppen. Eine Identifikation von Schnittstellen sowie die Limitationen der pflegerischen Möglichkeiten werden durch den multiprofessionellen Ansatz sichtbar gemacht. Die Kooperation wird gefördert und eine sektorenübergreifende, qualitativ hochwertige Versorgung auf dem neuesten Wissensstand ermöglicht.
Wie üblich gliedert sich auch der Arbeitsentwurf des Expertenstandard „Förderung der Mundgesundheit in der Pflege“ in Struktur-, Prozess- und Ergebniskriterien in jeweils 5 Ebenen.
Im Folgenden wird auf einige Punkte der Ebenen genauer Bezug genommen und diese fachlich bewertet.
Allgemein:
Der Expertenstandard „Mundgesundheit in der Pflege“ ist der erste nicht-monodisziplinäre Expertenstandard. Es ist begrüßenswert, dass der Expertenstandard durch die Erweiterung der Expertenarbeitsgruppe der Förderung einer interprofessionellen, gemeinsame Sprache dient. Durch den Einbezug unterschiedlicher Professionen können Umbrüche bei der Versorgung der Pflegebedürftigen aufgrund von unterschiedlichen Terminologien (z.B. „Instrument“) vermieden werden. In der pflegerischen Anamnese und bei der zahnärztlichen Einschätzung können dadurch gleiche Begriffe genutzt und einfacher auf gemeinsame Wissensstände zurückgegriffen werden.
Die Zielgruppe dieses Expertenstandards sind gemäß Präambel zum Expertenstandard-Entwurf „Menschen aller Altersstufen, […] die professionelle pflegerische Unterstützung bei der Mundpflege oder zur Förderung der Mundgesundheit benötigen“
(S. 21). Pflegebedürftige Menschen - insbesondere in der Langzeitpflege - sind häufig nicht mehr in der Lage, die Mundpflege selbstständig durchzuführen. Im Rahmen der vorbehaltenen Tätigkeiten obliegt es der Pflegefachkraft, einen pflegerischen Bedarf zu erkennen und ggf. Maßnahmen zu planen. Das Strukturmodell zur Entbürokratisierung der Pflegedokumentation hat sich in vielen Einrichtungen der Langzeitpflege etabliert. Die Einschätzung von Risiken und Phänomenen im Strukturmodell erfolgt über den SIS®-Bogen. Integraler Bestandteil des SIS®-Bogens ist die Risikomatrix, die die Notwendigkeit erhöhter Aufmerksamkeit zur Abwehr von Gefahren zusammenfasst und den Bedarf zu einer weitergehenden Einschätzung darstellt. Im vorliegenden Expertenstandard-Entwurf findet sich kein Hinweis auf ein mögliches Verfahren, wie der Expertenstandard im Strukturmodell zur Entbürokratisierung der Pflegedokumentation implementiert werden kann.
Empfehlenswert wäre aus Sicht der BAGFW eine Aufnahme zum Umgang mit der Risikoerhebung in der Risikomatrix im Strukturmodell, um ein einheitliches Anwenden zu ermöglichen und Doppeldokumentationen zu vermeiden.
Standardebene 1
Der Begriff „Kompetenz“ im Strukturkriterium S1 wird in den Kommentierungen als reines Fachwissen definiert. Hier wird von der BAGFW eine Erweiterung um Kommunikationsfähigkeit oder sonstige personale Kompetenzen vorgeschlagen (vgl. Kriterium S3).
In den Prozesskriterien P1a und P1b wird zwischen einem Screening zur Ersteinschätzung und einem weiterführenden Assessment bei bestehendem Risiko unterschieden. Es zeigen sich widersprüchliche Aussagen auf S. 30: „Für die erste Einschätzung […] empfiehlt die Expertenarbeitsgruppe folgende Kriterien, die ohne eine Inspektion des Mundes auskommt.“ und S. 32 „Im Rahmen des Screenings […] darum zu bitten, einmal in den Mund schauen zu dürfen.“ Hier kann es nach Meinung der BAGFW hilfreich sein, deutlicher herauszuarbeiten, inwieweit die Inspektion der Mundhöhle Teil des Screenings ist.
Des Weiteren wird davon ausgegangen, dass bei pflegebedürftigen Menschen in der stationären Langzeitpflege grundsätzlich ein Initial-Assessment durchgeführt werden muss, da diese Personengruppe ein hohes Risiko für „Probleme im Mundbereich“ aufweist (s. S. 31). Dies widerspricht dem individuellen Ansatz der pflegerischen Versorgung und führt zu mehr Bürokratie, wenn ein regelhaftes Assessment ohne Bezugnahme auf eine individuelle Bedarfsermittlung eingefordert wird.
Standardebene 2
Im Prozesskriterium P2 erscheint erstmals der Begriff „Selbstbestimmung“. Dem gegenüber steht die gesetzliche Vorgabe des SGB XI: „Die Leistungen der Pflegeversicherung sollen den Pflegebedürftigen helfen, trotz ihres Hilfebedarfs ein selbständiges und selbstbestimmtes Leben zu führen, das der Würde des Menschen entspricht (§ 2 Abs. 1 SGB XI).“
Selbstbestimmung ist ein zentrales Element des Pflegeverständnisses und sollte daher bereits in der vorherigen Ebene Berücksichtigung finden. Insbesondere empfiehlt sich, dies beim Screening sowie bei dem Assessment zur Bedarfsermittlung der Mundgesundheit mit aufzunehmen (P1a und P1b).
Standardebene 3
Das Prozesskriterien P3a und P3b fordern von der Pflegefachkraft eine Kooperation mit beteiligten Berufsgruppen. Für den Bereich der stationären Langseitpflege gibt es gesetzliche Regelungen zu Kooperationen von Pflegeheimen mit Zahnärzten/innen gemäß § 119b Abs. 2 SGB V.
Die BAGFW sieht weiterhin Handlungsbedarf, neben den Zahnärzten/innen auch den Pflegekräften den für die Kooperation und Koordination entstehenden Mehraufwand im Rahmen der Kooperationsverträge nach § 119b SGB V, aber auch im häuslichen Bereich zu vergüten. Dafür bedarf es einer gesetzlichen Grundlage.
Standardebene 4
Das Strukturkriterium S4a fordert die Kompetenz zur Umsetzung von pflegerischen Maßnahmen zur Förderung der Mundgesundheit.
Die Mundpflege wird in der Langzeitpflege im Rahmen der Körperpflege erbracht. Diese wird in der Regel von Pflegekräften durchgeführt. Hier ist ergänzend ein Tätigkeitskatalog sinnvoll, der Vorschläge zur Einbindung der Pflegekräfte bei der Durchführung der Mundpflege darstellt.
In den Kommentierungen zum Prozesskriterium P4b wird von der Verwendung von „Butter oder tierischen Fetten“ als Pflegemittel abgeraten (S. 44). Begründet wird dies u.a. damit, dass „viele Menschen tierische Fette ablehnen“. Dazu findet sich in der Literaturanalyse unter Punkt 3.4.3.5 der Verweis, dass Butter beim Lösen von Borken empfohlen wird. Zur Aussage, dass tierische Fette grundsätzlich eher abgelehnt werden findet sich kein Hinweis. Hier besteht Klärungsbedarf, weshalb die Nutzung nicht empfohlen wird, trotz gegenteiliger Literaturempfehlung. Die Nutzung von Butter hat sich in der Praxis bewährt, wenngleich die Gefahr der Fettpneumonie gegen einen Einsatz von tierischen Fetten spricht.
Standardebene 5
In Prozesskriterium P5 wird gemäß den Kommentierungen (S. 63) festgelegt, dass die Entscheidung zum Aussetzen der mundpflegerischen Maßnahmen und der Mundinspektion vom Team zu treffen sind. Die BAGFW empfiehlt an dieser Stelle dringend, in diese Entscheidung auch die versorgte Person selbst und/oder dessen Zu- und Angehörige explizit miteinzubeziehen.
Berlin, 16.06.2021
Bundesarbeitsgemeinschaft
der Freien Wohlfahrtspflege e. V.
Dr. Gerhard Timm
Geschäftsführer
Kontakt:
Eva-Maria Riegel, M.Sc.(Riegel(at)paritaet-berlin.de)
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Im Evaluationsbericht zeigt sich die hohe Akzeptanz des § 16i bei den befragten Jobcenterleitungen, die das Instrument „Teilhabe am Arbeitsmarkt“ überwiegend als gutes zusätzliches und wirkungsvolles Förderinstrument wertschätzen. Ebenso zeigt die Evaluation, dass in der Umsetzung des Teilhabechancengesetzes die zugewiesenen Förderungen den gesetzlichen Förderkriterien nahezu vollständig entsprechen. Insgesamt ergibt sich aus dem Bericht, dass insbesondere mit dem § 16i eine Fördermöglichkeit für langzeitarbeitslose Menschen geschaffen wurde, für die es vorher oft keine passenden Förderungen zur Integration in Erwerbsarbeit gab. Durch § 16i konnte so eine wichtige Lücke geschlossen und ein Angebot geschaffen werden, mit dem die Zielgruppe langzeitarbeitsloser Menschen gut erreicht und ihren Förderbedarfen entsprechend unterstützt werden kann.
Gleichzeitig zeigen sich auch Probleme aus der praktischen Umsetzung auf, die weiter beobachtet und behoben werden müssen:
- Dazu gehört, dass die Förderwahrscheinlichkeit für bestimmte Gruppen geringer ist als für andere, obwohl sie die formalen Voraussetzungen erfüllen. Zu den unterrepräsentierten Gruppen gehören etwa Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit, Frauen, insbesondere in Paarhaushalten, Leistungsberechtigte ohne Berufsabschluss sowie zum Teil auch Menschen mit Schwerbehinderung. Diese Befunde erfordern eine besondere Analyse und Auswertung durch die Jobcenter, um die Chancengleichheit beim Zugang zu einer geförderten Beschäftigung nach § 16i und 16e zu gewährleisten. Auch plädiert die BAGFW dafür, dass zukünftig auch solche arbeitsmarktfernen Personengruppen in die Förderung des Teilhabechancengesetzes, insbesondere nach §16 i SGB II miteinbezogen werden können, die die Fördervoraussetzung eines langjährigen Leistungsbezugs im SGB II alleine deswegen nicht erfüllen, weil Zeiten des Bezugs existenzsichernder Leistungen nach anderen Gesetzbüchern (z.B. Sozialhilfe, Asylbewerberleistungsgesetz ) oder andere Unterbrechungszeiten (etwa während Zeiten einer Gefängnisunterbringung) nicht berücksichtigt werden.
- Es liegen zudem breite Praxishinweise dazu vor, wonach die Auswahl und die Vorbereitung der Teilnehmenden auf eine öffentlich geförderte Beschäftigung sorgfältiger und gründlicher erfolgen sollte, um Abbrüche wegen fehlender Passung zu vermeiden. Die BAGFW plädiert dafür, verstärkt vorbreitende Angebote, wie etwa ein vorgelagertes Jobcoaching, Maßnahmen beim Arbeitgeber (§ 45 SGB III) oder über eine Arbeitsgelegenheit (§ 16d SGB II) eine praxisnahe Orientierung im Vorfeld eines Arbeitsvertrags zu ermöglichen.
- Weiterhin bestätigt der IAB-Bericht die große Bedeutung des ganzheitlichen, beschäftigungsbegleitenden Coachings, mit dem die Leistungsberechtigten umfassend gemäß ihrer oft vielfältigen Unterstützungsbedarfe begleitet und gefördert werden. Diesem Bedarf wird jedoch den Forschungsergebnissen des IAB zufolge durch die Jobcenter und die beauftragten Coaching-Träger oftmals nicht angemessen Rechnung getragen. Das Coaching wird zum Teil nur für die Einstiegszeit gewährt, was dazu führen kann, dass später auftretender Coachingbedarf nicht (mehr) aufgefangen wird. Oftmals finden ebenfalls nur gelegentliche fernmündliche Kontakte zwischen Coaches und geförderten Beschäftigten statt. Als ein Grund hierfür wird der häufig stark variierende Betreuungsschlüssel genannt. Personelle Wechsel sind häufig und beeinträchtigen die Betreuungsqualität. Viele Jobcenter zeigten sich darüber hinaus unzufrieden mit dem Einkauf und dem Angebot von Vergabemaßnahmen. Aus der Praxis der Beschäftigungsträger wird vielfach berichtet, dass sich ungünstige Aufgabendopplungen zum externen Coaching ergeben und originäre Aufgaben der Coaches wie insbesondere die Unterstützung bei der Eingliederung am Arbeitsplatz und sozialpädagogische Betreuung ohnehin und zudem häufig intensiver vom Beschäftigungsträger selbst wahrgenommen werden.
Aus Sicht der BAGFW muss dringend auf diese Befunde reagiert und ein qualitativ hochwertiges Coachingangebot sichergestellt werden. Nur so kann eine ganzheitliche Betreuung der geförderten Teilnehmer gemäß ihres individuellen Unterstützungsbedarfes gelingen. Dabei ist die Perspektive der Leistungsberechtigten von Anfang an mit einzubeziehen und ein Wunsch- und Wahlrecht einzuräumen, das die besondere Bedeutung eines langfristigen Vertrauensverhältnisses für das Coaching berücksichtigt. Die Verknüpfung des Wunsch- und Wahlrechts mit der Umstellung der Organisation und Finanzierung des Coachings auf ein Gutscheinsystem soll die Qualität des Coachings insbesondere gegenüber den bestehenden Vergabemaßnahmen zukünftig verbessern. Dabei sollen die Gutscheine in Zukunft von den Leistungsberechtigten auch bei den Arbeitgebern selbst, wie insbesondere den Beschäftigungsträgern, eingelöst werden können.
- Seit der Einführung des Instrumentes Teilhabe am Arbeitsmarkt im Januar 2019 konnten bis Dezember 2020 56.000 Eintritte gezählt werden. Davon entfiel der größte Teil auf das Jahr 2019 (39.200), seit Beginn des Jahres 2020 waren es 16.900. Während der Pandemie wurde der Ausbau des Sozialen Arbeitsmarktes ausgebremst, während die Langzeitarbeitslosigkeit und Zahl der Langzeitleistungsbeziehenden gewachsen ist. Aktuell werden in 14 von 16 Bundesländern weniger als 2% der Langzeitleistungsbeziehenden mit dem Instrument gefördert.[1] Die BAGFW plädiert für einen weiteren Ausbau des Angebotes im Sozialen Arbeitsmarkt.
- Bundesweit wurde rund die Hälfte der Förderungen zunächst für bis zu zwei Jahre ausgesprochen, bei einem Viertel wird die maximale Förderzeit von fünf Jahren von Anfang an ausgeschöpft. Arbeitsverträge nach § 16i SGB II können einmalig verlängert werden. Die BAGFW wirbt auch in den eigenen Reihen dafür, dass der Förderrahmen von bis zu fünf Jahren in der Praxis stärker ausgeschöpft wird, um Personengruppen Rechnung zu tragen, die mangels anderweitiger Beschäftigungsmöglichkeit ansonsten wieder in den Zustand von Langzeitarbeitslosigkeit zurückfallen würden. Perspektivisch ist für einen Teil des geförderten Personenkreises und der Langzeitleistungsberechtigten im SGB II ein weitergehender Förderansatz einer langfristig angelegten, sozialversicherungspflichtigen öffentlich geförderten Beschäftigung nötig.
Dem begleitend erschienenen Bericht des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) zur Umsetzung des Teilhabechancengesetzes sind weitere positive Befunde zu entnehmen, die für eine Entfristung sprechen:
- Im Oktober 2020 waren rund 54.000 Menschen in einer nach dem Teilhabechancengesetz geförderten Beschäftigung.
- Das Teilhabechancengesetz erweist sich als krisenfest mit kontinuierlichen Zuwächsen der Teilnehmendenzahlen - auch während der Pandemie.
- Vorzeitige Abbrüche sind eher selten, die Austrittsquote eher gering (rund 15% des durchschnittlichen Bestandes nach § 16i im Jahr 2020).
- Durchschnittlich verlassen 67% der teilnehmenden Personen den Leistungsbezug im SGB II und überwinden die Hilfebedürftigkeit mit Aufnahme einer Beschäftigung nach §16i (Oktober 2020).
Auch Bundesarbeitsminister Heil sieht auf Grundlage der wissenschaftlichen Ergebnisse und den Erkenntnissen aus der Praxis ausreichend Anlass für eine Entfristung von §16i SGB II, Die BAGFW schließt sich der Position von Bundesarbeitsminister Heil und den Ergebnissen des vorliegenden Forschungsberichts an und bekräftigt die Forderung nach einer Entfristung von § 16i SGB II, einen Ausbau und Unterlegung mit entsprechenden Haushaltsmitteln. Auch wenn weitere empirische Befunde für eine vollumfassende Evaluation ausstehen, zeigen die bisherigen Befunde schon jetzt, dass §16i eine sinnvolle und zielgruppengenaue Ergänzung des bestehenden Förderinstrumentariums darstellt.
Weitergehende wissenschaftliche Erkenntnisse – insbesondere auch aus Sicht der Geförderten selbst – sowie die IAB-Endevaluation sollten zusammen mit den Praxiserfahrungen gemeinnütziger Arbeitgeber und Beschäftigungsträger zudem Anlass zur kontinuierlichen Verbesserung der Umsetzung des Teilhabechancengesetzes sein.
[1] Arbeitsmarkt kompakt – Teilhabechancen auf dem allgemeinen und sozialen Arbeitsmarkt nach §§ 16e und 16i SGB II, Nürnberg, Januar 2021
]]>Die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege nehmen anlässlich der öffentlichen Anhörung von Sachverständigen am 17. Mai 2021 im Ausschuss für Arbeit und Soziales des Deutschen Bundestages unaufgefordert Stellung zum Gesetzentwurf des Barrierefreiheitsstärkungsgesetzes.
Das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz soll die Richtlinie (EU) 2019/882 des Europäischen Parlaments und des Rates über die Barrierefreiheitsanforderungen für Produkte und Dienstleistungen (European Accessibility Act – EAA) in nationales Recht umsetzen. Die Richtlinie verpflichtet die Mitgliedstaaten der Europäischen Union in Artikel 31 Absatz 1 bis zum 28. Juni 2022 die Maßnahmen zu erlassen und zu veröffentlichen, die erforderlich sind, um den Vorgaben der Richtlinie nachzukommen.
Bewertung
Die UN-Behindertenrechtskonvention (UN BRK) verpflichtet die Vertragsstaaten, geeignete Maßnahmen zu treffen, um Menschen mit Behinderungen eine unabhängige Lebensführung und die volle Teilhabe in allen Lebensbereichen zu ermöglichen. Dies schließt Maßnahmen ein, die den gleichberechtigten Zugang zur physischen Umwelt, zu Transportmitteln, Information und Kommunikation, einschließlich entsprechender Technologien, ermöglichen.
In diesem Sinne begrüßen die in der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege zusammengeschlossenen Spitzenverbände den vorliegenden Gesetzentwurf. Sie unterstützen die Zielsetzung, den Zugang für Menschen mit Behinderungen zu digitalen Alltagsprodukten und Dienstleistungen zu ermöglichen bzw. zu verbessern und somit die wirksame und gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen zu stärken.
Die BAGFW erkennt an, dass das Gesetzesvorhaben im Vergleich zum Referentenentwurf des Barrierefreiheitsgesetzes zwei Verbesserungen erfahren hat:
- Die Pflicht der Wirtschaftsakteure, die Barrierefreiheit ihrer Produkte und Dienstleistungen zu beurteilen, hat künftig bei jeder Veränderung ihrer Produkte oder Dienstleistungen zu erfolgen.
- § 34 ermöglicht, dass Verbraucher/innen bei der Schlichtungsstelle nach § 16 BGG die Durchführung eines Schlichtungsverfahrens beantragen, ebenso sind Verbandsschlichtungsverfahren vorgesehen.
Der Entwurf des Barrierefreiheitsstärkungsgesetzes enthält gegenüber dem Referentenentwurf allerdings folgende Verschlechterungen:
- Stellt die Marktüberwachungsbehörde fest, dass Dienstleistungen nicht die Barrierefreiheitsanforderungen erfüllen, fordert sie den anbietenden Wirtschaftsakteur unverzüglich auf, innerhalb einer von ihr festgesetzten angemessenen Frist geeignete Korrekturmaßnahmen zu ergreifen. Kommt der Dienstleistungserbringer der Aufforderung nicht nach, kann die Marktüberwachungsbehörde die erforderlichen Maßnahmen treffen, um die Nichtkonformität der Dienstleistung abzustellen.
Zur Durchsetzung der Barrierefreiheitsanforderungen ist hier aus Sicht der BAGFW eine Kann-Vorschrift nicht ausreichend, vielmehr ist eine Soll-Vorschrift erforderlich.
- Anstatt die Übergangsbestimmungen zu kürzen, wurden sie für den Einsatz von Selbstbedienungsterminals noch einmal um fünf Jahre auf nun 15 Jahre nach Inbetriebnahme 2025 verlängert. Dies führt in Zeiten rasanten technischen Fortschritts zu einer nicht akzeptablen weiteren Verzögerung bei der Herstellung von Barrierefreiheit und führt dazu, dass Menschen mit Behinderungen in einem wichtigen Themenfeld unangemessen benachteiligt werden.
Die Übergangsfristen für die Dienstleistungserbringer sollten verkürzt werden.
Der Entwurf des Barrierefreiheitsstärkungsgesetzes erfüllt das Mindestmaß der Vorgaben durch die EU-Richtlinie. Um mit Blick auf UN BRK die volle und gleichberechtigte Teilhabe zu erreichen, sind darüber hinaus gehende Schritte nötig. Die BAGFW bedauert, dass der Gesetzgeber nicht die Möglichkeiten nutzt, noch in dieser Legislaturperiode durch umfängliche Regelungen im Barrierefreiheitsstärkungsgesetz die Barrierefreiheit wesentlich voranzubringen.
Die BAGFW fordert den Gesetzgeber auf, noch im Rahmen dieses Gesetzgebungsverfahrens durch folgende Maßnahmen für eine größere Barrierefreiheit ernsthaft Sorge zu tragen:
- Die BAGFW schlägt vor, Anforderungen an die bauliche Umwelt der Produkte und Dienstleistungen analog zu § 8 BGG aufzunehmen.
- Der Geltungsbereich der Barrierefreiheit sollte auch regionale, städtische, vorstädtische Verkehrsdienste und Fahrzeuge umfassen.
- Der Anwendungsbereich des Gesetzes sollte auf beruflich genutzte Produkte und Dienstleistungen ausgeweitet werden.
- Den Rechten von Verbraucher/innen, anerkannten Verbänden und qualifizierten Einrichtungen im Verwaltungsverfahren kommt durch § 32 eine besondere Rechtsstellung zu. Der vorliegende Regierungsentwurf ermächtigt bisher nur Menschen mit Hör- und Sprachbeeinträchtigungen ihre Verbraucherrechte zu nutzen. Menschen mit anderen Sinnesbeeinträchtigungen oder Menschen mit Lernschwierigkeiten werden so vom Genuss ihrer Verbraucherrechte ausgeschlossen. Gemäß § 7 BGG ist die Versagung angemessener Vorkehrungen für Menschen mit Behinderungen eine Benachteiligung. Die BAGFW fordert daher ausdrücklich, dass die Kosten für barrierefreie Information und Kommunikation in wahrnehmbarerer Form einheitlich geregelt werden. Die Rechte auf barrierefreie Dokumente gemäß § 10 BGG, auf Leichte Sprache gemäß § 11 BGG im Verwaltungsverfahren und angemessene Vorkehrungen gemäß § 7 BGG sind gesetzlich zu normieren. Die Kosten hierfür sind ebenfalls von den Marktüberwachungsbehörden zu tragen.
- Die Definition von Barrierefreiheit sollte vollumfänglich im Sinne des § 4 Behindertengleichstellungsgesetz erfolgen, ohne jedwede inhaltliche Kürzungen.
- Darüber hinaus schlägt die BAGFW vor, begleitende Investitionen in Barrierefreiheit z.B. durch ein Bundesprogramm zu fördern. Dieses sollte vor allem auf Kleinstunternehmen ausgerichtet werden, die bisher von den EAA-Verpflichtungen weitestgehend ausgenommen sind.
Hinsichtlich der detaillierten Änderungsbedarfe aus Sicht der BAGFW verweisen wir auf die weiterhin bestehenden Kritikpunkte unserer Stellungnahme vom 12. März 2021 zum Referentenentwurf des Barrierefreiheitsgesetzes.
Berlin, 10.05.2021
Bundesarbeitsgemeinschaft
der Freien Wohlfahrtspflege e. V.
Dr. Gerhard Timm
Geschäftsführer
Kontakt:
Dr. Sigrid Gronbach (sigrid.gronbach(at)diakonie.de)
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The social economy landscape in the EU is extremely diverse. However, one needs to differentiate between for-profit and not-for-profit organisations. Moreover, the respective competencies of social economy actors vary greatly depending on national regulations and the field of social policies in which they operate.
Germany has a long tradition of not-for-profit social enterprises, which have dedicated themselves to solving societal or social problems within the framework of non-statutory welfare work and organised civil society. BAGFW is the collective voice of the six non-statutory welfare organisations in Germany. A distinguishing factor of non-statutory welfare in Germany with 1,4 million employees, we are advocating for the most vulnerable on a national and EU level, as well as enabling voluntary social work with up to 3 million volunteers. These features distinguish us from profit-oriented enterprises.
Our constitutional mission is enshrined in the Welfare State principle referred to in Article 20 (1) of the German Constitution. As social service providers, we provide social and care work to the most vulnerable in society. This model of providing a social ecosystem with the absolute primacy of the social objective has proven to be extremely flexible, citizen-oriented, innovative, sustainable, democratically legitimised and efficient, even in times of crisis. Therefore, not-for-profit social economy, and its innovative approaches, is indispensable for the further development of the welfare state.
The implementation of the objectives of the European Pillar of Social Rights would not be possible without an active role and contributions from (organised) civil society and the not-for-profit social economy. BAGFW therefore has high expectations regarding the Action Plan for the Social Economy announced by the European Commission for 2021.
In the upcoming EU Action Plan for the Social Economy, the role of not-for-profit social enterprises needs to be recognised.
BAGFW highly supports the recommendations made in the EESC opinion INT/906 “Strengthening non-profit social enterprises” from September 2020.In order to strengthen the not-for-profit social economy in the EU, it is necessary to improve the legal framework for the provision of social services. With regard to EU public procurement law, public contracting authorities have to to be more open for the possibilities procurement law leaves for a competition based on quality and take into account not only the price but also social and ecological criteria in the sense of Directive 2014/24/EU. In addition, the financial framework must be improved, including sufficient co-financing rates and administrative simplifications in the EU funding programmes, but also the expansion of tailor-made funding programmes, such as for the promotion of social innovations. As of their legal status not-for-profit social enterprises cannot generate profits and face more difficulties in raising the necessary funds for investments on the financial markets in comparison to commercial enterprises and hence are more dependent on funding programmes.
For the Commission’s description of social enterprises, it is important to ensure that the generated profits are fully allocated to the fulfilment of the organisations’ social purpose.
Communication COM(2011) 682 final lays down a description of "social enterprises".
The six organisations of non-statutory Welfare in Germany fulfil these criteria and even go beyond them by reinvesting all their surpluses in view of achieving social objectives. In the interest of an effective use of funds for the common good, they advocate that all surpluses generated by social enterprises are bound to be reinvested in the social aim of the organisation. The provision of services must be designed in a way that social infrastructure is available and close to the people, also in rural areas.
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Allgemeine Anmerkungen
Die BAGFW teilt die Auffassung des Gesetzgebers, dass die Schaffung des Rechtsanspruchs ein sowohl kinder- und bildungs- als auch familienpolitisch bedeutsames Vorhaben ist. Familien in Deutschland finden derzeit mit Schuleintritt des Kindes sehr unterschiedliche Formen ganztägiger Bildung und Betreuung vor. Dabei sind zum einen die Bedarfe der Familien nicht immer gedeckt. Zum anderen entscheiden Verfügbarkeit und Ausgestaltung der Angebote darüber, inwieweit Kinder gleiche (Bildungs-)Chancen haben. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf eine rechtliche Grundlage auf Bundesebene zu schaffen, die jedem Kind und seiner Familie in Deutschland die Möglichkeit ganztägiger Erziehung, Bildung und Betreuung eröffnet, befürwortet die BAGFW sehr.
Die BAGFW begrüßt zudem ausdrücklich das Vorhaben, den Rechtsanspruch im Achten Sozialgesetzbuch und somit in der Kinder- und Jugendhilfe zu verankern. Die freien Träger der Kinder- und Jugendhilfe verfügen über eine langjährige Expertise darin, die Entwicklung von Kindern zu eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeiten zu fördern. Diese wird auch beim Ausbau der Ganztagsbetreuung für Kinder im Grundschulalter gerne eingebracht und weiterentwickelt.
Ein wichtiges Anliegen ist für die BAGFW die inklusive Umsetzung eines an den individuellen, sozialen und emotionalen Entwicklungsbedarfen von Kindern im Grundschulalter ausgerichteten Rechtsanspruchs auf Ganztagsförderung, um allen Kindern unabhängig von ihren individuellen Voraussetzungen Chancengleichheit zu ermöglichen. Die Kindperspektive ist ein entscheidendes Gestaltungsmerkmal der Förderung im Ganztag. Allerdings sind die damit verbundenen qualitativen Anforderungen im vorliegenden Gesetzentwurf nicht berücksichtigt. Ebenso fehlt eine Regelung einer verbindlichen Kooperation zwischen Schule und der Kinder- und Jugendhilfe. Die BAGFW mahnt hier weiteren Handlungsbedarf an und bringt ihre fachliche Expertise für die (Weiter)Entwicklung qualitativ hochwertiger ganztägiger Bildungs- und Betreuungsangebote gerne ein. Ebenso regt die BAGFW an, dass die Länder über ihre Landesschulgesetze ein Kooperationsgebot mit der Kinder- und Jugendhilfe in Analogie zum § 81 SGB VIII aufnehmen.
Zentral für die qualitative Ausgestaltung sind die Fachkräfte. Dabei ist das Fachkräftegebot nach § 72 SGB VIII zu berücksichtigen und eine geeignete Qualifikation des Personals für die Arbeit in Ganztagsangeboten sicherzustellen. Die BAGFW sieht den dringlichen Bedarf, dass sich Bund, Länder und zivilgesellschaftliche Akteure mit dem bestehenden und sich durch den Rechtsanspruch weiter verstärkenden Fachkräftebedarf in der Kinder- und Jugendhilfe auseinandersetzen. Zielstellung muss sein, in einem gemeinsamen fachlichen Diskurs zu konkreten Maßnahmen die notwendigen Weichen zu stellen, um dem mit dem Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung einhergehenden Personalmehrbedarf in den kommenden Jahren wirksam begegnen zu können. Dies stellt aus Sicht der BAGFW neben der erforderlichen Ausbaudynamik die größte Herausforderung für die Umsetzung des Rechtsanspruches ab 2025 dar.
Stellungnahme zu ausgewählten Einzelvorschriften
Artikel 1, Nummer 3
Durch den neuen Absatz 4 wird der Rechtsanspruch in den grundsätzlichen quantitativen Elementen umschrieben. Mit Beginn des Schuljahres im Herbst 2025 oder in den folgenden Schuljahren besteht der Rechtsanspruch für Kinder der ersten Klassenstufe auf Förderung in einer Tageseinrichtung im Umfang von werktäglich 8 Stunden bei max. vier Wochen Schließzeit im Jahr während der Schulferien. Der Umfang von acht Stunden beinhaltet die Unterrichtszeit. Über die acht Stunden hinaus ist ein bedarfsgerechtes Angebot vorzuhalten, welches sich nach individuellem Bedarf richtet. Der Rechtsanspruch gilt bis zum Beginn der fünften Klassenstufe.
Grundsätzlich positiv zu sehen ist der Begriff „Förderung“ im Tatbestand der Norm; der Begriff weist über die im Koalitionsvertrag genannte „Ganztagsbetreuung“ hinaus. Dies macht deutlich, dass die Betreuungsangebote auch einen qualitativen pädagogischen Anspruch haben sollen.
Auf den Begriff der „offenen“ Ganztagsgrundschule sollte verzichtet oder weitere Beispiele qualitativ hochwertiger Angebote ergänzt werden. Offene Ganztagsgrundschule ist kein überall gebräuchlicher, rechtlich bestimmter Begriff und eine entsprechende Spezifizierung aus Sicht der BAGFW auch nicht notwendig.
Die BAGFW sieht in den zeitlichen Vorgaben die Mindestvoraussetzungen erfüllt, um Familien bundesweit verlässliche Möglichkeiten ganztägiger Bildung und Betreuung anbieten zu können. Die Verankerung des Rechtsanspruches im dritten Abschnitt des SGB VIII ist inhaltlich und rechtslogisch folgerichtig. Die Kontinuität der geltenden Rechtsansprüche bis zum Schuleintritt wird so fortgeführt. Die Grundsätze der Förderung nach § 22 SGB VIII sind somit auch für Ausgestaltung von Ganztagsangebote für Kinder im Grundschulalter handlungsleitend. Die BAGFW betont in diesem Zusammenhang, dass qualitative Anforderungen an ganztägige Bildung und Betreuung auch unabhängig von der jeweiligen Umsetzung auf Landesebene gesichert sein müssen, insbesondere im Hinblick auf die Zusammenarbeit von Jugendhilfe und Schule. Für das bestmögliche Zusammenwirken von Jugendhilfe und Schule im Rahmen der ganztägigen Förderung ist die gleichberechtigte Kooperation beider Akteure aus Sicht der BAGFW zwingend erforderlich.
Angesichts der sehr unterschiedlichen Ausgangslagen vor Ort ist mit der stufenweisen Einführung des Rechtsanspruches die Möglichkeit gegeben, den nötigen, teils massiven Ausbau der Platzkapazitäten über einen längeren Zeitraum strecken und so bewältigen zu können. Die BAGFW erkennt die Notwendigkeit dieses Vorgehens an.
Die BAGFW befürwortet, dass in der Begründung benannt wird, dass für anspruchserfüllende Angebote die Erlaubnispflicht nach § 45 SGB VIII gilt, sofern keine entsprechende gesetzliche Aufsicht greift, wie sie insbesondere die Schulaufsicht darstellt.
Artikel 1, Nummer 4
Mit Einfügung des neuen § 24a SGB VIII wird die jährliche Berichtslegung der Bundesregierung gegenüber dem Deutschen Bundestag zum Ausbaustand der ganztägigen Bildungs- und Betreuungsangebote für Grundschulkinder festgeschrieben.
Die BAGFW begrüßt das Anliegen, die Datengrundlage hinsichtlich der verfügbaren Angebote systematisch und regelmäßig vorzuhalten und die Kinder- und Jugendhilfestatistik diesbezüglich zu erweitern. Dies stellt eine wichtige Grundlage für die Steuerung des Ausbauprozesses dar. Dabei regt die BAGFW an, bei der Berichtslegung die unterschiedliche Verortung ganztägiger Bildungs- und Betreuungsangebote in Verantwortung von Schule oder der Kinder- und Jugendhilfe auf Landes- bzw. kommunaler Ebene zu berücksichtigen. Aktuell erschwert dies die vollumfängliche Erfassung vorhandener Platzkapazitäten und sollte daher zukünftig Berücksichtigung finden.
Artikel 1, Nummer 6 b)
Im Rahmen des nach dem Referentenentwurf einzubindenden neuen Absatz 7c im § 99 SGB VIII sind als weitere Erhebungsmerkmale qualitative Daten zur Ganztagsförderung zu ergänzen – etwa zur Qualifikation des Personals oder Räumlichkeiten. Dabei sind insbesondere auch inklusive Aspekte zu berücksichtigen, deren Anforderungen noch zu konkretisieren wären.
Artikel 3
Mit dem Ganztagsfinanzhilfegesetz (GaFinHG) wird dargelegt, in welcher Höhe sich der Bund am investiven Ausbau ganztägiger Bildungs- und Betreuungsangebote ab sofort bis Ende 2027 beteiligt. Für den investiven Ausbau werden über das mit dem Ganztagsfinanzierungsgesetz geschaffene Sondervermögen bis zu 2,75 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt.
Die BAGFW erachtet den schnellstmöglichen Fluss der Mittel an die Letztempfänger als unabdingbar, um den erforderlichen Ausbau von ganztägigen Bildungs- und Betreuungsangeboten im gegebenen Zeitrahmen überhaupt leisten zu können. Die dafür noch notwendigen Schritte auf Verwaltungsebene von Bund und Ländern sind daher zeitnah mit der Verkündung des Gesetzes auf den Weg zu bringen.
Gleichzeitig erscheinen die Kombinationsmöglichkeiten von Bonus- und Basismitteln (Art. 3 § 5 Absatz 2) - die Bonusmittel nach § 1 Abs. 3 können ab dem Jahr 2022 von den Ländern in Anspruch genommen werden, die bis zum 31. Dezember 2021 Basismittel nach § 1 Abs. 2 abgerufen haben - kompliziert und wenig praktikabel. Die Verbindung der Fördermittel für den investiven Ganztagsausbau mit den Corona-Konjunkturpaketen ist zwar als Idee nachvollziehbar, wird aber der Praxis nicht gerecht. Bis Ende des laufenden Jahres können nur in begrenztem Umfang notwendige Neubau-, Umbau- oder Sanierungsprojekte auf den Weg gebracht werden. Die Finanzierung muss so aufgestellt sein, dass es den Ländern möglich ist, auf alle verfügbaren Mittel zuzugreifen.
Es ist aus Sicht der BAGFW zu begrüßen, dass auch Investitionen förderfähig sind, durch die räumliche Kapazitäten geschaffen oder verbessert werden. Hierdurch ist ein Anreiz für die Bundesländer geschaffen, die bereits über ein recht hohes Platzkontingent verfügen. Außerdem kann durch diese Festlegung eine inklusive sowie kindgerechte räumliche Ausgestaltung ganztägiger Bildungs- und Betreuungsangebote erreicht werden.
Artikel 4
Mit der Änderung des Gesetzes über den Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern bestimmt der Bund, in welcher Höhe er sich an den laufenden Kosten der ganztägigen Förderung von Kindern im Grundschulalter ab 2025 beteiligt. Der stufenweisen Ausweitung des Rechtsanspruchs entsprechend steigt der festgelegte Betrag jährlich ab 2025 und beträgt ab 2029 konstant 384 Millionen Euro.
Die BAGFW begrüßt, dass so die finanziellen Belastungen der Länder reduziert werden sollen. Berechnungen zeigen jedoch, dass die vorgesehen 384 Millionen Euro des Bundes als Beteiligung an den Betriebskosten der Ganztagsbetreuung - nach Maßgabe verschiedener u.a. vom Deutschen Jugendinstitut (DJI) eröffneter Zukunftsszenarien - nicht ausreichen, da auf die Länder laufende jährliche Zusatz-Kosten in Milliardenhöhe zukommen. Für eine tragbare Lastenverteilung zwischen Bund, Ländern und Kommunen fordern wir den Bund auf, seine finanzielle Beteiligung zu erhöhen, um qualitativ hochwertige Angebote ganztägiger Erziehung, Bildung und Betreuung sicherzustellen. Der Ausbau darf nicht zu Lasten anderer Angebote der Kinder- und Jugendhilfe gehen.
Schlussbemerkung
Die BAGFW begrüßt ausdrücklich die mit dem Gesetzentwurf vorgesehene Schaffung eines Rechtsanspruchs auf Ganztagsbetreuung für Kinder im Grundschulalter. Hierdurch können Bildungs- und Teilhabechancen von Kindern verbessert werden. Damit ganztägige Erziehung, Bildung und Betreuung in diesem Sinne wirksam sein kann, ist aus Sicht der BAGFW die Schaffung qualitativ hochwertiger Angebote unabdingbar. Die vorhandene fachliche Expertise der Freien Wohlfahrt in der Kinder- und Jugendhilfe bringt die BAGFW gern in die Konkretisierung des Rechtsanspruchs zu diesem Zweck ein.
Abschließend betont die BAGFW noch einmal den dringlichen Handlungsbedarf beim Thema Fachkräfte. Die Ausweitung der Ausbildungskapazitäten an Fachschulen, Fachhochschulen und Universitäten ist weiter voranzubringen; auch sind die verschiedenen Konzepte der berufsbegleitenden Ausbildung, Nachqualifizierung und Quereinstiege auf ihre Wirksamkeit hin zu überprüfen und ggf. auszubauen. Die Bund-Länder-AG Fachkräfte muss unverzüglich ihre Arbeit aufnehmen.
]]>Für die Förderperiode 2021 - 2027 wird Deutschland voraussichtlich rund 43,8 Mrd. Euro aus der Gemeinsamen Agrarpolitik erhalten, wovon 8,6 Mrd. Euro im Rahmen der zweiten Säule der GAP ausgegeben werden sollen. Die EU sieht hinsichtlich der Ergebnisorientierung ihrer Förderung u.a. die Anzahl der Personen, die von Vorhaben zur sozialen Inklusion profitieren, sowie den Anteil der ländlichen Bevölkerung, der von Vorhaben für Basisdienstleistungen profitiert, als Ergebnisindikatoren vor. Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege werden daher auch in der Förderperiode 2021 - 2027 ein wichtiger Partner bei der erfolgreichen Umsetzung der zweiten Säule der GAP und der Entwicklung ländlicher Räume sein. Im Rahmen des für die Strukturfonds festgeschriebenen Partnerschaftsprinzips begleiten die Verbände alle Phasen des Förderzyklus eng. Gerne bieten wir eine entsprechende Kooperation und die Bereitstellung unserer Expertise auch für die Planung, Umsetzung und Evaluierung des ELER an.
Mit den folgenden Anregungen möchte sich die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege in die Diskussion zur Ausgestaltung der zweiten Säule der GAP einbringen. Im Folgenden sind Vorschläge und Hinweise dargestellt, die für die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege von besonderer Relevanz sind.
1. Aus Sicht der Freien Wohlfahrtspflege sollte ein Schwerpunkt innerhalb der GAP-Strategiepläne auf soziale Daseinsvorsorge, soziale Inklusion, Basisdienstleistungen, Dorferneuerung und die Entwicklung ländlicher Gebiete mit Blick auf gleichwertige Lebensverhältnisse gesetzt werden. In den Verhandlungen auf europäischer Ebene sollte sich die Bundesregierung zusätzlich dafür einsetzen, dass in Artikel 6, 1 (h) der spezifischen Ziele der Verordnung zu den GAP-Strategieplänen zur „Förderung von Beschäftigung, Wachstum, sozialer Inklusion sowie der lokalen Entwicklung in ländlichen Gebieten, einschließlich Biowirtschaft und nachhaltige Forstwirtschaft“ diese gesellschaftlich wie wirtschaftlich relevanten Bereiche gestärkt werden. Die BAGFW unterstützt hier den Formulierungsvorschlag des EU-Parlamentes zu Artikel 6, 1 (h)[2].
2. Angesichts der Wandlungsprozesse in den strukturschwachen ländlichen Regionen sowie der durch die Covid-19-Pandemie nochmals verschärften sozialen Herausforderungen ist es dringend geboten, schnell, zielgerichtet und auf lokale Gegebenheiten abgestimmte Maßnahmen ergreifen zu können, die eine nachhaltige, krisenfeste Entwicklung der ländlichen Gebiete ermöglichen. Hierfür ist eine starke und verlässliche finanzielle Ausstattung der zweiten Säule der gemeinsamen Agrarpolitik unerlässlich. Eine Verschiebung von Mitteln aus dem – ohnehin schon von Kürzungen betroffenen – ELER zugunsten der ersten Säule birgt die große Gefahr, erfolgreichen Initiativen vor Ort die finanzielle Grundlage zu entziehen und so die Resilienz und Weiterentwicklung dieser Gebiete zu schwächen. Die BAGFW unterstützt daher den Beschluss der Agrarministerkonferenz vom März 2021[3], Umschichtungen von der ersten in die zweite Säule vorzunehmen. Diese Umschichtungen sollten auch nach 2026 fortgeführt und beispielsweise zum Zweck verstärkter Investitionen in Basisdienstleistungen, soziale Innovationen oder Maßnahmen zum Umwelt- und Klimaschutz genutzt werden.
3. Durch das Instrument LEADER können sich regionale Akteure miteinander vernetzen, ihre Region aktiv gestalten und Förderungen passgenau an ihren Bedarf anpassen. Die Freie Wohlfahrtspflege schätzt LEADER vor allem als wichtiges Instrument regionaler Entwicklung und lokaler Politikgestaltung. In den lokalen Aktionsgruppen (LAG) sollte auf eine ausgewogene Besetzung geachtet werden, und zivilgesellschaftliche Akteure und Wohlfahrtsverbände aktiv zu einer Teilnahme aufgefordert werden. Gleichzeitig darf LEADER nicht der einzige Ansatz zur Förderung sozialer Inklusion im ELER sein. Aus Sicht der Verbände der Freien Wohlfahrtspflege sind die Ergebnisindikatoren „Anzahl der Personen, die von Vorhaben zur sozialen Inklusion profitiert“ und „Anteil der ländlichen Bevölkerung, der von Vorhaben für Basisdienstleistungen profitiert“ von der gesamten zweiten Säule der GAP zu bedienen und entsprechende Projekte zur sozialen Inklusion und für Basisdienstleistungen auch über weitere ELER-Förderrichtlinien umzusetzen.
4. Die Freie Wohlfahrtspflege sieht weiterhin den Bedarf eines Bürokratieabbaus und einer administrativen Vereinfachung im ELER sowie in den Strukturfonds. Gerade kleinere Träger sind mit dem hohen administrativen Aufwand der EU-Förderung überfordert und steigen aus der Umsetzung dieser wichtigen Programme aus. Daher bekräftigt die Freie Wohlfahrtspflege ihre Forderung nach der Nutzung vereinfachter Kostenoptionen wie Pauschalfinanzierungen oder Standardeinheitskosten. Auf eine personenbezogene Datenerfassung sollte verzichtet werden, klare Zuständigkeiten bei Prüfungen festgelegt und einfach zu bedienender IT-Systeme sichergestellt werden. Bei einer LEADER-Förderung muss sichergestellt werden, dass projektbezogene Spenden als Eigenmittel zur Ko-Finanzierung anerkannt werden.
5. Die Arbeit der Wohlfahrtsverbände ist ein wesentlicher Bestandteil der Daseinsvorsorge im ländlichen Raum, auch und gerade, wenn sie von überregionalen Wohlfahrtsstrukturen geleistet wird. Gemeinnützige Akteure wie die Freie Wohlfahrtspflege werden häufig dort tätig, wo es für KMU nicht hinreichend wirtschaftlich attraktiv ist. Bei der Umsetzung des ELER sollte darauf geachtet werden, dass eine Förderfähigkeit der Arbeit von Wohlfahrtsverbänden nicht von der Größe oder ihrer Qualifizierung als KMU abhängig gemacht wird. Dies gilt insbesondere dort, wo die ELER-Förderung mit der Bund-Länder-Gemeinschaftsaufgabe Agrar- und Küstenschutz (GAK) oder bundeslandspezifischen Richtlinien zur Förderung der integrierten ländlichen Entwicklung zur zusätzlichen Ko-Finanzierung gekoppelt ist. Die ZILE-Richtlinie aus Niedersachsen kann hierfür als Maßstab dienen: „Antragsberechtigt sind Gemeinden und Gemeindeverbände sowie gemeinnützige juristische Personen. Dazu gehören auch gemeinnützige Großunternehmen, die nicht die KMU-Definition nach Anhang I AGVO erfüllen, sofern sie soziale Dienstleistungen erbringen (z. B. Caritas, Arbeiterwohlfahrt, Deutsches Jugendherbergswerk usw.) […]“
6. Die Freie Wohlfahrtspflege unterstützt ausdrücklich die Einführung regionaler Unterkapitel im GAP-Strategieplan Deutschlands und die Beibehaltung und Stärkung regionaler Unterausschüsse des Bundesbegleitausschusses. Die Kompetenzen bei der Umsetzung des ELER sollten vorrangig bei den Ländern und den 13 ELER-Regionen verbleiben.
Aufgrund ihrer Verankerung in ländlichen Räumen und ihrer Expertise im ELER sind die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege ein wertvoller Partner in der Umsetzung der Fördermaßnahmen. Die oben genannten Hinweise können dabei helfen, den ELER für soziale Träger attraktiv zu machen und eine sozial gestaltete regionale Entwicklung im ländlichen Raum zu unterstützen. Wir freuen uns auf die weitere Zusammenarbeit.
[1] Arbeiterwohlfahrt, Deutscher Caritasverband, der Paritätische Gesamtverband, Deutsches Rotes Kreuz, Diakonie Deutschland – Evangelisches Werk für Diakonie und Entwicklung, Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland
[2] Formulierungsvorschlag des EU-Parlamentes zu Artikel 6, 1 (h): „ Förderung des sozialen und territorialen Zusammenhalts in ländlichen Gebieten, unter anderem im Wege der Schaffung von Arbeitsplätzen, Wachstum, Investitionen, sozialer Inklusion und Bekämpfung von Armut im ländlichen Raum, sowie durch lokale Entwicklung, einschließlich hochwertiger lokaler Dienste für ländliche Gemeinschaften, mit besonderem Augenmerk auf Gebieten mit naturbedingten Benachteiligungen; Förderung angemessener Lebens-, Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen; Diversifizierung von Tätigkeiten und Einkommen wie etwa Agrotourismus, nachhaltige Biowirtschaft, Kreislaufwirtschaft, nachhaltige Bewirtschaftung und Schutz von Wäldern bei gleichzeitiger Gewährleistung der Geschlechtergleichstellung; Förderung der Chancengleichheit in ländlichen Gebieten durch spezifische Unterstützungsmaßnahmen und Anerkennung der Arbeit von Frauen in Landwirtschaft, Handwerk, Tourismus und lokalen Diensten;“
[3] Siehe Beschluss der Agrarministerkonferenz am 25. Und 26 März 2021: https://mlr.baden-wuerttemberg.de/fileadmin/redaktion/m-mlr/intern/dateien/PDFs/L%C3%A4ndlicher_Raum/2021_03_26_amk-beschluss.pdf
]]>
- Eine Erhöhung der Testfrequenz von Antigen-PoC-Schnelltests für vulnerable Gruppen, insbesondere pflegebedürftige Menschen und Menschen mit Behinderung
- Anpassung der MPAV, um die Abgabe der Schnelltests an Laien zu ermöglichen
- Beschleunigung der Meldungen von SARS-CoV-2 positiven Personen durch Ausbau digitaler Meldewege der Gesundheitsämter und einen Rund-um-die-Uhr Betrieb der Labore und Gesundheitsämter
- Förderung der Sequenzierung von SARS-CoV-2 in Krankenhäuser positiv getesteten Proben
- Sequenzierung von positiv auf Corona getesteten, aber bereits geimpften oder nachweislich vorher an Corona erkrankten Personen
- Gemeinsame Test-und Präventionsstrategie für Reiseregularien im Schengen-Raum zur Ermöglichung des Tourismus spätestens im Sommer
Die Verbände der BAGFW nehmen dazu, wie folgt, Stellung:
Vorweg sei erwähnt, dass sich die sowohl von im Antrag der FDP als auch im Antrag der GRÜNEN erhobene Forderung nach Anpassung der MPAV für den Einsatz von Laientests erledigt hat, indem die Anlage 3 zu § 3 Absatz 4 der MPAV am 2. Februar entsprechend angepasst wurde. Die Anträge der FDP und der GRÜNEN sind jedoch bereits im Januar in den Bundestag eingebracht worden, sodass die entsprechenden Forderungen zu diesem Zeitpunkt noch virulent waren.
Die Freie Wohlfahrtspflege hat sich seit Beginn der Pandemie dafür eingesetzt, dass im Fokus von Schutzmaßnahmen die vulnerablen Gruppen stehen müssen. Das sind pflegebedürftige Menschen, Menschen mit Behinderungen, aber auch Menschen in prekären Lebenssituationen, wie z.B. Wohnungslose, Menschen in aufenthaltsrechtlicher Illegalität, Frauen und Kinder in Frauenhäusern oder Gewaltschutzwohnungen sowie Menschen, die in Massenunterkünften wie Gemeinschaftseinrichtungen für Geflüchtete oder in Justizvollzugsanstalten leben. Für die Impfung hat die STIKO aufgrund der Impfstoffknappheit eine Prioriätenliste erarbeitet, anhand derer sich nach unserer Auffassung die Impfverordnung weiter orientieren sollte. Bezüglich der Testungen fordert die Freie Wohlfahrtspflege seit langem, nicht nur auf Pflegeeinrichtungen zu konzentrieren, sondern auch auf die eben genannten Einrichtungen. Die FDP hat sich hier insbesondere für die Belange von Menschen mit Behinderungen engagiert. Lange hat es gedauert, bis die Personalkosten in den Einrichtungen der Eingliederungshilfe in der Testverordnung verankert wurden. Es fehlt nach wie vor an einer Regelung, nach der die entstandenen Kosten rückwirkend geltend gemacht werden können. Mit der jüngsten Aktualisierung der Testverordnung werden ab jetzt die Personalkosten in den Obdachloseneinrichtungen refinanziert. Präventive Testungen sind jetzt jüngst auch in den Gemeinschaftseinrichtungen für Asylsuchende, Flüchtlinge, vollziehbar Ausreisepflichtige und Spätaussiedler möglich, aber es fehlt an einer Refinanzierung der Personalkosten. Auch in den Reha- und Vorsorgeeinrichtungen, die schon seit Sommer wieder ihren Regelbetrieb unter Corona-Bedingungen aufgenommen haben, werden die Personalkosten für die für die Aufnahme von Patient/innen unabdingbar erforderlichen Testungen nicht finanziert. Generell ist festzustellen, dass der Mehraufwand, der durch Hygienemaßnahmen oder Testungen entsteht, den sozialen Einrichtungen mit Ausnahme der Pflegeeinrichtungen und Krankenhäuser nicht hinreichend erstattet werden. Dieser Aufwand muss in Vergütungsverhandlungen berücksichtigungsfähig sein.
Bezüglich der Testfrequenz gilt auch aus unserer Sicht, dass Kontaktpersonen vulnerabler Personengruppen so häufig wie möglich getestet werden sollten, um die Ansteckungsrisiken zu reduzieren. Die Häufigkeit wird in den Länderverordnungen geregelt. Da die Antigen-Testungen den Einsatz von geschultem Personal erfordern, bedarf es hierfür jedoch einer entsprechenden Personalkapazität. Insbesondere die Altenpflegeeinrichtungen, in denen aufgrund der hohen Vulnerabilität der von ihr versorgten Menschen viel getestet werden muss, erfuhren hierfür viel zu spät Unterstützung, z.B. durch den Einsatz der Bundeswehr, der erst nach Weihnachten erfolgt ist. Weitere Entlastungsmöglichkeiten könnten in einer Erhöhung der kostenlosen Möglichkeiten zu Bürgertests für Besuchende bestehen.
Eine schnellere Kontaktnachverfolgung ist ein wesentliches Element zur Eindämmung der Pandemie, wie der Antrag der FDP zu Recht feststellt. Der Öffentliche Gesundheitsdienst liegt seit vielen Jahren darnieder. Zum einen bedarf der ÖGD dringend einer personellen Aufstockung, zum anderen einer besseren Sachausstattung, deren Schlüssel die Digitalisierung der Vorgänge ist. Die Forderung nach einem 24/7 Betrieb der Gesundheitsämter, wie im vorliegenden Antrag erhoben, scheint unter den gegebenen Umständen weit von zeitnaher Realisierbarkeit entfernt. Auch das gesetzlich verankerte elektronische Melderegister DEMIS kann nur funktionieren, wenn die Ämter nicht nur mit SORMAS ausgestattet sind, sondern auch in der Anwendung geschult sind. Das deutsche Gesundheitswesen im Allgemeinen und der Öffentliche Gesundheitsdienst muss dringend vom analogen Fax auf ein digitales Toolsystem umgestellt werden. Es hat sich zudem auch gezeigt, dass auch Labore nur begrenzte Kapazitäten haben, weswegen auch hier ein 24/7-Betrieb, wie von der FDP gefordert, fraglich erscheint.
Deutschland hinkt in der Sequenzierung von Virusmutationen hinter anderen Ländern her, wie die FDP zutreffend konstatiert. Daher wird die Forderung unterstützt, die Sequenzierung des Genoms zu forcieren. Wichtige Erkenntnisse können, wie im FDP-Antrag zutreffend dargelegt, Sequenzierungen bei positiv Getesteten Menschen, die entweder Corona durchgemacht haben oder geimpft sind, leisten.
Antrag der Bundestagsfraktion von BÜNDNIS 90/Die GRÜNEN: „Kapazitäten für Schnelltests massiv ausbauen, Selbstverwaltung erlauben und Public-Health-Screenings ermöglichen“ (Drs. Nr. 19/25705)
Die GRÜNEN setzen sich in ihrem Antrag für einen Ausbau der Schnelltestkapazitäten ein und fordern eine public-health-Strategie für das Screening mittels Tests.
Im Einzelnen fordern die GRÜNEN:
- Anreize zur Produktionssteigerung von Testungen für die Hersteller bei gleichzeitiger Sicherstellung von Priorisierungen in der Verteilung und Verhinderung von Engpässen durch kommerzielle Angebote
- Änderung der MPAV zur Abgabe von Laientests in Apotheken
- Qualitätsmindestanforderungen alle Arten von Schnelltests
- Einbeziehung der Schnelltests in die Surveillance des RKI und möglichst in die Corona-Warn-App
- Kostenübernahme von Schnelltests in Arztpraxen bei gegebener medizinischer Indikation
Zu diesen Punkten nehmen die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege wie folgt Stellung:
Die GRÜNEN thematisieren in ihrem Antrag die zu geringen Kapazitäten verfügbarer Schnelltests und die bedarfsgerechte Allokation. Auch aus unserer Sicht müssen der Bund, aber auch die Länder, durch Abnahmegarantien für herstellende Unternehmen, dafür Sorge tragen, dass sowohl mehr produziert wird. Sie haben jedoch auch dafür Sorge zu tragen, dass die Testungen bei begrenzten Kapazitäten in erster Linie den Bevölkerungsgruppen zukommen, die sie am dringendsten für den Alltag benötigen. Das sind sowohl die Kinder und Jugendlichen, aber auch bestimmte Berufsgruppen, die täglich vielfältigen Kontakten durch ihre Berufsausübung ausgesetzt sind, wie u.a. auch das Personal im Einzelhandel, Polizisten oder eben das Personal der sozialen Einrichtungen, insbesondere auch der stationären Einrichtungen, das 24 Stunden an 7 Tagen der Woche hilfebedürftige Menschen versorgen muss. Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege begrüßen daher, dass mit der letzten Änderung der TestV Bürgertests eingeführt wurden und alle Menschen nun wenigstens einmal pro Woche Anspruch auf einen kostenlosen PoC-Antigen-Test haben. Diese Frequenz sollte aus Sicht der BAGFW noch erhöht werden. Denn insbesondere einkommensschwache Bürgerinnen und Bürger können sich die teilweise hohen Kosten für die PoC-Testungen in den privaten Testzentren nicht leisten. Daher ist sicherzustellen, dass vor allem einkommensschwache Bevölkerungsgruppen Zugang zu den Laientests haben. Auch der Preis von 5 Euro pro Laientest, der derzeit in den Supermärkten verlangt wird und nach Angaben der Hersteller ihrem Herstellungspreis entspricht, ist für SGB II- oder XII-Beziehende einfach zu teuer. Bund und Länder müssen daher Kontingente sichern, die z.B. in Testzentren kostenfrei oder gegen eine geringe Gebühr abgegeben werden können.
Ein wesentliches Ziel einer Pandemie-Strategie der nächsten Monate muss es sein, möglichst vielen Kindern und jungen Menschen den Zugang zu den Bildungseinrichtungen, von der Kita bis zur Schule, wieder zu ermöglichen. Neben den PoC-Antigen-Schnelltests, deren Einsatz medizinisch geschultes Personal erfordert, sollten qualitätsgeprüfte Laien-Tests, insbesondere solche, die vom BfArM zugelassen sind, zum Einsatz kommen können. Das im Antrag der GRÜNEN erwähnte Hessen-Projekt SAFE School ist hier vorbildhaft.
Ebenso, wie es eines Stufenplans für Öffnungen bedarf, bedarf es aus Sicht der BAGFW auch einer nach public-health-Kriterien ausgerichteten Test- und Impfstrategie. Für die Impfstrategie sollten die Kriterien der STIKO maßgeblich sein, solange nicht genügend Impfstoff am Markt ist. Gerade hinsichtlich der Teststrategie setzt sich die BAGFW uneingeschränkt für einen public-health-Ansatz ein. Wir begrüßen, dass mit der letzten Änderung der TestV endlich erreicht werden konnte, dass auch Einrichtungen zur gemeinschaftlichen Unterbringung von Asylbewerbern, Flüchtlingen, Spätaussiedlern und vollziehbar Ausreisepflichtigen, die nach Aussage der STIKO zu den Settings mit hohem Ansteckungsrisiko gehören, in die TestV einbezogen wurden. Nicht nachvollziehbar ist für uns, warum nicht in gleicher Weise sonstige Massenunterkünfte und Justizvollzugsanstalten in die präventiven Testungen einbezogen werden. Auch die die Gemeinschaftseinrichtungen nach § 33 IfSG, Frauenhäuser und vergleichbare Schutzunterkünfte, Gemeinschaftseinrichtungen für Mutter/Vater und Kind nach § 19 SGB VIII sowie ambulante und stationäre Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, die die STIKO gleichfalls als Settings mit hohem Ansteckungsrisiko in dieselbe Kategorie wie die Einrichtungen für Asylsuchende eintaxiert hat, müssen endlich flächendeckende Schnelltests erhalten können. Es muss jedoch nicht nur sichergestellt werden, dass Einrichtungen diese Testungen einsetzen können, sondern auch, dass ihr Einsatz refinanziert wird. Personalkosten für die Testungen werden bislang nur den Pflegeeinrichtungen, Krankenhäusern und jüngst den Einrichtungen und Diensten der Eingliederungshilfe refinanziert, jedoch nach wie vor nicht den Reha- und Vorsorgeeinrichtungen, den Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe, den Asylunterkünften sowie den SAPV-Diensten, ambulanten Hospizdiensten und den Intensivpflegediensten, die keinen Versorgungsvertrag nach dem SGB XI haben. Diese Ungleichbehandlung ist für uns nicht nachvollziehbar.
Im Sinne einer public-health-Strategie müssen auch die Menschen, die in aufenthaltsrechtlicher Illegalität in Deutschland leben – immerhin mindestens 180.000 Menschen bzw. sogar nach Schätzungen bis zum einer halben Million Menschen, Zugang zu den Testungen haben. Ihnen mangelt es häufig nicht nur an präventiven Testungen, sondern auch an Testungen beim konkreten Verdachtsfall, da sie fürchten müssen, dass ihre Daten den Ausländerbehörden übermittelt werden, wenn sie von ihren Testrechten Gebrauch machen. § 87 AufentG muss daher, zumindest für die Dauer der Pandemie, auch im Sinne von public-health, ausgesetzt werden.
Es hat sich in der Tat gezeigt, dass nicht alle verfügbaren Testmethoden in gleicher Weise aufgrund hoher Sensitivität und Spezifität zuverlässige Ergebnisse produzieren und dass sie auch nicht unbedingt einfach in der Handhabe sind. Damit sich die Menschen nicht in trügerischer Sicherheit bei Anwendung eines Tests wiegen und eine korrekte Handhabung gesichert ist, ist daher eine niedrigschwellige Aufklärungskampagne über die unterschiedlichen Testungen dringend geboten. Wie die GRÜNEN sehen auch wir die BzgA hier als geeignete Institution für eine solche dringend erforderliche Informationskampagne an.
Antigen-PoC-Schnelltests oder alternative Schnelltestungen sollten, wie die GRÜNEN vorschlagen, durchaus bei medizinischer Indikation auch in Hausarztpraxen durchgeführt werden können, um z.B. bei Vorliegen leichter Symptome schneller Klarheit zu haben; bei einem positivem Ergebnis muss dann allerdings auch ein PCR-Test erfolgen.
]]>Die vorliegende Entwurfsfassung zum Barrierefreiheitsgesetz soll die Richtlinie (EU) 2019/882 des Europäischen Parlaments und des Rates in nationales Recht umsetzen. Die Richtlinie verpflichtet die Mitgliedstaaten der Europäischen Union in Artikel 31 Absatz 1 bis zum 28. Juni 2022 die Maßnahmen zu erlassen und zu veröffentlichen, die erforderlich sind, um den Vorgaben der Richtlinie nachzukommen.
Zusammenfassende Bewertung
Die UN-Behindertenrechtskonvention (UN BRK) verpflichtet die Vertragsstaaten, geeignete Maßnahmen zu treffen, um Menschen mit Behinderungen eine unabhängige Lebensführung und die volle Teilhabe in allen Lebensbereichen zu ermöglichen. Dies schließt Maßnahmen ein, die den gleichberechtigten Zugang zur physischen Umwelt, zu Transportmitteln, Information und Kommunikation, einschließlich entsprechender Technologien, ermöglichen.
In diesem Sinne begrüßen die in der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege zusammengeschlossenen Spitzenverbände den vorliegenden Gesetzentwurf ausdrücklich. Sie unterstützen die Zielsetzung, den Zugang für Menschen mit Behinderungen zu digitalen Alltagsprodukten und -Dienstleistungen zu ermöglichen bzw. zu verbessern und somit die wirksame und gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen zu stärken.
Um mit Blick auf UN BRK die volle und gleichberechtigte Teilhabe zu erreichen, sind auch über dieses Gesetz hinaus zeitnah weitere Schritte nötig.
Im Hinblick auf die geplanten Regelungen sehen wir folgende Änderungsbedarfe:
- Die BAGFW schlägt vor, Anforderungen an die bauliche Umwelt der Produkte und Dienstleistungen analog zu § 8 BGG aufzunehmen.
- Der Geltungsbereich der Barrierefreiheit sollte auch regionale, städtische, vorstädtische Verkehrsdienste und Fahrzeuge umfassen.
- Der Anwendungsbereich des Gesetzes sollte auf beruflich genutzte Produkte und Dienstleistungen ausgeweitet werden.
- Die Definition von Barrierefreiheit sollte durch einen Verweis auf § 4 Behindertengleichstellungsgesetz ersetzt werden.
- Bei der Erarbeitung der Verordnungsermächtigung ist die angemessene Partizipation von Menschen mit Behinderungen als Selbstvertreter/innen und ihrer Interessenverbände sicherzustellen.
- Die Bundesfachstelle für Barrierefreiheit sollte zentrale Anlauf- und Beratungsstelle für alle Akteure werden, die Produkte und/oder Dienstleistungen anbieten, die unter den Regelungsbereich dieses Gesetzes fallen.
- Wirtschaftsakteure sollten bei jeder Veränderung der von ihnen angebotenen Produkte und Dienstleistungen verpflichtet sein, deren Barrierefreiheit zu überprüfen.
- Aus Sicht der BAGFW sollte die Marktüberwachung auf Bundesebene angesiedelt sein.
- Eine bereits bestehende Schlichtungsstelle sollte mit Ressourcen ausgestattet werden, um Streitfälle niedrigschwellig lösen zu können.
- Die Übergangsfristen für die Dienstleistungserbringer sollten verkürzt werden.
- Die §§ 21, 29, 32 und 34 enthalten Anforderungen an die Bereitstellung von Informationen und Kommunikation in barrierefreier Form. Es ist einheitlich zu regeln, dass die Kosten für barrierefreie Information und Kommunikation in wahrnehmbarer Form von den Marktüberwachungsbehörden zu tragen sind. Dies ist bislang nur für die Kommunikation mit Gebärdensprachdolmetschern und für andere Kommunikationshilfen vorgesehen.
- Darüber hinaus schlägt die BAGFW vor, Investitionen in Barrierefreiheit z.B. durch ein Bundesprogramm zu fördern.
Im Einzelnen bewerten wir die geplanten Regelungen wie folgt:
§ 1 Zweck und Anwendungsbereich
Barrierefreiheit der bebauten Umgebung
Die EU-Richtlinie eröffnet in den Gründen wie auch in Art. 4 Abs. 4 EAA den Mitgliedstaaten die Möglichkeit, die Barrierefreiheitsanforderungen auch auf die bauliche Umwelt der Produkte und Dienstleistungen auszudehnen, um Menschen mit Behinderungen eine erleichterte Nutzung zu ermöglichen. Im vorliegenden Referentenentwurf wird von dieser Möglichkeit kein Gebrauch gemacht. Dies bewertet die BAGFW kritisch. Damit wird eine Chance vertan, den Vorgaben der UN-BRK an den Abbau von Diskriminierung gemäß Artikel 5 Abs. 3 zu entsprechen und umfassender Barrierefreiheit ein Stück näher zu kommen.
Die BAGFW schlägt vor, in einem eigenen Paragrafen Anforderungen an die bauliche Umwelt der Produkte und Dienstleistungen analog zu § 8 BGG einzufügen.
Barrierefreiheit des Verkehrs
Die Regelungen umfassen bisher nur den Fernverkehr. Dies ist nach Ansicht der BAGFW nicht ausreichend für eine diskriminierungsfreie Teilhabe und Mobilität von Menschen mit Behinderungen. Die Regelungsvorgaben hinsichtlich der Barrierefreiheit des Verkehrs und der bebauten Umwelt sind mit den Vorgaben der UN BRK i. S. Art. 9 zu harmonisieren.
Die BAGFW spricht sich dafür aus, dass der Geltungsbereich der Barrierefreiheit bezogen auf Personenverkehrsdienste auch regionale, städtische, vorstädtische Verkehrsdienste und Fahrzeuge umfasst. Alle Verkehrsinfrastrukturen und Dienste, die mit dem Stadt-, Vorort- und Regionalverkehr zusammenhängen, sollten einbezogen sein.
Geschäftlich genutzte Produkte
Zwar ist der Anwendungsbereich der Richtlinie gemäß Artikel 2 im Wesentlichen auf Produkte und Leistungen für Verbraucherinnen und Verbraucher beschränkt. Nichtsdestotrotz setzt wirksame Teilhabe voraus, dass auch der unternehmerische Bereich – wie die gewerbliche oder die selbstständig berufliche Nutzung eines Computers
oder etwa der Zugang zum Geschäftskonto – barrierefrei geschehen kann. Die geschäftliche Nutzung ist also auch dann angemessen zu umfassen, wenn die private Nutzung nicht überwiegt.
Insofern ist aus Sicht der BAGFW notwendig, den Anwendungsbereich des Gesetzes auf beruflich genutzte Produkte und Dienstleistungen auszuweiten, wo es ohne wesentliche Mehrbelastung für die Wirtschaft möglich ist.
§ 3
Barrierefreiheit, Verordnungsermächtigung
Barrierefreiheit
Die hier gefundene Formulierung orientiert sich weder vollständig an der Richtlinie, noch stimmt die Definition mit derjenigen in § 4 BGG überein. Denn es wurde nicht übernommen, dass die Produkte und Dienstleistungen jeweils barrierefrei zugänglich sein müssen.
Unterschiedliche rechtliche Definitionen von Barrierefreiheit wären nicht nur in der Rechtsanwendung interpretationsbedürftig. Sie stünden einem eindeutigen und klaren Verständnis von Barrierefreiheit entgegen. Im Ergebnis wird dies dazu führen, dass volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe im Sinne der UN-BRK im Hinblick auf vorhandene Barrieren nicht eingelöst wird, da unterschiedliche Akteure sich an unterschiedlichen Vorgaben orientieren. Digitale Produkte und Dienstleistungen sind dann barrierefrei, „wenn sie für Menschen mit Behinderungen in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe auffindbar, zugänglich und nutzbar sind”.
Die Definition von Barrierefreiheit sollte durch einen Verweis auf § 4 Behindertengleichstellungsgesetz ersetzt werden.
Verordnungsermächtigung
Die Präzisierung der Vorgaben an die Barrierefreiheit von Produkten und Dienstleistungen soll per Rechtsverordnung geregelt werden. Die in § 3 Absatz 3 getroffene Regelung setzt die Richtlinie nicht vollumfänglich um. Denn die Richtlinie sieht in Art. 4 Abs. 5) und 6) vor, bei der Erarbeitung von Leitlinien für Kleinstunternehmen, die ihnen die Umsetzung von Barrierefreiheit erleichtert, einschlägige Interessensträger einzubeziehen. § 3 Absatz 3 sieht eine Ausarbeitung der Leitlinien lediglich durch das BMAS vor.
Die BAGFW hält die vollständige Umsetzung der EU-Richtlinie für notwendig. Hierzu ist sicherzustellen, dass Selbstvertreter/innen bzw. Interessensvertretungen von Menschen mit Behinderungen, die Freie Wohlfahrtspflege und weitere Verbände an der Erarbeitung beteiligt werden. Dabei sollte § 4 BGG in Verbindung mit der UN BRK als Maßstab dienen.
§ 15
Beratungsangebot der Bundesfachstelle für Barrierefreiheit
Die BAGFW begrüßt die Ausweitung des Beratungsangebots der Bundesfachstelle für Barrierefreiheit. Der Auftrag der Bundesfachstelle für Barrierefreiheit sollte allerdings über die vorgesehene Beratung von Kleinstunternehmen hinausgehen.
Die BAGFW setzt sich dafür ein, dass die Bundesfachstelle für Barrierefreiheit, analog zur Vorschrift in § 13 BGG, zentrale Anlauf- und Beratungsstelle für alle Akteure wird, die Produkte und/oder Dienstleistungen nach den §§ 1 und 2 anbieten.
§ 17
Unverhältnismäßige Belastungen
Eine vollumfängliche Umsetzung des EAA wäre gegeben, wenn der Wirtschaftsakteur bei jeder Veränderung der von ihm angebotenen Produkte und Dienstleistungen verpflichtet wäre, eine erneute Überprüfung seiner unverhältnismäßigen Belastung vorzunehmen.
Die BAGFW hält es für erforderlich, in § 17 Absatz 3 Nr. 3 den Begriff „wesentlich“ zu streichen.
§ 20
Aufgaben der Marktüberwachungsbehörden
Die BAGFW begrüßt, dass die Pflichten der Marktüberwachungsbehörde zur Überwachung der Dienstleistungen analog der Pflichten der Marktüberwachung von Produkten erfolgt.
Der Gesetzesentwurf sieht eine alleinige Zuständigkeit der einzelnen Bundesländer für die Marktüberwachung vor. Die BAGFW hält eine ungesteuerte Länderzuständigkeit in diesem Zusammenhang nicht für sinnvoll und geht davon aus, dass eine effektive Marktüberwachung so nicht gewährleistet werden kann. Eine auf Länderebene organisierte Marktüberwachung wird den Anforderungen an eine Überwachung eines global organisierten Dienstleistungsmarktes nicht gerecht.
Die BAGFW fordert daher eine auf Bundesebene organisierte Marktüberwachung.
Naheliegend ist die Übertragung dieser Aufgabe an die üblichen Marktüberwachungsbehörden, die bereits mit den jeweiligen Lebenssachverhalten befasst sind. Hierbei ist sicherzustellen, dass die Marktüberwachung so ausgestattet ist, dass sie ihrer Aufgabe gerecht werden kann. Für eine gelingende Umsetzung der übertragenen Aufgabeninhalte sind entsprechende finanzielle und personelle Ressourcen sowie entsprechende Qualifizierungsmaßnahmen zur Vermittlung notweniger Fachkenntnisse erforderlich.
Liegt die Marktüberwachung in der Zuständigkeit der Bundesländer, muss eine verbindliche Kooperation gewährleistet werden. Dies ist auch vor dem Hintergrund eines effizienten Mitteleinsatzes geboten.
An der Entwicklung von Marktüberwachungsstrategien, wie sie in Absatz 2 genannt sind, sind Menschen mit Behinderungen und ihre Verbände zu beteiligen.
§ 34
Verwaltungsverfahren
Es ist im Interesse aller Beteiligten, in Streitfragen niedrigschwellig und konstruktiv zu Lösungen zu kommen. Schlichtungsstellen können das leisten, sofern sie thematisch entsprechend aufgestellt sind.
Die BAGFW regt an, im Zuge des Barrierefreiheitsgesetzes eine bereits bestehende Schlichtungsstelle mit entsprechenden Ressourcen auszustatten.
§ 38
Übergangsbestimmungen
Angesichts der schnell voranschreitenden Entwicklungen im Bereich digitaler Dienstleistungen sind die vorgesehenen Fristen aus Sicht der BAGFW zu lang angesetzt.
Vorschlag: Barrierefreiheit durch gezielte Investition fördern
Die BAGFW schlägt weitere Investitionen in Barrierefreiheit vor. Die Europäische Kommission schreibt in den Gründen zum EAA: „Gemäß der VN-Behindertenrechtskonvention sind die Vertragsparteien aufgefordert, Forschung und Entwicklung in Bezug auf neue Technologien, die für Menschen mit Behinderungen geeignet sind – darunter Informations- und Kommunikationstechnologien, Mobilitätshilfen, Geräte und assistive Technologien –, zu betreiben oder zu fördern und ihre Verfügbarkeit und Nutzung zu fördern. In der VN-Behindertenrechtskonvention wird zudem gefordert, erschwinglichen Technologien Vorrang einzuräumen.“
Vor diesem Hintergrund regt die BAGFW an, die Entwicklung barrierefreien und universellen Designs von Produkten und Dienstleistungen zu fördern.
So könnte beispielsweise beim Bundesministerium für Wirtschaft und Energie ein Wirtschaftsförderprogramm Barrierefreiheit für digitale Produkte und Dienstleistungen aufgelegt werden und entsprechende Bundeswettbewerbe ausgeschrieben werden. Solche Förderungen könnten Unternehmen darin unterstützen, ihre Produkte barrierefrei (weiter) zu entwickeln. Gleichzeitig können so Innovationen für digitale Teilhabe auf den Weg gebracht und der Wirtschaftsstandort Deutschland gestärkt werden. Förderung sollte in besonderem Maße für innovative und marktdurchdringende digitale Produktarten vorgesehen werden, so dass die Teilhabe der Menschen mit Behinderungen möglichst von Anfang an gesichert ist.
]]>Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege bedanken sich für die Einladung und nehmen gerne gemeinsam zur Testverordnung Stellung.
Positiv bewertet wird die Einführung von kostenlosen Bürgertests mit PoC-Antigen-Schnelltests. Dies kann die Einrichtungen und Dienste bei der Testung der Besucher/innen im Zuge der Pandemiebekämpfung entlasten.
Generell sei angemerkt, dass Barrierefreiheit beim Testzugang und Testen selbst gewährleistet sein muss. Neben einer barrierefreien Erreichbarkeit und Zugänglichkeit von Testzentren bedeutet dies, sicherzustellen, dass Menschen mit Behinderung vor Ort die nötige Unterstützung erhalten. Es ist auch sicherzustellen, dass die Informationen zur Testung selbst barrierefrei bereitgestellt werden. Bei Personen mit Behinderung und psychischen Erkrankungen, z.B. bei stark eingeschränkter Mobilität oder Psychosen, sollten auch zugehende Testungen ermöglicht werden. Sollten für Testungen Krankentransporte erforderlich sein, sollen diese nach § 60 SGB V abgerechnet werden können.
In folgenden Punkten sieht die BAGFW Änderungsbedarfe:
- Für uns ist nicht nachvollziehbar, warum Einrichtungen zur gemeinschaftlichen Unterbringung von Asylbewerbern, Flüchtlingen, Spätaussiedlern und vollziehbar Ausreisepflichtigen, die nach Aussage der STIKO zu den Settings mit hohem Ansteckungsrisiko gehören, sowie sonstige Massenunterkünfte und Justizvollzugsanstalten in die präventiven Testungen nicht einbezogen werden. Auch die Gemeinschaftseinrichtungen nach § 33 IfSG, Frauenhäuser und vergleichbare Schutzunterkünfte, Gemeinschaftseinrichtungen für Mutter/Vater und Kind nach § 19 SGB VIII sowie ambulante und stationäre Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, welche die STIKO gleichfalls als Settings mit hohem Ansteckungsrisiko in dieselbe Kategorie wie die Einrichtungen für Asylsuchende kategorisiert hat, müssen einbezogen werden.
- Die BAGFW bittet dringend darum, dass auch die Menschen, die in aufenthaltsrechtlicher Illegalität in unserem Land leben, teils unter prekären Wohn- und Lebensverhältnissen, Zugang zu den Bürgertestungen bekommen. § 87 AufentG darf für die Dauer der Pandemie weder bei den Testungen noch bei den Impfungen Anwendung finden.
- Nach wie vor fehlt eine Refinanzierung der Personalkosten für die Testungen in der Wohnungslosenhilfe, in den Reha- und Vorsorgeeinrichtungen sowie in der SAPV, der Intensivpflege und bei den ambulanten Hospizdiensten. Diese Regelungslücke gilt es, mit dieser Verordnung zu schließen. Die Einrichtungen müssen - auch aus Gleichheitsgründen - dieselbe Pauschale wie die Pflegeeinrichtungen und die Einrichtungen der Eingliederungshilfe erhalten können.
- Bezüglich der Stückzahl der Testungen bitten wir sowohl in Bezug auf die Intensivpflegedienste als auch in Bezug auf die personalintensiven Dienste der Eingliederungshilfe um eine Erhöhung der Stückzahl auf 90 pro zu betreuender und zu pflegender Person.
- Die Absenkung der Sachkostenpauschale von 9 auf 6 Euro lehnen wir zum gegenwärtigen Zeitpunkt ab. Zum einen liegen die Kosten im Schnitt höher als 6 Euro, zum anderen haben die Dienste und Einrichtungen auch schon Tests bestellt, die sie nicht mehr refinanziert bekämen. Es ist zudem davon auszugehen, dass bei der aufgrund der TestV steigenden Nachfrage die Preise wieder anziehen.
B. Stellungnahme zu ausgewählten Einzelvorschriften
§ 1 Anspruch
Die BAGFW lehnt die Änderung zu Absatz 2, wonach Menschen in aufenthaltsrechtlicher Illegalität vom Rechtsanspruch auf die Bürgertestungen nach § 4a ausgeschlossen werden, indem nur Personen mit Wohnsitz oder gewöhnlichem Aufenthalt in der Bundesrepublik einen Anspruch haben, ab.
Zudem haben Menschen in aufenthaltsrechtlicher Illegalität aufgrund der Übermittlungspflichten nach § 87 AufenthG Probleme, ihre Ansprüche durchzusetzen, weil sie befürchten müssen, dass ihre Daten an die Ausländerbehörden weitergeleitet werden. § 87 AufenthG sollte im Sinne des Bevölkerungsschutzes zumindest für die Dauer der Pandemie daher ausgesetzt werden. Darüber hinaus setzen sich die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege für eine Problemlösung ein, die allen in Deutschland lebenden Menschen, unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus oder Wohnsitz, Zugang zur Regelversorgung in der GKV bietet.
Änderungsbedarf
Absatz 2 wird wie folgt formuliert:
„Den Anspruch nach Absatz 1 haben auch Personen, die nicht in der gesetzlichen Krankenversicherung versichert sind. Für alle Personen, die einen tatsächlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben, der nicht nur für die Dauer eines Kurzaufenthalts, etwa zu touristischen Zwecken besteht, darf § 87 Aufenthaltsgesetz keine Anwendung finden. Ein Anspruch nach § 4a besteht nur dann, wenn diese Personen ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben.
§ 2 Testungen von Kontaktpersonen
In der Begründung zu Nummer 2 ist klarzustellen, dass der Haushalt nach Nummer 2 auch betreute Wohnformen umfasst.
§ 4 Testungen zur Verhütung der Verbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2
Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege begrüßen, dass nunmehr auch die Rettungsdienste, der ÖGD und die Impfzentren mit der Ergänzung zu Absatz 2 Nummer 5 zu den testrelevanten Einrichtungen gerechnet werden.
Die Fallkonstellation des Absatzes 1 Satz 1 Nummer 1, wonach asymptomatische Personen nach Aufnahme oder Wiederaufnahme in eine Einrichtung getestet werden können, ist dahingehend klarzustellen, dass auch Menschen, die in besonderen Wohnformen der Behindertenhilfe leben, aber das Wochenende bei ihren Angehörigen verbracht haben, von den Testungen umfasst sind.
Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege bekunden erneut ihre Position, wonach für uns nicht nachvollziehbar ist, warum Unterkünfte der Obdachlosenhilfen, Einrichtungen zur gemeinschaftlichen Unterbringung von Asylbewerbern, Flüchtlingen, Spätaussiedlern und vollziehbar Ausreisepflichtigen sowie sonstige Massenunterkünfte nicht in die präventiven Testungen einbezogen werden, obwohl gerade in diesen Einrichtungen ein hohes Ansteckungsrisiko, wie auch die STIKO-Empfehlung ausweist, besteht. Diese Einrichtungen sind unter § 4 dringend zu ergänzen. Das Gleiche gilt für Justizvollzugsanstalten.
Vor dem Hintergrund, dass Kinder und Jugendliche immer stärker selbst durch die neuen Virus-Mutationen erkranken und das Personal in den Kinder- und Jugendeinrichtungen anstecken können, fordern die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege, dass die Gemeinschaftseinrichtungen nach § 33 IfSG, Frauenhäuser und vergleichbare Schutzunterkünfte, Gemeinschaftseinrichtungen für Mutter/Vater und Kind nach § 19 SGB VIII sowie ambulante und stationäre Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe einbezogen werden.
Änderungsbedarf
§ 4 Absatz 1 Nummer 1
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- In oder von Einrichtungen oder Unternehmen nach Absatz 2 Nummer 1 bis 4 behandelt, betreut, gepflegt oder untergebracht werden sollen oder nach Rückkehr aus der Häuslichkeit von Familienangehörigen übernommen wird,
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§ 4 Absatz 2 Nummer 2 wird wie folgt formuliert:
„Einrichtungen nach § 36 Absatz 1 Nummer 1 bis 6 des Infektionsschutzgesetzes“
In § 4 wird nach Nummer 4 folgende neue Nummer 5 ergänzt:
„Frauenhäuser, vergleichbare Schutzunterkünfte, Gemeinschaftseinrichtungen für Mutter/Vater und Kind sowie ambulante und stationäre Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe.“
§ 4a i.V. mit § 5 Absatz 2 Satz 1: Bürgertestungen
Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege begrüßen die Einführung kostenloser Bürgertestungen. Die Möglichkeit der kostenlosen Bürgertestungen kann die Einrichtungen und Dienste, für die ein negatives Testergebnis Voraussetzung für das Betreten oder den Besuch ist, entlastend wirken. Es sollte überdacht werden, ob angesichts des Beitrags der Testungen zur Eindämmung des Virus eine Begrenzung auf einmal pro Woche vorgenommen werden sollte.
§ 4b Bestätigungs- und Virusvariantendiagnostik
Die BAGFW begrüßt, dass jeder positive Antigen-PoC-Schnelltest mit einem PCR-Test bestätigt werden muss. Eine wichtige Strategie zur Eindämmung des SARS-CoV2- Virus und seiner Mutationen ist des Weiteren eine Virusvariantendiagnostik. Die Regelung, dass jedem positiven PCR-Test ein spezifischer Virusvariantennachweis folgen soll, ist daher zu begrüßen.
Generell begrüßt die BAGFW die Beauftragung von Rettungs- und Hilfsorganisationen im Rahmen von Testungen nach § 4a Bürgertestungen und § 4b Bestätigungs- und Virusvariantendiagnostik. Es wird allerdings ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Rettungs- und Hilfsorganisationen lediglich für die Durchführung von Testungen beauftragt werden können. Die Durchführung von Testdiagnostiken im Labor und/oder der Sequenzierung von Viren (Mutationen) liegen hingegen nicht im Kompetenzbereich der Rettungs- und Hilfsorganisationen. Die Diagnostik und Sequenzierung sind den dafür zuständigen und geeigneten Laboren vorenthalten. Es wird deswegen eine inhaltliche Trennung des § 4b in Bestätigungstestung und § 4c Virusvariantendiagnostik gefordert, um die Zuständigkeiten klar voneinander abzugrenzen.
§ 6 Leistungserbringung
Absatz 2: Leistungsanspruch
Wie oben schon zu § 1 kommentiert, dürfen Menschen, die ihren tatsächlichen Aufenthaltsort nicht nur durch vorübergehenden, etwa touristischen Kurzaufenthalt in der Bundesrepublik haben, nicht von den Testungen ausgeschlossen werden. Nummer 4 des Absatzes 2 ist entsprechend anzupassen.
Änderungsbedarf
§ 6 Absatz 2 Nummer 4 ist zu streichen.
Absatz 3: Anzahl der Tests
Wir begrüßen, dass die Stückzahl für Tests bei den ambulanten Intensivpflegediensten und - neu mit dieser Verordnung – auch für die Hospize auf bis zu 30 PoC-Testungen pro Patient/in erhöht wird. Diese Anzahl reicht aber immer noch nicht aus. Ausgehend davon, dass pro Patient/in 6 Mitarbeitende im Wechsel von 2 Tagen im Einsatz sind, sollten pro Monat bis zu 90 Stück zur Verfügung stehen.
Ambulante Dienste der Eingliederungshilfe können weiterhin bis zu 20 PoC-Antigentests pro Klient/in pro Monat erhalten. Diese Stückzahl ist in Bezug auf manche ambulanten Dienste der Eingliederungshilfe zu gering veranschlagt. Es gibt Menschen mit komplexen Beeinträchtigungen, die bis zu 24 Stunden ambulante Pflege- und Assistenzleistungen benötigen, die dann über eine Vielzahl von Unterstützer*innen erbracht wird. Um diese Zielgruppe im Rahmen des jeweiligen Testkonzeptes bestmöglich vor einer Infektion mit dem SARS-CoV-2-Virus zu schützen, sind mehrfache Testungen nötig. Im Einzelfall ist es aufgrund der individuellen Versorgungssituationen notwendig, bis zu 90 Tests im Monat pro Klient/in einzusetzen, um diesen besonders vulnerablen Personenkreis bestmöglich vor einer lebensbedrohlichen Ansteckung zu schützen. Die besondere Einsatz- und Organisationsstruktur solch spezialisierter Dienste führt derzeit bereits bei der Umsetzung der Testverordnung zu einem erheblichen Finanzierungsproblem. Insbesondere kleinere, spezialisierte Dienste, die ambulante Angebote der Eingliederungshilfe und Pflege erbringen, sind hier erheblichen finanziellen Belastungen ausgesetzt.
Änderungsbedarf
In § 6 Absatz 3 ist in Bezug auf die Intensivpflegedienste und die ambulanten Dienste der Eingliederungshilfe nach § 4 Absatz 2 Nummer 4 die Stückzahl von 20 auf 90 pro zu betreuender Person zu erhöhen.
§ 7 Abrechnung der Leistungen – Testkosten Eingliederungshilfe
Die Verbände der BAGFW haben begrüßt, dass mit der letzten Änderungen TestV die Personalkosten für die Testungen in der Eingliederungshilfe aufgrund von § 7 Absatz 3 Satz 3 refinanziert werden.
Diese Ergänzung muss für die Eingliederungshilfe rückwirkend sein, da diese Testungen bereits seit Herbst 2020 eingesetzt werden. Diese Kosten können in der Eingliederungshilfe ebenso wenig wie die Schutzausrüstung über SoDEG abgerechnet werden. Daher setzen sich die Verbände der BAGFW weiterhin mit Nachdruck für ein rückwirkendes Inkrafttreten dieser Vorschrift zum 14.10.2020 (Ersterlass der Testverordnung) ein.
§ 11 Vergütung von Sachkosten für PoC-Antigen-Tests
Zwar sind die Preise der Antigen-PoC-Tests in den letzten Wochen leicht unter 9 Euro gesunken, sie liegen aber noch deutlich über 6 Euro. Zudem haben viele Dienste und Einrichtungen die Tests bereits eingekauft und könnten diese mit dem Inkrafttreten dieser Verordnung nicht mehr refinanzieren. Es wäre also mindestens zu garantieren, dass die Absenkung erst für nach Inkrafttreten dieses Entwurfs bestellte Tests gilt. Je nach Art der für die Bürger/innen freigegebenen Tests, wird der Markt für PoC-Antigentest sicherlich reagieren und unter Umständen zu einem Anstieg der Preise für die Tests führen. Somit kann nicht ausgeschlossen werden, dass die genannte Höhe der erstattungsfähigen Aufwendungen zu niedrig ausfällt. Jede Organisation kauft preisbewusst ein, die Sachkosten müssen im jeweils entstandenen Umfang auch weiterhin ersetzt werden. Es ist daher aus Sicht der BAGFW dringend geboten, auf eine Absenkung der Sachkostenpauschale zu diesem Zeitpunkt zu verzichten. Sollte mit Voranschreiten der nationalen Teststrategie und der Testproduktion eine allgemeine Preissenkung deutlich werden, sollte die Verordnung an die Preisentwicklung angepasst werden.
Änderungsbedarf:
Die Angabe „6“ wird durch die Angabe „9“ ersetzt.
§ 12 Vergütung von weiteren Leistungen
Die Verbände der Wohlfahrtspflege begrüßen, dass die Personalkosten für die Testungen in der Eingliederungshilfe in Höhe von 9 Euro vergütet werden. In gleicher Weise müssen jedoch auch den Reha- und Vorsorgeeinrichtungen, den Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe, den SAVP-Diensten und den ambulanten Hospizdiensten, die ebenfalls Gegenstand dieser Verordnung sind, diese Kosten refinanziert werden. Auch sie haben keine anderweitige Refinanzierungsmöglichkeit. Wir weisen in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die SAPV-Dienste, die Intensivpflegedienste und die ambulanten Hospizdienste als Einrichtungen nach dem SGB V unter keinerlei Schutzschirm fallen.
Uns erreicht vermehrt die Problemanzeige, dass Ärzt/innen den Einrichtungen die Schulung in Rechnung stellen müssen, da die nach § 12 Absatz 2 vorzunehmende Schulung nur maximal alle zwei Monate erstattungsfähig durchgeführt werden kann. Dieser Turnus ist jedoch für die Einrichtungen der Eingliederungshilfe nicht ausreichend, denn die Kurse können nur für max. 13-15 Personen stattfinden. Größere Einrichtungen brauchen also mehrere Schulungen parallel. Sofern sie diese veranlassen, muss der Arzt sie in Rechnung stellen, da er sie nicht über die TestV abrechnen kann.
Änderungsbedarf
§ 12 Absatz 3 Satz 1 ist wie folgt zu ergänzen:
„Stationäre Einrichtungen und ambulante Dienste der Eingliederungshilfe nach § 4 Absatz 2 Nummer 4, Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe nach § 4 Absatz 2 Nummer 2 sowie Einrichtungen der ambulanten Intensivpflege, der Spezialisierten ambulanten Palliativversorgung, Hospize, die keinen Versorgungsvertrag nach dem SGB XI haben sowie ambulante Hospizdienste erhalten für die Leistungen nach Absatz 1 je durchgeführter Testung eine Vergütung von 9 Euro; (…).„
]]>Um die Pflegebedürftigen und ihre Familien nicht weiter zu überfordern, ist eine Pflegereform erforderlich und von der Politik auch angekündigt. Jede Reform muss sich am Ende daran messen lassen, ob und inwiefern sie den Pflegebedürftigen und auch den Pflegenden eine Verbesserung bringt. Zugleich sollte die Pflegereform auch nicht zu Lasten der kommunalen Sozialhilfe (Hilfe zur Pflege) gehen.
Dazu sind aus Sicht der kommunalen Spitzenverbände und der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege drei Punkte von vorrangiger Bedeutung:
1. Die Eigenanteile, die die Pflegebedürftigen in Ergänzung zu den Versicherungsleistungen selbst aufbringen, müssen dauerhaft und sozial verträglich begrenzt werden.
2. Die medizinische Behandlungspflege ist auch in der stationären Altenpflege als Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung zu gewähren.
3. Notwendige Investitionen sollten durch die Länder angemessen finanziert werden. Zugleich muss die ambulante Versorgung gestärkt werden.
]]>Zusammenfassende Bewertung
Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege bedanken sich für die Einladung zur Stellungnahme und geben diese nachfolgend gemeinsam ab.
Wir begrüßen, dass einige der von uns vorgeschlagenen Änderungen aus der letzten Impfverordnung nun in diese Impfverordnung Eingang gefunden haben, wie z.B. die Erweiterung der ambulanten Pflegedienste auf das gesamte Spektrum ambulanter Dienste.
Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege hatten sich dafür ausgesprochen, das behinderungsbedingte Infektionsrisiko als Kriterium für die Definition von Impfzielen, nach denen sich die STIKO richten muss, in den Blick zu nehmen. Dieses Kriterium ist im Rahmen des Vierten Bevölkerungsschutzgesetzes in § 20i SGB V aufgenommen worden. Die STIKO sollte daher einen Prüfauftrag erhalten, um das erhöhte Erkrankungsrisiko von Menschen mit Behinderung in den Blick zu nehmen. So weisen z.B. blinde oder taubblinde Menschen nicht aufgrund von Vorerkrankungen, sondern wegen des Umstands, dass sie auf Assistenzpersonen für ihren Lebensalltag angewiesen sind, wie z.B. bei der Begleitung oder beim Lormen, ein erhöhtes Ansteckungsrisiko auf.
In folgenden Punkten sehen wir Änderungsbedarfe:
- Der Rechtsanspruch auf Impfungen muss grundsätzlich auch die Menschen in aufenthaltsrechtlicher Illegalität umfassen. Zu dieser Personengruppe können hochvulnerable Personen mit Vorerkrankungen zählen. Der Rechtsanspruch in § 1 ist um „tatsächlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland“ zu erweitern und es ist klarzustellen, dass die Mitteilungspflichten an die Ausländerbehörden gemäß § 87 AufenthG pandemiebedingt ausgesetzt werden müssen. Zudem ist in der Begründung klarzustellen, dass nachvollziehbar Ausreisepflichtige unter den Personenkreis der Menschen mit gewöhnlichem Aufenthaltsstatus fallen. Bei Asylsuchenden und Nichtversicherten ist zudem die Finanzierung für die Ausstellung ärztlicher Atteste für die Impfberechtigung in § 9 sicherzustellen.
- In der Begründung zu § 2 ist klarzustellen, dass zu den Menschen, die in der höchsten Priorität berücksichtigt werden, auch Menschen mit Behinderungen, die pflegebedürftig sind und in besonderen Wohnformen leben, zählen.
- Bezüglich der Abweichung von der Reihenfolge der Priorisierung für die zeitnahe Verwendung vorhandener Impfstoffe, ist zunächst anzumerken, dass es dringend einer Aufklärungskampagne der Bundesregierung bedarf, dass dieser Impfstoff ebenso sicher und effizient für die Individualprophylaxe ist wie die anderen zugelassenen Impfstoffe. Abgelehnt wird die Regelung, dass jedes Bundesland hierfür ohne in der Impfverordnung vorgegebene Kriterien Empfehlungen erlassen kann, aufgrund derer dann Abweichungen von der Impfverordnung erfolgen können. Maßgabe für eine Abweichung von der Verordnung sollte sein, dass bei fehlender Nachfrage der jeweiligen Prioritätengruppe der jeweils nachfolgenden Prioritätengruppe die Impfung angeboten wird.
- Die STIKO hat in Kategorie 3 ihrer Empfehlungen positioniert, dass neben den Obdachlosenunterkünften und Gemeinschaftsunterkünften für Geflüchtete auch die Frauenhäuser und Gemeinschaftsunterkünfte für Kinder und Jugendliche einzubeziehen sind. Die in der BAGFW zusammengeschlossenen Verbände bitten daher dringlich um Aufnahme dieser Institutionen in § 3 Absatz 2 Nummer 7 (Frauenhäuser, vergleichbare Schutzunterkünfte, Gemeinschaftseinrichtungen für Mutter/Vater und Kind nach § 19 SGB VIII sowie ambulante und stationäre Einrichtungen der Hilfe zur Erziehung). Eine Benachteiligung des Personals dieser Betreuungsformen, die Menschen rund um die Uhr betreuen gegenüber Kitas und Schulen, die mit der letzten Änderung der ImpfV in § 3 aufgenommen wurden, ist sachlich und fachlich nicht zu rechtfertigen. Bei den Einrichtungen der Obdachlosenhilfe ist klarzustellen, dass sie auch Tagestreffs, Hilfen nach § 67 sowie niedrigschwellige Angebote zur Sicherstellung der Hygiene und Versorgung umfassen.
- Wir begrüßen, dass die ImpV nun auch mehr als eine enge Kontaktperson von zu pflegenden und zu betreuenden Menschen sowie von Menschen mit Vorerkrankungen umfasst. Da es aber auch Konstellationen gibt, bei denen mehr als zwei Kontaktpersonen im Setting der An- und Zugehörigen unterstützen, sollte die Beschränkung auf zwei Personen aufgehoben werden. In der Begründung sollte ergänzt werden, dass es sich bei den Kontaktpersonen auch um Assistenzpersonen von Menschen mit Behinderung sowie um live-in-Kräfte handeln kann.
- Menschen mit einer geistigen Behinderung oder psychischen Erkrankung, zu denen auch Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen zählen, werden nicht nur von ambulanten Pflegediensten, sondern von ambulanten Diensten und stationären Einrichtungen der Suchthilfe und der Eingliederungshilfe betreut, dies ist entsprechend unter § 3 Absatz 1 Nummer 4 zu ergänzen.
- In § 3 ist auch das medizinische, pflegerische und therapeutische Personal Personal von Reha- und Vorsorgeeinrichtungen gleichwertig zum Personal in Krankenhäusern und niedergelassenen Arztpraxen aufzunehmen.
- Sehr zu begrüßen ist die Öffnungsklausel des § 6 Absatz 6, das für die Personengruppen unter den §§ 3 und 4 gilt. Das ermöglicht eine Einzelfallprüfung nicht nur für Menschen mit seltenen Erkrankungen, sondern auch für Menschen mit schwersten Behinderungen, die alle möglichen Komorbiditäten aufweisen, für die bislang überhaupt keine Möglichkeit besteht, dass der Effekt ihrer Krankheit auf den Verlauf einer Infektion mit dem Coronavirus in Studien nachgewiesen werden konnte. Die Feststellung müssen jedoch ausdrücklich auch die diese behandelnden Ärztinnen und Ärzte treffen können. Die STIKO sollte aus Sicht der Freien Wohlfahrtspflege auch den Prüfauftrag erhalten, ob Ärzte im Einzelfall, etwa bei Autoimmunerkrankungen, zu Empfehlungen für einen bestimmten Impfstoff berechtigt werden könnten. Die Begrenzung der Attestierung auf die Ärztinnen und Ärzte in den Impfzentren und in von den Ländern bestimmten Schwerpunkt-Praxen ausweislich der Begründung lehnen wir als nicht sachgerecht ab. Ebenso unverständlich ist der Umstand, dass die Impfverordnung nicht auf die Möglichkeit vorsieht, dass durch ein entsprechendes Zeugnis ebenso eine Zuordnung in die erste Impfgruppe ermöglicht wird.
- Es ist unbedingt erforderlich, dass die Barrierefreiheit des Impfprozesses abgesichert wird. Neben einer barrierefreien Erreichbarkeit und Zugänglichkeit von Impfzentren, bedeutet dies, dass sicherzustellen ist, dass Menschen mit Behinderungen vor Ort notwendige Unterstützung erhalten. Es gilt sicherzustellen, dass die Informationen zur Impfaufklärung in barrierefreier Form bereitgestellt werden. Insbesondere ist ein barrierefreier Zugang zur telefonischen und digitalen Terminvergabe unbedingt erforderlich. Daher ist die Kassenärztliche Bundesvereinigung zu verpflichten, das Tool zur Terminvermittlung barrierefrei zu programmieren.
Die vollständige Stellungnahme befindet sich im Download.
]]>Die BAGFW begrüßt insbesondere, dass
- eine inklusive Programmatik verfolgt wird,
- die Jugendarbeit inklusiv ausgestaltet wird,
- die inklusive Ausgestaltung der Kindertageseinrichtungen verbindlich verankert wird,
- selbstorganisierte Zusammenschlüsse der Selbstvertretung gefördert werden sollen,
- flächendeckend Ombudsstellen eingerichtet werden,
- die Vorschriften zum Schutz von jungen Menschen vor Gewalt verbessert werden,
- die Beteiligung von jungen Menschen und ihren Familien ausgebaut wird, und dass
- die Vorschrift über die Vergütungsvereinbarung für ambulante Leistungen endlich klarstellt, dass auch die der Vergütung korrespondierende Leistung schriftlich zu vereinbaren ist.
Gleichwohl hat der Entwurf noch Mängel, die im parlamentarischen Verfahren behoben werden sollten. Diese werden im Folgenden angesprochen.
1. Kinderschutz
a) Regelhafte Vorlage des Hilfeplans im familiengerichtlichen Verfahren
Der Entwurf sieht vor, dass die Jugendämter verpflichtet werden sollen, in bestimmten familiengerichtlichen Verfahren den Hilfeplan vorzulegen (§ 50 SGB VIII RegE KJSG). Diese Regelung wurde von der Fachwelt einmütig scharf kritisiert. Das Hilfeplanverfahren würde beschädigt, wenn bei der Abfassung des Hilfeplans mitbedacht werden müsste, welche Folgen dessen Inhalte in einem familiengerichtlichen Verfahren zeitigen können. § 50 SGB VIII sollte daher nicht geändert werden.
b) Rolle der Berufsgeheimnisträger
Bislang sieht das Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG) in § 4 vor, dass Berufsgeheimnisträger, die mit der Möglichkeit einer Kindeswohlgefährdung konfrontiert sind, zunächst versuchen, die Beteiligten dabei zu unterstützen, aus eigenem Antrieb Hilfe zu suchen und ggf. auf das Jugendamt zuzugehen. Der Entwurf sieht unverändert vor, dass § 4 KKG umgestellt wird. Damit tritt die Information des Jugendamtes an die erste Stelle. Der Auftrag der Berufsgeheimnisträger, die Situation zunächst selbst mit den Beteiligten zu erörtern und auf Inanspruchnahme von Unterstützung durch das Jugendamt hinzuwirken, rutscht an die zweite Stelle. Diese Umkehrung erschwert die Zielerreichung der Maßnahmen und sollte zurückgenommen werden.
c) Örtliche Prüfung von Einrichtungen
Der Entwurf sieht vor, die Prüfung von Einrichtungen im schriftlichen Verfahren zuzulassen, ohne klarzustellen, dass stets auch örtliche Prüfungen erforderlich sind. Die zusätzliche Möglichkeit schriftlicher Prüfungen ist eine sinnvolle Ergänzung, kann aber nur unterstützt werden, wenn ausgeschlossen ist, dass sie zu Lasten der Prüfungen vor Ort geht. Eine entsprechende Klarstellung in § 46 SGB VIII RegE KJSG erscheint dringend erforderlich.
d) Schwelle für die Rücknahme der Betriebserlaubnis von Einrichtungen
Das Recht der Betriebserlaubnis für Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe wird weiterentwickelt, doch soll es dabei bleiben, dass die Betriebserlaubnis einer stationären Einrichtung der Kinder- und Jugendhilfe erst dann widerrufen werden darf, wenn eine Kindeswohlgefährdung vorliegt (§ 45 Abs. 7 SGB VIII RegE KJSG). Der Begriff der Kindeswohlgefährdung ist eng mit der Inobhutnahme (§ 42 SGB VIII) und dem Entzug des Sorgerechts (§ 1666 BGB) verbunden. Er steht daher für eine sehr hohe Schwelle. Die Erfahrungen der vergangenen Jahre haben deutlich gezeigt, dass diese Schwelle zu hoch ist. Eine Betriebserlaubnis muss bereits dann widerrufen werden können, wenn eine Beeinträchtigung des Kindeswohls vorliegt und der Träger nicht bereit oder nicht in der Lage ist, diese Beeinträchtigung zu beheben.
e) Einrichtungsbegriff
Der Entwurf sieht vor, dass der Begriff der Einrichtung der Kinder- und Jugendhilfe erstmals gesetzlich definiert wird (§ 45a SGB VIII RegE). Die Regelung stellt aber nicht sicher, dass alle Betreuungsformen einer Erlaubnispflicht unterliegen. Sie überlässt es den Ländern, inwieweit sie die Lücke zwischen der Pflegeerlaubnis (§ 44 SGB VIII) und der Betriebserlaubnis (§ 45 SGB VIII) schließen. So kann die Regelung dazu führen, dass Kleinsteinrichtungen einer Kontrolle weitgehend entzogen werden. Dazu darf es nicht kommen. Die Länderöffnungsklausel ist daher verfehlt und durch eine Regelung zu ersetzen, die sicherstellt, dass alle familienähnlichen Betreuungsformen, die weder eine Pflegeerlaubnis nach § 44 SGB VIII, noch eine Erlaubnis zur Kindertagespflege nach § 43 SGB VIII benötigen, einer Betriebserlaubnis nach § 45 SGB VIII bedürfen.
2. Inklusion
a) Inklusive Lösung und Status quo-Klausel
Bislang sind die Jugendämter für Leistungen an Kinder und Jugendliche mit einer seelischen Behinderung verantwortlich. Liegt dagegen eine geistige oder eine körperliche Behinderung vor, sind die Träger der Eingliederungshilfe zuständig. Diese Aufteilung hat sich nicht bewährt. Kindern mit Behinderungen bleiben oftmals Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe verwehrt. Zuständigkeitsstreitigkeiten zwischen Behörden erzeugen Leistungslücken und -verzögerungen. Die Aufteilung der Zuständigkeiten ist außerdem mit einer Ungleichbehandlung der beiden Gruppen hinsichtlich der Eigenbeteiligung an den Kosten verbunden, die nicht zu rechtfertigen ist. Der Entwurf enthält erste Schritte, die zu einer Gesamtzuständigkeit des Jugendamts für Leistungen der Eingliederungshilfe für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen führen sollen, ohne diese selbst bereits zu enthalten. Die Regelung der Gesamtzuständigkeit soll einem künftigen Gesetz vorbehalten sein, das bis zum 31.12.2027 verabschiedet werden soll. Zuvor soll eine Untersuchung durchgeführt werden, die die (kommende) Reform vorbereitet (§ 107 SGB VIII RegE KJSG). In Abs. 2 dieser Vorschrift wird diese Untersuchung dem Ziel unterstellt, „den leistungsberechtigten Personenkreis, Art und Umfang der Leistungen sowie den Umfang der Kostenbeteiligung für die hierzu Verpflichteten nach dem am 1. Januar 2023 für die Eingliederungshilfe geltenden Recht beizubehalten“. Dies bedeutet nicht weniger als eine gesetzliche Festlegung, dass die künftige Reform zwar die Zuständigkeit für bestimmte Eingliederungshilfeleistungen verlagern, aber ansonsten nichts ändern soll (Status-quo-Klausel). Eine solche Festlegung ist entschieden abzulehnen. Die Inklusive Lösung wird sowohl von einer großen Mehrheit der Fachwelt, als auch von betroffenen Eltern und Angehörigen gefordert, um damit die Situation betroffener Kinder und Jugendlicher und ihrer Familien nachhaltig zu verbessern. Dieses Ziel wird nicht erreicht, wenn alles – außer der Zuständigkeit – bleibt, wie es ist. § 107 SGB VIII RegE – mindestens Abs. 2 der Vorschrift – muss daher gestrichen werden.
b) Sonderstellung der Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII
Der Entwurf sieht vor, die Definition des Begriffs der Behinderung aus dem Teilhabeleistungsrecht (§ 2 SGB IX) inhaltsgleich in das Recht der Kinder- und Jugendhilfe zu übertragen (§ 7 Abs. 2 SGB VIII RegE). Das ist sicher sinnvoll, doch zugleich soll in § 35a SGB VIII - der Vorschrift, die die Eingliederungshilfe für junge Menschen mit einer seelischen Behinderung regelt - eine Änderung vorgenommen werden. Danach soll die Definition der Behinderung für § 35a SGB VIII nicht gelten. Dies ist mit der UN-Behindertenrechtskonvention, an der § 2 SGB IX ausgerichtet ist, nicht zu vereinbaren und auch nicht sinnvoll. Die vorgesehene Änderung in § 35a Abs. 1 SGB VIII sollte unterbleiben.
3. Hilfen zur Erziehung
a) Betreuung von Kindern in Notsituationen und „mitschwingende Hilfen“
Der Entwurf sieht vor, die Vorschrift über die Betreuung von Kindern in Notsituationen (§ 20 SGB VIII) zu streichen und durch eine neue Regelung im Rahmen der Hilfen zur Erziehung zu ersetzen (§ 28a SGB VIII RegE). Die BAGFW unterstützt die Intention, die mit diesem Vorschlag verfolgt werden soll, hält die vorgesehene Regelung aber für ungeeignet. Sie schafft nicht den erwünschten Anspruch auf „mitschwingende Hilfen“, der insbesondere für Kinder, die mit einem psychisch kranken Elternteil zusammenleben (ca. 3,8 Millionen Kinder in Deutschland) so wichtig sind. Stattdessen werden zusätzliche Hürden errichtet, die die Inanspruchnahme von Betreuungsleistungen in Notsituationen erschweren. Die BAGFW appelliert an die Politik, die Vorschrift noch einmal gründlich zu überdenken und eine Regelung zu finden, die die gute Intention tatsächlich umsetzt. In ihrer Stellungnahme vom 26.10.2020 hat die BAGFW dazu einen Vorschlag formuliert.
b) Erweiterung der Hilfen zur Erziehung um Angebote der Jugendsozialarbeit
Bislang verweist § 27 SGB VIII (Hilfen zur Erziehung) auf die Jugendberufshilfen nach § 13 Abs. 2 SGB VIII. Das soll mit dem Entwurf geändert werden. Die Hilfen zur Erziehung sollen nun die ganze Jugendsozialarbeit einbeziehen. BAGFW spricht sich gegen diese Erweiterung aus. Sie befürchtet, dass die Erweiterung die Hilfen zur Erziehung aufweicht und die Jugendsozialarbeit als eigenständiges Angebot schwächt. Die BAGFW plädiert dafür, es bei dem bisherigen Verweis auf die Jugendberufshilfe zu belassen.
4. Kostenbeitrag
Der Entwurf sieht vor, den Kostenbeitrag, den junge Menschen für die Hilfen, die sie erhalten, selbst aufbringen müssen, von 75% ihres Einkommens auf 25% zu reduzieren. Das ist fraglos ein großer Schritt in die richtige Richtung. Doch zugleich soll künftig nicht mehr das Einkommen des Vorjahres zugrunde gelegt werden, sondern das Einkommen des laufenden Jahres (Änderung von § 93 SGB VIII). Das bewirkt, dass der Kostenbeitrag in der ersten Zeit der Erzielung von Einkommen steigen wird, typischer Weise im ersten und oft auch im zweiten Jahr einer beruflichen Ausbildung. Da viele Hilfen (z.B. die Aufnahme in eine Pflegefamilie) bereits während der Dauer der Berufsausbildung enden, müssten viele junge Menschen im Ergebnis mehr Kostenbeitrag bezahlen als heute (siehe Stellungnahme der BAGFW vom 13.1.2021 zum Regierungsentwurf KJSG). Das ist entschieden abzulehnen. Die Änderung von § 93 SGB VIII muss unterbleiben.
5. Mutter-Kind-Einrichtungen
Der Entwurf sieht keine Änderungen bei den Mutter/Vater-Kind-Einrichtungen (von § 19 SGB VIII) vor. Die Vorschrift adressiert bis heute ausschließlich Alleinerziehende und geht davon das, dass die jungen Mütter, gelegentlich auch Väter, nicht in einer Partnerschaft leben. Die Aufnahme von Elternpaaren oder Partnern von Eltern ist nicht vorgesehen. Das ist nicht sachgerecht und kann zu einer schweren Belastung für den Hilfeprozess werden. Daher sollte § 19 SGB VIII um die Möglichkeit der Aufnahme zweier Elternteile und von Partnerinnen und Partnern erweitert werden.
6. Leistungsvereinbarungsrecht und Finanzierung
a) Tarifliche Entlohnung in der Kinder- und Jugendhilfe
Das Recht der Kinder- und Jugendhilfe enthält bis heute keine Regelung, die vorschreibt, dass die Entlohnung der Beschäftigten freier Träger nach einem Tarif stets als angemessen anzuerkennen ist. Mittlerweile nimmt das SGB VIII damit eine Sonderstellung ein. In der Pflege, der Eingliederungshilfe und der Sozialhilfe ist die tarifliche Entlohnung längst anerkannt. Die BAGFW fordert daher, im SGB VIII gesetzlich klarzustellen, dass die tarifliche Entlohnung der Beschäftigten stets als angemessen anerkannt werden muss.
b) Leistungsvereinbarungsrecht ambulante Leistungen
Die mit dem KJSG vorgesehene Erweiterung der Vorschrift über Vergütungsvereinbarungen für ambulante Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe (§ 77 SGB VIII) geht in die richtige Richtung, reicht aber nicht aus. Für die einzelfallbezogen finanzierten ambulanten Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe wird dringend ein differenziertes Leistungsvereinbarungsrecht gebraucht, wie es nicht nur für teil- und vollstationäre Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe, sondern auch in der Hilfe zur Pflege und der Eingliederungshilfe längst existiert. Zentrale Elemente sind gesetzlich vorgegebene Mindestbestandteile der Leistungsvereinbarung und eine Schiedsstellenfähigkeit der Vereinbarungen.
7. Gleichberechtigung junger Menschen aller Geschlechter
Die Kinder- und Jugendhilfe soll die unterschiedlichen Lebenslagen von Mädchen und Jungen berücksichtigen (§ 9 Nr. 3 SGB VIII). Um deutlich zu machen, dass auch junge Menschen mit diversem Geschlecht gemeint sind, werden die Worte „Mädchen und Jungen“ im RegE KJSG durch die Worte „junge Menschen“ ersetzt. Doch mit dieser Änderung wird das Anliegen der Vorschrift unkenntlich. Die BAGFW appelliert, die Formulierung zu ersetzen und ausdrücklich zu regeln, dass die unterschiedlichen Lebenslagen junger Menschen jeden Geschlechts zu berücksichtigen sind.
]]>Von den Vorschriften des Personenbeförderungsgesetzes sind in der entsprechenden aktuellen Freistellungs-Verordnung (FrStllgV) u. A. nur die folgenden Beförderungen ausgenommen:
e) von Kranken aus Gründen der Beschäftigungstherapie oder zu sonstigen Behandlungszwecken durch Krankenhäuser oder Heilanstalten mit eigenen Kraftfahrzeugen, […]
g) von körperlich, geistig oder seelisch behinderten Personen mit Kraftfahrzeugen zu und von Einrichtungen, die der Betreuung dieser Personenkreise dienen, […]
Anbietern einer Tagespflege nach § 41 SGB XI wird jedoch eine Genehmigung nach dem Personenbeförderungsgesetz abverlangt und für jede Fahrerinnen und jeden Fahrer eine zusätzliche Fahrerlaubnis zur Fahrgastbeförderung, wenn sie Pflegebedürftige von der Wohnung zur Tagespflegeeinrichtung und zurück befördern, obwohl sie gesetzlich verpflichtet sind, diesen Fahrdienst zu gewährleisten (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 25.11.2019 – 1 B 7.18). Ebenso braucht eine ambulante Rehabilitationseinrichtung eine Genehmigung plus entsprechende Personenbeförderungsscheine, wenn sie Kranke mit dem eigenen Fahrdienst zur Einrichtung und zurück befördert (vgl. Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 08.05.2019 - 10 C 1.19).
Tenor in beiden Fällen: Es obliege dem Verordnungsgeber, den Wortlaut der Freistellungsverordnung anzupassen.
Zudem konterkarieren personenbezogene Beförderungsvoraussetzungen insbesondere im Rahmen der ambulanten Angebote zur Unterstützung im Alltag bzw. auf zusätzliche Betreuung und Aktivierung ein Bezugspflegekonzept, aber auch zugleich den flexiblen Einsatz des ohnehin knappen Personals, da aus Wirtschaftlichkeitsgründen nachvollziehbar nicht sämtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einer ambulanten Pflegeeinrichtung einen Personenbeförderungsschein erwerben (und aufrecht erhalten) können.
All dies stellt einen enormen personellen, zeitlichen, administrativen und monetären Aufwand für die Einrichtungen dar. Personal und Zeit, die nicht für die Pflege, Betreuung oder Behandlung der Pflegebedürftigen bzw. kranken hilfebedürftigen Menschen eingesetzt werden können. Es wird zudem ein Geldfluss aus dem System bzw. für die Erhebung von erhöhten Leistungsentgelten für den PBefG-Zusatzaufwand manifestiert, der das Sachleistungsbudget nach dem SGB XI schmälert bzw. als Privatzahlung zu entrichten ist und damit für direkte Leistungen der Pflege, Betreuung und Behandlung nicht zur Verfügung steht.
Die Freistellungsverordnung wurde erstmalig 1961 erlassen, mithin zu einer Zeit, in der moderne Tagespflegeeinrichtungen, ambulante Betreuungsangebote von Pflegeeinrichtungen und ambulante Rehabilitationseinrichtungen noch nicht existierten. Es ist an der Zeit, sie entsprechend zu modernisieren und auf die Einrichtungstypen, die in den letzten Jahrzehnten entstanden sind, wie Tagespflegen und ambulanten Pflege- und Rehabilitationseinrichtungen anzupassen und insbesondere den völlig überholten Begriff der „Heil- und Pflegeanstalten“ in der FreistellungsVO, der keine teilstationären oder gar ambulanten Versorgungsformen kennt, bedarfsgerecht zu novellieren.
Die BAGFW fordert daher eine Änderung der Freistellungsverordnung zum Personenbeförderungsgesetz vorzunehmen. Ziel sollte sein, auch die Beförderung von pflegebedürftigen, kranken und ähnlich hilfsbedürftigen Personen mit Kraftfahrzeugen zu, durch und von Einrichtungen, die der Betreuung oder Behandlung dieser Personenkreise dienen, von den Vorschriften des Personenbeförderungsgesetzes zu befreien.
Änderungsbedarf:
§ 1 Nummer 4 g) FrStllgV soll lauten:
g) von körperlich, geistig oder seelisch behinderten, pflegebedürftigen, kranken und ähnlich hilfsbedürftigen Personen mit Kraftfahrzeugen zu, durch und von Einrichtungen, die der Betreuung, Pflege, Beschäftigung oder Behandlung dieser Personenkreise dienen, […]
es sei denn, dass von den Beförderten ein Entgelt zu entrichten ist; eine Entgeltentrichtung von den Beförderten, sofern diese den in § 5 Abs. 2 Satz 1 Bundesreisekostengesetz genannten Betrag je Kilometer zurückgelegter Strecke nicht übersteigt oder die Erhebung von Wegepauschalen, die in einer Vergütungsvereinbarung mit einem Leistungsträger vereinbart oder von diesem anerkannt worden sind, ist als Wegstreckenentschädigung unschädlich.
§ 4 Testungen zur Verhütung der Verbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2
Der BAGFW bzw. ihre Mitgliedsverbände hatten sich in allen bisherigen Stellungnahmen und Rückmeldungen zur Corona-Testverordnung dafür eingesetzt, dass auch in Einrichtungen der Obdachlosen- und Wohnungslosenhilfe präventiv getestet werden muss und begrüßt die hier vorgenommene Änderung der TestV daher nachdrücklich. Aber nicht nur in den Unterkünften der Obdachlosen- und Wohnungslosenhilfe, sondern auch in Einrichtungen zur gemeinschaftlichen Unterbringung von Asylbewerbern, Flüchtlingen, Spätaussiedlern und nachvollziehbar Ausreisepflichtigen sowie sonstige Massenunterkünfte besteht ein sehr hohes Ansteckungsrisiko. Auch die STIKO hat in ihrer Empfehlung zur COVID-10 Impfung festgestellt, dass die Flüchtlingsunterkünfte zu den Hotspots zählen. Daher müssen auch die Einrichtungen gemäß § 36 Absatz 1 Nummern 4 bis 6 analog in die präventiven Testungen einbezogen werden.
Wir bitten zudem darum, in § 4 Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 die Fallkonstellation, wonach asymptomatische Personen nach Aufnahme oder Wiederaufnahme in eine Einrichtung getestet werden können, dahingehend klarzustellen, dass auch Menschen, die in besonderen Wohnformen der Eingliederungshilfe leben, aber das Wochenende bei ihren Angehörigen verbracht haben, von den Testungen umfasst sind.
Die BAGFW setzt sich dafür ein, dass Personen, die ein besonderes Schutzbedürfnis haben, wie unter anderem Personen in Frauenhäusern, in die präventiven Testungen nach § 19 SGB VIII einbezogen werden. Wir fordern explizit auch eine Einbeziehung von Mutter-Vater-Kind-Einrichtungen in die präventiven Testungen nach § 19 SGB VIII.
Änderungsbedarf
- § 4 Absatz 1 Nummer 1
-
-
-
- In oder von Einrichtungen oder Unternehmen nach Absatz 2 Nummer 1 bis 4 behandelt, betreut, gepflegt oder untergebracht werden sollen oder nach Rückkehr aus der Häuslichkeit von Familienangehörigen übernommen wird,
-
-
- § 4 Absatz 2 Nummer 2 wird wie folgt ergänzt:
„Einrichtungen nach § 36 Absatz 1 Nummer 2 bis 6 des Infektionsschutzgesetzes“
- In § 4 Absatz 2 wird eine neue Nummer für die Gemeinschaftseinrichtungen der Mutter-Vater-Kind-Einrichtungen gemäß § 19 SGB VIII ergänzt:
„Einrichtungen nach § 33 Nummer 4“
§ 4 TestV ist entsprechend zu erweitern, um einen Anspruch für Personengruppen in Testzentren oder bei niedergelassenen Ärzt/innen auf PoC-Antigen-Tests zu schaffen, die besondere Hilfen in Anspruch nehmen müssen (z.B. Zugang zum Frauenhaus, Zugang zu einer stationären Einrichtung der Kinder- und Jugendhilfe, oder bei Inanspruchnahme von Rechten - Umgangsrecht zwischen Kindern im stationären Setting mit ihren Eltern und Familien). Dies muss auch für Mitarbeiter/innen insbesondere im Rahmen ambulanter und aufsuchender Hilfen gelten. Einbezogen werden solle auch die Straßensozialarbeit in ihrer Tätigkeit mit z.B. suchtkranken Menschen.
§ 6 Absatz 1: Einbeziehung der Apotheken in die Durchführung der PoC-Schnelltests
Die BAGFW begrüßt, dass künftig auch die Apotheken PoC-Antigentestungen durchführen können. Die Möglichkeit, dass Besuchende, Mitarbeitende von Pflegeeinrichtungen, Pflegediensten ambulanten Hospizdiensten, nach Landesrecht anerkannten Angeboten nach § 45a SGB XI, Einrichtungen der Eingliederungshilfe oder Frauenhäusern sich in Apotheken testen lassen, entlastet die Einrichtungen und Diensten von den Testpflichten. Wenn Mitarbeitende, Klient/innen und Besuchende von Einrichtungen sich in Apotheken testen lassen können, bedeutet dies gerade für die Einrichtungen, die nicht zum Gesundheitswesen gehören, eine große Unterstützung. Zu begrüßen ist auch, dass auch die Zahnärzte die PoC-Testungen jetzt durchführen können sollen.
§ 6 Absatz 3: PoC-Testkapazitäten für Intensivpflegedienste und andere ambulante (Pflege-)Dienste
Wir begrüßen als sachgerecht, dass die Anzahl der PoC-Testungen für die Intensivpflegedienste von 15 auf 20 Stück pro behandelter, versorgter und betreuter Person erhöht werden.
§ 12 Absatz 2: Ärztliche Schulungen des Personals in nicht-ärztlich geführten Einrichtungen
Die Einrichtungen der Eingliederungshilfe erreichen vermehrt die Problemanzeige, dass Ärzte den Einrichtungen die Schulung in Rechnung stellen müssen, da die nach § 12 Absatz 2 vorzunehmende Schulung nur maximal alle zwei Monate durchgeführt werden muss. Dieser Turnus ist jedoch für die Einrichtungen der Eingliederungshilfe nicht ausreichend, denn die Kurse können nur für max. 13-15 Personen stattfinden. Größere Einrichtungen brauchen also mehrere Schulungen parallel. Sofern sie diese veranlassen, muss der Arzt sie in Rechnung stellen, da er sie nicht über die TestV abrechnen kann. Die Einrichtungen dürfen für ihr verantwortungsbewusstes Verhalten nicht auf diesen Kosten sitzen bleiben.
Änderungsbedarf
In § 12 Absatz 2 Satz 1 werden die Wörter „für eine höchstens alle zwei Monate“ gestrichen.
]]>Behinderungsbegriff – § 7 Abs. 2 SGB VIII RegE
Mit der Einfügung der Legaldefinition des Begriffs der Behinderung, die § 2 Abs. 1 SGB IX entspricht, wird klargestellt, dass in der Kinder- und Jugendhilfe dasselbe Verständnis von Behinderung gilt, das auch dem SGB IX und der UN-Behindertenrechtskonvention zugrunde liegt. Die BAGFW unterstützt diese Klarstellung.
Berufsgeheimnisträger/innen & Kinderschutz – § 8a SGB VIII RegE & § 4 KKG RegE
Die BAGFW begrüßt die im Regierungsentwurf vorgenommene Änderung zur Möglichkeit der Einbeziehung aller in § 4 Abs.1 S.1 KKG genannten Berufsgeheimnisträger/innen. Damit ist die Forderung erfüllt, die Engführung hinsichtlich medizinischer Heilberufe aufzugeben und alle Personen gem. § 4 Abs.1 S.1 KKG – je nach Erforderlichkeit – zu beteiligen. Die BAGFW betont in diesem Zusammenhang abermals, dass sie die vorgesehene Änderung des § 4 KKG hinsichtlich des Verfahrensablaufes entschieden ablehnt, und verweist an dieser Stelle auf ihre Stellungnahme vom 26.10.2020, S.6 f.
Ombudsstellen – § 9a VIII RegE
Die BAGFW unterstützt die Änderungen, die die Regelung über die Ombudsstellen im RegE erfahren hat (zu den Gründen siehe Stellungnahme vom 26.10.2020, S. 7).
Verfahrenslotsen – § 10b VIII RegE
Die BAGFW bedauert, dass die Vorschrift über die Verfahrenslotsen, abgesehen von der Korrektur eines redaktionellen Fehlers in Abs. 2, mit dem RegE keine Änderungen erfahren hat. Sie weist auf die Kritik hin, die in der Stellungnahme vom 26.10.2020 formuliert wurde (S. 11). Familien mit Kindern, die mit einer Behinderung geboren werden oder eine Behinderung erwerben, brauchen dringend Unterstützung, um schnell zu den richtigen Leistungen zu gelangen (Formulierungsvorschlag siehe S. 11 f. der Stellungnahme). Der Verfahrenslotse sollte möglichst schnell eingeführt werden und bei den freien Trägern angesiedelt sein. Ein Vorbild für eine wünschenswerte gesetzliche Regelung findet sich in § 8 Abs. 3 S. 3 SGB VIII RegE (Beratung nach § 8 SGB VIII durch freie Träger).
Inklusive Jugendarbeit – § 11 SGB VIII RegE
Die BAGFW unterstützt die Ergänzung, die mit dem KJSG in § 11 SGB VIII vorgenommen werden soll. Sie befürchtet aber, dass die Vorschrift in der jetzt vorgesehenen Fassung dahingehend verstanden werden kann, dass Ansprüche auf ergänzende individuelle Leistungen der Eingliederungshilfe für die Teilnahme an Angeboten der Jugendarbeit entfallen. Daher wird vorgeschlagen, die Vorschrift um eine entsprechende Klarstellung zu ergänzen (siehe S. 13 der Stellungnahme vom 26.10.2020). Die dort vorgeschlagene Formulierung orientiert sich an § 17 Abs. 4 Satz 2 SGB I-E, der im RegE vom 25.9.2020 für ein Gesetz zur Reform des Vormundschafts- und Betreuungsrechts (BR-Drucks. 564/20, Seite 116) vorgesehen ist.
Betreuung von Kindern in Notsituationen – Streichung von § 20 SGB VIII; § 28a SGB VIII RegE
Die Kritik der BAGFW an der avisierten Streichung von § 20 SGB VIII, verbunden mit der Ersetzung durch § 28a SGB VIII RegE, wurde nicht gehört. Der Regierungsentwurf sieht keine Änderungen vor. Die BAGFW unterstützt die Ziele, die mit der Änderung erreicht werden sollen, ist sich aber mit dem Deutschen Verein (Stellungnahme des DV vom 24.11.2020, Seite 13) und dem Deutschen Sozialgerichtstag (Stellungnahme des DSGT vom 26.10.2020, Seite 3) darin einig, dass die Vorschriften des Entwurfes nicht geeignet sind, diese Ziele zu erreichen (siehe Stellungnahme der BAGFW vom 26.10.2020, Seite 17, dort auch ein Formulierungs-vorschlag, der die Intention des § 28a SGB VIII RegE aufgreift).
Eingliederungshilfe für junge Menschen mit einer seelischen Behinderung –
§ 35a SGB VIII RegE
Mit dem Regierungsentwurf wird eine Änderung in § 35a Abs. 1 S. 2 SGB VIII vorgenommen, die mit § 7 Abs. 2 SGB VIII RegE zusammenhängt. Der Begriff der Behinderung, der § 35a SGB VIII zugrunde liegt, soll damit von dem Behinderungsbegriff aus § 7 Abs. 2 SGB VIII RegE, der mit dem Begriff aus § 2 SGB IX und aus Art. 1 UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) übereinstimmt, abgegrenzt werden
(vgl. a. Begründung der Bundesregierung zum RegE KJSG S. 75, S. 97). Dies lehnt die BAGFW entschieden ab. Der Begriff der Behinderung aus Art. 1 UN-BRK wurde mit guten Gründen in § 2 SGB IX übernommen. Nicht zuletzt kommt Deutschland damit seiner Verpflichtung aus der UN-BRK nach. Es ist unverständlich, warum ausgerechnet für Kinder und Jugendliche mit einer seelischen Behinderung von der völkerrechtlichen Vorgabe zu ihren Ungunsten abgewichen werden sollte. Die BAGFW fordert dringend, die vorgesehene Änderung im Regierungsentwurf in § 35a Abs. 1 S. 2 SGB VIII zu streichen. § 35a Abs.1 SGB VIII muss sich direkt auf den nun in § 7 SGB VIII vorgesehenen Behinderungsbegriff beziehen.
Zuständigkeitsübergänge – § 36b SGB VIII RegE
Mit dem RegE wurde § 36b SGB VIII RefE geändert. Insbesondere wurde die zunächst vorgesehene Verantwortlichkeit des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe für den Übergang der Zuständigkeit gestrichen. Umso mehr greift die Kritik, die die BAGFW in ihrer Stellungnahme vom 26.10.2020 formuliert hat (Seite 23). Weiterhin sieht der Entwurf vor, dass für jeden einzelnen Zuständigkeitsübergang ein öffentlich-rechtlicher Koordinierungsvertrag (Vereinbarung) zwischen dem Jugendamt und dem zuständig werdenden Sozialleistungsträger geschlossen werden soll. Das bedeutet nicht nur einen außerordentlichen Verwaltungsaufwand, sondern es ist auch nicht realistisch. Regelungen, die verhindern sollen, dass ein Zuständigkeitsübergang zu einer Leistungslücke führt, müssen klare Vorgaben für Zuständigkeit enthalten. „Bausteine“ für solche Regelungen finden sich z.B. in § 2 Abs. 3 SGB X und in
§ 15 Abs. 2 und 3 SGB IX.
Leistungen für junge Volljährige – § 41 SGB VIII RegE
Die BAGFW erneuert ihre Kritik an dem defizitorientierten Wortlaut „…solange ihre Persönlichkeitsentwicklung eine …. Lebensführung nicht gewährleistet…“ und weist auf den Vorschlag aus der Stellungnahme vom 26.10.2020 (S. 26 f.) hin, die Anspruchsvoraussetzung „…wenn und solange die Hilfe auf Grund der individuellen Situation des jungen Menschen notwendig ist…“ zu belassen. Außerdem sollte der Rechtsanspruch klarer formuliert werden. Die jetzige Formulierung im RegE in § 41 Abs. 1 S. 1 „erhalten … Hilfe“ sollte durch die Formulierung „haben Anspruch auf …“ ersetzt werden.
Einrichtungsbegriff – § 45a SGB VIII RegE
Durch den Regierungsentwurf angefügt ist mit § 45a Satz 3 SGB VIII RegE ein Landesrechtsvorbehalt hinsichtlich der Voraussetzungen, unter denen familienähnliche Betreuungsformen, welche nicht in eine erlaubnispflichtige Einrichtung eingebunden sind, zu den Einrichtungen nach dieser Norm zu zählen sind. Diesen Landesrechtsvorbehalt lehnt die BAGFW ab, da zu befürchten ist, dass so eine Regelungslücke bei Kleinsteinrichtungen entsteht, und empfiehlt, diesen wieder zu streichen. Vielmehr muss auch in Betreuungsformen, die von erlaubnispflichtigen Einrichtungen unabhängig organisiert sind, das Wohl der Kinder und Jugendlichen lückenlos – und zwar im ganzen Geltungsbereich des SGB VIII – gewährleistet werden. Insbesondere darf keine Lücke zwischen der Erlaubnis zur Vollzeitpflege nach § 44 SGB VIII und der Betriebserlaubnis nach § 45 SGB VIII verbleiben.
Prüfung – § 46 SGB VIII RegE
Zu § 46 stellt die BAGFW klar, dass der Grundsatz einer örtlichen Prüfung nicht aufgegeben werden darf. Die schriftliche Prüfung könnte im Einzelfall hinzutreten, darf aber die örtliche Prüfung nicht ersetzen. Insbesondere geben Prüfungen vor Ort die Möglichkeit der Beratung im Gespräch zwischen Träger und erlaubniserteilender Behörde.
Mitwirkung im familiengerichtlichen Verfahren – § 50 SGB VIII RegE
Hinsichtlich § 50 bekräftigt die BAGFW ihre entschiedene Ablehnung der vorgesehenen Änderungen und verweist nochmals auf die Stellungnahme vom 26.10.2020, S. 30 f. Ergänzend weist sie darauf hin, dass diese Auffassung auch von einer übergroßen Mehrheit der AG Mitreden-Mitgestalten geteilt wurde (Protokoll der Sitzung vom 12.2.2019, Seite 13 unten, 14 oben).
Kostenheranziehung – § 94 Abs. 6 S. 2 SGB VIII RegE
Der Entwurf sieht vor, die Kostenheranziehung für junge Menschen, die selbst für die Kosten einer Maßnahme aufkommen müssen, von 75% auf 25% ihres Einkommens zu senken. Die BAGFW begrüßt diesen Schritt. Doch zugleich soll mit § 94 Abs. 6 S. 2 SGB VIII RegE eine neue Sonderregelung geschaffen werden, nach der stets das Einkommen des Monats, in dem die Maßnahme erbracht wird, zugrunde zu legen ist. Grundsätzlich gilt im Kostenbeitragsrecht der Kinder- und Jugendhilfe, dass das durchschnittliche Monatseinkommen des Vorjahres zugrunde zu legen ist (§ 93 Abs. 4 S. 1 SGB VIII). Das gilt nicht nur für kostenbeitragspflichtige Eltern, sondern genauso für junge Menschen (BVerwG, Urteil vom 11.12.2020, AZ: 5 C 9.19). Nur auf Antrag der kostenbeitragspflichtigen Person wird das durchschnittliche Monatseinkommen des laufenden Jahres herangezogen (§ 93 Abs. 4 S. 2 SGB VIII). Entsprechende Vorschriften über Aktualisierungsanträge finden sich z.B. in § 24 Abs. 3 BAföG oder in § 135 Abs. 2 SGB IX.
Die vorgesehene Sonderregelung in § 94 Abs. 6 S. 2 SGB VIII RegE führt daher trotz der Reduktion des Prozentsatzes von 75% auf 25% in § 94 Abs. 6 S. 1 SGB VIII RegE in vielen Fällen zu einer Erhöhung des Kostenbeitrags! Wenn ein junger Mensch z. B. zum 1. Oktober eine Berufsausbildung aufnimmt und im ersten Ausbildungsjahr 400 € Ausbildungsgeld erhält, fällt nach aktueller Rechtslage im ersten Ausbildungsjahr kein Kostenbeitrag an, im zweiten beträgt der Kostenbeitrag 75% aus 1.200 € (je 400 € für die Monate 10 bis 12 des Vorjahres)/ 12, also 75 € monatlich. Erst im dritten Ausbildungsjahr fällt ein Kostenbeitrag von 300 € monatlich an. Nach der vorgesehenen Regelung soll der Kostenbeitrag in diesem Beispiel von Beginn an 100 € monatlich betragen. Dabei ist zu bedenken, dass die Regelung vor allem für die erste Zeit einer Berufsausbildung relevant ist, weil es häufig während der Ausbildung zu einer Beendigung der Maßnahme kommt.
Dazu kommt, dass die Berücksichtigung des laufenden Einkommens eine prospektive Entscheidung voraussetzt, die immer dann, wenn das Einkommen sich anders als vorhergesehen entwickelt, korrigiert werden muss. Das erfordert entsprechende Korrekturbescheide (kassatorische Entscheidungen nach § 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 SGB X), die mit hohem Verwaltungsaufwand einhergehen. Sie werden oft zu Nachforderungen des Jugendamtes führen. Wenn entsprechende Ansparung nicht vorhanden ist, weil der junge Mensch die Nachforderung nicht einkalkuliert hat, können daraus Schulden erwachsen, die den Übergang in die Erwachsenenphase unnötig belasten (siehe auch Stellungnahme der BAGFW vom 26.10.2020, S. 34).
Übergangsregelung und Gesetzesfolgenabschätzung – § 107 SGB VIII RegE
Grundsätzlich begrüßt die BAGFW den Ansatz der inklusiven Lösung des Entwurfes, will aber darüber hinaus die Verbindlichkeit und die Möglichkeit einer echten Weiterentwicklung der inklusiven Ausgestaltung des SGB VIII gestärkt sehen. Die Übergangsregelung, die im RefE noch als Art. 9 KJSG vorgesehen war, wurde mit dem RegE in einen neuen § 107 SGB VIII verschoben. Unverändert enthält sie eine gesetzliche Festlegung, nach der die inklusive Lösung dem Ziel unterstellt wird, „den leistungsberechtigten Personenkreis, Art und Umfang der Leistungen sowie den Umfang der Kostenbeteiligung für die hierzu Verpflichteten nach dem am 1. Januar 2023 für die Eingliederungshilfe geltenden Recht beizubehalten“ (§ 107 Abs. 2 S. 2 SGB VIII RegE). Unverändert erschließt sich nicht, aus welchen Gründen eine inklusive Lösung angestrebt werden soll, wenn damit bezweckt wird, dass sich in der Praxis hinsichtlich aller relevanten Parameter nichts ändert. Die BAGFW sieht es kritisch, einen politischen Kompromiss zu schließen, von dem bereits jetzt absehbar ist, dass er die Lösung der drängenden Probleme, denen die Reform begegnen soll, durch eine vorzeitige Festschreibung des status quo nachhaltig behindern wird.
]]>Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege bedanken sich für die Möglichkeit einer Stellungnahme zur Schutzmasken-Verordnung. Insgesamt wird vorgeschlagen, die FFP2-Masken nicht an alle Risikogruppen der Gesamtbevölkerung kostenfrei bzw. unter einer Eigenbeteiligung von 2 Euro abzugeben, sondern die Abgabe auf die Bevölkerungsgruppen zu beschränken, die sich die vergleichsweise teuren und gut schützenden FFP2-Masken nicht leisten können. Damit die Masken auch die vulnerabelsten Personengruppen wie obdachlose und wohnungslose Menschen, Menschen mit tatsächlichem Aufenthalt in der Bundesrepublik und Menschen in aufenthaltsrechtlicher Illegalität erreichen, sind unbürokratische Wege zu finden. Die genannten Personengruppen sind oftmals nicht versichert und können somit von den Krankenkassen auch nicht den erforderlichen Berechtigungscoupon erhalten. Daher ist es am sinnvollsten, die Masken über die Einrichtungen und Dienste, die sie betreuen und versorgen, zu verteilen.
Wir weisen darauf hin, dass eine Pauschale von 6 Euro die gegenwärtigen „Marktpreise“ der FFP2-Masken zum Teil noch übersteigt, sodass diese Pauschale die Preisspirale für FFP2-Masken noch weiter nach oben treibt; dieser Effekt kann politisch nicht gewollt sein. Insgesamt entstehen dem Bund und damit dem Steuerzahler durch eine Abgabe von Schutzmasken auch an Bevölkerungsgruppen, die sich die Schutzmasken aus eigenem Einkommen problemlos kaufen können, zusätzliche Kosten von 2,5 Mrd. Euro. Dies ist vor dem Hintergrund der hohen Lasten, die die Bürgerinnen und Bürger für die Bewältigung der Pandemie tragen müssen, nicht akzeptabel.
Zu den Einzelregelungen nehmen wir wie folgt Stellung:
§ 1 Anspruchsberechtigter Personenkreis
Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege begrüßen, dass Versicherte der gesetzlichen Krankenversicherung und auch Nichtversicherte der Personenkreise gemäß den Nummern 1 und 2 des Absatzes 1 Anspruch auf Schutzmasken haben, wenn sie ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben. Einbezogen werden müssen aus Sicht der Freien Wohlfahrtspflege aber auch Personen, die ihren tatsächlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben sowie Personen in aufenthaltsrechtlicher Illegalität.
Der Gemeinsame Bundesausschuss hat in seiner Stellungnahme zur Definition von Risikogruppen für eine Abgabe von FFP2-Masken ausdrücklich die obdachlosen Menschen als Risikogruppe benannt. Diese sollten auf jeden Fall unabhängig von der Altersgrenze oder unabhängig von einer der in Nummer 2 vorliegenden konkreten schwerwiegenden Vorerkrankungen zum Kreis der Schutzmasken-Berechtigten zählen. Zum einen ist es bei Menschen, die wohnungslos sind, schwer, die zur Abgabe von FFP2-Masken berechtigenden Erkrankungen zu erfassen, weil sie i.d.R. Arztpraxen nicht aufsuchen; zum anderen kann sich gerade diese Personengruppe die Eigenbeteiligung von 2 Euro für die Schutzmasken finanziell nicht leisten.
Wir begrüßen, dass nach Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 alle Personen über 60 Jahren grundsätzlich Anspruch auf Schutzmasken haben. Die in Absatz 1 Satz 1 Nummer 2 genannten Erkrankungen entsprechen weitestgehend der Auflistung der Erkrankungen, die sowohl der GBA als auch die STIKO als Risikofaktoren für einen schweren oder tödlichen Verlauf von SARS-CoV-2 benannt hat.
- Gemäß deren Empfehlungen sollte in der Auflistung die Demenz ergänzt werden, da sie auch Patient/innen unterhalb von 60 Jahren betreffen kann.
- Studien, die vom GBA und der STIKO zitiert sind, haben erwiesen, dass die Trisomie 21 ebenfalls zu den Risikofaktoren zählt.
- Bei der Herzinsuffizienz sollte neben dem chronischen Zustand auch die akute Herzinsuffizienz sowie Vorhoffflimmern, Koronare Herzerkrankungen (KHK) und arterielle Hypertonie erfasst werden.
- Auch wenn die Adipositas häufig mit anderen in den Nummern 2 genannten Komorbiditäten korreliert, sollte sie gesondert von der Liste erfasst sein.
- Da auch Menschen mit Immundefizienzen oder Autoimmunerkrankungen in ähnlicher Weise wie Krebspatient/innen ein geschwächtes Immunsystem aufweisen und somit einem hohen Risiko für schwere Krankheitsverläufe unterliegen, sollten diese Erkrankungen ebenfalls in die Auflistung aufgenommen werden. Das gilt auch für Menschen mit seltenen Erkrankungen.
- Wie vom GBA vorgeschlagen, sollten auch Menschen mit chronischen Lebererkrankungen in den Kreis der Berechtigten aufgenommen werden.
Änderungsbedarf
Um Personen mit tatsächlichem Aufenthalt sowie in aufenthaltsrechtlicher Illegalität vom Rechtsanspruch zu umfassen, werden in Absatz 1 Satz 1 sowie in Absatz 3 Satz 1 nach dem Wort „gewöhnlichen“ jeweils die Wörter „oder tatsächlichen“ eingefügt. Ergänzt wird folgender Satz: „§ 87 AufenthG findet keine Anwendung.“
Ergänzung der Auflistung der Erkrankungen in § 1 Absatz 1 Nummer 2 entsprechend der oben genannten Spiegelstriche.
§§ 2 und 3 Inhalt des Anspruchs und Informationen über die Anspruchsberechtigung
Die §§ 2 und 3 werden wegen ihres Sachzusammenhangs hier gemeinsam kommentiert. Es ist zu begrüßen, dass die ersten drei der insgesamt 15 FFP2-Schutzmasken für den noch verbleibenden Zeitraum bis Ende des Jahres 2020 unbürokratisch abgegeben werden sollen. Um den vulnerablen Gruppen die Abgabe der Schutzmasken in den Apotheken zu erleichtern, sollten jedoch die weiteren 12 FFP2-Masken für den Zeitraum vom 1. Januar bis 15. April nicht in zwei Chargen, sondern in einem Schritt zur Verfügung gestellt werden. Das minimiert auch das Ansteckungsrisiko in den Apotheken und erspart auch den Krankenkassen und Krankenversicherungsunternehmen die zweimalige Ausstellung der Berechtigungsbescheinigung (§ 3 Absatz 1) und reduziert damit unnötigen bürokratischen Aufwand. Da § 3 Absatz 4 den Krankenkassen aufgibt, die anspruchsberechtigten Versicherten gestaffelt nach 3 Altersgruppen (75plus, 70plus, 60plus) zu informieren, würde auch der Aufwand für die erneute Prüfung des Alters entfallen, das sich zwischen der ersten und zweiten Phase der Maskenabgabe verändert haben kann.
Wir weisen zudem darauf hin, dass die Verordnung offenlässt, an welcher Stelle der Reihenfolge die Versicherten mit den in § 1 Absatz 1 Satz 1 Nummer 2 genannten Erkrankungen im Verhältnis zu den Staffelungen nach Altersgruppen von der Krankenkasse benachrichtigt werden sollen.
Menschen, die wohnungslos sind, einen tatsächlichen Aufenthaltsort in Deutschland haben oder in aufenthaltsrechtlicher Illegalität leben, erhalten i.d.R. keine Informationen von Krankenkassen, entweder weil sie nicht versichert sind oder weil sie keine feste Adresse haben, unter der sie die Information postalisch erreichen können. Die Verordnung sieht in § 1 ausdrücklich auch vor, dass Nichtversicherte die Masken erhalten können, zeigt jedoch kein Verfahren auf, wie diese über ihre Ansprüche informiert werden. Hier sollte ein unbürokratischer Weg beschritten werden, indem den Einrichtungen und Diensten, die diese Menschen versorgen und betreuen, die entsprechende Anzahl von FFP2-Masken in den Apotheken ausgehändigt wird.
§ 5 Erstattungspreis für die Schutzmasken
Die Apotheken erhalten für die Abgabe der Schutzmasken eine Pauschale von 6 Euro pro Schutzmaske, einschließlich Umsatzsteuer. Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege merken generell an, dass die FFP2-Masken auch 9 Monate nach Beginn der Pandemie nach wie vor weitaus überteuert sind. Wenn die Apotheke 6 Euro gemäß § 6 Absatz 1 pro Schutzmaske erhält und 23,7 Mio. Bundesbürger/innen (GBA-Schätzung, die auch dieser Verordnung zugrunde gelegt wird) - mithin mehr als ein Viertel der Bevölkerung - anspruchsberechtigt sind, wird dies nicht zu dem überfälligen Absenken der Marktpreise führen, sondern die Preisspirale noch weiter ankurbeln; dieser Effekt kann im Interesse der Solidargemeinschaft nicht gewollt sein.
§ 6 Eigenbeteiligung der Anspruchsberechtigten
Für Mittelschichtangehörige stellen 2 Euro Zuzahlung kein Problem dar. Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege bewerten die vorliegende Verordnung jedoch aus Sicht der Menschen mit geringem Einkommen und für Transferleistungs-empfänger. Menschen mit höherem Einkommen können und werden sich die FFP2-Masken weiterhin leisten, auch über die vorgesehene Abgabemenge von 15 Masken hinaus. Unter Verteilungsgesichtspunkten setzen wir uns vehement dafür ein, die FFP2-Masken nur Geringverdienern zur Verfügung zu stellen, die zu den in § 1 Absatz 1 Nummern 1 und 2 genannten Personengruppen gehören. Dieser Personenkreis lässt sich leicht ermitteln, da den Krankenversicherungen für die Beitragsabführung die Einkommensdaten zur Verfügung stehen. Angesichts des erheblichen Einsparpotenzials könnte dann auch die Zuzahlung in Höhe von 2 Euro entfallen.
Die Ausführungen dieser Verordnung zu den Haushaltsausgaben weisen aus, dass dem Bund nach den vorgeschlagenen Regelungen Kosten in Höhe von 2,5 Mrd. entstehen würden. Diese werden in der Verordnung gegengerechnet durch das Einsparvolumen für besonders schwere Krankheitsverläufe und Krankenhaus-einweisungen. Da sich die einkommensstärkeren Gruppen die FFP2-Masken jedoch auch ohne Abgabe gegen eine geringe Eigenbeteiligung kaufen und auch in der Zukunft kaufen werden, tritt dieser Effekt der Kostengegenrechnung vermutlich nicht ein. Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege setzen sich auch vor dem Hintergrund der zusätzlichen Ausgaben und steuerlichen Belastungen daher dafür ein, die Abgabe von FFP2-Masken auf die wirklich bedürftigen Bevölkerungsgruppen zu begrenzen.
Sollte der Verordnungsgeber diesem Vorschlag nicht folgen, ist zumindest sicherzustellen, dass die 2 Euro Eigenbeteiligung auf die Belastungsgrenze nach § 62 SGB V angerechnet wird.
]]>Gerade die Corona-Pandemie zeigt, wie wichtig es ist, dass in allen EU-Mitgliedstaaten wirksame, verlässliche, bezahlbare und allgemein zugängliche Sozial- und Gesundheitsdienstleistungen zur Verfügung stehen.
Die BAGFW fordert die Setzung sozialer Ziele in einer europäischen Gesamtstrategie ab 2021 als Nachfolge der EU 2020- Strategie und eine praxisgerechte EU-Strukturförderung zur Stärkung des sozialen Zusammenhalts. Zur Erreichung einer sozialen Aufwärtskonvergenz auf hohem Niveau unterstützt die BAGFW die weitere Umsetzung der Europäischen Säule sozialer Rechte (ESSR) auf EU-Ebene und in den Mitgliedstaaten.
Dabei sollen nationale, regionale und lokale Interessen, sowie die Interessen Vulnerabler und Benachteiligter und der Zivilgesellschaft im europäischen Willensbildungsprozess breit eingebunden werden.
]]>Die Zahl der Internetnutzerinnen und Internetnutzer nimmt in allen Altersgruppen jährlich zu und die Anwendung digitaler Technik ist aus fast allen Lebensbereichen nicht mehr wegzudenken.
]]>Handlungsbedarf
Die Pandemie zeigt, dass das Risiko infiziert zu werden in Abhängigkeit von der sozialen Lage ungleich verteilt ist. Beschäftigte, die im Dienstleistungsbereich, meist mit einem niedrigen Einkommen, arbeiten, haben im Arbeitsalltag in der Regel keine Möglichkeit eine Kontaktvermeidung zu erleben, wie sie das Home-Office ermöglicht. Die Pandemie benachteiligt ganz besonders Menschen in Armutslagen. Die Anschaffung von wirksam schützenden Atemschutzmasken können aus den Regelsätzen nur schwer finanziert werden. Viele Menschen sind besonders von diesen zusätzlichen Ausgaben betroffen. Menschen mit Behinderungen, psychischen Erkrankungen und ältere Menschen, die alleine, mit ihrer Familie und in Einrichtungen wohnen sind auf besondere Art und Weise auf die Solidarität und die Einhaltung der Präventionsmaßnahmen ihrer Mitmenschen angewiesen. Gleichzeitig gilt es, die Belange und Informations- sowie Interaktionsbedarfe dieser vulnerablen Zielgruppe gesondert in den Blick zu nehmen. Des Weiteren gilt es den Personenkreis, der sog. „Corona-Leugner“ und ihre – zumeist digitalen - Informationsquellen gezielt durch Informationen und Beratungsangebote in den Blick zu nehmen. Falschmeldungen und die Verbreitung von fehlerhaften Informationen über soziale Netzwerke sind eine Gefahr für die Allgemeinheit und gezielt anzugehen.
Während das Bundesgesundheitsministerium seine Ausgaben zur Öffentlichkeitsarbeit um das 30-fache gesteigert hat[1], sind die Möglichkeiten durch Kampagnen und Risikokommunikation Verhaltensprävention mit Blick auf benachteiligte Gruppen zu betreiben, nicht ausreichend genutzt worden. Insbesondere Menschen mit Behinderungen, die auf Leichte Sprache, einfache Sprache oder Gebärdensprache angewiesen sind und Menschen mit geringen Lese-Rechtschreib- und/oder Deutschkenntnissen, waren lange von allgemeinen, und sind teilweise immer noch von tagesaktuellen, Informationen und Handlungsempfehlungen abgeschnitten. Zielgruppenspezifische, einfache und verständliche Informationen und die Beachtung von Barrierefreiheit sind Grundlagen für besser wirksame Präventionspolitik. Gleichzeitig zeichnet sich ab, dass auf kommunaler Ebene zahlreiche Beratungsangebote, die zentral sind, um vulnerable Gruppen zu erreichen, auf Grund des Rückgangs von Gewerbesteuereinnahmen, bedroht sind.
Oberstes Ziel
Solange kein Impfstoff und/oder eine wirksame medizinisch-therapeutische Behandlung zur Verfügung stehen, sind nicht-medizinische präventive Maßnahmen das wirksamste Mittel zur Eindämmung der SARS-CoV-2-Pandemie. Erforderlich ist ein aufeinander abgestimmtes Zusammenspiel aus Verhaltensprävention (Masken, Abstandsregeln, Hustenetikette) und Verhältnisprävention (Kontaktbeschränkungen, Anzahl von Personen in Geschäften, etc.). Verhaltensänderungen sind keineswegs zeitlich stabil. Dies konnte man auch diesen Sommer in der
Bundesrepublik beobachten. Es braucht daher den politischen Willen, die Chancen von Prävention verstärkt in den Blick zu nehmen und Maßnahmen zu ergreifen, die dezentrale und partizipative Formen der Risikokommunikation ermöglichen. Letzten Endes kommt es nicht allein darauf an, wieviel Geld für Kampagnen ausgegeben wird.
Der Erfolg von Kampagnen muss sich daran messen lassen, ob die Botschaften wirklich vermittelt wurden, ob es partizipative, zielgruppenspezifische und lernende Kampagnen sind und wer letzten Endes erreicht wurde.
Hierbei gilt es wichtige Anlaufstelle für besonders gefährdete Gruppen verstärkt in den Blick zu nehmen. Dies sind sehr oft Angebote und Dienstleistungen der Freien Wohlfahrtspflege.
Die Freie Wohlfahrtspflege fordert daher die Bundesregierung, die Landesregierungen und die Kommunen dazu auf:
- Kampagnen zu ermöglichen, die auf die Kommunikationsbedürfnisse vulnerabler Gruppen abgestimmt sind, um diese wirklich zu erreichen. Hierbei gilt es Dienste und Einrichtungen der Freien Wohlfahrtspflege in besonderem Maße miteinzubeziehen.
- Eine partizipative und dezentrale Risikokommunikation zu stärken.
- Ein gezieltes Vorgehen gegen digital verbreitete Falschmeldungen zu ergreifen.
- Sich für die Erhaltung von bestehenden Beratungsstrukturen einzusetzen.
- Eine langfristige Lösung des Finanzierungsproblems im Öffentlichen Gesundheitsdienst zu finden.
- Testungen noch besser als Präventionsmittel zu nutzen. Hierbei sind insbesondere auch Regelungen für eine Priorisierung von Testungen für besonders betroffene Risikogruppen erforderlich.
- Eine Rücknahme der Regelung des Zweiten Bevölkerungsschutzgesetzes, welches die Gesetzlichen Krankenkassen davon befreit hat, im Jahr 2020 einen definierten Betrag für Präventionsmaßnahmen zu verwenden.
- Die Landesrahmenverträge gemäß § 20f SGB V sind, um Präventivmaßnahmen im Kontext der Pandemie zu ergänzen und die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege als Vertragspartner mit einzubeziehen.
Bekenntnis zum Miteinander
Wir sollten aus den Erfahrungen der Aids-Prävention lernen. Das bedeutet, dass mit den betroffenen Personen zusammen überlegt werden muss, nicht ohne sie und gegen sie, wie Infektionsschutz zu gestalten ist. Die Botschaften müssen die Sprache der Betroffenen sprechen, Personen, die sie anerkennen müssen, gehören miteinbezogen, die Praktikabilität muss überzeugen.
Fazit
Die Prävention muss deutlich stärker auf die unterschiedlichen Bedarfe der Bevölkerungsgruppen ausgerichtet werden; in der Praxis sind die Betroffenen miteinzubeziehen. Der Zugang von Einrichtungen der Freien Wohlfahrtspflege ist zu nutzen und die bestehenden Beratungsangebote sind unbedingt zu sichern. Es ist gezielt gegen Falschinformationen, vor allem im Internet, vorzugehen. Gleichzeitig ist der Öffentliche Gesundheitsdienst weiter zu stärken.[i]
[1]Vgl. Müller, M: Spahn verdreißigfacht Werbeausgaben, in Der Spiegel, 17.07.2020, [online]
https://www.spiegel.de/wirtschaft/spahn-verdreissigfacht-werbeausgaben
Die Erstellung des Positionspapiers Präventionsmaßnahmen sind aktuell unser bester Infektionsschutz – Die Freien Wohlfahrtspflege fordert eine partizipative und zielgerichtete Präventionspolitik erfolgte auf Initiative von Prof. Dr. Rolf Rosenbrock, Wirtschafts-, Sozial- und Gesundheitswissenschaftler, seit 2012 ehrenamtlicher Vorsitzender des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes – Gesamtverband.
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Unterstützt wurde er von Rebecca Sunnus, Leiterin der EU-Vertretung der BAGFW, die als Sachverständige an der Stellungnahme mitgewirkt hat.
]]>§ 114 Absatz 2 Satz 2 Qualitätsprüfungen
Mit dem Änderungsantrag werden die Qualitätsprüfungen, die pandemiebedingt ausgesetzt wurden, ab dem 1. Oktober 2020 wieder aufgenommen. Die Qualitätsprüfungen durch den MDK und den PKV-Prüfdienst waren vorläufig bis Ende September ausgesetzt worden, um das Infektionsrisiko für die Prüferinnen und Prüfer sowie für die besonders vulnerable Personengruppe der pflegebedürftigen Menschen zu vermindern.
Aus unserer Sicht ist es deshalb zwingend erforderlich, dass die Wiederaufnahme der Qualitätsprüfungen nicht voraussetzungslos erfolgt, sondern erst nach Klärung aller erforderlichen Schutzmaßnahmen. Dazu gehören aus unserer Sicht:
- Beim MDK und beim PKV-Prüfdienst muss ein einheitliches Schutzkonzept für die Prüfungen vor Ort vorhanden sein, das die Besonderheiten des jeweiligen Versorgungssettings berücksichtigt. Wir schlagen zudem vor, Vertreter/innen der Einrichtungen und Dienste und/oder der Spitzenverbände an der Erstellung dieses Schutzkonzeptes zu beteiligen.
- Die Prüfer/innen müssen vor Wiederaufnahme der Prüfungen in der Umsetzung des Schutzkonzeptes geschult werden.
- Zwingend erforderlich wäre es darüber hinaus, das Schutzkonzept zunächst in ausgewählten Einrichtungen oder Diensten zu erproben und dann ggf. anzupassen.
- Prüfer/innen sollten regelmäßig getestet werden, um das Risiko der Einbringung insgesamt zu verringern.
- Den Prüfer/innen des MDK und des PKV-Prüfdienstes muss das Schutzkonzept der zu prüfenden Einrichtung/des Dienstes vor Beginn der Prüfung bekannt sein. Ebenso ist das Schutzkonzept des MDK bzw. des PKV-Prüfdienstes den Einrichtungen/Diensten rechtzeitig bekanntzugeben.
- Des Weiteren ist zu prüfen, ob die Ankündigungsfristen ausreichend sind und nicht erweitert werden müssten, angesichts der Schutzkonzepte, die aufeinander abgestimmt werden müssen und die auch neue Anforderungen stellen.
- Ein akutes oder erst kürzlich vorliegendes Infektionsgeschehen in den Einrichtungen ist im Zusammenhang mit den Prüfungen unbedingt zu berücksichtigen und sollte eine Verschiebung der Regelprüfung zur Folge haben. Auch dafür ist ein Austausch der Prüfer/innen des MDK und des PKV-Prüfdienstes mit den Einrichtungen und Diensten vor Durchführung der Prüfung notwendig.
- Auch eine vorliegende Anzeige nach § 150 Abs. 1 SGB XI sollte eine Verschiebung der Regelprüfung zur Folge haben.
Da die Pandemie noch anhält und schon gegenwärtig steigende Infektionszahlen zu verzeichnen sind, ist es sachgerecht, den Zeitraum für die Prüfung aller zugelassenen Pflegeeinrichtungen von 1 Jahr auf 15 Monate zu erhöhen, wie im Änderungsantrag vorgesehen.
Des Weiteren sollte bei einer Veröffentlichung der Prüfergebnisse berücksichtigt werden, dass die Vergleichbarkeit der Ergebnisse unter den gegebenen Umständen der Pandemie nicht gegeben ist.
§ 147 Absatz 1 Begutachtungen
Die BAGFW lehnt den Änderungsantrag ab. Das Aussetzen der persönlichen Begutachtung in der ersten Phase der Pandemie war sachgerecht in einer Phase, als Schutzausrüstung weder für den Medizinischen Dienst noch für die zu begutachtenden Menschen ausreichend zur Verfügung stand. Diese Gefährdungslage ist jetzt jedoch im Unterschied zum Frühjahr grundsätzlich anders zu beurteilen. Den Verbänden der Freien Wohlfahrtspflege liegen aus der Pflegeberatung und anderen Beratungsstellen eine Reihe von Berichten vor, wonach die Erstbegutachtung auf der Grundlage strukturierter telefonischer Interviews zu nicht sachgerechten Einstufungen geführt hat. Daher sollten die Begutachtungen nach dem 30. September grundsätzlich wieder persönlich stattfinden. Eine telefonische Begutachtung sollte nur stattfinden, sofern ein erhöhtes Infektionsrisiko besteht, z.B. in Regionen mit erhöhtem Ausbruchsgeschehen (Hotspots).
Gleichzeitig muss gewährleistet sein, dass die Versicherten und deren An- und Zugehörige bei der Begutachtung ebenfalls mit entsprechender Schutzausrüstung ausgestattet werden. Die Kosten für die Schutzausrüstung und die Schutz- und Hygienevorkehrungen für den/die Gutachter/in und den/die Versicherten und die in seinem Wohnbereich bei der Begutachtung begleitenden und anwesenden Personen sind durch den MD zu tragen.
Änderungsbedarf:
§ 147 Absatz 1 wird wie folgt formuliert:
„Abweichend von § 18 Absatz 2 Satz 1 kann die Begutachtung bis einschließlich 31. März ohne Untersuchung des Versicherten in seinem Wohnbereich nur erfolgen, sofern dies zur Verhinderung des Risikos einer Ansteckung des Versicherten oder des Gutachters mit dem Coronavirus SARS-CoV.2 zwingend erforderlich ist. Grundlage für die Begutachtung bilden in diesem Ausnahmefall bis zu diesem Zeitpunkt insbesondere die zum Versicherten zur Verfügung stehenden Unterlagen sowie die Angaben und Auskünfte, die beim Versicherten, seinen Angehörigen und sonstigen zur Auskunft fähigen Personen einzuholen sind. Der Medizinische Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen entwickelt im Benehmen mit dem Spitzenverband Bund der Pflegekassen spätestens bis zum 31. Oktober 2020 bundesweit einheitliche Maßgaben dafür, unter welchen Schutz- und Hygieneanforderungen persönliche Begutachtungen stattfinden und in welchen Fällen, insbesondere bei welchen Personengruppen, eine Begutachtung ohne Untersuchung des Versicherten zwingend erforderlich ist“.
§ 147 Absatz 2 Wiederholungsbegutachtungen
Die weitere Aussetzung von Wiederholungsbegutachtungen wird von der BAGFW scharf kritisiert. Abgelehnt wird insbesondere auch die Begründung, dass Wiederholungsbegutachtungen zur Vermeidung personeller Engpässe bei den Medizinischen Diensten und zur Ermöglichung des Einsatzes von medizinischem oder ärztlichem Personal des MD in Gesundheitsämtern, Krankenhäusern und anderen Einrichtungen des Gesundheitswesens weiterhin nicht stattfinden sollen. Wiederholungsprüfungen sind ein wesentlicher Rechtsanspruch der Versicherten bei notwendigen Höherstufungen, wenn sich der Pflegebedarf verändert hat oder wenn der Versicherte Einspruch gegen die erfolgte Pflegegrad-Einstufung oder gegen die Ablehnung seines Antrags eingelegt hat. Wiederholungsprüfungen sind unter Einhaltung des in § 147 Absatz 1 formulierten Konzepts für Schutz- und Hygienemaß-nahmen somit unverzüglich wieder durchführen.
Änderungsbedarf:
Streichung des § 147 Absatz 2.
§ 150 Absatz 5d i.V. mit § 150b neu Pflegeunterstützungsgeld
Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege unterstützen nachdrücklich die Streichung der Anrechnung der bis zu 10 regulären Arbeitstage, für die Pflegeunterstützungsgeld bereits in Anspruch genommen wurde. Der coronabedingte Anspruch auf bis zu 20 Tage Pflegeunterstützungsgeld steht pflegebedürftigen Angehörigen somit unabhängig davon zu, ob sie vor dem 23. Mai 2020 bereits für Arbeitstage Pflegeunterstützungsgeld beantragt haben oder nicht. Dies ist sachgerecht, denn auch pflegende Angehörige, die aufgrund einer akut auftretenden Pflegesituation bereits für Arbeitstage Pflegeunterstützungsgeld in Anspruch nehmen mussten, können in der Pandemie in Pflegesituationen kommen, in denen sie ihre Erwerbstätigkeit für die Pflege von Angehörigen unterbrechen müssen, z.B. wenn die Tagespflege pandemiebedingt im Moment nicht zur Verfügung steht.
Ergänzender Hinweis zu § 149: Einrichtungen zur Inanspruchnahme von Kurzzeitpflege und anderweitige vollstationäre pflegerische Versorgung
Die BAGFW setzt sich für eine Weitergeltung der Möglichkeit, Kurzzeitpflege oder anderweitige vollstationäre pflegerische Versorgung in Einrichtungen zur medizinischen Vorsorge und Rehabilitation erbringen zu können, ein. Auch wenn von dieser Regelung bisher wenig Gebrauch gemacht wurde, sollte sie als Instrument zur Sicherstellung der Versorgung in der zu erwartenden Pandemiewelle im Herbst/Winter 2020 weiterhin nutzbar sein.
]]>Die BAGFW bedankt sich für die Einladung in die Anhörung zum Krankenhauszukunftsgesetz. Die Verbände nehmen hier ausschließlich zu den Gesetzesregelungen des SGB XI sowie des Pflegezeit- und Familienpflegezeitgesetzes Stellung.
Die BAGFW begrüßt nachdrücklich, dass die Schutzschirmregelungen des § 150 SGB XI vom 30. September bis zum 31. Dezember 2020 verlängert werden. Die in der BAGFW zusammengeschlossenen Verbände hatten sich für eine solche Verlängerung eingesetzt. Perspektivisch bitten wir darum, auch eine Verlängerung über den 31. Dezember 2020 hinaus in den Blick zu nehmen, da angesichts steigender Infektionszahlen im Sommer und einer zu erwartenden weiteren Zunahme des Infektionsgeschehens im Herbst und Winter weiterhin mit Mehraufwendungen und Mindereinnahmen bei den Pflegeeinrichtungen zu rechnen ist.
Die BAGFW setzt sich des Weiteren dafür ein, dass das Pflegeunterstützungsgeld, das pandemiebedingt im Zeitraum vom 23. Mai bis 31. Dezember 2020 für bis zu 20 Tage in Anspruch genommen werden kann, nicht auf bereits im Rahmen des regulär für bis zu 10 Tage in Anspruch genommenen Pflegeunterstützungsgelds angerechnet wird. Auch Angehörige, die schon länger pflegen und ihren Anspruch auf Pflegeunterstützungsgeld bei der damals akut aufgetretenen Pflegesituation in Anspruch genommen haben, können in die Situation kommen, pandemiebedingt nicht auf regulär bestehende Entlastungsangebote zurückgreifen zu können, z.B. wenn Tagespflegen schließen müssen oder ihr Angebot wegen des Abstandsgebots einschränken müssen.
Nachdrücklich begrüßt wird von der BAGFW, dass Familienpflegezeit und Pflegezeit während der Pandemie jetzt flexibel kombinierbar sind. Die BAGFW setzt sich dafür ein, diese Regelungen auch nach der Pandemie zu verstetigen, sofern der Gesetzgeber sich nicht dazu entschließt, die komplexen und für Verbraucher/innen wenig übersichtlichen Regelungen des Pflegezeit- und Familienpflegezeitgesetzes aufzuheben und in ein einheitliches Gesetz zu überführen.
- Zu den Regelungen im Einzelnen
Artikel 5: Änderung des Elften Buches Sozialgesetzbuch
§ 150 Absatz 5a und Absatz 6: Verlängerung der Kostenerstattung von Mehraufwendungen und Mindereinnahmen für zugelassene Pflegeeinrichtungen und nach Landesrecht anerkannte Angebote zur Unterstützung im Alltag nach § 45a SGB XI: Verlängerung des Schutzschirms über den 30.9.2020 hinaus
Der Schutzschirm des § 150 Absätze 2 und 3 für zugelassene Pflegeeinrichtungen hat sich in der bisherigen Pandemie sehr bewährt. Analoges gilt auch für den Schutzschirm nach § 150 Absatz 5a SGB XI für die nach Landesrecht anerkannten Unterstützungsangebote im Alltag nach § 45a SGB XI. Der gegenwärtige Anstieg der Infektionszahlen zeigt, dass die Krise noch nicht vorüber ist. Es ist zu befürchten, dass das Infektionsgeschehen ab Herbst auch wieder in den Pflege- und Gesundheitseinrichtungen zunimmt. Insbesondere vulnerable Patientinnen und Patienten, wie chronisch kranke und pflegebedürftige Menschen und ihre Angehörigen müssen weiterhin vor einer Ansteckung mit COVID-19 geschützt werden. Gleichzeitig muss eine kontinuierliche gesundheitliche Versorgung auch in dieser Zeit sichergestellt werden. Die Studie aus Bremen (: https://www.uni-bremen.de/fb11/corona-update-fb11/zur-situation-der-langzeitpflege-in-deutschland-waehrend-der-corona-pandemie) hat gezeigt, dass pflegebedürftige Menschen ein besonders hohes Risiko schwerer Krankheitsverläufe aufweisen und dass 60 Prozent aller durch COVID-19 verursachten Todesfälle Menschen betreffen, die in stationären Pflegeeinrichtungen leben oder von Pflegediensten versorgt werden. Diese Risiken gilt es, wo auch immer möglich, zu minimieren. Dies bedeutet, dass Pflegeeinrichtungen und Pflegedienste mindestens bis zur Entwicklung eines Impfstoffes mit SARS-COV- 2 bezogenen Schutz- und Hygienekonzepten für die pflegebedürftigen Menschen und ihre Angehörigen, aber auch für die Mitarbeitenden arbeiten müssen.
Die Regelungen des § 150 SGB XI sind gegenwärtig bis zum 30.09.2020 befristet. Die BAGFW begrüßt nachdrücklich, dass die Schutzschirmregelungen für die zugelassenen Pflegeeinrichtungen nach § 150 Absätze 1 bis 4 SGB XI sowie für die nach Landesrecht anerkannten Angebote zur Unterstützung im Alltag gemäß § 45a Absatz 3 SGB XI nun um 3 Monate verlängert werden. Die Verbände bitten schon heute eine weitere Verlängerung des Schutzschirms in den Blick zu nehmen, da angesichts steigender Infektionszahlen im Sommer und im Herbst die pandemische Lage und ihre Folgen für die Einrichtungen und Dienste fortbestehen werden.
Für uns zeichnet sich gegenwärtig folgendes Bild der Mindereinnahmen und Mehraufwendungen für die Zeit nach dem 30.09.2020 ab:
Mindereinnahmen
Die teilstationären Pflegeeinrichtungen haben in allen Bundesländern (abgesehen von Hamburg) einen gesicherten/eingeschränkten Betrieb jenseits der Notversorgung wieder aufgenommen. Hier werden neben den allgemeinen Abstands- und Hygieneregelungen in verschiedenen Bundesländern auch Anforderungen im Hinblick auf feste Gruppen von Tagespflegegästen und voneinander unabhängige Personalteams gestellt; damit soll das Infektionsrisiko soweit möglich begrenzt bleiben und bei Nachweis von SARS-CoV-2 nur eine kleine Gruppe von Personen als Kontaktpersonen im Sinne des Infektionsschutzgesetzes entstehen. Dies gilt auch für den Fahrdienst. Es ist davon auszugehen, dass die Tagespflegeeinrichtungen abhängig von der räumlichen und regionalen Situation sowie den Rechtsverordnungen der Länder und der örtlichen Gesundheitsbehörden auch bei einem relativ stabilen Infektionsgeschehen zwischen 50 % und 70 % der vereinbarten Auslastung haben werden. Darüber hinaus zeichnet sich ab, dass außerordentliche Corona-bedingte Mindereinnahmen aufgrund von höheren Ausfallzeiten/Quarantänezeiten von einzelnen Tagespflegegästen sowie aufgrund von vorübergehenden Schließungen im Einzelfall durch die örtlichen Gesundheitsbehörden entstehen werden.
Die vollstationären Pflegeeinrichtungen werden weiterhin außerordentliche Corona bedingte Mindereinnahmen verzeichnen, z. B. wenn Doppelzimmer aufgrund von Quarantäneregelungen oder Kohortenisolierung nicht belegt werden können.
Zusätzlich können außerordentliche Corona-bedingte Mindereinnahmen auch in der ambulanten Pflege und in den stationären Hospizen in Hotspotregionen anfallen.
Mehraufwendungen
In allen Bereichen der Pflege und des Gesundheitswesens (ambulante, teilstationäre und vollstationäre Pflegeeinrichtungen sowie nach Landesrecht anerkannte Angebote nach § 45a SGB XI) entstehen auch über den 30. September hinaus außerordentliche Corona-bedingte Mehraufwendungen für Schutz- und Hygienematerialien und entsprechende Maßnahmen. Hierzu zählen insbesondere
- Schutzmaßnahmen: Schutzmasken (insbesondere Mund-Nasenschutz, FFP 2 Masken), Schutzkleidung, Schutzbrille, Einmalhandschuhe, Aufbewahrung und Reinigung von Arbeitsbekleidung und persönlicher Schutzausrüstung (PSA) (Sachkosten sowie Zeitaufwand für An- und Ablegen ggf. auch für Wiederaufbereitung, Anleitung und Aufklärung)
- Desinfektions- und Reinigungsaufwand: Ein gestiegener Bedarf an Wasch- und Reinigungsdiensten einschließlich des Materialverbrauchs (z.B. Desinfektionsmitteln) aufgrund höherer Reinigungsfrequenzen liegt auf der Hand. Perspektivisch bedarf es ggf. wegen der Übertragung von SARS-CoV2 über Aerosole auch entsprechender Luftreinigungsgeräte. Auch Isoliervorrichtungen wie Plexiglaswände oder die Anschaffung von Händedesinfektionsspendern verursachen zusätzliche Kosten
- Erhöhter Zeitaufwand durch Einhaltung des Abstandsgebots: Betreuungsangebote müssen in kleineren und kohortenmäßig getrennt organisierten Gruppen stattfinden. Dies betrifft auch Freizeitangebote sowie die Essensversorgung (kein Buffet-Angebot, umschichtige Nutzung des Speisesaals). Auch die Umsetzung der Besuchsregelungen durch Angehörige erfordert einen erhöhten Personaleinsatz beim Hygienemanagement und mehr Kommunikationsbedarf mit den Angehörigen. Damit steigt der anteilige Personalaufwand je pflegebedürftigem Menschen. Das Abstandsgebot wirkt sich im ambulanten Bereich auch auf die Tourenplanung aus. Zudem entstehen aufgrund des Abstandsgebots Mehraufwendungen im Fahrdienst von Tagespflegeeinrichtungen.
Ergänzender Handlungsbedarf
- Erweiterung des Anwendungsbereichs von § 150 Absatz 2 auf weitere Pflegeeinrichtungen mit SGB V-Verträgen und im Grenzbereich zum SGB IX
§ 150 Absatz 2 sieht die Kostenerstattung von Mehraufwendungen und Mindereinnahmen für zugelassene Pflegeeinrichtungen vor. Dies impliziert, dass ambulante Pflegedienste, die reine SGB V-Leistungen anbieten, wie SAPV-Pflegedienste, Intensivpflegedienste, psychiatrische Krankenpflegedienste oder Familienpflegedienste mit einem Versorgungsvertrag nach § 132 SGB V die Kostenerstattung nicht erhalten konnten und können, obwohl sie in gleicher Weise von der Pandemie betroffen waren wie Pflegedienste mit einem Versorgungsvertrag nach § 72 SGB XI. Zudem dürfen Leistungserbringer in neuen Wohnformen wie ambulant betreute Wohngemeinschaften, die sich in den Grenzbereichen des SGB XI und SGB IX bewegen und die nicht zwingend eine Zulassung im SGB XI haben, nicht weiter ausgeschlossen werden.
Diese gesetzliche Lücke gilt es zu schließen.
Änderungsbedarf:
In § 150 SGB XI wird ein neuer Absatz 7 eingefügt:
„Die Regelungen der § 150 Absätze 1 bis 3 gelten auch für die zugelassenen Leistungserbringer in der häuslichen Krankenpflege nach § 132a, die nicht nach § 72 zugelassen sind.“
In § 150 SGB XI wird ein neuer Absatz 8 eingefügt:
„Die Regelungen der § 150 Absätze 1 bis 3 gelten auch für die zugelassenen Leistungserbringer in der SAPV nach § 132d.“
In § 150 SGB XI wird ein neuer Absatz 9 eingefügt:
„Die Regelungen der § 150 Absätze 1 bis 3 gelten auch für die zugelassenen Leistungserbringer in der Haushaltshilfe nach § 132 SGB V, die nicht nach § 72 zugelassen sind.“
In § 150 SGB XI wird ein neuer Absatz 10 eingefügt:
„Die Regelungen der § 150 Absätze 1 bis 3 gelten auch für Leistungserbringer in ambulant betreuten Wohngemeinschaften, in denen Leistungen des SGB IX und des SGB XI eng miteinander verbunden sind, in denen aber keine Zulassung nach § 72 SGB XI vorliegt.
In § 150 Absatz 4 wird ergänzt, dass sich die private Krankenversicherung jeweils mit einem Anteil von 7 Prozent an den Kosten beteiligt.
- Erweiterung der Kostenerstattung der ambulanten Pflegesachleistungsbeträge nach § 36 SGB XI auf die Tagespflege nach § 41 SGB XI
Auch nach Rückkehr zum Regelbetrieb unter Coronabedingungen können die Tagespflegeeinrichtungen aufgrund des Abstandsgebots und der Hygieneregelungen weder alle bisherigen Tagespflegegäste versorgen noch neue Tagespflegegäste aufnehmen. Gleichzeitig besteht eine hohe Nachfrage nach Angeboten der Tagespflege, insbesondere vor dem Hintergrund vermehrt erlebter Vereinsamung. Es wäre daher hilfreich, wenn die Versicherten die nicht ausgeschöpften und gegenwärtig nicht ausschöpfbaren Mittel der Tagespflege z.B. für Betreuungsleistungen ambulanter Pflegedienste oder von Unterstützungsangeboten im Alltag einsetzen könnten. § 150 Absatz 5 sollte daher um die Verwendung von Sachleistungsbeträgen nach § 41 SGB XI erweitert werden.
Änderungsbedarf:
Ergänzung von Satz 1 um die Leistungen nach § 41 SGB XI.
§ 150 Absatz 5b SGB XI Verwendung des Entlastungsbetrags im PG 1 für andere Hilfen
Die BAGFW begrüßt, dass der Entlastungsbetrag, den pflegebedürftige Menschen mit PG 1 erhalten, während der Pandemie auch für andere Hilfen eingesetzt werden kann. Es ist zu begrüßen, dass der Entlastungsbetrag somit nicht nur für Unterstützungsangebote im Alltag oder Leistungen im Rahmen der Tages- und Nachtpflege sowie Kurzzeitpflege ausgegeben werden kann, sondern auch z.B. für die Inanspruchnahme nachbarschaftlicher Hilfen. Die BAGFW regt an, diese Flexibilisierungsmöglichkeit auch über die Pandemie hinaus zu verstetigen.
§ 150 Absatz 5c Nicht ausgeschöpfte Mittel des Entlastungsbetrags
Mit der vorliegenden Regelung hat das BMG dem Anliegen der BAGFW Rechnung getragen, die Frist für die Inanspruchnahme nicht verbrauchter Mittel des monatlichen Entlastungsbetrags nach § 45b SGB XI aus dem Kalenderjahr 2019 vom 30. September 2020 auf den 31. Dezember 2020 zu verlängern. Aufgrund der Corona-Krise konnten Pflegebedürftige und auch Angehörige von Menschen mit Behinderung, die ihre familienentlastenden Unterstützungsangebote im Alltag oft sehr langfristig planen, nicht in Anspruch nehmen, da die Angebote wegen Kontaktreduzierung ausgesetzt worden waren. Die Änderung wird daher sehr begrüßt. Grundsätzlich wäre eine Verstetigung der Abschöpfung von Mitteln aus dem Vorjahr bis in das dritte Quartal hinein zu überdenken.
§ 150 Absatz 5d Pflegeunterstützungsgeld aufgrund der SARS-CoV-2 Pandemie i.V. mit Artikel 4 § 9a PflegeZG
Die BAGFW begrüßt zunächst, dass der pandemiebedingte zusätzliche Anspruch auf das Pflegeunterstützungsgeld von insgesamt 20 Arbeitstagen über den Zeitraum 30.9.2020 verlängert wird. Gleichzeitig setzt sie sich für die Regelung zu § 150 Absatz 5d RefE GPVG ein, wonach diese 20 Tage nicht auf den Anspruch auf reguläres Pflegeunterstützungsgeld für bis zu 10 Arbeitstage angerechnet werden sollen. Eine solche Regelung würde Beschäftigten, die beispielsweise wegen Schließung einer Tagespflegeeinrichtung die Pflege ihrer Angehörigen selbst übernehmen mussten und keinen Anspruch auf Entgeltfortzahlung durch den Arbeitgeber oder auf anderweitige Lohnersatzleistungen haben, helfen. Eine solche Situation kann auch für pflegende Angehörige eintreten, die ihren Anspruch auf 10 Tage Pflegeunterstützungsgeld bereits für eine länger bestehende Pflegesituation aufgebraucht haben. Aus dieser Perspektive ist für die BAGFW die Regelung des § 150 Abs. 5d in der Fassung GPVG sachgerecht und zu befürworten. Das dafür geschätzte Kostenvolumen von 10 Mio. Euro, mit dem die Pflegeversicherung belastet würde, ist aus unserer Sicht ebenfalls vertretbar.
Änderungsbedarf:
§ 150 Absatz 5d wird wie folgt ergänzt. Nach Satz 2 wird folgender Satz eingefügt:
„Die Arbeitstage, für die im Geltungszeitraum des Satzes 1 Pflegeunterstützungsgeld gemäß Satz 1 in Anspruch genommen wurde, werden auf die bis zu insgesamt 10 Arbeitstage, für die Pflegeunterstützungsgeld nach § 44a Absatz 3 bezogen werden kann, nicht angerechnet.“
Artikel 8 und Artikel 9: Änderung des Pflegezeitgesetzes und Änderung des Familienpflegezeitgesetzes
Die in der BAGFW zusammengeschlossenen Verbände haben sich dafür eingesetzt, dass die Sonderregelungen zum Familienpflegezeit- und Pflegezeitgesetz, die mit dem Zweiten Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite befristet bis zum 31.12.2020 verlängert werden. Sie begrüßen daher die Neuregelung des Gesetzentwurfs in den Artikeln 8 und 9, die eine Flexibilisierung der Kombination von Pflegezeit und Familienpflegezeit vorsehen, ohne dass die beiden Freistellungen unmittelbar aneinander anschließen müssen. Insgesamt setzt sich die BAGFW dafür ein, dass die komplex ineinander greifenden Regelungen des Pflegezeitgesetzes und des Familienpflegezeitgesetzes aufgehoben werden und in ein Gesetz überführt werden. Sie weisen zudem darauf hin, dass die Betriebsgrößen für den Rechtsanspruch auf Auszeit von Familienpflegezeit und Pflegezeit von 25 Beschäftigten bei der Familienpflegezeit, aber 15 Beschäftigten bei der Pflegezeit, dringend zumindest harmonisiert werden sollten. Generell und mittelfristig setzt sich die BAGFW dafür ein, die komplex ineinander greifenden und für Verbraucher/innen unübersichtlichen Regelungen aus beiden Gesetzen zu einem einheitlichen Gesetz zusammenzuführen.
Die Sonderregelung des § 16 Absatz 1 FPZG, wonach die wöchentliche Mindestarbeitszeit von 15 Wochenstunden vorübergehend, aber nicht länger als einen Monat unterschritten werden darf, wird pandemiebedingt dem Grundsatz nach begrüßt. Die Unterschreitungsmöglichkeit sollte jedoch für den Zeitraum der Pandemie auf bis zu 3 Monate verlängert werden, um flexibel auf akut sich ändernde Pflegesituationen reagieren zu können.
Des Weiteren setzen sich die Verbände der BAGFW für folgende Regelungen ein, die jetzt insbesondere im Rahmen der Pandemie Berücksichtigung finden sollten:
- keine Anrechnung der Sterbezeitkarenz auf die Höchstdauer der Familienpflegezeit
- Pflegezeit und Familienpflegezeit sollten auch Angehörigen von pflegebedürftigen Menschen mit PG 1 zustehen.
Sowohl die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAG FW)[1] als auch Frauenhauskoordinierung (FHK)[2] begrüßen die Initiative der Bundesregierung, konkrete Schritte für einen einheitlichen Rechtsrahmen für Schutz und Beratung bei geschlechtsspezifischer Gewalt zu gehen.
Es ist alles gesagt, die Fakten liegen seit langem auf dem Tisch.
Seit 1976 gibt es in Deutschland Frauenhäuser und seitdem ist die Frauenhaus-Finanzierung ein Dauerthema auf kommunaler, Landes- und Bundesebene. 2008 und 2012 fanden Anhörungen vor dem Bundestagsausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend statt. Von Seiten der Wohlfahrtsverbände und der verschiedensten Interessenvertretungen für Frauen (z.B. Frauenhauskoordinierung e.V., Zentrale Informationsstelle Autonomer Frauenhäuser, Deutscher Frauenrat) werden die Probleme in regelmäßigen Abständen immer wieder diskutiert und problematisiert. Große und kleine Anfragen wurden von Fraktionen des Bundestags formuliert. Von der Gleichstellungs- und Frauenministerkonferenz (GFMK) wurde bzw. wird das Thema jährlich aufgegriffen mit der Forderung an die Bundesregierung, Schritte in die Wege zu leiten (hier sind insbesondere die Ergebnisse in der Sondersitzung Ende Juni 2020 als Signal in die richtige Richtung zu werten). Auch der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge (DV) hat sich 2010 intensiv mit der Finanzierungsproblematik auseinandergesetzt. Ergebnis war ein Diskussionspapier zur Finanzierung von Frauenhäusern, in dem verschiedene Lösungsansätze beschrieben wurden. Nach 10 Jahren hat der DV in diesem Jahr zu einem Expert*innengespräch eingeladen.
Mit dem „Bericht der Bundesregierung zur Situation der Frauenhäuser, Fachberatungsstellen und anderer Unterstützungsangebote für gewaltbetroffene Frauen und deren Kinder 2012“ wurde eine deutliche Bestandsaufnahme vorgelegt. Die z.T. ernüchternden Ergebnisse wurden durchaus von den Ländern aufgegriffen und in erste Verbesserungen für das unterfinanzierte Hilfesystem umgesetzt. Auch der Bund ist aktiv: nach einem holprigen Start wurden Modellprojekte mit unterschiedlichen Ansätzen und Voraussetzungen in fünf Bundesländern umgesetzt, um auf Lücken im Hilfesystem zu reagieren und bestehende Bedarfe zu decken. Die Veröffentlichung der zusammengefassten Ergebnisse und Erkenntnisse sowie die Bewertung und Diskussion mit den Verbänden stehen noch aus. Und in der Tat wurden vom BMFSFJ in diesem Jahr innovative und investive Projekte vor allem für die Fachpraxis gestartet. Das begrüßen wir sehr, wenn auch die Kommunikation mit den Wohlfahrtsverbänden und den Bundesvernetzungsstellen zu den Förderprogrammen verbesserungsbedürftig ist.
Dass das BMFSFJ durchaus Regelungsbedarf für die Finanzierung von Frauenhäusern und Fachberatungsstellen sieht, zeigt ein durch das Ministerium beauftragtes und bereits vor drei Jahren fertig gestelltes Gutachten durch Prof. Dr. Rixen, Universität Bayreuth. Bedauerlich sehen FHK und BAG FW die späte Veröffentlichung, dadurch ist wertvolle Zeit verstrichen und eine gründliche Befassung erschwert. Offen ist, ob das BMFSFJ den darin enthaltenen Vorschlägen folgen will.
Nach wie vor sind in Deutschland Schutz und Beratung bei häuslicher und sexualisierter Gewalt für Frauen und deren Kinder weder flächendeckend noch auskömmlich gewährleistet. Ein wesentlicher Grund dafür sind die vielerorts bestehenden Finanzierungsmängel beim Hilfe- und Unterstützungssystem. Aufgrund der großen Unterschiede in den rechtlichen und tatsächlichen Rahmenbedingungen in den Bundesländern - und teilweise sogar innerhalb eines Bundeslandes - ist der Zugang zu Schutz und Beratung für viele gewaltbetroffene Frauen deutlich erschwert. Vor dem Hintergrund anhaltend hoher Fallzahlen[3] von häuslicher und sexualisierter Gewalt ist dies nicht mehr hinnehmbar.
Die Corona-Pandemie hat die prekäre Struktur, Ausstattung und Absicherung des Frauengewaltschutzes in Deutschland besonders deutlich gezeigt: die dringend zu verbessernde personelle und räumliche Ausstattung von Frauenhäusern für die Arbeit mit Frauen und Kindern, der Abbau von Aufnahmehindernissen im Bereich der Finanzierung des Aufenthalts, die Verbesserung der Bekanntheit und von Zugangsmöglichkeiten zu Beratung und Frauenhäusern.
Mit der Ratifizierung der Istanbul-Konvention „Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt“ ist Deutschland in der Pflicht verlässliche Strukturen zu schaffen und auszubauen, die allen Betroffenen von geschlechtsspezifischer Gewalt in Deutschland Schutz und Unterstützung bieten, und bisherige Ausschlüsse abzubauen.
Erste Bewertung des Gutachtens „Gesetzestechnische Umsetzung eines Sozialleistungsanspruchs auf Unterstützung für von Gewalt betroffene Personen, insbesondere für Frauen und ihre Kinder“ erstellt im Auftrag des BMFSFJ von Prof. Rixen, Universität Bayreuth – Stand: 14.07.2017
- Verortung der Regelung im SGB XII
BAG FW und FHK setzen sich seit langem für einen Rechtsanspruch[4] ein und begrüßen den Vorschlag für einen eigenen Rechtsanspruch. Ein Rechtsanspruch schafft die notwendige Rechtssicherheit für alle Beteiligten. Gewaltbetroffene Frauen und deren Kinder brauchen durchsetzbare Rechte, die bedarfsgerechten Schutz und Hilfe gewährleisten. Die vorgesehene Verortung im SGB XII sieht FHK jedoch kritisch.
2017 wurde von FHK ein Diskussionspapier „Rechtsanspruch auf Schutz und Hilfe bei Gewalt“ mit einer Regelung für einen Rechtsanspruch verortet im SGB XII veröffentlicht. Ergebnis eines intensiven dialogischen Prozesses 2018 mit der Fachpraxis und Vertreter*innen der Landesebene ist, weiterhin am Rechtsanspruch festzuhalten, jedoch von einer Verortung im SGB XII abzusehen. Gründe sind einerseits, dass davon auszugehen ist, dass Leistungsausschlüsse innerhalb des SGB XII nicht behoben werden können. Dies betrifft vor allem Frauen mit ungesichertem Aufenthaltsstatus sowie die nach wie vor nicht geklärte Situation von nichtdeutschen EU-Bürger*innen. Auch wenn im Gutachten die durchaus positiv zu bewertende erforderliche Klarstellung für das AsylbLG vorgeschlagen wird und ebenfalls geprüft werden müsse, ob das Aufenthaltsrecht angepasst werden müsse, sehen BAG FW und FHK die entsprechend wichtigen Änderungen als politisch schwer durchsetzbar. Studierende und Auszubildende wären ebenfalls nicht umfasst. Andererseits wurde befürchtet, dass der Zugang durch aufwändige Antragsverfahren und Nachweispflichten für den erforderlichen niedrigschwelligen Schutz nicht gegeben ist. Zusammenfassend setzen sich BAG FW und FHK nunmehr dafür ein, eine Lösung für einen Rechtsanspruch außerhalb des SGB XII zu suchen.
- Leistungsberechtigte (§ XY)
Dass der Kreis der Leistungsberechtigten sehr weit gefasst ist, entspricht den Forderungen sowohl von FHK als auch von BAGFW nach einem Rechtanspruch unabhängig von Einkommen und Vermögen, Herkunftsort sowie Aufenthaltsstatus, gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Auch die Gewährleistung von Schutz und Unterstützung für mitbetroffene Kinder als eigene Leistung entspricht dem Regelungsansatz von FHK. Das heißt, Leistungsberechtigte sind grundsätzlich alle Menschen unabhängig von Geschlecht und Alter, die von geschlechtsbezogener Gewalt, sexueller Gewalt oder Gewalt in engen sozialen Beziehungen betroffen sind, sowie deren Kinder.
Dass alle Formen physischer, psychischer oder sexualisierter sowie ökonomischer Gewalt innerhalb oder außerhalb von Beziehungen im sozialen Nahraum als Gewalt gesehen werden, entspricht den Anforderungen der Istanbul-Konvention und entspricht der konzeptuellen Arbeit der Fachpraxis.
In diesem Zusammenhang möchten wir auf die Definition „geschlechtsspezifische Gewalt“ hinweisen. Vor allem für FHK ist es wichtig, dass zum Ausdruck gebracht wird, dass häusliche Gewalt als geschlechtsspezifische Gewalt eine Menschenrechtsverletzung darstellt und Frauen diskriminiert. Ursachen von geschlechtsspezifischer Gewalt liegen im ungleichen Machtverhältnis zwischen Frauen und Männern begründet.
- Unterstützende Infrastruktur (§ YZ)
Das Gutachten führt den aus Sicht von BAG FW und FHK nicht passenden Begriff „Zufluchtsstätte“ ein. Dieser entspricht nicht der fachlichen Terminologie. BAG FW und FHK schlägt alternativ den Begriff „Schutzeinrichtung“ vor.
Frauenhäuser sehen sich nicht als stationäre Einrichtungen. Die betroffenen Frauen gestalten ihren Alltag selber, führen ein eigenständiges Leben im Frauenhaus und stellen ihren Lebensunterhalt sicher. Wichtig ist eine Klarstellung, dass Frauenhäuser keine stationären Einrichtungen sind.
- Gegenstand der Leistungen: Zugang zu „Zufluchtsstätten“ und Beratungsstellen (§ YZ Abs. 1 und 2)
Die Formulierung, dass Schutzeinrichtungen und Beratungsstellen auch dem Schutz vor aktueller oder drohender Gewalt dienen, wird dem Anspruch des Hilfesystems und dem Bedarf gewaltbetroffener Personen nicht gerecht. Fachberatungsstellen sind selbst keine Schutzeinrichtungen, geben aber Hilfestellung bei der Kontaktaufnahme zu Schutzeinrichtungen. Der Schutz vor aktueller oder drohender Gewalt ist dagegen die Kernaufgabe von Schutzeinrichtungen wie Frauenhäusern. Zu formulieren ist hier des Weiteren, dass neben der originären Schutzgewährung auch weitere Merkmale erfüllt sein müssen (Abs. 2 Satz 1 Ziff. 1.-4.) sowie welche Aufgaben bedient werden (Satz 2 Ziff. 1.-8.). Dabei ist besonders auf die Gewichtung in der Aufzählung zu achten. Die ausdrückliche Erwähnung der Hilfestellung bei gewünschter Kontaktaufnahme mit dem Partner*in einer Beziehung gibt diesem Aspekt einen zu hohen Stellenwert, diese Leistung sollte unter Satz 4.4 subsumiert werden. Die primär zu gewährenden Leistungen sind entweder vollumfassend aufzuzählen oder mit Oberbegriffen zu kategorisieren. Hier hat FHK mit Qualitätsempfehlungen 2014[5] bereits einen umfassenden Leistungskatalog vorgelegt.
Die Sicherstellung Unterstützungsleistungen ist immer abhängig von einer guten Vorhaltesituation der Schutzeinrichtungen und einer Ausstattung für Öffentlichkeitsarbeit, Präventionsarbeit und Qualifizierung der Mitarbeitenden. Hier besteht Klärungsbedarf.
- Unbedingtheit des Anspruchs – Spielraum für nachträgliche Kostenbeteiligung (§ YZ Abs. 4)
Dass der Schutz und die Beratung nicht von einem finanziellen Beitrag der gewaltbetroffenen Personen oder einer Kostenzusage abhängig sein sollen, entspricht der Forderung von FHK und BAGFW. Der Zugang muss unabhängig von Einkommen und Vermögen erfolgen können.
Eine nachträgliche Kostenbeteiligung wird grundsätzlich abgelehnt, denn nicht die betroffene Person verursacht die Gewalt. Schutz und Beratung sind staatliche Aufgaben und im Rahmen der Daseinsfürsorge zu gewährleisten.
- Finanzieller Rückgriff bei der gewalttätigen Person (§ XYZ)
Auch wenn es positiv zu bewerten ist, den/die Verursacher*in vor der betroffenen Person vorrangig finanziell in Anspruch zu nehmen, ist die Umsetzung aus Sicht von BAGFW und FHK völlig unrealistisch. Die Bekämpfung von geschlechtsspezifischer Gewalt ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und stellt eine Schutzpflicht des Staates dar. Ein Rückgriff auf die gewaltverursachende Person bedeutet u.U. eine erneute Gefährdung der gewaltbetroffenen Personen. Es kann Auswirkungen auf das Familienbudget haben, z.B. bei Rückkehr zum/r Verursacher*in oder durch die Kürzung der Leistungsfähigkeit bei Unterhaltsverpflichtungen sowie einen erheblichen Aufwand der Geltendmachung für Behörden.
- Leistungserbringungsrecht
Rechtsbeziehungen – Vergütung der Leistungen
Das Leistungserbringungsrecht regelt die Rechtsbeziehungen zwischen dem Staat und den freien Trägern. Es regelt, in welcher Weise die Leistungsträger die Arbeit der freien Träger finanzieren und welche Bedingungen freie Träger erfüllen müssen, um Sozialleistungen erbringen und dafür Finanzierung verlangen zu dürfen. Ziel muss eine Vollfinanzierung im sog. sozialrechtlichen Dreiecksverhältnis sein. Dieses Konstrukt wird grundsätzlich von FHK und BAG FW begrüßt und sollte für die Frauenhäuser bezogen auf die Finanzierung dem treffenden Grundsatz folgen „So pauschal wie möglich, so einzelfallbezogen wie nötig.“ Für die Fachberatungsstellen ist eine pauschale Förderung für der gesamten Personal- und Sachkosten erforderlich. Bezogen auf die Finanzierung muss grundsätzlich sichergestellt werden, dass auch die indirekten Leistungen vor allem die Kosten für die Prävention und Vorhaltekosten voll finanziert werden.
Die im Gutachten vorgeschlagene Regelung sieht vor, dass die Anwendung des § 80 oder
§ 81 SGB XII ausgeschlossen werden kann. Das sehen BAGFW und FHK sehr kritisch. Denn vor allem der Abschluss von Landesrahmenvereinbarungen ermöglicht einen einheitlichen Rahmen für die Leistungserbringung und setzt einer mangelnden Homogenität des Frauengewaltschutzes etwas entgegen. Die Möglichkeit zur Anrufung der Schiedsstelle stellt ein Konfliktlösungsinstrument dar, durch das der Gang zu den Gerichten vermieden werden kann.
Niedrigschwelliges Verfahren (§ YZ Abs. 6)
Grundsätzlich positiv wird im Gutachten das Ziel der Antragstellung auf Leistungen ohne Kontakt zwischen Leistungsberechtigten und Leistungserbringer, die als Zwischenglied fungieren, eingeschätzt. Vereinbarungen nach § 75 SGB XII regeln das Verfahren nach dem Vertrauensprinzip. Die Einbindung weiterer Leistungsträger nach SGB VIII und AsylbLG, um ein vernetztes Arbeiten zu ermöglichen, wird begrüßt.
Um ein niedrigschwelliges Verfahren zu gewährleisten knüpft FHK als Grundlage an das Vertrauensprinzip analog SGB V an. Von FHK wurde ein mehrstufiges Verfahren vorgesehen, bei dem nach der Aufnahme in einer Clearingphase pauschaliert Leistungen erbracht werden.
- Gesetzgebungskompetenz – Verfassungs- und finanzrechtliche Aspekte
Die Befugnis zur Regelung eines Rechtsanspruchs auf Schutz und Hilfe für gewaltbetroffene Personen und deren Kinder kann der Bund aus seiner Zuständigkeit für die öffentliche Fürsorge (Artikel 74 Absatz 1 Nummer 1 Grundgesetz) herleiten. Die Erforderlichkeit einer bundesgesetzlichen Regelung, um bundesweit gleichwertige Lebensverhältnisse herzustellen (Artikel 72 Absatz 2 Grundgesetz) ist aus Sicht von BAG FW und die FHK offenkundig gegeben. Spätestens seit im Juni 2012 die Wohlfahrtsverbände ein Rechtsgutachten[6] zur Frage der Zuständigkeit für die Sicherung des Schutzes von Frauen vor Gewalt vorgelegt haben, steht der Bund in der Pflicht, den effektiven Schutz von gewaltbetroffenen Frauen und deren Kindern sicherzustellen. Bereits seit dem Gutachten forderten BAG FW und FHK die Bundespolitik wiederholt auf, dass sie von ihrer Gesetzgebungskompetenz Gebrauch machen. Die grundrechtliche Schutzpflicht für Leben, körperliche Unversehrtheit sowie die Menschenwürdegarantie verpflichten den Staat, für einen effektiven Schutz von Gewalt bedrohten und betroffenen Frauen und deren Kindern einzutreten. Es gehört zu den Besonderheiten gerade dieser Hilfeleistungen, dass die Betroffenen auch räumlich Abstand von ihren Peiniger*n bekommen und dazu Schutzeinrichtungen in anderen Gemeinden oder gar Bundesländern in Anspruch nehmen können. Einheitliche Rahmenbedingungen und Voraussetzungen für die Hilfeleistung sind über die Gemeinde- und Landesgrenzen hinweg aber nur möglich, wenn diese bundeseinheitlich geregelt sind. Dies gilt auch für den Aufbau der benötigten Schutzeinrichtungen: ein bundesweites Hilfenetzwerk bedarf einer entsprechenden Rechtsgrundlage, die unabhängig von regionalen Prioritäten Beachtung und Umsetzung verlangt.
Soweit das Rechtsgutachten betont, dass es eine Art „Rahmenregelung“ geben müsse, „die nicht mehr normiert, als erforderlich ist“, darf dies nicht dazu führen, dass es im Ergebnis doch bei dem bisherigen „Flickenteppich“ bleibt. BAG FW und FHK messen dem Aspekt, den Ländern Gestaltungsspielraum einzuräumen, zwar Bedeutung zu, betonen aber ausdrücklich, dass die bundesweit gleichwertige Durchsetzung von Grundrechten mit qualitativen Leistungen das Maß sein muss. Die Verwirklichung des Rechtsanspruchs für alle Betroffenen setzt voraus, dass es eine flächendeckende bedarfsgerechte Infrastruktur von Hilfeangeboten gibt. Nur so lässt sich sicherstellen, dass Betroffene unabhängig von ihrem Wohnort die ihnen rechtlich zugesicherten Hilfen dort vorfinden, wo sie sie benötigen.
[1] In der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege e. V. (BAG FW) arbeiten die sechs Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege zusammen. Ihr gemeinsames Ziel ist die Sicherung und Weiterentwicklung der sozialen Arbeit durch gemeinschaftliche Initiativen und sozialpolitische Aktivitäten.
[2] Der Verein Frauenhauskoordinierung e.V. (FHK) setzt sich für die Verbesserung der Lebenssituation von gewaltbetroffenen Frauen und deren Kinder ein, unterstützt und vernetzt die Frauenhäuser sowie die Hilfe- und Unterstützungseinrichtungen in der Interventionskette bei Gewalt gegen Frauen mit Materialien, Arbeitshilfen, Fachveranstaltungen. Mitglieder sind Arbeiterwohlfahrt Bundesverband e.V. (AWO), Deutscher Caritasverband e.V. (DCV), Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband Gesamtverband e.V. (Der Paritätische), Diakonie Deutschland - Evangelischer Bundesverband e.V. und der Sozialdienst katholischer Frauen - Gesamtverein e.V. (SkF) sowie Frauenhäuser freier Träger.
[3] Das zeigen Zahlen der Kriminalstatistischen Auswertung zu Partnerschaftsgewalt des Bundeskriminalamtes. Für das Jahr 2018 meldete das Amt 140.755 Opfer von Partnerschaftsgewalt. Die Opfer wurden verletzt, bedroht, gestalkt, genötigt, eingesperrt und in 324 Fällen sogar getötet oder ermordet. In 81 Prozent der Fälle waren die Opfer Frauen. Die Dunkelziffer ist wahrscheinlich wesentlich höher.
[4] Erwartungen der BAGFW an die Bundespolitik in der 19. Legislaturperiode,
„Der Rechtsanspruch auf Leistungen zu Schutz und Hilfe für gewaltbetroffene Personen und deren Kinder - Eine Argumentationshilfe, Frauenhauskoordinierung. 2014.,
„Diskussionspapier von Frauenhauskoordinierung: Rechtsanspruch auf Schutz und Hilfe bei Gewalt". 2017.
[5] Qualitätsempfehlungen FHK 2014 unter: https://www.frauenhauskoordinierung.de/fileadmin/redakteure/PDF/FHK_Qualitaetsempfehlungen_fuer_Frauenhaeuser_und_Fachberatungsstellen_2014_web.pdf (abgerufen 31.08.2020)
[6] „Der Rechtsanspruch auf Schutz und Hilfe für von Gewalt betroffene Frauen und deren Kinder“ Rechtsgutachten von Prof. Dr. Margarete Schuler-Harm und Prof. Dr. Joachim Wieland vorgelegt am 4. Juni 2012.
]]>Die Daten von Zeitverwendungserhebungen (ZVE) gaben Aufschluss über die Zeitverwendung von Personen in unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen und Haushaltstypen. Dem Umfang unbezahlter Arbeit, wie zum Beispiel Hausarbeit und Kinderbetreuung, Ehrenamt oder Nachbarschaftshilfe, Pflege und Betreuung, Arbeitsbelastung und Arbeitsteilung in der Familie, Arbeitsteilung Männer – Frauen, Armut galt hierbei besonderes Interesse. Aber auch Angaben über die Dauer von Bildungs- oder Freizeitaktivitäten wurden erhoben.
Das Datenmaterial bietet sich vor allem als Grundlage für frauen- und familienpolitische Diskussionen und wissenschaftliche Untersuchungen an. Erkenntnisse zu einer Vielzahl anderer Themenschwerpunkte wie beispielsweise zur Zeitverwendung älterer Menschen, zu Mobilität oder Arbeitszeitarrangements sind zu erwarten.
Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege wünscht, dass in der Erhebung bzw. der Auswertung der Daten digitale Themen eine besondere Rolle spielen - Zeitverwendung für digitale Medien usw. Zur Datenverwendung möchten wir gern unsere Erwartung äußern, dass die Datensätze in anonymisierter Form der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden, und zwar in offener Form, nicht aggregiert. Das wäre vor allem in Bezug auf andere relevante Datensätze von Interesse (z.B. Freiwilligensurvey).
Weiterhin erscheint uns die Frage nach einer amtlich festgestellten Behinderung notwendig, wie ebenfalls die Frage, seit wann die Behinderung/Beeinträchtigung vorliegt. Für die Belange behinderter Menschen ist es wichtig, dass Daten über Menschen mit Behinderungen auch den sie vertretenden Wohlfahrts- und Sozialverbänden zugänglich gemacht werden.
Eine neue Erhebung der Zeitverwendung würde nicht nur die aktuelle Zeitverwendung der Bevölkerung aufzeigen, sondern auch erlauben, Veränderungen gegenüber den Ergebnissen der vorangegangenen Befragungen darzustellen und Vergleiche zu anderen europäischen Ländern zu ziehen.
Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege begrüßt es grundsätzlich, dass mit dem Gesetzentwurf die Erhebung zur Zeitverwendung auf Dauer gestellt wird.
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Die BAGFW nimmt wie folgt zu den Maßnahmen Stellung:
Ad 1. Verbesserung des Infektionsschutzes
Die Ausstattung pflegender Angehöriger mit entsprechendem Schutzmaterial wie geeigneten Masken, Schutzkleidung, Schutzmaterial und Desinfektionsmitteln war vor allem zu Beginn der Pandemie ein großes Problem, da auf dem Markt nicht genügend Material zur Verfügung stand. Geblieben ist auch in den Sommermonaten die Problematik, dass das Preisniveau der Pflegehilfsmittel höher ist als vor der Pandemie. Die BAGFW setzt sich daher dafür ein, die Regelung des § 4 Covid-19 Versorgungsstrukturen-Schutzverordnung, wonach Versicherte monatlich 60 statt 40 Euro für Pflegehilfsmittel erhalten, über den 30. September hinaus um ein halbes Jahr zu verlängern und insoweit von der Verordnungsermächtigung des § 152 SGB XI Gebrauch zu machen.
Für die Testungen bedarf es dringend einer gezielten nationalen Teststrategie. Besonders in den Fokus zu nehmen sind Kontaktpersonen von Risikogruppen, zu welchen insbesondere ältere und pflegebedürftige Menschen sowie Menschen mit Behinderung zählen. Die BAGFW weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die Gesundheitsämter Testungen in Pflegeeinrichtungen nach wie vor in unzureichendem Maße anordnen, wobei das Anordnungsgeschehen von Kreis zu Kreis sehr unterschiedlich ist. Es ist nicht hinzunehmen, dass pflegebedürftige Menschen, ihre Angehörigen oder Einrichtungen auf Testkosten im Umfang von 150 Euro pro Test sitzen bleiben.
Zudem weisen wir darauf hin, dass Testungen in Einrichtungen der Behindertenhilfe in keiner Weise in den Vergütungen als Mehraufwendungen geltend gemacht werden können. Menschen mit Behinderungen sind jedoch eine ebenso vulnerable Risikogruppe wie pflegebedürftige Menschen, daher ist hier eine verbindliche gesetzliche Grundlage für die Berücksichtigungsfähigkeit dieser Mehraufwendungen zu schaffen. (s. auch Kommentierung zu Ziffer 11).
Ad 2. und 13. Unterstützung der Kommunen zum Aufbau einer Notfall-Hotline und eines Digitalregisters für Notbetreuungsstrukturen/ Beteiligungsprozess zur Schaffung quartiersnaher Unterstützungsangebote
Die BAGFW unterstützt den Ansatz der GRÜNEN, digitale Plattformen zu schaffen, über welche Informationen zu Notbetreuungsangeboten zur Verfügung gestellt werden können. Generell setzt sich die BAGFW für den Auf- und Ausbau von digitalen Informationsportalen zu verfügbaren Pflegeangeboten ein. Da die Pflegeangebote überwiegend von freigemeinnützigen und privaten Anbietern getragen werden, müssen diese allerdings zwingend in den Aufbau solcher Strukturen eingebunden werden. In ihrem Antrag zu Ziffer 13 fordern die GRÜNEN auch zu Recht die Beteiligung der Wohlfahrtsverbände sowie des ÖGD an einem Diskurs zur Schaffung quartiersnaher Angebote für Menschen mit Unterstützungsbedarfen, um in besonders herausfordernden Gesundheitslagen Teilhabe, Betreuung und Pflege sicherzustellen.
Ad 3. Lohnersatzleistung für pflegende Angehörige nach § 56 IfSG
Gegenwärtig steigen die Infektionszahlen wieder an. Die Pflegeeinrichtungen sind jedoch anders als im März 2020 durch das Vorhandensein von Schutzausrüstung besser auf diese Situation vorbereitet. Sollten Tagespflegeeinrichtungen, die insbesondere erwerbstätige pflegende Angehörige entlasten, behördlicherseits jedoch pandemiebedingt wieder geschlossen werden, sollte die Schließung dieser Einrichtungen jedoch auch bei den Entschädigungsansprüchen auf Lohnersatzleistung von § 56 Absatz 1a i.V. mit Absatz 2 umfasst werden. Der GRÜNEN-Antrag, der erst jetzt zur Anhörung kommt, datiert schon von Anfang Mai und die Regierungsfraktionen haben bereits den Vorstoß der GRÜNEN, die Begrenzung der Lohnersatzleistung auf 6 Wochen auf 10 Wochen bzw. im Falle der Betreuung von Kindern auf 20 Wochen zu verlängern, aufgenommen.
Ad 4. Pflegeunterstützungsgeld auf 20 Tage verlängern
Auch dieser Vorstoß der GRÜNEN, das Pflegeunterstützungsgeld von 10 auf pandemiebedingt 20 Tage zu verlängern, ist bereits Gesetzeslage geworden. Die BAGFW-Verbände begrüßen, dass der Gesetzgeber im RefE des GPVG die Nichtanrechenbarkeit der zusätzlichen 10 Tage auf die regulären 10 Tage normieren will.
Ad 5 und 6. Weiterentwicklung des Pflegezeit- und Familienpflegezeitgesetzes
Die BAGFW setzt sich wie die GRÜNEN schon seit langem für eine Aufhebung des Nebeneinanders von Pflegezeit- und Familienpflegezeitgesetz ein. Dieser Schritt ist noch in dieser Legislaturperiode in Angriff zu nehmen. Solange die Gesetze nebeneinander existieren, sind sie zumindest zu harmonisieren. So ist es nicht hinnehmbar, dass ein Rechtsanspruch auf Familienpflegezeit erst für MitarbeiterIinnen in Betrieben ab 25 Beschäftigten gilt, der Anspruch auf Pflegezeit jedoch in Betrieben ab 15 Beschäftigten. Zudem sollte die Regelung des § 16 Absatz 4 bis 6 FamilienPZG sowie des § 9 Absätze 5 bis 7 PflegeZG, die eine Flexibilisierung der Kombination von Pflegezeit und Familienpflegezeit vorsieht, ohne dass die beiden Freistellungen unmittelbar aneinander anschließen müssen, zumindest pandemiebedingt verlängert und pandemieunabhängig entfristet werden. Auch Menschen im PG 1 und ihre Angehörigen sollten einen Anspruch auf Pflegezeit und Familienpflegezeit erhalten. Zudem sollte die Sterbekarenzzeit von 3 Monaten nicht auf die max. 24monatige Inanspruchsmöglichkeit angerechnet werden.
Die Verbände der BAGFW unterstützen die Forderung der GRÜNEN nach Einführung einer Lohnersatzleistung in Höhe des Elterngelds und finanziert aus Steuermitteln, wie sie derzeit vom Unabhängigen Beirat zur Vereinbarkeit von Pflege und Beruf, in dem auch die BAGFW vertreten ist, vorgeschlagen wurde. Anspruchsberechtigt nach einem solchen Modell wären dann automatisch nicht nur unselbständig Erwerbstätige, sondern, wie von den GRÜNEN vorgeschlagen, auch Selbständige. Des Weiteren wird nachdrücklich unterstützt, dass nicht nur Verwandte, sondern alle Zugehörigen, die pflegebedürftige Menschen unterstützen, wie Freund/innen oder Nachbar/innen, diese Leistung in Anspruch nehmen können sollten. Ebenso sollten sich zwei Personen die Pflegezeit untereinander aufteilen können, wie von den GRÜNEN gefordert.
Ad 7. Rechtsanspruch auf Homeoffice und mobiles Arbeiten für pflegende Angehörige
Gerade in den Zeiten der Pandemie ist es wichtig, Arbeitnehmer/innen eine Flexibilisierung ihrer Arbeitszeiten zu erleichtern, um somit die Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf besser zu ermöglichen. Arbeitgeber sollten freiwillig alle tariflichen Möglichkeiten dazu prüfen.
Ad 8. Pflegehillfsmittelpauschale pandemiebedingt verdoppeln
s. Kommentierung zu Punkt 1.
Ad 9. und 10. Flexibilisierung von Verhinderungs- und Kurzzeitpflege sowie Entlastungsbetrag
Die BAGFW setzt sich seit Jahren dafür ein, Verhinderungs- und Kurzzeitpflege zusammen mit dem Entlastungsbetrag nach § 45b zu einem Entlastungsbudget zusammenzufassen, das dann ganz flexibel und passgenau auf die individuelle Bedarfslage im Kalenderjahr eingesetzt werden kann. Sollte sich der Gesetzgeber nicht für dieses Modell entscheiden, ist zumindest die volle Flexibilität für die Inanspruchnahme von Verhinderungs- und Kurzzeitpflege für die Dauer von bis zu acht Wochen zu gewährleisten, wie es der Vorschlag der GRÜNEN vorsieht. Die BAGFW setzt sich für eine Verlängerung der flexiblen Inanspruchnahme des Entlastungsbetrags nach § 150 Absatz 5b SGB XI ein. Gerade in der Pandemie ist es wichtig, den Entlastungsbetrag nicht nur für professionelle Unterstützung oder ehrenamtliche Unterstützungsangebote einsetzen zu können, sondern unbürokratisch auch für die Inanspruchnahme von Zugehörigen oder Nachbarn. Aus Sicht der BAGFW sollte diese Möglichkeit auch nach der Pandemie fortbestehen.
Ad 11. Unterstützungsleistungen für Menschen mit Behinderung
Die Verbände der BAGFW begrüßen nachdrücklich, dass die GRÜNEN mit dem vorliegenden Antrag nicht nur die pflegebedürftigen Menschen i.S. des SGB XI in den Blick nehmen, sondern ausdrücklich auch die Situation von Menschen mit Beeinträchtigungen, die Eingliederungshilfe beziehen. Der Forderung zu Ziffer 3 nach Lohnfortzahlung bei fehlenden Betreuungsmöglichkeiten von Kindern mit Behinderung wurde durch die zwischenzeitliche Gesetzeslage bereits Rechnung getragen.
Bezüglich der Inanspruchnahme von Schutzmaterial und Testungen verweisen wir auf unsere Kommentierung zu Ziffer 1.
Ad 12. Leistungen der Haushaltshilfe/Familienpflege von § 150 SGB XI umfassen
Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege haben sich von Anfang an besonders dafür eingesetzt, dass auch die Mindereinnahmen und Mehraufwendungen der Leistungserbringer von Haushaltshilfe und Familienpflege nach § 132 unter den Schutzschirm des § 150 SGB XI fallen. Gerade die Familienpflegedienste haben zu Beginn der Pandemie dafür Sorge getragen, dass Menschen in sehr prekären Gesundheits- und Lebenssituationen mit Haushaltshilfe und Familienpflege versorgt werden konnten.
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Zu den Forderungen im Einzelnen:
Ad 1. und 7. Corona-Prämie und tarifgebundene Bezahlung in der Altenpflege
Nicht nur die Pflegekräfte, sondern auch andere Beschäftigte in Gesundheit, Pflege und in der Eingliederungshilfe haben in der Pandemie Herausragendes geleistet. Es reicht aber nicht aus, diese Leistung gewissermaßen symbolisch durch eine einmalige Prämie zu honorieren („Klatschen allein reicht nicht“). Erforderlich ist vielmehr, was unter Ziffer 7 gefordert wird, nämlich, dass alle Pflegekräfte in der Altenhilfe eine tarifgebundene Bezahlung erhalten und dass die Tarifparteien diesen Schritt schnellstmöglich umsetzen. Dafür setzen sich die Verbände der BAGFW seit langem ein. Des Weiteren fordert die BAGFW, dass Tarifbindungen in allen Bereichen des Gesundheitswesens auf gesetzlicher Grundlage als wirtschaftlich bei Vergütungsverhandlungen anerkannt werden.
Ad 2. Versorgung mit Schutzausrüstung für Pflege-, Assistenz- und Betreuungskräfte in allen Sektoren verbessern
Die Schlüsselrolle einer guten Schutzausrüstung hat sich zu Beginn der Pandemie gezeigt. Das Fehlen adäquater Schutzmaterialien hat dazu geführt, dass pflegebedürftige und Menschen mit Beeinträchtigungen in der Häuslichkeit auf die Versorgung durch Pflegedienste verzichtet haben und dass Tagespflegen geschlossen werden mussten. Das gleiche Problem betraf auch die Einrichtungen der Behindertenhilfe und viele andere Bereiche der Versorgung durch soziale Dienste. Die BAGFW unterstützt nachdrücklich die Produktion einer ausreichenden Menge von Schutzausrüstung in Deutschland und Europa, da in einer weltweiten Pandemie jedes Land darauf angewiesen ist, selbst genügend Vorräte an Schutzausrüstung vorzuhalten. Obwohl es im Augenblick bundesweit genug Schutzmaterial gibt, treten immer wieder in einzelnen Regionen oder bei einzelnen Produkten längere Lieferzeiten auf. Im Augenblick wird über sehr lange Lieferzeiten bei den Handschuhen und den Schutzkitteln berichtet. Darüber hinaus liegen die Preise für die Produkte deutlich höher als vor der Pandemie.
Ad 3. Testungen für professionelle Pflege-, Assistenz- und Betreuungskräfte
Pflegebedürftige Menschen und viele Menschen mit einer Beeinträchtigung haben aufgrund häufig vorhandener Vorerkrankungen ein hohes Risiko zu erkranken. 30-60 % aller an COVID-19 verstorbenen Menschen sind Menschen, die in Einrichtungen der Pflege und Eingliederungshilfe leben. Beschäftigte in Pflege- und Behinderteneinrichtungen müssen sowohl vor Ansteckung geschützt werden als auch davor, die von ihnen zu versorgenden Menschen anzustecken. Daher müssen Beschäftigte in Einrichtungen des Gesundheitswesens und Betreuungs- und Assistenzkräfte in der Behindertenhilfe prioritär getestet werden. Darüber hinaus muss aber auch in anderen sozialen Einrichtungen, in denen Menschen auf engerem Raum zusammenleben, wie z.B. in Einrichtungen für Geflüchtete oder in Wohnungsloseneinrichtungen prioritär getestet werden können. Wir weisen darauf hin, dass die Gesundheitsämter ihrer Verpflichtung nachkommen müssen, diese Testungen auch anzuordnen. Die Verbände der BAGFW nehmen nach wie vor deutlich wahr, dass dies in regional sehr unterschiedlicher Weise geschieht. Es darf nicht sein, dass Einrichtungen bei notwendigen Testungen ihrer Mitarbeitenden die Kosten in Höhe eines Privathonorars nach GOÄ für eine Testung selbst tragen müssen. Wir weisen darauf hin, dass neben den Rehaeinrichtungen auch Vorsorgeeinrichtungen in die präventiven Testungen einzubeziehen sind.
Für die Testungen bedarf es dringend einer gezielten nationalen Teststrategie. Besonders in den Fokus zu nehmen sind Kontaktpersonen von Risikogruppen, zu welchen insbesondere ältere und pflegebedürftige Menschen sowie viele Menschen mit Beeinträchtigung zählen. Die BAGFW weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die Gesundheitsämter Testungen in Pflegeeinrichtungen nach wie vor in unzureichendem Maße anordnen, wobei das Anordnungsgeschehen von Kreis zu Kreis sehr unterschiedlich ist. Es ist nicht hinzunehmen, dass pflegebedürftige Menschen, ihre Angehörigen oder Einrichtungen auf Testkosten im Umfang von 150 Euro pro Test sitzen bleiben.
Zudem weisen wir darauf hin, dass Testungen in Einrichtungen der Behindertenhilfe in keiner Weise in den Vergütungen als Mehraufwendungen geltend gemacht werden können. Menschen mit Beeinträchtigungen sind aber mitunter ebenso wie pflegebedürftige Menschen der Risikogruppe zuzuordnen, daher ist hier eine verbindliche gesetzliche Grundlage für die Berücksichtigungsfähigkeit dieser Mehraufwendungen zu schaffen. (s. auch Kommentierung zu Ziffer 11).
Ad 5. und 6. Unterstützung der Mitarbeitenden im Arbeitsalltag der Pandemie
Die Erkenntnisse über die Pandemie entwickeln sich stetig fort. Sofern neue Erkenntnisse und Methoden coronaspezifische Schulungen und Fortbildungen der Mitarbeitenden erforderlich machen, z.B. im Umgang mit bestimmten Schutzmaterialien oder Hygienemaßnahmen, müssen diese außerplanmäßigen Mehraufwendungen refinanzierbar sein. Darüber hinaus wird es dauerhaft Mehraufwendungen für Schutzmaterialen sowie für Hygiene und Schutzmaßnahmen geben, die auch in den kommenden Jahren deutlich über dem Niveau der Zeit vor Corona liegen.
Des Weiteren ist es im Hinblick auf die Unterstützung wichtig, dass sich die Bundesländer, die Ordnungsbehörden und der öffentliche Gesundheitsdienst auf ein einheitliches Vorgehen verständigen und nicht die Mitarbeitenden in den Einrichtungen und Diensten mit widersprüchlichen Anforderungen konfrontiert werden.
Ad 8. Personalbemessungsverfahren in der Alten- und Krankenpflege einsetzen
Aufgrund der demographischen Entwicklung steigt die Anzahl pflegebedürftiger und multimorbider hochaltriger Menschen an. Sowohl der Bedarf an Grundpflege als auch an medizinischer Behandlungspflege hat sich in den letzten Jahren erhöht. Sterbende Menschen zuhause, in den stationären Pflegeeinrichtungen und im Krankenhaus brauchen eine gute palliative Versorgung, Betreuung und Begleitung, die zeit- und personalintensiv ist und Tag und Nacht zur Verfügung stehen muss. Trotz dieser gestiegenen quantitativen und qualitativen Anforderungen sind die Personalschlüssel in der Altenpflege seit den 1990er Jahren nahezu unverändert geblieben. Sie schwanken zwischen den einzelnen Bundesländern stark und diese historisch gewachsenen Bandbreiten der Personalrichtwerte haben sich in den letzten 20 Jahren fortgeschrieben, was zu deutlichen regionalen Unterschieden in den Personalschlüsseln führt. Die Verbände der BAGFW weisen darauf hin, dass die 20.000 zusätzlichen Pflegehilfskräfte, die im Rahmen des GPVG als ersten Umsetzungsschritt zur Einführung eines Personalbemessungssystems im neuen § 8 Absatz 6a vorgesehen sind, nur einen allerersten Schritt darstellen.
Von zentraler Bedeutung für die BAGFW ist, dass ein in der Erprobung und modellhaften Einführung bewährtes Personalbemessungssystem verbindlich umgesetzt und auf der Grundlage gesetzlicher Maßgaben bundesweit verbindlich eingeführt wird. Dabei können länderspezifische Besonderheiten durchaus Berücksichtigung finden. Dazu bedarf es einer gesetzlichen Verpflichtung der Anerkennung des Bedarfs bei den Verhandlungen auf Landesebene. Das Personalbemessungssystem muss insgesamt Grundlage einer Finanzierung der Pflegevergütungen sein. Es bedarf eines Gesamtkonzeptes für die Umsetzung der einzelnen Schritte. Die BAGFW setzt sich für eine zügige Umsetzung des § 113c SGB XI ein.
Ad 9. Höhere Ausbildungszahlungen in den Pflegeberufen
Die BAGFW setzt sich mit Nachdruck für eine Erhöhung der Ausbildungszahlen ein.
Neben den Pflegefachkräften benötigen wir gut ausgebildete Pflegehelfer(innen), denen eine Weiterqualifizierung zur Pflegefachkraft offen steht. Daher setzen wir uns für die Einführung der ein- bis zweijährigen bundeseinheitlichen Pflegeassistentenausbildung ein, die den Anschluss an die dreijährige Fachkraftausbildung und Verwirklichung individueller Karrierechancen ermöglicht. Daneben sollte die Weiterqualifizierung von Pflegehelfer(inne)n zu Pflegefachkräften gefördert werden, z.B. durch Bildungsgutscheine für Teilzeitausbildung.
Ad 10. Ausübung heilkundlicher Tätigkeiten
Eine der wenigen Bereiche, in denen die Gesetzgebung angesichts der Covid-19-Pandemie noch gar nicht umgesetzt wurde, stellt § 5a des IfSG dar. Danach sollte die Pandemie die eigenverantwortliche Ausübung von Heilkunde durch Pflegefachkräfte beschleunigen. Eine entsprechende Rechtsverordnung nach § 5a Absatz 2 IfSG steht immer noch aus.
Die Kompetenzen der Pflegekräfte müssen dringend entsprechend den Vorbildern in den anderen europäischen Ländern erweitert und ausgebaut werden. Ziel muss sein, dass Pflegekräfte auf der Grundlage der im Pflegeberufegesetz definierten Vorbehaltsaufgaben Heilkunde eigenverantwortlich und interprofessionell auf Augenhöhe mit den Ärzten im Rahmen einer Neujustierung der Aufgabenteilung im Gesundheitswesen ausüben können. Dadurch kann das eigenständige professionelle Handeln der Pflegenden gestärkt und nicht zuletzt auch die Attraktivität der Pflegeberufe erhöht werden. Mit den Ergebnissen der AG 3 der Konzertierten Aktion Pflege liegt ein Handlungskonzept vor, dessen Umsetzung durch die Pandemie ins Stocken geraten ist. Die weiteren Beratungen dazu sollten unverzüglich aufgenommen werden.
Von herausragender Bedeutung bei der Kompetenzvermittlung wird auch die Vermittlung digitaler Kompetenzen sein. Der Gesetzgeber tut sich schwer, konkret diese Form von Kompetenzen in den Berufsgesetzen zu verankern. In diesem Punkt sieht die BAGFW ein großes Desiderat.
Ad 12. Bekämpfung des Fachkräftemangels
Wesentlich für eine Bekämpfung des Fachkräftemangels ist, dass Arbeitgeber, Kostenträger und Politik gemeinsam Arbeitsbedingungen schaffen, um Pflegekräfte gewinnen zu können. Dazu zählt:
- Entschleunigung der Pflegearbeit: Mehr Zeit für eine umfassende, personenorientierte Pflege, insbesondere mit Blick auf die psychosoziale Betreuung
- Förderung von betrieblichen Maßnahmen zur Gesundheitsförderung und Prävention am Arbeitsplatz
- Bessere Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf
- Nutzung des Potenzials der Digitalisierung
- Offensive zur Entbürokratisierung
Die Konzertierte Aktion Pflege hat zu all diesen Bereichen Bündel von Maßnahmen vorgeschlagen, die jetzt zügig umgesetzt werden müssen.
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Die Verbände der BAGFW begrüßen die Verlängerung der sogenannten Westbalkanregelung ausdrücklich. Sie ist aus Sicht der Verbände ein Erfolg und ein wichtiger Schritt hin zu einer Arbeitsmarkteinwanderung unabhängig von formalen Qualifikationen.
Die Erfahrungen mit der aktuellen Regelung zeigen, dass sich der Bedarf an Arbeitskräften aus dem Ausland nicht auf Fachkräfte und Hochqualifizierte beschränkt. Sie zeigen zudem, dass Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber in der Lage sind, in unregulierten Arbeitsbereichen einzuschätzen, welche informellen Qualifikationen zum Anforderungsprofil der jeweiligen Stellen passen. Nachweis hierfür ist die Stabilität der auf diesem Weg entstandenen Beschäftigungsverhältnisse. Weder kam es zu einem merkbaren Anstieg der Inanspruchnahme von Sozialleistungen, noch gibt es Anhaltspunkte für eine missbräuchliche Nutzung der Regelung. Dies ist auch der Evaluation der Regelung durch das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) zu entnehmen.[1] Die Ergebnisse der Evaluation decken sich mit den Praxiserfahrungen aus den Beratungsstellen der Verbände.
Gerade vor dem Hintergrund der sehr positiven Erfahrungen aus dem Zeitraum 2016 bis 2020 ist es nicht nachvollziehbar, dass die Regelung erneut auf drei Jahre befristet werden soll. Die Verbände der BAGFW regen daher an, auf diese Befristung zu verzichten und darüber hinaus zu prüfen, inwiefern die Regelung auf weitere Herkunftsstaaten ausgeweitet werden kann.
Auf die Einführung eines Kontingents von 25.000 Visa pro Jahr sollte verzichtet werden. Es ist nicht davon auszugehen, dass damit das Ziel der besseren Planbarkeit für Antragstellerinnen und Antragsteller und Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber erreicht werden kann. Engpässen bei den jeweiligen Auslandsvertretungen kann besser durch einen weiteren Personal- und Kapazitäten-Ausbau sowie durch einen Wegfall der Verpflichtung, die Zustimmung (und das Visum) in der Botschaft des Heimatstaates zu beantragen, begegnet werden.
- Referentenentwurf – Änderung § 26 Absatz 2 Beschäftigungsverordnung (BeschV)
§ 26 Absatz 2 Satz 1 BeschV-E
- Beabsichtigte Neuregelung
Die aktuelle Befristung der Regelung auf die Jahre 2016 bis einschließlich 2020 wird ersetzt durch eine Befristung auf die Jahre 2021 bis einschließlich 2023.
- Stellungnahme
Auf eine erneute Befristung der Regelung sollte verzichtet werden. Der Zeitraum 2016 bis 2020 der bisherigen Reglung war bereits ausreichend lang, um eine Beurteilung der Wirksamkeit der Regelung vorzunehmen. Die Evaluation der Regelung durch IAB (s.o.) beurteilt die Regelung als sehr erfolgreich. Die Praxiserfahrungen der Beratungsstellen der Verbände der BAGFW bestätigen diese Einschätzung.
Eine Befristung ist auch nicht notwendig, um auf eine mögliche Änderung des Arbeitskräftebedarfs nach 2023 zu reagieren. Durch die verpflichtend durchzuführende Vorrangprüfung besteht ausreichend Flexibilität, um zu reagieren, sollte nach 2023 wider Erwarten der Bedarf an Arbeitskräften durch deutsche Arbeitnehmende, ihnen gleichgestellte Ausländer*innen sowie freizügigkeitsberechtigte Staatsangehörige der Europäischen Union gedeckt werden können.
- Änderungsvorschlag
Ersatzlose Streichung der Wörter “in den Jahren 2021 bis einschließlich 2023”.
§ 26 Absatz 2 Satz 2 BeschV-E
- Regelung
Die Regelung in Satz 2 wird nicht geändert und sieht vor, dass ein Antrag auf Erteilung des Aufenthaltstitels ausschließlich bei der jeweils zuständigen deutschen Auslandsvertretung im Herkunftsstaat gestellt wurde.
- Stellungnahme
Die jeweiligen Auslandsvertretungen der in Satz 1 genannten Herkunftsländer verfügen laut Gesetzesbegründung nicht über die notwendigen Kapazitäten zur Bearbeitung der Anträge. Die Beschränkung auf diese Auslandsvertretungen durch die Regelung in Satz 2 ist daher kontraproduktiv, um eine Bearbeitung der Anträge innerhalb eines für Antragstellende und Arbeitgebende zumutbaren Zeitraums zu gewährleisten. Zudem trägt die Regelung der Mobilität der Antragstellenden nicht ausreichend Rechnung. Personen, die sich aus familiären oder beruflichen Gründen nicht in ihrem Herkunftsland befinden, müssen nur für die Antragstellung in ihr Herkunftsland zurückreisen. Gerade für Antragstellende, die sich aus einem bestehenden Beschäftigungsverhältnis heraus bewerben, stellt diese Bedingung eine unnötige Barriere dar.
- Änderungsvorschlag
Streichung von „im Herkunftsstaat“ in Satz 2
§ 26 Absatz 2 Satz 3 BeschV-E
- Beabsichtigte Neuregelung
Der neue Satz 3 sieht eine Begrenzung der Zustimmungen zur Ausübung jeder Beschäftigung, die innerhalb eines Jahres erteilt werden können, auf ein Kontingent von 25.000 vor.
- Stellungnahme
Die Beschränkung auf ein Kontingent von 25.000 ist nicht geeignet, um das Ziel einer besseren Planbarkeit der Antragsbearbeitung für Auslandsvertretungen, Antragstellende und Arbeitgebende zu erreichen. Die Festlegung auf 90 % der im vergangenen Jahr erteilten Visa sendet zum einen bereits das Signal an Antragstellende und vor allem Arbeitgebende, dass das Risiko der Ablehnung des Antrages besteht, unabhängig davon wie sorgfältig der Antrag gestellt wurde. Darüber hinaus verhindert die Regelung nicht die zumindest zeitweise Überlastung der deutschen Auslandsvertretungen. Erfahrungsgemäß gibt es saisonale Schwankungen bei der Nachfrage von Arbeitskräften, gerade im Bau- und Gastgewerbe. Zudem ist zu erwarten, dass zu Jahresanfang besonders viele Anträge gestellt werden, da noch nicht mit einer Ausschöpfung des Kontingents zu rechnen ist. Zu Jahresende hingegen kann den Antragstellenden das Risiko einer Ablehnung aus Kapazitätsgründen hingegen zu hoch sein.
Wie in der Gesetzesbegründung ausgeführt, sind genaue Prognosen zum konkreten Bedarf an Arbeitskräften aus dem Westbalkan aufgrund der Auswirkungen der Corona-Pandemie derzeit zwar nur schwer möglich. Die Tatsache, dass die BA von November 2015 bis Juni 2019 in 256.231 Fällen über einen Antrag auf Zustimmung zur Ausübung der Erwerbstätigkeit entschieden hat[2], macht aber den großen Bedarf sowohl der deutschen Wirtschaft als auch das große Interesse seitens der Antragstellenden deutlich. Um diesem perspektivisch sicher wieder zunehmenden Interesse gerecht zu werden, ist eine personelle wie finanzielle Aufstockung der Visastellen in den betroffenen Ländern unumgänglich, dies empfiehlt auch das IAB. Sollte hingegen tatsächlich ein starker Rückgang des Arbeitskräftebedarfs eintreten, so wird sich dies über die Vorrangprüfung ausgleichen. Darüber hinaus kann – wie bereits zu Satz 2 erläutert - das Ziel einer Entlastung der jeweils zuständigen Auslandsvertretungen dadurch erreicht werden, dass die Beschränkung des Satz 2 aufgehoben wird und sich die Anträge auf mehr deutsche Auslandsvertretungen verteilen können.
Die Einführung eines Kontingents in das deutsche Aufenthaltsrecht ist aus Sicht der Verbände der BAGFW ein falscher Schritt. Die bisherigen Erfahrungen mit der Kontingentregelung des § 34a AufenthG (Familiennachzug) haben gezeigt, welche bürokratischen Hürden und rechtlichen Unsicherheiten mit einer solchen Regelung auftreten können. Dies gilt es unbedingt zu vermeiden, gerade weil die bisherige Regelung des § 26 Abs. 2 BeschV – wie auch das IAB bestätigt – so erfolgreich war. Laut IAB waren es bisher v.a. Kapazitätsengpässe und andere verwaltungsseitige Restriktionen, die die Zuwanderung über die Westbalkanregelung spürbar eingeschränkt haben. Die Einführung weiterer administrativer Hindernisse ist insofern das Gegenteil dessen, was tatsächlich erforderlich ist.
- Änderungsvorschlag
Ersatzlose Streichung von Satz 3.
§ 26 Absatz 2 Satz 4 BeschV-E
- Beabsichtigte Neuregelung
§ 9 BeschV bestimmt, dass eine Vorrangprüfung nicht erfolgt, wenn Antragstellende bereits mehr als zwei Jahre versicherungspflichtig in Deutschland beschäftigt sind. Die Neuregelung von § 26 Absatz 2 Satz 4 BeschV-E sieht vor, dass für Personen, die unter den § 26 Absatz 2 BeschV-E fallen, diese Ausnahme zukünftig nur gelten soll, wenn diesen vor 2021 eine Aufenthaltserlaubnis zum Zwecke der Ausbildung oder Erwerbstätigkeit nach Kapitel 2 Abschnitt 3 oder 4 des Aufenthaltsgesetzes erteilt wurde. Bestand hingegen eine Aufenthaltserlaubnis zu einem anderen Zweck, insbesondere aus humanitären oder familiären Gründen, muss trotz versicherungspflichtiger Beschäftigung eine Vorrangprüfung durchgeführt werden.
- Stellungnahme
Aus Sicht der Verbände der BAGFW sollte in diesen Fällen auf eine Vorrangprüfung verzichtet werden.
Ziel der Arbeitsmarktprüfung ist, nachteilige Auswirkungen auf den deutschen Arbeitsmarkt sowie Wettbewerbsverzerrungen durch die Beschäftigung von ausländischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zu verhindern. Dieses Ziel wird jedoch bereits durch die Prüfung der Beschäftigungsbedingungen erreicht. Letztere sind auch zur Verhinderung von ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen wesentlich.
Die Vorrangprüfung nach zweijähriger sozialversicherungspflichtiger Anstellung droht zudem die bereits erfolgreiche Arbeitsmarktintegration zunichte zu machen. Erfahrungen, Kenntnisse, Qualifikationen wurden erworben und sollen nicht verloren gehen. Mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz hat Deutschland den sehr zu begrüßenden Schritt dahin gemacht, die Vorrangprüfung auf die Anwerbung aus dem Ausland zu beschränken. Die hier vorgesehene Neuregelung würde eine Rückentwicklung bedeuten und zudem zu einer Ungleichbehandlung und Schlechterstellung von Personen aus dem Westbalkan im Vergleich zu anderen ausländischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern führen.
Nicht zuletzt wird der Verwaltungsaufwand dadurch unnötig erhöht. Die Regelung steht damit dem Interesse einer Entlastung der beteiligten Behörden und Verkürzung der Bearbeitungsdauer entgegen.
- Änderungsvorschlag
Ersatzlose Streichung von Satz 4.
[1] Forschungsbericht - Evaluierung der Westbalkanregelung, April 2020, Hrsg. Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, URL: www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/PDF-Publikationen/Forschungsberichte/fb544-evaluierung-der-westbalkanregelung.pdf;jsessionid=114DBDF8FE12E57387EEE927F37FC30F (abgerufen am 30.07.2020)
[2] Forschungsbericht - Evaluierung der Westbalkanregelung, April 2020, Hrsg. Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, S. 20.
]]>Die BAGFW begrüßt die Anpassung der Regelungen zur angemessenen Berücksichtigung der Leistungsfähigkeit von Familien bei der Bemessung der Einkommensteuer für die Jahre 2021 und 2022 mit dem Ziel, Familien wirtschaftlich weiter zu fördern und zu stärken.
Damit wird das im Koalitionsvertrag verankerte Ziel umgesetzt, nach den bereits in Kraft getretenen Verbesserungen in einer weiteren Stufe das Kindergeld pro Kind ab 1. Januar 2021 um 15 Euro pro Monat zu erhöhen und die steuerlichen Kinderfreibeträge entsprechend anzupassen.
Ebenso begrüßt die BAGFW die Anhebung des Grundfreibetrags, der die verfassungsrechtlich gebotene steuerliche Freistellung des Existenzminimums der steuerpflichtigen Bürgerinnen und Bürger sicherstellt sowie die Verschiebung der übrigen Eckwerte des Einkommensteuertarifs für die Veranlagungszeiträume 2021 und 2022 nach rechts zum Ausgleich der kalten Progression.
Für die BAGFW ist die Anhebung des Höchstbetrages für den Abzug von Unterhaltsleistungen nach § 33a Absatz 1 EStG wie die Anhebung des Grundfreibetrages ab Veranlagungszeitraum 2021 folgerichtig.
So begrüßenswert diese pauschal vorgesehenen Anhebungen sind, dürfen sie evidenzbasierte Erkenntnisse über die tatsächlichen Bedarfe jedoch nicht verdrängen.
Sollten die im Herbst 2020 zu erwartenden Ergebnisse des Existenzminimumberichts sowie des Steuerprogressionsberichts, die Grundlage der Anhebungen sind, zeigen, dass die nunmehr vorgesehene Anhebung das Existenzminimum noch nicht abdeckt, muss es eine weitere Korrektur des Kindergeldes und der weiteren Beträge geben.[1]
Um bei der Höhe des freizustellenden Existenzminimums eine mögliche Differenz zulasten der Leistungsberechtigten zwischen dem nunmehr festgelegten Kindergeldbetrag und den durch eine sachgerechte Festlegung der Regelbedarfe ermittelten Werte auszugleichen, schlägt die BAGFW vor, eine Regelung in das vorgelegte Zweite Familienentlastungsgesetz aufzunehmen, damit das Kindergeld und die Kinderfreibeträge sowie die Grundfreibeträge entsprechend um diesen Differenz-Betrag erhöht werden.
Die Feststellung des Existenzminimums von Kindern und Jugendlichen ist für das Steuerrecht, aber auch für alle familienbezogenen und sozialen Leistungen von entscheidender Bedeutung. Willkürliche Abzüge oder Anrechnungen führen dazu, dass das Existenzminimum und damit die Auszahlungsbeträge unterschiedlich hoch ausfallen, abhängig davon, ob die Eltern für ihre Kinder neben dem Kindergeld Grundsicherung, Kinderzuschlag und/oder Unterhaltsvorschuss beziehen oder durch die Kinderfreibeträge ein zusätzliches Plus haben.
Im Sozialrecht wird damit keine ausreichende gesellschaftliche Teilhabe gewährleistet. Diese Ungleichbehandlung von Kindern und Jugendlichen ist zu beenden. Es bedarf daher einer einheitlichen, transparenten, konsequent sach- und realitätsgerechten Ermittlung und Umsetzung des kindlichen Existenzminimums für alle Rechtsbereiche.
Auch kritisiert die BAGFW, dass viele Familien und Kinder von der Erhöhung des Kindergeldes nicht profitieren werden, weil das Kindergeld auf die Regelsätze, den Unterhalt, Unterhaltsvorschuss und beim Bezug von Sozialleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz angerechnet wird.
Weil das Kindergeld im Grundsicherungsbezug, soweit es nicht zur Sicherung des Lebensunterhalts des Kindes benötigt wird, für die Sicherung des Lebensunterhalts der übrigen Bedarfsgemeinschaft anzurechnen ist (vgl. § 11 Abs. 1 Satz 5 SGB II, § 82 Abs.1 SGB XII), führt das insbesondere in Fallkonstellationen mit auskömmlichem Unterhalt dazu, dass das Haushaltseinkommen der Familie nicht steigt und letztendlich von der Kindergelderhöhung nichts verbleibt.[2]Die BAGFW fordert daher schon seit Langem, dass das hälftige Kindergeld einschränkungslos für die Bedarfsdeckung des Kindes zu verwenden ist.[3]
Eine Kindergelderhöhung kommt auch bei Familien, die Unterhaltsvorschussleistungen beziehen, nicht an, da das Kindergeld – im Unterschied zum Unterhalt – vollständig angerechnet wird. Die volle Minderung des Unterhaltsvorschusses in Höhe des Kindergeldes erhöht das Armutsrisiko gerade für die Personengruppe, die ihre Kinder häufig bereits unter erschwerten Bedingungen und in prekären Lebenslagen erziehen muss. Da Alleinerziehende besonders häufig von Armut betroffen sind, gilt es gerade diese Personengruppe zu entlasten. Durch die Anrechnung nur des hälftigen Kindergeldes würde eine deutlich spürbare Verbesserung der finanziellen Situation von Alleinerziehenden und ihren Kindern erreicht. Die vorgelagerten Sicherungssysteme aus Kinderzuschlag, Wohngeld und Unterhaltsvorschuss könnten so früher greifen.
Die BAGFW fordert deshalb, dass das Kindergeld auf den Unterhaltsvorschuss nur hälftig angerechnet werden darf, um dem hohen Armutsrisiko von Alleinerziehenden entgegenzuwirken.
[1] Eine weitere relevante Erkenntnisquelle für die Bedarfe von Menschen in Armut liefert die im nächsten Jahr 2021 turnusgemäß vom Statistischen Bundesamt vorgelegte Einkommens- und Verbrauchsstichprobe, die ihrerseits Grundlage für die Regebedarfe nach dem SGB II und XII ist. Hierzu liegt bereits ein entsprechender Gesetzentwurf des Bundesarbeitsministeriums für das Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen vor, der sich in der Frühkoordinierung mit dem Kanzleramt befindet.
[2] Die Anrechnungsregelung im SGB II berücksichtigt nicht, dass die hälftige Anrechnung des Kindergeldes auf den Kinderunterhalt wie eine Leistung des Unterhaltspflichtigen an das Kind wirkt, das den sozialrechtlichen Bedarf des Kindes decken soll. Denn der Unterhaltsanspruch setzt sich aus dem Zahlbetrag und dem hälftigen Kindergeld zusammen (siehe Düsseldorfer Tabelle).
[3] Vgl. Empfehlungen des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge e.V. zur Weiterentwicklung des Systems monetärer Unterstützung von Familien und Kindern vom 11.9.2019
]]>Die Träger und Einrichtungen der Verbände der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) erbringen auf gemeinnütziger Basis in erheblichem Umfang (soziale und gesundheitliche) Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse (DAWI) in Deutschland. Für deren Finanzierung ist neben regulären Entgelten, Eigenmitteln und Spenden in verschiedenen Bereichen der Einsatz staatlicher Mittel – auch vor dem Hintergrund des Sozialstaatsprinzips – notwendig oder gewünscht. So erfordert etwa die Bereitstellung von DAWIs in ländlichen Regionen oder für benachteiligte Zielgruppen häufig die Unterstützung der öffentlichen Hand. Bei der Umsetzung von (EU-)Förderprogrammen wird der Einsatz (mitglieds-)staatlicher Gelder für die Erfüllung neuer Aufgaben gezielt geplant. Grundsätzlich obliegt den öffentlichen Stellen die Pflicht, bei der Gewährung staatlicher Unterstützung eine etwaige Beihilfenrelevanz zu prüfen und die Beihilferechtskonformität sicherzustellen.
Die DAWI-De-minimis-Verordnung (VO 360/2012 vom 25. April 2012) für Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse (DAWI) stellt ein wichtiges und grundsätzlich hilfreiches Instrument dar, Beihilfen europarechtskonform und unbürokratisch zu gewähren. Ihre Geltungsdauer sollte deshalb und gerade angesichts der anzunehmenden wirtschaftlichen und sozialen Erholungsbedarfe in den Mitgliedstaaten aufgrund der Covid-19-Pandemie zumindest um weitere drei Jahre bis zum 31. Dezember 2023 verlängert werden.
Allerdings setzt sich die BAGFW für eine Anhebung des Schwellenwerts von 500.000,- EUR in drei Steuerjahren auf 800.000,- EUR pro Steuerjahr ein. Dies ist aus Sicht der Freien Wohlfahrtspflege angemessen und stellt auch in Abwägung mit der Notwendigkeit der Unterstützung von DAWI auf lokaler Ebene, gerade auch derzeit im Zusammenhang mit der außergewöhnlichen Situation der Pandemiefolgen, keine unverhältnismäßige Beschränkung des Wettbewerbs des Binnenmarkts dar.
Weitere Punkte finden Sie in der beigefügten Stellungnahme und/oder hier (https://ec.europa.eu/info/law/better-regulation/have-your-say/initiatives/12375-Government-subsidies-small-amounts-for-essential-public-services-extension-of-rules-to-2023/F537934)
]]>Für die unterzeichnenden zivilgesellschaftlichen Organisationen ist Inklusion ein wesentlicher Bestandteil ihrer täglichen Arbeit – sei es als Wohlfahrts- oder Jugendverband, Träger der Jugendsozialarbeit, als Kirche oder Bildungsträger. Wir setzen uns daher für tatsächlich inklusive Bildungsprogramme auf europäischer Ebene ein. Dies beinhaltet eine umfassende, diversitätsfreundliche und Mehrfachdiskriminierungen aufgreifende Inklusionsstrategie für alle europäischen Förderprogramme.
Mit den vorliegenden Empfehlungen werden konkrete Anregungen aus der Praxis für eine inklusive Umsetzung der EU-Bildungsprogramme Erasmus+ und Europäisches Solidaritätskorps gegeben. Die vorliegenden Empfehlungen sind aus den Erfahrungen der Programmumsetzung in der Jugendarbeit, der Erwachsenenbildung, der beruflichen und schulischen Bildung sowie der Freiwilligendienste entstanden.
- Expert_innen in eigener Sache, Trägerorganisationen und zivilgesellschaftliche Strukturen in die Programmplanung, -umsetzung und -evaluierung einbeziehen
- Zielgruppen, die Benachteiligung und Diskriminierung erfahren, direkt ansprechen und strukturierte Informationen zur Verfügung stellen
- Leichte Sprache und barrierefreie Dokumente für alle Programmdokumente, mindestens jedoch für Unterlagen für Teilnehmende (Mobility Tool, Fragebögen, etc.) anbieten
- Die Förderung des Mehraufwands für die Bedarfe von Teilnehmenden mit besonderen Bedürfnissen und für qualifizierte Fachkräfte flexibler gestalten
- Gutachter_innen und Entscheidungsträger_innen für die besonderen Bedürfnisse benachteiligter Zielgruppen sensibilisieren
- Beratungsstrukturen für interessierte Freiwillige fördern und Mehraufwand bei der Antragstellung vermeiden
- Einheitliche Anwendung der Regeln in allen Programmländern und für alle Nationalen Agenturen sicherstellen
- Teilnehmende mit besonderem Förder- und Unterstützungsbedarf während des Auslandsaufenthalts besser begleiten
- Zielgruppenspezifische Unterstützung beim Erlernen von Fremdsprachen zur Verfügung stellen
Zusätzliche Empfehlungen für die Umsetzung der Programme in Deutschland:
- Bei Teilnehmenden und Freiwilligen aus der stationären Jugendhilfe eine Übergangslösung in Ausbildung und Studium mit dem SBG VIII ermöglichen
- Taschengelder nicht auf Sozialleistungen anrechnen
- Schulbildung und berufliche Bildung flexibler verknüpfen
Ziel dieser Statistik ist es, gesicherte Erkenntnisse über die von öffentlichen Auftraggebern in Deutschland erteilten Aufträge zu gewinnen. Erkenntnisse aus dieser Statistik werden dann auch in EU-weite Erhebungen einfließen. Diese Statistik bringt auch für Verbände und Einrichtungen der Freien Wohlfahrtspflege Verpflichtungen mit sich, auf die wir Sie hiermit aufmerksam machen:
Die Vergabestatistikverordnung verpflichtet öffentliche Auftraggeber im Sinne des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen. Dazu können gem. § 99 Nr. 2a und Nr. 4 GWB auch Verbände und Einrichtungen der Freien Wohlfahrtspflege gehören. Denn nach dieser Regelung sind juristische Personen des privaten Rechts öffentliche Auftraggeber, wenn sie
- zu dem besonderen Zweck gegründet wurden, im Allgemeininteresse liegende Aufgaben nichtgewerblicher Art zu erfüllen und überwiegend von Stellen nach Nummer 1 oder 3 einzeln oder gemeinsam durch Beteiligung oder auf sonstige Weise finanziert werden (Nr. 2a).
Eine solch überwiegende Finanzierung ist gegeben, wenn der Verband oder die Einrichtung mehr als 50 % der Einkünfte von Körperschaften des öffentlichen Rechts oder deren Zusammenschlüssen erhält. Hierzu gehören nach der Rechtsprechung des EuGH nicht Vergütungen aus öffentlichen Aufträgen oder den im Rahmen des Dreiecksverhältnisses erbrachte Dienstleistungen, sondern Mittel aus öffentlicher Förderung. Ob diese Grenze überschritten ist, muss jeder Verband bzw. jede Einrichtung für sich feststellen. Da die Finanzierung auch schwanken kann, sollte die Feststellung jedenfalls ein Mal im Kalenderjahr angestellt werden.
- für Tiefbaumaßnahmen, für die Errichtung von Krankenhäusern, Sport-, Erholungs- oder Freizeiteinrichtungen, Schul-, Hochschul- oder Verwaltungsgebäuden oder für damit in Verbindung stehende Dienstleistungen und Wettbewerbe von Stellen, die unter die Nummern 1, 2 oder 3 fallen, Mittel erhalten, mit denen diese Vorhaben zu mehr als 50 Prozent subventioniert werden (Nr. 4).
Auch wenn deshalb die öffentliche Förderung eines Verbands oder einer Einrichtung die 50%-Grenze aus § 99 Nr. 2a GWB nicht überschreitet, kann sich im Zusammenhang mit einem überwiegend öffentlich finanzierten Bauvorhaben somit eine öffentliche Auftraggebereigenschaft ergeben, die dann zur Anwendung des Vergaberechts und der Meldepflicht nach der Vergabestatistikverordnung führt.
Soweit ein Verband oder eine Einrichtung demnach öffentlicher Auftraggeber im Sinne des Vergaberechts, tritt ab dem 1. Oktober 2020 zu der Verpflichtung zur Ausschreibung von Aufträgen nach Maßgabe des Vergaberechts auch die Verpflichtung hinzu, binnen 6 Monate nach einer Zuschlagserteilung die jeweilige Auftragsvergabe beim Statistischen Bundesamt zu melden, das die Vergabestatistik führt. Das Meldeverfahren wird online erfolgen. Dabei ist davon auszugehen, dass sich diese Meldung auf der Grundlage einer ordnungsgemäß geführten Vergabestatistik ohne wesentlichen neuen Aufwand erstellen lässt.
Im Einzelnen empfehlen wir öffentlichen Auftraggeber i.S.v. § 99 Nr. 2a GWB folgende Schritte:
- Bestimmung einer sog. Berichtsstelle i.S.v. § 1 VergStatVO: dabei geht es darum festzulegen, wer Zugang zu der Online-Meldeformular bekommen soll, mit dem der Auftraggeber über die einzelnen erteilten Aufträge berichtet (s unter 2.). Diese Person kann Mitarbeiter*in des Auftraggebers oder extern damit betraut sein; möglich ist es auch, mehr als eine Person mit dieser Aufgabe zu betrauen. Allerdings macht dies wohl nur bei sehr großen Auftraggebern Sinn.
- Für die als Berichtstelle benannte Person sind sodann folgende Daten relevant:
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ab Juli 2020: Möglichkeit zur Registrierung bei dem Portal, das die Vergabestatistik führt (Destatis). (https://erhebungsportal.estatistik.de/Erhebungsportal/)
Weitere Informationen zur Anmeldung und zum Zugang zu der Statistik finden Sie auf diesen Seiten: https://www.destatis.de/DE/Service/Online-Melden/_inhalt.html
- ab Oktober 2020: Meldung von abgeschlossenen Auftragsvergaben bei Destatis (innerhalb von 60 Tagen nach Zuschlagserteilung). Die Meldung erfolgt über ein Online-Verfahren; soweit erkennbar bedarf es dafür keiner weiteren besonderen Software.
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Verbände und Einrichtungen, die nicht überwiegend mit öffentlichen Mitteln finanziert sind, aber aufgrund der ANBest P oder I beim Einsatz der Fördermittel Aufträge nach Maßgabe der UVgO oder anderer Regelungen des Unterschwellenvergaberechts deutschlandweit ausschreiben müssen, sind keine öffentlichen Auftraggeber. Für sie kommen die Pflichten der Vergabestatistikverordnung nicht zum Tragen.
Detaillierte Informationen zur Vergabestatistik finden Sie in den FAQs zur Vergabestatistik auf den Seiten des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie.
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Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) und der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) begrüßen einen starken EU-Haushalt, der sich an den langfristigen Zielen der EU orientiert, und zusätzliche Fördermittel über das Wiederaufbauinstrument. Um die europäischen Gesellschaften und Sozial- wie Gesundheitssysteme krisenfest zu gestalten, müssen diese Gelder jedoch neben dem wirtschaftlichen Wiederaufbau auch in Organisationen der Zivilgesellschaft, die Verbände und gemeinnützige Sozialunternehmen investiert werden.
Der an der Europäischen Säule sozialer Rechte ausgerichtete ESF+ investiert in die Themen Chancengleichheit und Arbeitsmarktzugang, fairen Arbeitsbedingungen, Sozialschutz und sozialer Inklusion. Die zusätzlichen Mittel für die Strukturfonds über das Wiederaufbauinstrument verfolgen mit der akuten Krisenbewältigung eine andere Zielsetzung als der ESF+, der längerfristig soziale Verwerfungen bekämpft. Der ESF+ darf daher unter keinen Umständen in der neuen Förderperiode gekürzt werden!
Mit Blick auf den Europäischen Sozialfonds ESF+ sehen wir in sieben Punkten dringenden Änderungsbedarf, die im angehängten Positionspapier genauer erläutert werden. Unsere wichtigsten Forderungen hier im Überblick
- Das Gesamtbudget des ESF+ darf nicht weiter gekürzt werden, um die langfristigen sozialen Folgen der COVID-10-Pandemie, aber auch den Strukturwandel abzufedern und Armut zu bekämpfen. BAGFW und DGB begrüßen ausdrücklich die Stärkung der laufenden Fonds ESF, EHAP und EFRE durch zusätzliche Mittel des Programmes REACT-EU für die Förderperiode 2014-2020. Während REACT-EU die aktuell akuten Probleme der COVID-19-Pandemie lindert („Notfallgeld“), soll der ESF+ die langfristigen Folgen und soziale Verwerfungen abfedern. Beide Fonds haben also unterschiedliche Zielsetzungen und können nicht gleichgesetzt bzw. additiv verrechnet werden.
- Die vorgesehenen Kürzungen der EU-Kofinanzierungssätze sind nicht akzeptabel und bringen die projektumsetzenden zivilgesellschaftlichen Organisationen, Unternehmen oder Kommunen in finanzielle Schwierigkeiten. Viele Begünstigte können unter den derzeitigen Förderbedingungen die Gegenfinanzierung schon kaum beibringen. BAGFW und DGB fordern deshalb, eine Förderquote mindestens in Höhe der laufenden Förderperiode zu garantieren.
- Der vorgeschlagene verpflichtende Transfer von ESF+ - und EFRE-Geldern in den Just Transition Fund kann zu einer weiteren erheblichen Kürzung des ESF+ führen, was unbedingt verhindert werden soll. Deshalb lehnen BAGFW und DGB einen verpflichtenden Hebel zur Umschichtung ab. Um Synergien zwischen den Fonds zu stärken, sollten ESF+ und EFRE stattdessen innerhalb ihrer Zielsetzung den Übergang in eine klimaneutrale Wirtschaft und Gesellschaft flankieren.
Für viele in Deutschland lebende Eingewanderte stellen jedoch Sprachbarrieren eine Hürde bei der Wahrnehmung ihrer sozialen Rechte und Pflichten sowie ihrer gesellschaftlichen Teilhabe dar. Der faktischen vielsprachigen Realität in der Einwanderungsgesellschaft steht eine weitestgehende Einsprachigkeit der gesellschaftlichen Funktionssysteme und ihrer Institutionen in Deutschland gegenüber. Die Beratungsstellen der Freien Wohlfahrtspflege schildern immer wieder, dass die Sprachbarriere eines der größten Probleme, insbesondere im Kontakt mit Bildungsstätten, Behörden, Wohnungswirtschaft und Ärzten, darstellt. Wer einen Anspruch auf staatliche Leistungen hat, muss auch die Möglichkeit haben, diese tatsächlich wahrnehmen zu können. Fehlende oder unzureichende Deutschkenntnisse dürfen keine Barrieren beim Zugang zu diesen Leistungen darstellen. Der Abbau dieser Barrieren ist ein wichtiger Schritt im Prozess der interkulturellen Öffnung der gesellschaftlichen Institutionen und der Anerkennung der multilingualen sozialen Realität.
Der Staat steht in der menschenrechtlich begründeten Verpflichtung, die Zugänge zu gewährleisten. Artikel 2 des UN-Sozialpakts enthält die Norm, „unter Ausschöpfung aller Möglichkeiten Maßnahmen zu treffen“, um fortschreitend „mit allen geeigneten Mitteln, vor allem durch gesetzgeberische Maßnahmen, die volle Verwirklichung der in diesem Pakt anerkannten Rechte zu erreichen.“[1] Insbesondere für das Recht auf ein Höchstmaß an Gesundheit gemäß Artikel 12 bestehen Gewährleistungspflichten hinsichtlich Zugänglichkeit, Diskriminierungsverbot und Bezahlbarkeit gesundheitlicher Leistungen.[2] Dies beinhaltet die Pflicht, die Kosten für eine gegebenenfalls notwendige Sprachmittlung vollumfänglich zu tragen.
Die Verbände der BAGFW empfehlen daher die Schaffung einer übergreifenden gesetzlichen Grundlage im SGB I und SGB X für Sprachmittlung im Rahmen der Beantragung und Ausführung von Sozialleistungen.
Problemlage
Soweit ein persönliches Erscheinen bei Behörden notwendig ist, z.B. zur Erörterung des Antrags auf Sozialleistungen, werden Betroffene teilweise abgewiesen, wenn sie ohne Sprachmittlung zum Termin erscheinen. Können Betroffene selbst keine Sprachmittlung sicherstellen, können sie folglich die ihnen zustehenden Leistungen nicht beantragen. Eine professionelle Sprachmittlung auf eigene Kosten können sie sich in der Regel nicht leisten. Betroffene ziehen daher oft Verwandte, Freunde, Bekannte und Ehrenamtliche, oftmals auch die eigenen Kinder, hinzu. Für diese bedeutet das u.U. eine starke zeitliche und persönliche Belastung. Teilweise sprechen sie zudem selbst nur unzureichend Deutsch oder die Sprache der betroffenen Leistungsberechtigten. Insbesondere fehlt oft eine Kenntnis der Fachbegriffe. Gerade wenn es sich bei den Sprachmittelnden um enge Verwandte handelt, kommt es vor, dass sie an den geschilderten Sachverhalten beteiligt, oder von den zu beantragenden Maßnahmen betroffen sind. Hier besteht die Gefahr, dass die zu übersetzenden Aussagen interpretiert oder anders als von der befragten Person intendiert wiedergegeben werden. Nicht zuletzt handelt es sich oft auch um sehr persönliche Themen, deren Details die Betroffenen den Bekannten oder Verwandten nicht anvertrauen wollen. Für Kinder, die zur Übersetzung hinzugezogen werden, können die fraglichen Inhalte unangemessen oder überfordernd sein. So können Missverständnisse und Ungenauigkeiten entstehen, die dazu führen können, dass notwendige Leistungen trotz bestehender Ansprüche nicht beantragt bzw. gewährt werden. Da dies auch grundlegende Leistungen der Daseinsfürsorge und Existenzsicherung betrifft, kann dies im schlimmsten Falle zur Wohnungslosigkeit und Existenzbedrohung führen. Im Falle der medizinischen Versorgung kann eine falsche oder ungenaue Übersetzung zu Fehldiagnosen und falschen Behandlungen mit potenziell tödlichen Folgen für die Betroffenen führen. Aktuelle Studien zeigen, dass Sprachbarrieren im Rahmen der medizinischen Versorgung häufig vorkommen und aufgrund der fehlenden adäquaten Lösungen zu Fehl-, Über- bzw. Unterversorgung führen.[3]
Betroffen sind nicht nur neu zugewanderte Asylsuchende oder anerkannte Flüchtlinge, sondern auch weitere Gruppen wie Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten aus Drittstaaten, Unionsbürgerinnen und Unionsbürger sowie Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedler – darunter auch Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit.
Nicht zuletzt hat die fehlende Sprachmittlung auch negative Auswirkungen auf die Träger und Erbringer der Leistungen selbst: Behörden, Bildungseinrichtungen, medizinische Einrichtungen, gemeinnützige Träger und andere. Sie können ihren Auftrag nicht erfüllen, solange die Kommunikation nicht sichergestellt ist. Zudem können in Folge der Sprachbarrieren Mehrkosten für die Leistungserbringer entstehen.
Aktuelle Rechtslage
Ein Anspruch auf Kostenübernahme einer Sprachmittlung besteht bereits in Teilen.
Sprachmittlung im Rahmen des Verwaltungsverfahrens
Für Verwaltungsverfahren im Anwendungsbereich der Sozialgesetzbücher (SGBs) gilt grundsätzlich gemäß § 19 SGB X, dass Amtssprache Deutsch ist. Sozialbehörden können daher verlangen, dass schriftliche und mündliche Kommunikation mit ihnen auf Deutsch erfolgt. Ausnahmen hiervon gibt es nur für nationale Minderheiten in Deutschland in den jeweiligen Siedlungsgebieten. Davon abgesehen besteht ein Anspruch auf Sprachmittlung und Übernahme der Kosten nach § 19 Absatz 1 Satz 2 SGB X nur für Menschen mit Hör- oder Sprachbehinderung in Deutsche Gebärdensprache. Eine vergleichbare Regelung für Personen, die sich ebenfalls nicht verständigen können, da sie aus verschiedensten Gründen nicht über ausreichende Deutschkenntnisse verfügen, besteht nicht. Sofern der Verfahrensbeteiligte nicht der deutschen Sprache mächtig ist, regelt § 19 Abs. 2–4 SGB X, wie in diesen Fällen zu verfahren ist. Grundsätzlich sind fremdsprachige Dokumente in deutscher Sprache vorzulegen, damit ihr Inhalt erfasst werden kann.
Für EU-Bürgerinnen und Bürger sowie Staatenlose und anerkannte Flüchtlinge, die in einem anderen Mitgliedstaat der EU wohnen, sowie ihre Familienangehörigen und Hinterbliebene ergibt sich allerdings eine Ausnahme der Amtssprache aus der EU –Verordnung EG/883/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit. Zum sachlichen Geltungsbereich der Verordnung gehören unter anderem Leistungen bei Arbeitslosigkeit und Familienleistungen. Gemäß Art. 76 Abs. 7 der Verordnung dürfen Behörden die bei ihnen gestellten Anträge oder sonstige Schriftstücke nicht deshalb zurückweisen, weil sie in einer Amtssprache eines Mitgliedstaates abgefasst sind.
Sprachmittlung im Rahmen der Leistungserbringung
Im Rahmen der Gesundheitsversorgung ist im SGB V (Bestimmungen zur gesetzlichen Krankenversicherung) kein Anspruch auf Übernahme der Sprachmittlungskosten, die als Teil der Leistungserbringung, z.B. im Rahmen eines Arztbesuches, entstehen, vorgesehen. Wie schon im Verwaltungsverfahren, gibt es auch für die Leistungserbringung nur einen expliziten Anspruch auf Sprachmittlung in Deutsche Gebärdensprache und Übernahme der Kosten für Menschen mit Hör- oder Sprachbehinderung (vgl. § 17 Absatz 2 SGB I). Es können sich aber aus anderen Sozialgesetzbüchern Ansprüche auf Kostenerstattung im Rahmen der Leistungserbringung, dann nicht auf die Gesundheitsversorgung beschränkt, ergeben.
Im Anwendungsbereich des SGB XII (Sozialhilfe) kommt in Einzelfällen eine Kostenübernahme nach § 27a Absatz 4 Nr. 2 SGB XII in Betracht. Demnach kann ein abweichender höherer Regelbedarf an Sozialhilfe festgelegt werden, wenn ein unausweichlicher, laufender, nicht nur einmalig auftretender Mehrbedarf besteht. In der Praxis spielt diese Norm für Sprachmittlungskosten aber nur eine sehr geringe Rolle, u.a. da diese Kosten in der Regel keine laufenden Kosten sind, im Gegensatz zu beispielsweise Kosten für Ernährung oder Unterbringung. Für Menschen mit Behinderungen oder die von einer entstehenden Behinderung bedroht sind (vgl. § 99 SGB IX i. V. m. § 53 SGB XII a. F.), kommt eine Kostenübernahme der Sprachmittlung nach §§ 113 Absatz 1 i.V.m. Absatz 2 Nr. 6 SGB IX und § 82 SGB IX in Betracht. In Frage kommt außerdem eine Kostenerstattung nach § 73 SGB XII, einem Auffangtatbestand, nach dem Hilfen in sonstigen Lebenslagen gewährt werden können, wenn sie den Einsatz öffentlicher Mittel rechtfertigen.[4] In der Praxis findet dieser Auffangtatbestand kaum Anwendung, u.a. weil für jeden einzelnen Anwendungsfall, also z.B. jeden Arztbesuch, ein neuer Antrag gestellt und nachgewiesen werden muss, dass der Einsatz öffentlicher Mittel hier gerechtfertigt ist.
Fallen Betroffene unter das SGB II, kann eine Kostenübernahme im Rahmen der Leistungserbringung im Einzelfall nach § 21 Absatz 6 SGB II in Frage kommen. Dafür muss es sich jedoch wie bei § 27a Absatz 4 Nr. 2 SGB XII um einen unabweisbaren, laufenden, erheblichen und nicht nur einmaligen Mehrbedarf handeln. In den aktuellen Fachlichen Weisungen der Bundesagentur für Arbeit zu § 21 Abs. 6 kommt die Sprachmittlung als Anwendungsfall nicht explizit vor. Es ist daher fraglich, ob die gesetzliche Regelung überhaupt eine geeignete Grundlage liefert.[5]
Für Personen, die nicht unter den Anwendungsbereich der Sozialgesetzbücher fallen, auf die aber § 4 Absatz 1 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) anwendbar ist, können Leistungen übernommen werden, die für die Genesung, zur Besserung oder zur Linderung von akuten Krankheiten oder Krankheitsfolgen oder Schmerzzuständen erforderlich sind. Dies kann auch die Sprachmittlung umfassen. Für Personen, für die zudem § 6 AsylbLG anwendbar ist, können Kosten nach Ermessen der Behörde übernommen werden, wenn sie zum Beispiel im Einzelfall zur Sicherung des Lebensunterhaltes oder der Gesundheit unerlässlich sind. Darunter können insbesondere auch Kosten für Sprachmittlung fallen.
Sprachmittlung im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe
Relevant ist außerdem der Bereich der Kinder- und Jugendhilfe. Zwar gibt es im SGB VIII keine gesetzliche Aussage zur Sprachmittlung. Allerdings ist davon auszugehen, dass die Kosten dann im Rahmen der Kostenübernahme für die jeweilige zu erbringende Leistung übernommen werden müssen, wenn die Sprachmittlung zwingende Voraussetzung einer angemessenen Leistungserbringung ist, sowie wenn ein Bedarf im Rahmen der Erfüllung eines Rechtsanspruches auf Erziehung, Bildung und Betreuung von Kindern entsteht.[6]
Kenntnis und Anwendung der gesetzlichen Regelungen
Aus der Praxis wissen die Verbände, dass innerhalb der Behörden zum Teil nicht bekannt ist, dass die genannten Regelungen eine Übernahme der Sprachmittlungskosten ermöglichen, da diese nicht explizit in den jeweiligen gesetzlichen Regelungen genannt werden. Es handelt sich überwiegend um Ermessensentscheidungen mit für die Leistungserbringer und die Betroffenen oft nicht klar erkennbaren Voraussetzungen. Daher kommt es in der Praxis zu einer sehr unterschiedlichen Anwendung der Kostenübernahme. Problematisch ist zudem, dass alle genannten Anspruchsgrundlagen eine Antragstellung erfordern, deren Bearbeitung den Verwaltungsaufwand erhöht. Darüber hinaus kann ein Antragsverfahren auch eine unüberwindbare Hürde darstellen, wenn für das Verfahren selbst eine Sprachmittlung notwendig ist.
Vorschlag für eine gesetzliche Regelung
Die Last zur Überbrückung der Sprachbarriere tragen im Moment weit überwiegend die Betroffenen selbst. Wenn sie sich diese Aufwendungen nicht leisten können, müssen sie auf unqualifizierte Übersetzung ausweichen, mit potenziell schwerwiegenden Konsequenzen. Es bedarf einer gesetzlichen Regelung, wie sie bereits vereinzelt für nationale Minderheiten in Deutschland, sowie Menschen mit einer Hör- oder Sprechbehinderung bestehen.
Bisher konzentrieren sich Lösungsvorschläge darauf, Regelungen zu Sprachmittlung in einzelnen Sozialgesetzbüchern einzuführen. Allerdings besteht hier die Gefahr, dass es zu uneinheitlichen Regelungen und Anwendungen kommt. Für die betroffenen Personen, Beratungsstellen und Behörden entstünde zudem ein unnötig höherer Aufwand. Die mit einer Neuregelung verbundenen Mehrkosten sind im Hinblick auf die Sicherstellung des Zugangs zu Sozialleistungen gerechtfertigt.
Die Verbände der BAGFW empfehlen daher, einen allgemeinen Anspruch auf Sprachmittlung für Personen zu schaffen, deren Deutschkenntnisse selbst nicht ausreichen, um ihren Anspruch auf Leistungen einlösen zu können.
Ein solcher Anspruch könnte, vergleichbar zur Regelung für Personen mit einer Hör- oder Sprechbehinderung, wie folgt im SGB I und SGB X geregelt werden.
Dem § 17 SGB I wird folgender Absatz 4 hinzugefügt:
Personen, deren Deutschkenntnisse keine Verständigung ermöglichen, die für eine sachgerechte Inanspruchnahme von Leistungen notwendig ist, haben das Recht, bei der Ausführung von Sozial- und Gesundheitsleistungen, insbesondere auch bei ärztlichen Untersuchungen und Behandlungen, mithilfe von Sprachmittelnden zu kommunizieren. Die zuständigen Leistungsträger sind verpflichtet, die durch die Sprachmittlung entstehenden Kosten zu tragen.
Dem § 19 Absatz 1 SGB X wird folgender Satz 4 hinzugefügt:
Personen, deren Deutschkenntnisse keine Verständigung ermöglichen, die für eine sachgerechte Kommunikation notwendig ist, haben das Recht, mithilfe von Sprachmittelnden zu kommunizieren. Die hierbei entstehenden Kosten sind von der Behörde oder dem für die Sozialleistung zuständigen Leistungsträger zu tragen.
Ein wichtiger Start wäre bereits die Zurverfügungstellung aller schriftlichen Informationen und Antragsformulare, inklusive der Ausfüllhinweise, in den Weltsprachen und den gängigsten Sprachen in Deutschland sowie in leichter Sprache. Dies würde auch den mündlichen Beratungsbedarf reduzieren und den damit verbundenen Bedarf an Sprachmittlung.
Über die Änderungen in den Sozialgesetzbüchern hinaus empfehlen die Verbände die Schaffung oder Erweiterung der Grundlagen für die Finanzierung der Sprachmittlung in den Förderrichtlinien der nicht über die SGB geregelten Leistungen, wie zum Beispiel Programme im Bereich Migrations- und Flüchtlingssozialarbeit. Hier sind Sprachmittlungskosten nicht immer förderfähig, so dass auch diese Angebote zum Teil auf Ehrenamtliche und nicht qualifizierte Sprachmittelnden zurückgreifen müssen. Auch hier sollten Kosten für Sprachmittlungen in den Förderprogrammen von Anfang an mitgedacht werden.
[1] Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vom 19.Dezember 1966, Bundesgesetzblatt (BGBl) 1976 II, 428, https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/user_upload/PDF-Dateien/Pakte_Konventionen/ICESCR/icescr_de.pdf.
[2] Vereinte Nationen, Ausschuss für Wirtschaftliche, Soziale und Kulturelle Rechte, Allgemeine Bemerkung Nr. 14 Das Recht auf ein Höchstmaß an Gesundheit (Artikel 12), Ziffer 12, CESC E/C 12/2000/4.
[3] Vgl.: Borde, Theda (2017): Kommunikation und Sprache. Herausforderungen einer Diversitätsgerechten Gesundheitsversorgung, in: Gynäkologische Endokrinologie, S. 3 -9
[4] vgl. SG Hildesheim, Urteil vom 01.12.2011 - S 34 SO 217/10 - asyl.net: M19324 https://www.asyl.net/rsdb/m19324/
[5] Vgl. BA Zentrale GR 11 Seite 9 Stand: 20.12.2018
[6] Vgl. Münder, Professor Dr. iur. Johannes (2016): Sprachmittlung als Teil der Leistungen in der Kinder- und Jugendhilfe - Rechtsexpertise, Hrg. Deutsches Rotes Kreuz e.V.
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- Aufgrund der Komplexität und der zu erwartenden Rückfragen im Verfahren, regen wir an analog zu den Festlegungen nach § 150 Abs. 3 SGB XI hier ebenso FAQs zu gestalten, sofern nicht alle fallbezogenen Fragen abschließend geregelt werden können. Zu möglichen Themen werden wir Vorschläge vorlegen. Ebenso wäre es hilfreich, wenn auch hier vom GKV-SV eine Liste der Ansprechpartner*innen bei den Landesverbänden für die Prämien zur Verfügung gestellt würde (Ziffer 5 Abs. 1).
- Der vorliegende Entwurf regelt das Verfahren für die Pflegeeinrichtungen. Hinsichtlich der entsprechenden Regelungen für die Leiharbeitsunternehmen und Personaldienstleister (Arbeitgeber nach § 150a Abs. 1 Satz 2 SGB XI) erfolgen derzeit noch Abstimmungen mit dem BMG, so dass derzeit keine Stellungnahme zu den Einzelheiten erfolgen kann. Es muss sichergestellt sein, dass auch Beschäftigte bei Servicegesellschaften bzw. Fremdfirmen, die im Auftrag der Pflegeeinrichtung tätig sind, die Prämie erhalten. Ihre Tätigkeit für die Pflegeeinrichtung erfolgt im Wege eines Dienstleistungsvertrags. Das Verhältnis von Fremdfirmen, die von Pflegeeinrichtungen beauftragt sind, zu den Pflegeeinrichtungen, ist in der Festlegung ebenso zu regeln wie das Arbeitsverhältnis im Rahmen der Arbeitnehmerüberlassung.
- Nach § 150a Abs. 9 kann die Corona-Prämie u.a. durch die Länder unter Berücksichtigung der Bemessungsgrundlagen der Absätze 1 bis 6 über die dort genannten Höchstbeträge erhöht werden. Um Transparenz für die Mitarbeitenden herzustellen und den Verwaltungsaufwand für die Pflegeeinrichtungen zu reduzieren ist dringend erforderlich, dass das durch die verschiedenen Bundesländer geplante Aufstockungsverfahren mit dem in dieser Festlegung beschriebenen Verfahren harmonisiert wird.
Präambel
- Die Präambel verkürzt im einleitenden ersten Absatz die Prämienzuerkennung auf Beschäftigte, die „insbesondere in Pflege und Betreuung“ eingesetzt sind. Die „insbesondere“-Formulierung verweist zwar auf eine nicht-abschließende Aufzählung der Tätigkeitsarten. Die Prämie wird jedoch allen Beschäftigten von zugelassenen Pflegeeinrichtungen/stationären Hospizen gezahlt. Sie sollte ergänzt werden um Pflege, Betreuung und Hauswirtschaft.
- Als Frist für die Auszahlung der zweiten Tranche durch die Pflegekasse an die Pflegeeinrichtung wird der 15. Dezember 2020 genannt. Wenn die zweite Tranche erst zu diesem Zeitpunkt ausgezahlt wird, ist nicht mehr gewährleistet, dass die Einrichtung diese steuer- und abgabenfrei bis zum 31.12.2020 auszahlen kann. Der Auszahlungszeitpunkt ist auf den 1. Dezember 2020 vorzuziehen (siehe auch Ziffer 6).
Ziffer 1: Geltungsbereich
Mit der Fußnote soll klargestellt werden, dass sich der Geltungsbereich auch auf die stationären Hospize beziehen soll, die über eine Zulassung als Pflegeeinrichtung nach § 72 SGB XI verfügen. Wir begrüßen diese beabsichtigte Klarstellung. Sie ist unserer Ansicht nach aber nicht ausreichend, da nicht alle stationäre Hospize über eine Zulassung als Pflegeeinrichtung nach § 72 SGB XI verfügen, sondern teilweise nur eine Zulassung nach § 39a Abs.1 SGB V und die Voraussetzungen für einen Versorgungsvertrag nach § 72 SGB XI erfüllen. Auch diese Hospize sollten in den Geltungsbereich einbezogen werden. Die Fußnote ist deshalb wie folgt zu fassen: „Einschließlich der stationären Hospize, die über eine Zulassung als Pflegeeinrichtung nach § 72 SGB XI verfügen bzw. die Anforderungen an die Zulassung nach
§ 72 SGB XI erfüllen und einen Versorgungsvertrag nach § 39a Abs. 1 SGB V abgeschlossen haben.“
Ziffer 2: Anspruch der Beschäftigten
- Lt. Absatz 2 haben alle Beschäftigten Anspruch auf eine Corona-Prämie, die im Bemessungszeitraum vom 1. März 2020 bis 31. Oktober 2020 für mindestens drei Monate in einer oder mehreren nach § 72 SGB XI zugelassenen Pflegeeinrichtungen eingesetzt und tatsächlich tätig waren. Wie wird mit angebrochenen Monaten umgegangen? Gilt eine durchschnittliche Zählweise von 30 Tagen als vollständiger Monat? Dies wäre zwingend zu regeln. Jedenfalls wird es abgelehnt, ausschließlich vollständige Kalendermonate in der Zählweise zu berücksichtigen.
- Absatz 3: Unterbrechungen: Die Bewertung im Schlusssatz „(…) mindestens die Hälfte des dreimonatigen Zeitraums tatsächlich tätig…?“ entbehrt der gesetzlichen Grundlage. Der Teilsatz ist ersatzlos zu streichen.
- Unklar ist auch, wie andere Erkrankungen als eine Erkrankung durch COVID-19 erfasst werden, wenn sie z.B. länger als 14 Tage am Stück angedauert hat. Diese Fallkonstellation ist nicht umfasst. Zu konkretisieren ist in jedem Falle, dass die Unterbrechungstatbestände der im Absatz genannten Nummern 2 bis 5 zeitlich nicht auf 14 Kalendertage beschränkt sind.
Ziffer 3: Höhe der Prämie
- Absatz 1 Differenzierung nach Tätigkeitsfeldern: In Nummer 1 ist klarzustellen, dass die „direkte Pflege und Betreuung von Pflegebedürftigen“ auch die Pflegedienst- und Einrichtungsleitungen sowie die Qualitätsmanagementbeauftragten umfasst.
- Die Zuordnung zu Ziffer 3 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 erfolgt aufgrund des Arbeitsvertrags, des Stellenplans und der Dienstplanung. Es ist in Absatz 1 Nummer 1 analog der Gesetzesbegründung zu ergänzen, dass für die aufgezählten Beschäftigten unabhängig von ihrer betrieblichen Bezeichnung ein Anspruch besteht.
- Fraglich ist, wie Berufsgruppen wie z.B. Zentrums- oder Bereichsleiter oder Seelsorger zugeordnet werden, die zu den hochbelasteten Gruppen in der Krise gezählt haben, gleichzeitig aber nicht unbedingt schwerpunktmäßig in der „direkten Pflege“ tätig sind.
- In Absatz 1 Nummer 2 sollte konkretisiert werden, wie die 25% bemessen werden sollen bzw. wann eine Tätigkeit dieser Berufsgruppen als tagesstrukturierend, aktivierend, etc. zu werten ist? Ein Beispiel: Aus unserer Sicht ist es tagesstrukturierend, wenn die Reinigungskraft täglich zur gleichen Zeit in die Bewohnerzimmer zum Reinigen geht.
- Zur Klarstellung sollten in Abs. 1 die Beispiele aus der Gesetzesbegründung aufgenommen werden (z. B. 1.000 € Pflegefach- und Hilfskräfte, Alltagsbegleiterinnen,…)
- Absatz 2 Erhöhung der durchschnittlichen wöchentlichen Arbeitszeit während des Bemessungszeitraums: Es ist klarzustellen, dass bei Mitarbeitenden, die in den Monaten März bis Mai z. B. ein 50 % Anstellungsverhältnis hatten und für diesen Zeitraum auch 50 % der Sonderleistung erhielten, die Prämie nochmal aufgestockt werden kann, wenn z. B in Monaten Juni bis August oder Juni bis Oktober das Anstellungsverhältnis auf z. B. 100% aufgestockt wird. (Die Erhöhung der durchschnittlichen wöchentlichen Arbeitszeit kann beim gleichen Arbeitgeber oder durch einen Arbeitgeberwechsel erfolgen.)
- Absatz 2/Blatt 2 Excelsheet: Nach Absatz 2 hängt der Prozentsatz des Prämienanteils von den im Bemessungszeitraum tatsächlich geleisteten Stunden ab und diese können durchaus von der vertraglich vereinbarten durchschnittlichen wöchentlichen Arbeitszeit abweichen. Die Erläuterung zum Punkt „Summe der Vollzeitäquivalente“ ist entsprechend an Absatz 2 anzupassen.
- Generell stellt sich immer wieder in der Praxis das Problem, das erläuternde Hinweise zum Antrag durch die Leistungserbringer nicht direkt in das Meldeformular gegeben werden können. Diese Hinweise müssen dann mit der Email zum Antrag gegeben werden. Wir bitten, für Erläuterungen ein Freitextfeld vorzusehen.
- Absatz 3: Vollzeit-Stundenumfang von 35 h: Es ist die Fiktion vorgesehen, dass ein Mitarbeitender, der 35 Stunden tätig war, wie ein Vollzeitmitarbeitender behandelt wird. Es bedarf daher der Klarstellung, dass 35 Stunden nicht grundsätzlich als Umfang einer Vollzeitbeschäftigung gilt, sondern bei der Berechnung der Prozentsätze das jeweils in der Einrichtung geltende Vollzeitäquivalent.
- Absatz 5 Berufsbegleitende Ausbildung: Es ist klarzustellen, dass die Prämienbemessung bei einer berufsbegleitenden Ausbildung, bei der/die Auszubildende in Teilzeit als Pflegehilfskraft oder anderweitig arbeitet, anteilig am Ausbildungs- und Beschäftigungsverhältnis erfolgen muss. Oder es muss klargestellt werden, dass hier keine anteilige Kürzung erfolgt.
- Absatz 7: Die Regelung zur Kurzarbeit ist irreführend und wird zu Nachfragen führen. Daher wäre eine Erläuterung wünschenswert, entweder in dem Sinn, dass abweichend von Absatz 2 die tatsächlich geleistete Arbeitszeit bei der Berechnung des Prozentsatzes der Prämienhöhe zur Anwendung kommt oder dass analog zu Absatz 2 die im Arbeitsvertrag vereinbarte regelmäßige Wochenarbeitszeit als Bemessungsgrundlage dient.
- Absatz 8 tatsächlich geleistete Stunden: Es ist klarzustellen, wie die wöchentlich durchschnittlich im Bemessungszeitraum tatsächlich geleisteten Stunden bei einem früheren Arbeitgeber nachgewiesen werden. Der gegenwärtige Arbeitgeber muss sich hier auf die Angaben des Arbeitnehmers verlassen – dies kann nur unter entsprechender Mitwirkung des Beschäftigten erfolgen, was aufzunehmen ist. Gleichzeitig haftet der Arbeitgeber gemäß Ziffer 5 Absatz 6 für die Richtigkeit seiner Angaben. Dieser Widerspruch ist aufzulösen.
Basis sollen „nachgewiesene Angaben der Beschäftigten“ sein. Einen bekannten und erprobten Mechanismus hierzu enthält das Urlaubsrecht mit der sog. Urlaubsbescheinigung, die eine verpflichtend (und erscheint auch wichtig, dass neu eintretende Beschäftigte einen Anspruch haben!) durch den Altarbeitgeber zu erteilende Unterlage im Rahmen der typischen Arbeitspapiere darstellt. An diese Rechtskonstruktion sollte sich der Nachweis hier anlehnen, möglichst sowohl als Positiv- als auch als Negativattest.
- Absatz 8: Nach § 150a Absatz 1 werden die zugelassenen Pflegeeinrichtungen und nicht die Träger verpflichtet, die Prämie auszuzahlen. In Absatz 8 wird nur die Fallkonstellation eines Beschäftigungswechsels zwischen unterschiedlichen Trägern beschrieben. Zu ergänzen ist die Fallkonstellation eines Wechsels zwischen den Pflegeeinrichtungen desselben Trägers.
Ziffer 4: Anspruch der Pflegeeinrichtung
- Ziffer 4 und die nachfolgenden Ziffern enthalten nur Ausführungen zur Prämienauszahlung und den Nachweisverfahren bezogen auf die Pflegeeinrichtungen, nicht jedoch auf die anderen Arbeitgeber i.S. von § 150a Absatz 1 (Arbeitnehmerüberlassung, Werk- oder Dienstleistungsvertrag). Dies ist zu ergänzen. Hier ist analog zu unseren Ausführungen im Vorwort vor allem zu klären, ob eine Servicegesellschaft oder Fremdfirma, die von einer Pflegeeinrichtung mit Aufgaben betraut wurde, die Prämie an die bei ihr Beschäftigten auszuzahlen hat. Des Weiteren ist zu klären, wie die Informationen über diese Beschäftigungsverhältnisse den Pflegekassen übermittelt werden, da diese Arbeitgeber keinen Versorgungsvertrag mit den Pflegekassen haben.
- Absatz 3 sagt aus, dass auch die Aufwendungen, die der Pflegeeinrichtung im Zusammenhang mit der Auszahlung der Prämien entstehen, nicht nach § 150 Absatz 2 SGB XI erstattet werden und auch nicht zu finanziellen Belastungen der Pflegebedürftigen führen dürfen. Hier ist zu konkretisieren, welche Aufwände damit gemeint sind (z.B. buchhalterische Aufwände, Kosten für Steuerberater etc.) und wenn diese Aufwände gemeint sind, welche Stelle im Gesetz diese Festlegung abdeckt.
Ziffer 5: Meldeverfahren
- Absatz 2: Meldefristen: Die Meldefrist 19. Juni 2020 ist selbst bei vollständiger Benehmensherstellung Anfang Pfingsten zu knapp bemessen. Nach der Benehmensherstellung muss sie veröffentlicht werden und die Einrichtungen müssen über die Umsetzung informiert werden. Die Frist für den ersten Meldezeitraum sollte auf den 30. Juni bzw. 1. Juli verschoben werden.
- Absatz 3: Die Nachmeldefrist für die Differenz zwischen gemeldetem und ausgezahltem Betrag ist lt. Ziffer 9 Absatz 1 „jedoch spätestens bis 15. Februar 2021 (…) mitzuteilen“. Insofern sollte hier auch in Satz 2 ein „spätestens“ einzufügen: „… kann die Differenz bis „spätestens“ zum 15. Februar 2021 nachmelden.“
- Absatz 6: Angaben der Einrichtung über die Richtigkeit der Angaben: Die Einrichtung kann nur für die Richtigkeit der Angaben haften, die sie selbst kontrollieren kann. Darunter fällt beispielsweise nicht die Angabe über die durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit bei einem Vorbeschäftigungsverhältnis bei einem anderen Träger sowie über weitere Angaben bezüglich des Tätigkeitsfelds (vierter Spiegelstrich). Hier ist die Einrichtung von den Angaben des Beschäftigten abhängig. Letzteres insbesondere dann, wenn die im Bemessungszeitraum tatsächlich geleisteten Stunden von der vertraglich vereinbarten durchschnittlichen wöchentlichen Arbeitszeit abwichen. Der vierte Spiegelstrich ist zu ergänzen um „gemäß den Angaben der Beschäftigten“ (Das Excelsheet ist entsprechend anzupassen)
Ziffer 6: Auszahlung an die Pflegeeinrichtung
- Absatz 1: Als Frist für die Auszahlung der Pflegekasse an die Pflegeeinrichtung wird der 15. Dezember 2020 genannt. Wenn die zweite Tranche erst zu diesem Zeitpunkt ausgezahlt wird, ist nicht mehr gewährleistet, dass die Einrichtung diese steuer- und abgabenfrei bis zum 31.12.2020 auszahlen kann. Der Auszahlungszeitpunkt ist auf den 1. Dezember 2020 vorzuziehen.
Ziffer 7: Information der Beschäftigten und Informationsschreiben an die Beschäftigten
Auf Seite eins unten ist der Gesetzestext zu den Auszahlungsterminen der Pflegekassen an die Arbeitgeber/Träger der Pflegeeinrichtungen aufgeführt. Das Schreiben erweckt damit den Eindruck, dass diese Termine gleichzusetzen sind mit den Auszahlungsterminen an die Beschäftigten und sie zu diesen Terminen die Sonderleistung erhalten werden. Die Auszahlung der Sonderleistungen hat aber durch die Pflegeeinrichtungen/stationären Hospize spätestens mit der nächstmöglichen regelmäßigen Entgeltauszahlung nach diesen Terminen zu erfolgen. Dies wäre im Schreiben entsprechend zu ergänzen.
Im Muster für das Informationsschreiben sollten auch eine Eingangsbestätigung und ein Hinweis auf eine Mitteilungspflicht über vorherige Arbeitsverhältnisse mit Fristsetzungen enthalten sein, um auf die Mitwirkungspflichten der Beschäftigten schriftlich zu verweisen. Die stationären Hospize sollten ebenfalls in den Text für das Muster neben den Pflegeeinrichtungen aufgenommen werden.
Ziffer 8: Auszahlung an die Beschäftigten
Absatz 1: Da die Auszahlung der Pflegekassen erst zum 15. des jeweiligen in der Festlegung genannten Monats erfolgt und die Gehaltszahlungen trägerindividuell zu unterschiedlichen Zeitpunkten erfolgen, bedarf es einer Verwaltungsfrist für den Träger, die sicherstellt, dass die Prämienzahlung mit der nächstmöglichen Gehaltszahlung erfolgt.
Ziffer 9 Nachweisverfahren
- Absatz 2: Das Mitteilungsmuster ist uns nicht bekannt, sodass wir hierfür auch kein Benehmen herstellen können.
- Absatz 3: Nachweise
- Nachweis auf Verlangen der Pflegekasse: Unserer Ansicht nach handelt es nicht um Gehaltsnachweise, sondern um pseudonymisierte Nachweise über die Auszahlung der Sonderzahlung an die Beschäftigten, da dies Gegenstand des Nachweisverfahrens ist. Dies kann z. B. in Form eines auszugsweisen Journals erfolgen. Darüber hinaus muss das Verlangen der Pflegekasse in schriftlicher Form erfolgen. Des Weiteren ist Satz 2 zu streichen oder aber zu konkretisieren, um welche weiteren Nachweise es sich handelt.
Probleme sehen wir auch beim Nachweis der Bemessung der ausgezahlten Prämien. Neben den Problemen, dass dem Arbeitgeber beim Arbeitsplatzwechsel bzw. bei mehreren Teilzeitstellen nicht die vollständigen Informationen vorliegen können, sehen wir Probleme bei den Teilzeitbeschäftigten.
Nach Ziffer 3 Absatz 2 hängt für Teilzeitbeschäftigte der Prozentsatz der Prämie von den im Bemessungszeitraum tatsächlich geleisteten Stunden ab und diese können durchaus von der vertraglich vereinbarten durchschnittlichen wöchentlichen Arbeitszeit abweichen. Es ist klarzustellen, dass dies durch die Dienstplanung und Arbeitszeiterfassung nachgewiesen wird.
- Absatz 6: Vorlage der Mitteilung über die tatsächlichen Auszahlungshöhen bis spätestens 15.2.2021: Es ist sachlich vollkommen gerechtfertigt, als späteste Mitteilungsfrist den 15.2.2021 zu statuieren. Die Formulierung, wonach die Pflegekasse bei bis dahin nicht erfolgter Rückmeldung alle Beträge zurückverlangen kann, sofern sie diesen Stichtag beispielsweise nur um 1 Tag verfehlt, ist jedoch abzulehnen. Es sollte möglich sein, Sanktionen bei nicht eingehaltener Mitteilungsfrist zu statuieren, jedoch nicht die Rückzahlung der Beträge.
Die BAGFW unterstützt das Anliegen, den Schutz von Kindern und Jugendlichen in Einrichtungen weiter zu verbessern. Sie spricht sich jedoch dagegen aus, dieses Anliegen zum Gegenstand eines eigenständigen und von der umfassenden Reform des SGB VIII abgetrennten Gesetzgebungsverfahrens zu machen. Damit folgt die BAGFW auch der Einschätzung der Bundesregierung, die zum Gesetzentwurf des Bundesrates am 01.04.2020 Stellung genommen hat. Darin heißt es: „Hinzu kommt, dass es durch die Herauslösung einzelner Bereiche aus der geplanten Reform der Kinder- und Jugendhilfe und deren Verfolgung in einem eigenständigen Verfahren zu Friktionen und Unklarheiten innerhalb des Gesamtgefüges der zu erwartenden gesetzlichen Änderungen im Kinder- und Jugendhilferecht kommen könnte. Dies ist vor dem Hintergrund der zwischen CDU, CSU und SPD getroffenen Vereinbarungen im Koalitionsvertrag für die 19. Legislaturperiode zu einer zukunftsfähigen Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe dringend zu vermeiden.“ (Drs.19/18315 S. 25)
Die BAGFW fordert, die 2019 im Dialogprozess diskutierte umfassende Reform des SGB VIII insbesondere im Sinne eines inklusiven SGB VIII umzusetzen und den Schutz von Kindern und Jugendlichen in stationären Einrichtungen zu einem Gegenstand der Reform zu machen.
Der aktuelle Gesetzesantrag des Bundesrates entspricht nahezu wörtlich den Regelungen, die bereits durch das Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG) eingefügt bzw. geändert werden sollten. Der Gesetzesantrag nimmt jedoch keinen der Kritikpunkte auf, die zum KJSG vorgebracht wurden. Die BAGFW weist insbesondere darauf hin, dass die Legaldefinition der Einrichtung, die hier vorgesehen ist, nicht alle Einrichtungen erfasst, die in der Praxis der Kinder- und Jugendhilfe eine Rolle spielen. Der vorgeschlagene Einrichtungsbegriff schließt familienähnliche Wohnformen nicht mit ein und damit ein Betriebserlaubnisverfahren für diese Einrichtungen aus. Es ist für die BAGFW aus fachlicher Sicht nicht nachvollziehbar, warum solche Einrichtungen nicht den Anforderungen einer Betriebserlaubnis unterliegen sollen. Damit wären die Anforderungen an die Qualität, die Finanzierung und entsprechende Schutzkonzepte auch für diese Angebote klar definiert.
Ein verbesserter Kinderschutz kann nicht allein durch Änderungen aufsichtsrechtlicher Regelungen erreicht werden. Vielmehr muss das Ziel eines deutlich verbesserten Schutzes Maßstab für die bevorstehende große Reform des Rechts der Kinder- und Jugendhilfe sein. Eine isolierte Weiterentwicklung einzelner Vorschriften hilft zum einen nicht weiter und gefährdet zum anderen die Reform insgesamt.
Die BAGFW appelliert daher an den Deutschen Bundestag, das Anliegen, das der Bundesratsinitiative zugrunde liegt, im Rahmen des laufenden umfassenden SGB VIII - Reformprozesses aufzugreifen, den Gesetzesantrag des Bundesrates jedoch abzuweisen. Die Verbesserung des Kinderschutzes bedarf weitaus umfassenderer und zum Teil anderer Maßnahmen, als der Gesetzesantrag des Bundesrates sie vorsieht. So werden unabhängige Ombudsstellen heute als integraler Bestandteil der Qualität sichernden Strukturen der Kinder- und Jugendhilfe verstanden. Auch der erweiterte Beratungsanspruch von Kindern und Jugendlichen dient nicht zuletzt der Verbesserung des Schutzes. Die Reform des SGB VIII muss der Erkenntnis folgen, dass der Schutz der Betroffenen nur zusammen mit diesen und nicht alleine unter Anwendung des Aufsichtsrechts gelingen kann. Dabei betont die BAGFW, dass sie die Weiterentwicklung des Aufsichtsrechts begrüßt und unterstützt. Sie muss aber eingebettet sein in ein Reformkonzept, dem der Gedanke „Vom Kind aus denken“ zugrunde liegt.
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Die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege bedanken sich für die Möglichkeit, zum vorliegenden Referentenentwurf Stellung zu nehmen, und äußern sich gemeinschaftlich als Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW).
Im August 2017 ist das Onlinezugangsgesetz (OZG) in Kraft getreten, das Bund, Länder und Kommunen verpflichtet, bis 2022 ihre Verwaltungsleistungen auch digital anzubieten. Mit dem Gesetzentwurf zur Digitalisierung von Familienleistungen erfolgt nur ein erster Schritt zur Umsetzung.
Generelle Einschätzung:
Die BAGFW begrüßt, dass mit dem vorliegenden Gesetzentwurf die rechtlichen Grundlagen der Verwaltungsverfahren überprüft und die Potenziale der Digitalisierung für ihre Abwicklung gehoben werden sollen. Mit der Rechtsgrundlage für den Datentransfer zwischen Krankenkassen, Standesämtern, Arbeitgebern und der Datenstelle der Deutschen Rentenversicherung wird die Beantragung von Familienleistungen entbürokratisiert und die Inanspruchnahme für Eltern vereinfacht.
Ein automatischer Datenaustausch zwischen diesen Behörden führt zu einer erheblichen Zeit- und Kosteneinsparung auf Seiten der Familien und der Behörden. Allein eine automatisierte Mitteilung aus dem Geburtenregister an die Elterngeldstelle über die Beurkundung dürfte erheblich zu einem reibungsloseren Ablauf beitragen. Die Ausstellung einer Geburtsurkunde und der damit verbundene Nachweis zur Antragstellung dauern gegenwärtig oft bis zu mehreren Monaten.
Nicht verständlich ist jedoch, dass nach dem Begründungstext S. 11 für eine elektronische Abfrage von Entgeltbescheinigungsdaten auf den Kinderzuschlag trotz der notwendigen heterogenen Erfassung von Einkommensinformationen kein gesonderter rechtlicher Regelungsbedarf gesehen wird. Die für die Bedarfsprüfung notwendigen Nachweise sind besonders schutzwürdig und es bedarf u.E. einer ausdrücklichen Einwilligung des Betroffenen, dass diese Daten z.B. bei dem Arbeitgeber abgefragt werden und dieser auf diesem Wege von der Beantragung erfährt.
Bei den vorliegenden Änderungen geht es nicht nur um eine einfache digitale Umsetzung der bisherigen papiergebundenen Anträge. Es werden vielmehr auch neue Zugänge zu sozialen Leistungen geschaffen. Aus unseren Beratungen wissen wir von der Komplexität der Anspruchsvoraussetzungen, die viele von einer Antragstellung abschrecken. Gerade beim Kinderzuschlag sind der Nachweis von Mindesteinkommensgrenzen, die Berechnung von Regelbedarf, Mehrbedarf und Wohnkosten sowie die Einkommensanrechnung auf den Kinderzuschlag schwer zu verstehen. Oft werden deshalb auch unsere Beratungsdienste um Hilfe gebeten. Damit digitale Angebote die Antragstellung erleichtern können, müssen sie deshalb aus sich heraus verständlich und nutzerorientiert sein.
Die Freie Wohlfahrtspflege, die in ihren Diensten und Einrichtungen von den Bedarfen und Problemlagen der Sozialleistungsempfänger erfährt und der als gemeinwohlorientiertes „Gerüst der sozialen Infrastruktur“ in der Daseinsvorsorge eine besondere Rolle zukommt, kann bei der Gestaltung der Zugänge zu Angeboten der Daseinsvorsorge als intermediäre Instanz zwischen Staat und Bürgerinnen und Bürgern sowie zwischen Leistungsträgern und Leistungsempfängerinnen und Leistungsempfängern vermitteln. Sie kann die Solidarität in der Gesellschaft fördern, zur Akzeptanz der neuen Zugänge beitragen und damit die soziale Teilhabe sichern. Diese Rolle als Anwältin auf der Seite der Sozialleistungsempfänger kann sie aber nur wahrnehmen, wenn sie in den auf Landesebene errichteten Digitalisierungslaboren des IT-Planungsrates einbezogen wird und die Nutzerperspektive vortragen kann. Dies gilt umso mehr da, wo sie als „Koproduzentin von Daseinsfürsorge“ im sozialrechtlichen Dreiecksverhältnis sozialrechtliche Leistungsansprüche umsetzt. Dort ist sie, z.B. als Träger von Kitas bei der digitalen Platzvergabe, von den Veränderungen direkt betroffen und muss bei der Implementierung von digitalen Angeboten einbezogen werden. Nur wenn Bürgerinnen und Bürger, Wirtschaft und Freie Wohlfahrtspflege gemeinsam mit der Verwaltung die Prototypen erarbeiten, können diese Labore bessere Ergebnisse für eine sinnvolle Interaktion erzielen. In der weiteren Umsetzung des Gesetzentwurfs sollte dies stärker als bisher beachtet werden.
Die Anpassung des OZG an die DSGVO-Terminologie erscheint sinnvoll.
- Bei der konkreten Einführung von Onlineverfahren muss darauf verstärkt geachtet werden, die Antragstellung so zu gestalten, dass keine Elterngruppen benachteiligt werden. Die digitale Beantragung muss barrierefrei sein und sowohl gängige Endgeräte der Eltern als auch analoge Antrags- und Beratungsmöglichkeiten für weniger Netz-affine Eltern zulassen.
- So geht aus dem Entwurf auch nicht hervor, wie selbstständig Erwerbstätige und nicht Erwerbstätige, beispielsweise Studierende einbezogen werden. Da rv-BEA ein Verfahren der Rentenversicherung ist, ist zu unterstellen, dass ein elektronischer Datenaustausch nur für abhängig Beschäftigte (und einige wenige rentenversicherte Selbstständige) möglich ist. Es ist sicherzustellen, dass das digitale Antragsverfahren allen Antragstellerinnen und Antragstellern zur Verfügung steht.
- Es ist grundsätzlich zu begrüßen, dass die Nutzung des digitalen Angebotes freiwillig ist und Familien sich auch für die papierbasierte, analoge Form entscheiden können. Die Wahlmöglichkeit zwischen der digitalen, teil-digitalen und papierbasierten Antragstellung muss den Familien leicht verständlich vermittelt werden.
- Angesichts der Komplexität der Bezugsmöglichkeiten des Elterngeldes/ ElterngeldPlus stehen die werdenden Eltern vor weitreichenden Entscheidungen. Die vielfältigen Varianten, wie sie die Betreuung ihres Kindes partnerschaftlich aufteilen und Familie und Beruf besser vereinbaren können, schließen oftmals ihre gesamte Lebensplanung mit ein. Manchen Eltern fehlt es zudem an Vertrauen in die Behörden. Deshalb hält die BAGFW es für unverzichtbar, dass die Beratungskapazität von allgemeinen Sozial-Beratungsstellen der Freien Träger aufrechterhalten und die durch die Synergieeffekte freigewordenen Ressourcen für deren Ausbau genutzt werden.
Unsere Anmerkungen und Forderungen im Einzelnen:
Zu Artikel 1 Änderung des Onlinezugangsgesetzes
Zu Nummer 2: (§ 8 Festlegung von Sicherheitsniveaus, elektronischer Nachweis der Identität)
Mit der Änderung wird das Sicherheitsniveau auch für den nicht-grenzüberschreitenden Nachweis der Identität an EU-Recht orientiert und eine Harmonisierung mit den Vorgaben der eIDAS-Verordnung hergestellt. Die BAGFW begrüßt, dass damit ein Flickenteppich im In- und EU-Ausland durch die zusammenhängende technische Infrastruktur vermieden wird. Damit wird für alle Verwaltungsleistungen, die auch EU-Ausländern in Deutschland zur Verfügung stehen, ein durchgängiges Sicherheitsniveau gewährleistet.
Zu Artikel 3 Änderung des § 57 der Personenstandsverordnung (PStV)
Die Ergänzung der Mitteilungspflichten des Standesamtes, das die Geburt beurkundet, an die Elterngeldstelle ergibt sich aus der Regelung zu § 25 des Gesetzes zum Elterngeld und zur Elternzeit. Die Besonderheiten bei Adoptionsfreigabe bzw. bei einer vertraulichen Geburt, die i.d.R. ebenfalls zu einer Adoption führt, sind aber nicht ausgearbeitet. Im Falle einer Freigabe zur Adoption verwendet das Standesamt bei dem Eintrag ins Geburtenregister die Daten der leiblichen, abgebenden Eltern, die aber kein Elterngeld beantragen.
Eine Mitteilung an die Elterngeldstelle kann und darf – zum Schutz der abgebenden Eltern – in dem Fall niemals vom Standesamt erfolgen. Bereits ab dem Zeitpunkt der Aufnahme des Kindes haben die annehmenden Eltern einen Anspruch auf Elterngeld – auch wenn das Adoptionsverfahren zu diesem Zeitpunkt noch nicht vollständig abgeschlossen ist. Zum Zeitpunkt der Beurkundung mit dem Familiennamen der annehmenden Eltern kommt die Mitteilung zu spät, da dies meist erst rund ein Jahr nach der Geburt des Kindes erfolgen wird. Auch bei vertraulichen Geburten wird die Anonymität der Mutter besonders geschützt. Hier läuft der digitale ´Automatismus´ ins Leere, da dem Standesamt nur ein Pseudonym der Mutter vorliegt und es selbst den Familiennamen des Kindes bestimmt, der keinerlei Verwandtschaft aufklärt. Im Gesetz muss daher dringend die Art und Weise der im Onlinedienst für die Antragstellung zu erhebenden Daten der Adoptivpflegeeltern geregelt werden. Bei der Umsetzung der Kernidee des „Kombi-Antrages“, bei der Geburt eines Kindes die Namensfestlegung im Rahmen der Geburtsangaben und die Anträge auf Kindergeld, Elterngeld und Kinderzuschlag gemeinsam vorzunehmen, muss die spezifische Konstellation bei Adoptionen und vertraulicher Geburt Berücksichtigung finden.
Zu Artikel 6 Änderung des Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetzes (BEEG)
Zu Nummer 1
Zu Buchstabe b) § 9 BEEG Einkommens- und Arbeitszeitnachweis, Auskunftspflicht des Arbeitgebers
Es wird begrüßt, dass mit § 9 Absatz 2 Satz 1 zunächst den nach § 12 Absatz 1 zuständigen Behörden die Möglichkeit zum Datenabfrage- und Übermittlungsverfahren gemäß § 108a SGB IV eröffnet wird. Eine Verpflichtung der Elterngeldstellen, nach der Übergangsfrist elektronische Datenabfrage- und Übermittlungsverfahren gemäß § 108a SGB IV zusätzlich zu der analogen Datenerfassung zu nutzen, wird allerdings nicht geregelt. Hier sollte eine Verbindlichkeit geschaffen werden, damit Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern spätestens nach Ablauf der Übergangsphase beide Nachweiswege offenstehen.
Richtig ist, dass die Datenabfrage nur mit vorheriger Einwilligung der Betroffenen erfolgen darf. Neben der Datenabfrage seitens der Behörde sollte aber auch die Datenübermittlung seitens des Arbeitgebers, der ein systemgeprüftes Entgeltabrechnungs-programm nutzt und deshalb nach § 9 Absatz 2 Satz 3 zur Übermittlung verpflichtet ist, von der Einwilligung der Betroffenen abhängig gemacht werden.
Ergänzungsvorschlag zu § 9 Absatz 2 Satz 3:
„Wenn der betroffene Arbeitgeber ein systemgeprüftes Entgeltabrechnungsprogramm nutzt, ist er verpflichtet, nach vorheriger Einwilligung seitens der betroffenen Arbeitsnehmerin oder des betroffenen Arbeitnehmers die jeweiligen Entgeltbescheinigungsdaten mit dem in § 108a Absatz 1 des Vierten Buches Sozialgesetzbuch vorgesehenen Verfahren zu übermitteln.“
Zu Nummer 3: (§ 25 Datenübermittlung durch die Standesämter)
Die Maßgabe, dass für die Datenübermittlung ein Antrag auf Elterngeld gestellt sein muss, gewährleistet, dass bei der jeweils zuständigen Elterngeldstelle ein Elterngeldantrag vorliegt und diesem die Mitteilung des für die Entgegennahme der Geburt zuständigen Standesamtes über die Geburt korrekt zugeordnet werden kann. In der Praxis der Adoptionsvermittlung zeigt sich allerdings, dass bei der Verknüpfung von Verwaltungsleistungen (z.B. Vergabe der Rentenversicherungsnummer) mit dem Geburtsgeschehen immer wieder die Anonymität der abgebenden Eltern verletzt wird. So kann es gleich zum Lebensbeginn, wenn die Adoptionspflege noch nicht sicher ist, die leiblichen Eltern also noch die volle elterliche Sorge haben und die annehmenden Eltern Elterngeld beantragen, eine große Verwirrung geben und Elterndaten versehentlich weitergegeben werden. Hier muss der Gesetzentwurf noch einmal geschärft werden (siehe oben).
Zu Nummer 4: (§ 28 Übergangsfristen bzw. Erprobung in Pilotprojekten)
Für das Jahr 2020 soll ein Pilotbetrieb im Land Bremen realisiert werden. Die BAGFW begrüßt, dass damit auf den bisherigen Erfahrungen mit dem Antragsassistenten ELFE (Einfach Leistungen Eltern) aufgebaut wird.
Zu Artikel 7 Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch
Zu § 108a: (Elektronische Abfrage und Übermittlung von Entgeltbescheinigungsdaten für Elterngeld)
Der neue § 108a Abs. 1 S. 2 SGB IV sieht eine „unverzügliche“ Datenübermittlung vor; bereits jetzt ist in § 14 Abs. 1 Nr. 2 BEEG die „nicht rechtzeitige“ Bescheinigung von Einkommens- und Arbeitszeitnachweisen eine bußgeldbewehrte Ordnungswidrigkeit.
Es muss allerdings auch klargestellt werden, was die Folge ist, wenn Arbeitgeber die von § 108a Abs. 1 S. 2 SGB IV geforderte Datenübermittlung nicht „unverzüglich, spätestens mit der nächsten Entgeltabrechnung“ vornehmen. Denn die Bußgeldvorschrift des § 14 Abs. 1 Nr. 2 BEEG soll nach dem Entwurf nur in den Fällen des § 9 Abs. 1 BEEG und nicht auch in den Fällen des § 9 Abs. 2 BEEG gelten. Was gilt bei Verstößen gegen § 9 Abs. 2 BEEG?
Zu Artikel 8 Änderung des Fünften Buches Sozialgesetzbuch
Zu § 203: Meldepflichten bei Bezug von Erziehungsgeld oder Elterngeld
Es wird geregelt, dass die zuständige Krankenkasse der Elterngeldstelle den Zeitraum und die Höhe des bewilligten Mutterschaftsgeldes unverzüglich zu übermitteln hat, wenn die Leistungsempfängerin in diesen Datenaustausch zuvor eingewilligt hat. Auch Beginn und Ende der Zahlung des Elterngeldes oder des Erziehungsgeldes sind durch die Elterngeldstelle unverzüglich der zuständigen Krankenkasse zu übermitteln. Geregelt wird außerdem, dass die Anforderung und die Übermittlung der Daten elektronisch durch eine gesicherte und verschlüsselte Datenübertragung erfolgen müssen.
Der Übertragungsweg und die Einzelheiten des Verfahrens legt der Spitzenverband Bund der Krankenkassen in Grundsätzen fest, die der Genehmigung des BMG im Einvernehmen mit dem BMFSFJ bedürfen.
Die BAGFW weist in diesem Zusammenhang auf die Notwendigkeit des Datenschutzes im Fall von Inkognito-Adoptionen hin. Die Verfahren der elektronischen Datenübermittlung sollten nicht in Konflikt mit dem Ausforschungsverbot nach § 1758 BGB geraten (z.B. Annehmende Mütter erhalten kein Mutterschaftsgeld).
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Die Koalitionsfraktionen des Deutschen Bundestages haben am 24. April 2020 eine Formulierungshilfe zum COVID-19 ArbGG/SGG AnpassungsG vorgelegt. Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege wurde zur Stellungnahme eingeladen. In der Kürze der Zeit war eine gemeinsame Stellungnahme zu allen Teilen des Gesetzespakets nicht möglich. Die Mitgliedsverbände werden sich in einzelverbandlichen Stellungnahmen soweit äußern wie es ihre Befassung mit dem Gesetz zulässt, sie behalten sich zu einem späteren Zeitpunkt ausführlichere Stellungnahmen vor. Gemeinsam ist uns wichtig, dass vorrangige Mittel nicht vor Antragstellung nach SodEG beantragt werden müssen.
Wir bedauern grundsätzlich, dass der Gesetzentwurf viele auch der Politik gut bekannte Probleme nicht aufgreift und der Existenzsicherung der Bevölkerung zu geringe Aufmerksamkeit schenkt.
Die BAGFW gibt mit dieser Stellungnahme einige gemeinsame Hinweise zu Artikel 5, den das SodEG betreffenden Änderungsvorschlägen:
Artikel 5: Änderung des Sozialdienstleister-Einsatzgesetzes
§ 2
Frühförderung
Die BAGFW begrüßt die Ergänzung zu § 2 sehr, gemäß derer die Leistungslücke des SGB V-Leistungen der interdisziplinären Früherkennung und Frühförderung nach § 46 SGB IX i.V. mit der Frühförderungsverordnung nach § 48 Nummer 1 SGB IX geschlossen wird.
Mit der Ergänzung zu § 2 SodEG wird diese Lücke nun geschlossen.
Ergänzender Regelungsbedarf zu § 2: Fahrdienste zur WfbM ohne direkte Vertragsbeziehung zum Leistungsträger
Fahrdienste zur WfbM, die nicht mit eigenem Personal und eigenen Fahrzeugen sichergestellt werden, sondern mit denen Dritte im Rahmen des Personenfördergesetzes beauftragt sind, fallen nicht unter den Schutzschirm des SodEG, denn die beauftragten Personenbeförderungsunternehmen stehen in keiner unmittelbaren Vertragsbeziehung zum Leistungsträger der Eingliederungshilfe, sondern zur sie beauftragenden WfbM. Aktuell führt diese Konstellation dazu, dass die Fahrdienste vor erheblichen Erlöseinbrüchen stehen.
Die Stillhaltekosten im Fahrdienst für Menschen mit Behinderung zur WfbM sind beträchtlich. Auch wenn für die Beschäftigten der Fahrdienste Kurzzeitarbeit beantragt ist und geringfügig Beschäftigte vorübergehend aus eigenen Mitteln weiterbezahlt werden, müssen die laufenden Betriebskosten refinanziert werden. Die BAGFW setzt sich dringend dafür ein, diese Lücke im vorliegenden Gesetzentwurf zu schließen.
§ 3
Die Begründung macht deutlich, dass es darum geht, über vorrangige Mittel, die bereits vor Antragsstellung beantragt und verfügbar sind, bei Antragstellung zu informieren, um überschießende Bewilligungssummen zu vermeiden, die später zurückerstattet werden müssten. Dieser Regelungsinhalt sollte in der Formulierung klarer gefasst werden.
Änderungsbedarf
Die sozialen Dienstleister haben bei Antragstellung gegenüber dem zuschussgewährenden Leistungsträger anzuzeigen, in welcher Höhe vorrangige Mittel nach § 4 Satz 1 bereits fließen.
§ 6 Datenschutz
Der neue § 6 verfolgt das Ziel, die Information über Unterstützungsmöglichkeiten (Abs. 1 und 2) und zu den Abrechnungsgrundlagen (Abs. 3) verfügbar zu machen.
Die BAGFW geht davon aus, dass dazu keine datenschutzrechtliche Ermächtigungsgrundlage erforderlich ist.
Zu Abs. 1:
Die Kontaktaufnahme erfolgt über die Ansprechpartner der sozialen Dienstleister, deren Daten ohnehin vorhanden sind und im Rahmen der allgemeinen Aufgabenerfüllung verarbeitet werden dürfen.
Dazu reicht die allgemeine Rechtsgrundlage im SGB X aus.
Zu Abs. 2:
§ 6 Abs. 2 sieht die Befugnis für die Leistungsträger vor, soziale Dienstleister zu verpflichten, Informationen unmittelbar an öffentliche Stellen (z.B. Krisenstäbe) zu übermitteln. Diese Ermächtigung wird von der BAGFW grundsätzlich begrüßt. Sie hat allerdings keinen datenschutzrechtlichen Gehalt, weil die zu übermittelnden Informationen keine personenbezogenen Daten umfassen (dürfen).
Die BAGFW geht davon aus, dass nach § 1 SodEG keine personenbezogenen Daten übermittelt werden müssen, sondern lediglich eine Erklärung zum Umfang der verfügbaren Ressourcen. Konkret: Es wäre z.B. zu übermitteln, dass ein Gärtner einer Jugendhilfeeinrichtung verfügbar ist (der dann ggf, als Erntehelfer einsetzbar wäre). Personenbezogene Daten dieses Gärtners sind nicht erforderlich und dürfen daher auch nicht übermittelt werden.
Zu Abs. 3:
Für die Berechnung des Zuschusses nach § 3 ist die Verarbeitung personenbezogener Daten nicht erforderlich. Die Dienstleister sind insoweit auch nicht verpflichtet, personenbezogene Daten zu übermitteln, sondern lediglich die Summe der vorrangigen Mittel.
Für diese Feststellung des nachträglichen Erstattungsanspruches nach § 4 genügt die Bezifferung der bereiten Mittel. Auch im Falle des Kurzarbeitergeldes geht es nicht um die Frage, wer Kurzarbeitergeld bezogen hat, sondern um die Frage, in welcher Höhe Kurzarbeitergeld die Belastungen des Trägers gemindert hat (§ 4 Satz 1 Nr. 3).
Änderungsbedarf:
Die Überschrift zu § 6 ist zu ändern in „Informationspflichten“.
Absatz 1 entfällt.
Absatz 2 ist wie folgt zu fassen: „Die Dienstleister sind auf Anforderung der Leistungsträger verpflichtet, Informationen zu den Unterstützungsmöglichkeiten nach § 1 an öffentliche Stellen im Rahmen der gesetzlichen Aufgaben dieser Stellen zu übermitteln.“
Absatz 3 entfällt
§ 7 Rechtsweg
Der Rechtsweg sollte einheitlich bei den Sozialgerichten liegen.
Änderungsbedarf:
Absatz 1: Der Satz endet hinter „zuständig“, der folgende Relativsatz entfällt.
Absatz 2: Satz 2 entfällt. Satz 3 geändert: Satz 1 gilt nicht für Verfahren, die sich in der Hauptsache erledigt haben.
§ 8 Evaluation
Die BAGFW begrüßt nachdrücklich, dass die Regelungen des SodEG evaluiert werden sollen. Das BMAS sollte jedoch zur Evaluation verpflichtet werden. Die „Kann“-Regelung ist entsprechend nachzubessern. Des Weiteren ist klarzustellen, dass die in die Untersuchung einzubeziehenden Dritten unabhängige Wissenschaftler sein sollen. Die BAGFW fordert, dass die vom SodEG betroffenen Spitzenverbände der Einrichtungen und Dienste über einen Beirat in die Evaluation eingeschlossen werden müssen. Dies ist in der Gesetzesbegründung zu ergänzen.
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Die Freie Wohlfahrtspflege ist korporative und kooperative Mitgestalterin des Sozialstaats. Sie ist in allen Landkreisen und größeren Kommunen vertreten. Vor Ort ist sie mit ihren einzelnen Einrichtungen, vielfach auch mit kommunalen bzw. regionalen Arbeitsgemeinschaften und Kreisverbänden anzutreffen. Sie ist als ein tragender Teil in die kommunale Daseinsvorsorge eingebunden. Ihre Träger und Einrichtungen sind multifunktionale Organisationen, die nicht nur breit aufgestellt soziale und gesundheitsbezogene Dienstleistungen erbringen, sondern auch die Interessen sozial benachteiligter Menschen sozialanwaltschaftlich vertreten und Möglichkeiten zivilgesellschaftlichen Engagements bieten.
Die Freie Wohlfahrtspflege hält nicht nur ihre sozialen und gesundheitsbezogenen Dienstleistungen unterschiedslos für alle Menschen im Sozialraum vor, sondern betreibt darüber hinaus zahlreiche bundes-, landes- oder kommunal bezuschusste oder durch Eigenmittel finanzierte Migrationsfachdienste, deren Inanspruchnahme freiwillig und kostenlos ist. Diese bieten rechtliche und (psycho-)soziale Beratung, Unterstützung und Begleitung. Migrationsfachdienste der Freien Wohlfahrtspflege finden sich in allen Landkreisen und größeren Städten. Sie sind anerkannter Teil des Gemeinwesens und in Netzwerken mit anderen spezialisierten Regeldiensten und Angeboten verbunden.
Nachfolgend sind Empfehlungen formuliert, wie die Zusammenarbeit von freien und kommunalen Akteuren vor Ort gut gelingen kann, so dass sich öffentliche Leistungen und die Tätigkeit der Freien Wohlfahrtspflege zum Wohle der Leistungsberechtigten wirksam ergänzen. Die Beachtung des Subsidiaritätsprinzips ist dabei von entscheidender Bedeutung.[1]
Die Darstellung orientiert sich an den im Themenforum diskutierten sechs Handlungsfeldern.
Flexible und zukunftsfähige Strukturen und Steuerungsinstrumente etablieren
In der demokratisch verfassten Stadt- bzw. dörflichen Gesellschaft sollten grundsätzliche Fragen, die die Steuerung von Zukunft und Entwicklung des örtlichen Gemeinwesens betreffen, nicht nur aus der Perspektive des Verwaltungshandelns beschrieben werden.
Kommunen funktionieren wesentlich aufgrund bürgerschaftlichen Engagements und örtlicher Zivilgesellschaft – einschließlich von Migrantenorganisationen – und des guten Zusammenspiels der Kommunalverwaltung mit ihnen. Die Verwaltungsplanungen und -entscheidungen auf dem Weg zur weltoffenen Kommune benötigen Partizipation und brauchen die Unterstützung von Akteuren außerhalb der Verwaltung. Strittige Fragen müssen im Diskurs der Stadtgesellschaft ausdiskutiert und zivilgesellschaftliche Akteure dabei einbezogen werden. Dann lassen sich eine breite Akzeptanz und eine gemeinsame Verantwortung bei der Umsetzung sehr viel besser erreichen.
Beispielsweise unterstützen freie Träger und freiwillig Engagierte Geflüchtete beim Auszug aus Gemeinschaftsunterkünften sowie andere Eingewanderte bei der Wohnungssuche. Sie fördern Flüchtlingskinder mit Hausaufgabenhilfen und Angeboten der Schulsozialarbeit. Freie Träger stehen als Partner zur Verfügung, um Geflüchteten und Neuzugewanderten den Eintritt in Ausbildung und Erwerbsleben zu ermöglichen.
- Freie Träger wie die Wohlfahrtspflege sollten, wo das nicht schon geschieht, in Aufnahmeprogramme von vornherein aktiv einbezogen werden, zum Beispiel über „Runde Tische“ aller gesellschaftlichen Akteure.
- Dort, wo im Rahmen der Erbringung von freiwilligen kommunalen Aufgaben Angebote der Integrationsbegleitung ausgebaut werden, treten sie stellenweise in Konkurrenz zu den schon bestehenden Angeboten freier Träger. Unter Beachtung des Subsidiaritätsprinzips sollten Regelungen für eine strukturierte und effektive Zusammenarbeit zwischen den öffentlichen, frei-gemeinnützigen und den migrantischen Organisationen der Integrationsarbeit entwickelt werden.
- Freie Träger der Wohlfahrtspflege sollten bei der Diskussion über die Verstetigung von Projekten mit Geflüchteten von Anfang an berücksichtigt und ihre bisherigen Erfahrungen und ihre Expertise in die weiteren Überlegungen eingebunden werden.
Konzeptionelle Grundlagen für kommunale Integrationspolitik/-praxis festigen
Die Freie Wohlfahrtspflege unterstützt die Kommunen in ihren Konzepten zur sozialen Eingliederung in der Einwanderungsgesellschaft und bringt sich diskursiv, unter Nutzung ihrer langjährigen Expertise aus ihrem Wirken auch auf Landes- und Bundesebene, in das kommunale Geschehen ein.
Die vielfältigen Kooperationsansprüche im Bereich Integration erfordern eine lokale Koordinierung und Federführung. Dabei sollte die Einbeziehung der freien Träger in partizipativer Weise und unter dem Subsidiaritätsprinzip zur Geltung kommen. Folgende Elemente bieten sich für die Aufnahme in solche Konzepte u.a. an:
- Dort, wo es örtliche Integrationskonzepte gibt, sollte die Freie Wohlfahrtspflege, sofern noch nicht geschehen, eingebunden werden. Integrationskonzepte sollten gemeinsam begleitet, ausgewertet und weiterentwickelt werden.
- Die Träger der Freien Wohlfahrtspflege sollten, wo das noch nicht geschehen ist, an Runden Tischen beteiligt werden, um gemeinsam mit anderen Akteuren sozialräumliche Ansätze verfolgen zu können. Bei der Weiterentwicklung oder Neueinrichtung von Migrationsfachdiensten wie z. B. Integrationsmanager/-innen oder Ehrenamtlichen-Netzwerken sollten Synergien zwischen diesen und den Migrationsfachdiensten der Freien Wohlfahrtspflege hergestellt werden, um Vernetzung und Austausch zu stärken.
Ressortübergreifende Zusammenarbeit und Vernetzung in Kommunen optimieren
Eine lokale Koordinierung kann u.a. in folgenden Bereichen etabliert und verstärkt werden:
- Die Intensivierung der Vernetzung und Zusammenarbeit zwischen Diensten der Freien Wohlfahrtspflege und den Jobcentern bergen Potentiale für die bessere Verzahnung aller Angebote zur Unterstützung der Arbeitsmarktintegration. Kooperationsvereinbarungen zwischen Diensten der Freien Wohlfahrtspflege und den Jobcentern, wie es sie in manchen Kommunen schon gibt, können dafür eine gemeinsame Arbeitsgrundlage schaffen.
- Mit Blick auf die Heterogenität der Zielgruppe ist ein Deutschsprachkursangebot von Vorteil, das im Hinblick auf die lokalen Bedarfe flexibel gestaltbar ist und damit schnell auf Änderungen reagieren kann. Wenn die Kommunen die Koordinierung der Sprachkurse selbst verantworten, können sie besser mit eigenen oder von den Ländern verantworteten Angeboten oder Maßnahmen zur Arbeitsmarktintegration sowie mit weiteren Akteuren der Integrationsarbeit wie den Migrationsberatungsstellen der Freien Wohlfahrtspflege verzahnt werden.[2] Deshalb sollte die Verteilung von Teilnehmenden in die Kurse federführend in der Zuständigkeit kommunaler und freier Träger liegen, und bereits erprobte und leistungsfähige kommunale Koordinierungsstrukturen nutzen.
- Menschen aus anderen EU-Staaten, die infolge prekärer Beschäftigungsverhältnisse unterstützungsbedürftig werden, sind auf fachübergreifende Ansätze und kommunale Konzepte zur Überwindung von Prekarisierung angewiesen, um aus einem Teufelskreis von Mittellosigkeit, Wohnungsverlust, Krankheit und Rechtlosigkeit wieder herauszukommen. Die freien Träger erbringen durch Angebote wie Schuldnerberatung, Wohnungslosenhilfe oder MBE Leistungen, die die Folgen der Prekarisierung und von Leistungsausschlüssen abfedern und somit die Kommunen entlasten. Dabei geht es um die Bereitstellung von sozialem Wohnraum, um Beratung und Begleitung in ordnungsrechtlicher Unterbringung, um niedrigschwellige Beratungsangebote und um Zugang zu gesundheitlicher Versorgung. Bei der Unterbringung von Wohnungslosen sollte die kommunale Zusammenarbeit mit Trägern der Freien Wohlfahrtspflege verstärkt werden. Die polizeirechtliche Verpflichtung zur Beseitigung von Obdachlosigkeit gilt auch für Menschen ohne Anspruch auf Sozialleistungen.
- Kommunale Stellen und Träger der freien Wohlfahrtspflege sollten stärker kooperieren, um in der kommunalen Daseinsvorsorge die interkulturelle Öffnung voranbringen.
Informationsgrundlagen und Wissenstransfer innerhalb und zwischen Kommunen verbessern
Bei der Verknüpfung und Optimierung vorhandener Instrumente von Sozial- und Bildungs- sowie Integrationsmonitoring sollten das Wissen und die Fachlichkeit, die die Einrichtungen der Freien Wohlfahrtspflege aufgrund ihrer Praxis- und Alltagserfahrung einzubringen haben, genutzt werden.
- Soziale Arbeit ist auf das Vertrauen der sie Nutzenden angewiesen. Die Sinnhaftigkeit und Rechtfertigung eines kommunalen individuellen und langfristigen Monitorings erschließen sich nicht, auch nicht außerhalb der Beratungsarbeit. Aufwand, freiheitlich-demokratische Legitimation und Ertrag stehen kaum in einem akzeptablen Verhältnis.
- Case Management hat die Aufgabe, Förderlücken in Versorgungsthemen zu identifizieren. Freie Träger können dieses Wissen zu Förderlücken in kommunale Strukturen einspielen.
Kommunale Entscheidungsträger stärken
Es gehört es zu den Forderungen und Aufgaben der Freien Wohlfahrtspflege, stabile rechtliche Rahmenbedingungen für Förderprogramme von Bund und Ländern für Demokratie und gegen Rassismus zu schaffen, damit kommunalen Entscheidungsträgern stärkere Unterstützungsstrukturen vor Ort zur Seite stehen.
- Eine rechtsextremistische Bedrohungssituation besteht nicht nur für kommunale Entscheidungstragende, sondern auch für Bürgerinnen und Bürger, eingewanderte wie ortsansässige, die rassistischen Zuschreibungen ausgesetzt sind. Sie müssen ausdrücklich in das kommunale „Wir“ und in Schutzstrategien einbezogen werden.
- Rassistische Diskriminierung ist als Herausforderung in kommunalen Strategien sowie im Ergebnispapier dieses Themenforums ausdrücklich zu benennen. Darüber hinaus müssen freie und kommunale Träger zur Bekämpfung von rassistischer Diskriminierung gemeinsam Strategien entwickeln. Die Begrifflichkeit der Fremdenfeindlichkeit ist ungeeignet, denn sie grenzt diejenigen, die in das „Wir“ eingegliedert werden sollen, aus. Gesellschaftlicher Zusammenhalt und die Weltoffene Kommune sollten als Zielgrößen benannt werden.
Kommunale Narrative entwickeln und Dialoge fördern
Aufgrund ihrer Erfahrungen und Einblicke in den Lebensalltag der verschiedenen Bevölkerungsgruppen versteht die Freie Wohlfahrtspflege sich als Teil der Zivilgesellschaft, die als Partner die kommunalen Akteure bei ihren Aufgaben für den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärkt.
- Gerade in diesem Handlungsfeld kommt es auf das gute Zusammenspiel kommunaler Stellen, Wohlfahrtsorganisationen, Migrantenorganisationen, Religionsgemeinschaften, weiterer zivilgesellschaftlicher Akteure sowie freiwillig Engagierter (Alteingesessene und Eingewanderte) entscheidend an. Sie leisten Beiträge zur Erzählung eines lokalen „Wir“, indem sie inkludierende Dialog- und Partizipationsmöglichkeiten liefern. Seit vielen Jahren bekannt und bewährt sind gemeinsam getragene Formate wie die Internationalen Wochen gegen Rassismus im Frühjahr und die Interkulturelle Woche im Herbst.
- Quartiersbezogen lässt sich der gesellschaftliche Zusammenhalt mit Gemeinwesenarbeit stärken, was an vielen Orten auch im Rahmen der „Sozialen Stadt“ geschieht. Die seit vielen Jahren von freien Trägern durchgeführten gemeinwesenorientierten Projekte sollten fortgesetzt und ausgebaut werden.
[1] Der Sozialraum als Ort der Teilhabe - Standortbestimmung der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege, Berlin 31. März 2015, https://www.bagfw.de/veroeffentlichungen/stellungnahmen/positionen/detail/der-sozialraum-als-ort-der-teilhabe-standortbestimmung-der-bundesarbeitsgemeinschaft-der-freien-wohlfahrtspflege.
[2] Vgl. Empfehlungen der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege e.V. (BAGFW) für eine Neugestaltung des Integrationskurssystems - Chancen und Perspektiven, Berlin 2. Juli 2019.
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Vorbemerkung
Bis Ende 2020 läuft die Strategie "Europa 2020", mit der die EU seit 2010 ein "intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum" verfolgt und zu deren Verwirklichung sie sich Kernziele u.a. in den Bereichen Beschäftigung, Bildung und soziale Eingliederung gesetzt hat. Der Europäische Rat hat im Juni 2019 eine “neue strategische Agenda 2019-2024" vorgestellt[1], in der er sich nur sehr zurückhaltend zu sozialen Grundsätzen und Rechten äußert. Wir möchten darauf hinweisen, dass ein rein technischer Ablauf des Europäischen Semesters nicht ausreichen wird – er muss mit Inhalten hinterlegt werden.
In einer nachfolgenden Gesamtstrategie sollten explizite soziale Ziele benannt und ihr Erreichen zukünftig im "Europäischen Semester" überprüft werden – einschließlich eines Monitorings der Umsetzung der Europäischen Säule sozialer Rechte (z. B. im "Social Scoreboard"). In dieser Gesamtstrategie sollten konkrete soziale Zielsetzungen formuliert sein, die auf eine am Gemeinwohl ausgerichtete soziale Marktwirtschaft, sowie auf die soziale Aufwärtskonvergenz innerhalb der Europäischen Union zielt. Zudem sollte eine neue Gesamtstrategie auch die Ziele der "Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung" der Vereinten Nationen integrieren. Themen wie Armutsbekämpfung, Verringerung von Ungleichheiten und Geschlechtergleichstellung müssen auch in einer europäischen Strategie mit konkreten Zielsetzungen hinterlegt werden.
Wir verweisen auf die im „Assessment of the Europe 2020 Strategy – Joint Report of the Employment Committee (EMCO) and Social Protection Committee (SPC)”[2] gemachte Empfehlung: “A new, ambitious, coherent and clearly designed long-term policy agenda for growth, jobs and social inclusion is needed. The new agenda should be geared towards enhancing the EU’s competitiveness in the global context, creating an economically, environmentally sustainable and at the same time inclusive Europe and taking a modern, forward-looking policy approach to the digital era. It will be important to maintain a focus on upward social convergence“ (S. 10).
Folgende Aspekte des Nationalen Reformprogramms 2020 werden kommentiert:
- Öffentliche Investitionen besonders auf regionaler und kommunaler Ebene stärken, Haushaltsziele einhalten
- KiTa-Qualitätsentwicklungsgesetz (Z. 21)
- Europäischen Kohäsions- und Strukturpolitik (Z. 25)
- Fonds für einen gerechten Übergang (Z. 26)
- Erwerbstätigkeit erhöhen, Rentensystem und Arbeitsmarkt zukunftsfähig gestalten
- Inklusion von Menschen mit Behinderung (Z. 44)
- Kernziele der Europa-2020-Strategie
- Europäischen Säule sozialer Rechte (Z. 89)
- Förderung digitaler Kompetenzen (Z. 136)
- Soziale Eingliederung vor allem durch die Verringerung von Armut fördern
- Chancen auf Teilhabe am Arbeitsmarkt stärken/ Verringerung von Abhängigkeit von sozialer Sicherung (Z. 141/ Z. 142 und 143)
- Kinder- und Familienarmut bekämpfen (Z. 146 und 147)
Kommentierung des Nationalen Reformprogramms
- Öffentliche Investitionen besonders auf regionaler und kommunaler Ebene stärken, Haushaltsziele einhalten
Zum KiTa-Qualitätsentwicklungsgesetz
Die BAGFW hat das Gesetz und den damit verbundenen Willen der Bundesregierung zur Weiterentwicklung der Qualität in der Kindertagesbetreuung begrüßt.[3] Wichtige Aspekte wie
ein guter Fachkraft-Kind-Schlüssel, der Ausbau an Leitungsressourcen, sowie die Gewinnung und Sicherung von qualifizierten Fachkräften werden bei der Umsetzung berücksichtigt. Die BAGFW kritisiert allerdings, dass ein großer Teil der Mittel (etwa ein Drittel) in die Entlastung von Eltern durch die Übernahme von Beiträgen fließt und damit der Qualitätsentwicklung nicht zur Verfügung steht. Problematisch ist zudem, dass die Vorgaben zur Verwendung der Mittel sehr locker gefasst sind.
Wichtig für eine langfristige Wirkung der Maßnahmen, ist eine Verstetigung und eine schrittweise Erhöhung der bereitgestellten Mittel über 2022 hinaus.
Zur Europäischen Kohäsions- und Strukturpolitik
Der Zeitpunkt, um einen nahtlosen Übergang zwischen der derzeitigen und der im Jahr 2021 beginnenden EU-Förderperiode zu bewerkstelligen, ist bereits überschritten. Entsprechend sollte sich
die Bundesregierung für eine schnelle Einigung bei den Verhandlungen zum Mehrjährigen Finanzrahmen (MFR) 2021-2027 einsetzen und zu einem baldigen Abschluss beitragen. Hierbei ist es wichtig, dass sie selbst positive Impulse setzt und einen entsprechenden Eigenanteil zum EU-Budget beisteuert. Der Vorschlag der Europäischen Kommission von 1,135% des EU-weiten BNE, zieht bereits eine Reduktion der Kohäsions- und Strukturmittel von 20 Prozent in Deutschland nach sich. Jede weitere Absenkung des Gesamthaushalts schlägt sich unmittelbar auch in den sozialen Programmen nieder.
Die BAGFW begrüßt, dass auch in der nächsten EU-Förderperiode alle Regionen förderfähig sein sollen. Allerdings würden die im Kommissionsvorschlag abgesenkten Kofinanzierungssätze, viele Träger der Freien Wohlfahrtspflege und kleinere gemeinnützige Organisationen aus der Kohäsions- und Strukturförderung ausschließen, da diese die steigenden Eigenbeiträge nicht aufbringen können. Entsprechend spricht sich die BAGFW ausdrücklich für eine Beibehaltung der jetzigen Kofinanzierungssätze von 50 Prozent in stärker entwickelten Regionen und 80 Prozent in Übergangsregionen aus.
Zum Fonds für einen gerechten Übergang
Die BAGFW begrüßt, dass mit dem Fonds für einen gerechten Übergang (engl. Just Transition Fonds, JTF) ein Instrument geschaffen wird, welches europäische Regionen bei der Anpassung an den Klimawandel unterstützt. Der BAGFW ist es jedoch wichtig, dass der JTF nicht zu Lasten des Europäischen Sozialfonds (ESF+) geht. Es ist unbedingt zu vermeiden, dass es zu einer obligatorischen Übertragung von Mitteln aus dem ESF+ in den JTF kommt – so sehen es die Vorschläge der Europäischen Kommission vor.
Ökologische müssen mit sozialen Zielsetzungen vereinbar sein! Sie dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden, indem Ressourcen für den ESF+ für den JTF „umetikettiert“ werden. Es ist unbedingt zu vermeiden, dass Mittel aus dem ESF+ in den JTF übertragen werden müssen.
Alternativ könnte eine Unterstützung von Maßnahmen und Aktivitäten angestrebt werden, die über den ESF+ finanzierbar sind und die Zielsetzungen des JTF ebenfalls unterstützen. Vorstellbar wäre eine modellhafte Unterstützung durch Mittel des ESF+ in den jeweiligen Regionen bspw. zur Qualifizierung oder Weiterbildung von Arbeitsuchenden bzw. Beschäftigten. Aus dem ESF+ finanzierte Maßnahmen müssen sich dabei immer an den Grundsätzen der Europäischen Säule sozialer Rechte ausrichten.
- Erwerbstätigkeit erhöhen, Rentensystem und Arbeitsmarkt zukunftsfähig gestalten
Inklusion von Menschen mit Behinderung
Die Bundesregierung bezieht sich im NRP auf den Nationalen Aktionsplan 2.0. Der Nationale Aktionsplan der Bundesregierung, der der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention dient, wird laut NRP regelmäßig evaluiert und dokumentiert. Auch die EU-Kommission wird die Umsetzung dieser Konvention fortsetzen und 2021 eine „verstärkte“ Strategie für Menschen mit Behinderungen vorlegen. Die BAGFW erwartet, dass sich die Bundesregierung bei der Umsetzung des Nationalen
Aktionsplans sowie der Schaffung der neuen Strategie für Menschen mit Behinderungen mit der EU-Kommission abstimmt.
Wichtig ist zudem, dass Inklusionsmaßnahmen und -erfolge nicht durch steuerrechtliche Bestimmungen unterlaufen werden. Die durch das Bundesteilhabegesetz geschaffenen Regelungen bspw. zur Berechnung von Mieten, Aufsplittung von Leistungen oder der Umsatzsteuer auf Nahrungsmittel, erhöhen den Verwaltungsaufwand vor allem in stationären Wohneinrichtungen enorm. Damit das Leben in besonderen Wohnformen für behinderte Menschen nicht durch unnötigen Verwaltungsaufwand beeinträchtigt wird, muss hier nachgebessert werden.
- Kernziele der Europa-2020-Strategie
Europäischen Säule sozialer Rechte
Wie bereits in der Vorbemerkung erwähnt, sollte die Europäische Säule sozialer Rechte (ESSR) in Verbindung mit der VN-Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung als Richtschnur für eine neue Europa2030-Strategie dienen. Entsprechend sollte sich die Bundesregierung, insbesondere im
Rahmen der deutschen Ratspräsidentschaft, für die Entwicklung eines ambitionierten Aktionsplanes zur Umsetzung der Europäischen Säule sozialer Rechte einsetzen, wie ihn die EU-Kommission wie er in der Kommissionsmitteilung „Ein starkes soziales Europa für einen gerechten Übergang“ am 14.1.2020 vorgestellt hat.[4] Diese Mitteilung enthält bereits eine Aufstellung von Initiativen auf EU-Ebene, die 2020 und 2021 die Umsetzung der ESSR unterstützen sollen. Auch über die Zeit der deutschen EU-Ratspräsidentschaft hinaus sollte die Bundesregierung zudem die Ergebnisse der aktuellen öffentlichen EU-Konsultation zur Umsetzung der ESSR berücksichtigen.[5]
Förderung digitaler Kompetenzen
Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege sind vom digitalen Wandel bzw. der digitalen Transformation genauso betroffen wie andere Wirtschaftszweige. Von daher wird die Digitalisierungsoffensive der Bundesregierung unterstützt. Viele Programme zur Förderung digitaler Fähigkeiten und Innovation sind für die Wohlfahrt allerdings nicht zugänglich. Das Programm „Zukunftssicherung der Freien Wohlfahrtspflege – Digitalisierung“ des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) bringt wichtige Impulse und Fortschritte. Die schon allein angesichts der Mitarbeiterzahlen enormen Transformationsbedarfe können damit keinesfalls gestemmt werden.
Die Mitarbeitenden der Freien Wohlfahrt müssen die Chancen des digitalen Wandels ergreifen, die Risiken erkennen und einschätzen können. Nur so können neue Angebote entwickelt und auf neue Herausforderungen (wie automatisierte Entscheidungssysteme) angemessen reagiert werden. Die Aus- und Weiterbildung muss weit mehr als Anwendungskompetenzen aktueller Software umfassen: es braucht Medienkompetenz inkl. einem grundlegenden Verständnis digitaler Systeme, auch um Chancen und Risiken für vulnerable Gruppen einschätzen zu können, je nach Aufgabenbereich braucht es Grundlagen der Produktentwicklung und Innovationsmethoden oder es müssen Ergebnisse von Algorithmen/künstlicher Intelligenz bewertet werden können (z.B. im Krankenhaus).
Diese Kenntnisse müssen sowohl in die Ausbildung aufgenommen, wie auch kontinuierlich in der Weiterbildung weiterentwickelt werden können.
Die Sicherstellung bzw. Erweiterung der gesellschaftlichen Teilhabe setzt heute digitale Teilhabe voraus. Entsprechend müssen gleiche Voraussetzungen geschaffen und u.a. der Ausbau der Breitbandnetze insbesondere im ländlichen Raum vorangebracht werden. Zudem muss sich die Förderung der digitalen Kompetenzen auf alle Personengruppen beziehen: Fachkräfte, Geringqualifizierte, Arbeitslose, Seniorinnen und Senioren, etc. Nur so kann eine „digitale Spaltung“ in der Gesellschaft vermieden werden.
- Soziale Eingliederung vor allem durch die Verringerung von Armut fördern
Chancen auf Teilhabe am Arbeitsmarkt stärken/ Verringerung von Abhängigkeit von sozialer Sicherung
Die im NRP dargelegten Zahlen zeigen eine sich verbessernde Tendenz bei der Teilhabe am Arbeitsmarkt. Dennoch ist es nach wie vor wichtig, auf die Quote von 9,1% Erwerbsarmut in Deutschland hinzuweisen (siehe Länderbericht 2020, S. 43).[6]
Ein wichtiger Grund für Armut trotz Erwerbstätigkeit liegt darin, dass viele der sogenannten „Aufstocker“ im SGB II keinen (verwertbaren) Berufsabschluss haben. Geringqualifizierte haben oftmals ungünstige Beschäftigungsperspektiven in prekären Arbeitsverhältnissen, mit kurzzeitigen Erwerbsepisoden und sehr geringe Aufstiegschancen. Sie müssen besser in die Förderung beruflicher Weiterbildung einbezogen und die Förderinstrumente sollten an die Bedürfnisse von lernungewohnten Menschen angepasst werden.
Ein zweiter wichtiger Grund für Erwerbsarmut ist, dass der Mindestlohn nicht in allen Branchen gilt bzw. nicht umfassend umgesetzt wird. Zudem sind es niedrig bezahlte selbständige Tätigkeiten, für die es naturgemäß keinen Mindestlohn bzw. keine Vergütungsordnungen gibt. Entsprechend sollte zukünftig nicht allein die Teilhabe am Arbeitsmarkt im Fokus stehen, sondern gute und auskömmliche Arbeitsverhältnisse als Zielsetzung formuliert und gemessen werden. Für Personen, die am allgemeinen Arbeitsmarkt nicht bestehen können, ist ein Methodenmix aus geförderter Arbeit und weiteren Förder- und Qualifizierungsmaßnahmen weiterhin wichtig.
Da es bei vielen in Armut Lebenden nicht gelingt, sie kurzfristig in auskömmliche Arbeit zu vermitteln, ist eine hinreichende Ermittlung, Finanzierung und Gewährleistung des Existenzminimums unerlässlich. Leistungen zur Existenzsicherung sind bei vielen Personen keine Übergangsleistung, sondern werden jahrelang in Anspruch genommen. Existenzsicherung kann nicht nur durch Arbeitsförderung gewährleistet werden. Die anstehenden Reformen des Sanktionssystems und die Regelbedarfssatzermittlung sind hier wichtige Meilensteine. Viele Menschen sind lange im Sozialleistungsbezug. Sie sollen Zugänge zum Arbeitsmarkt erhalten, werden aber oft absehbar nicht ohne Sozialleistungen auskommen. Darum müssen Arbeitsförderung und auskömmliche wie respektvolle Existenzsicherung gleichberechtigte Ziele werden.
Kinder- und Familienarmut bekämpfen
Laut aktuellem Länderbericht sind 17,3 % der Kinder in Deutschland von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht (siehe Länderbericht 2020, S. 74). Auch wenn es hier leichte Rückgänge in den letzten Jahren zu verzeichnen gibt, müssen die Bemühungen diese Quote zu senken intensiviert werden. Es bedarf umfassender und aufeinander abgestimmte Maßnahmen, sowohl auf Bundes- als auch auf Landesebene.
Programme wie der „Europäische Hilfsfonds für die am stärksten benachteiligten Personen in Deutschland“ (EHAP) oder das ESF-Programm „Akti(F) – Aktiv für Familien und ihre Kinder“ schaffen wichtige Unterstützungsstrukturen, wobei der Bedarf die zur Verfügung gestellten Ressourcen übersteigt. Umso wichtiger ist, dass etablierte Strukturen auch im Übergang zur neuen EU-Förderperiode 2021-2027 erhalten bleiben und wenn nötig Übergangslösungen zum Beispiel durch den Einsatz von Bundesmitteln gefunden werden.
Die Anhebung des Kindergelds bzw. des Kinderfreibetrags ist kein wirksames und zielgerichtetes Instrument zur Bekämpfung von Kinderarmut. Stattdessen sollte insbesondere durch die Zusammenlegung pauschal bemessener monetärer Leistungen, ein einheitliches Leistungssystem auf Grundlage eines bedarfsgerechten und teilhabesichernden kindlichen Existenzminimums aufgebaut werden. Neben der Weiterentwicklung der monetären Leistungen ist auch die Verzahnung von Transfer-, Unterstützungs- und Beratungsleistungen sowie die Bereitstellung der Leistungen erforderlich und zu verbessern.
[1] Abrufbar unter: https://www.consilium.europa.eu/media/39963/a-new-strategic-agenda-2019-2024-de.pdf
[2] Abrufbar unter: https://ec.europa.eu/social/main.jsp?catId=738&langId=en&pubId=8256&furtherPubs=yes
[3] Siehe BAGFW-Stellungnahme der BAGFW zum Referentenentwurf des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend eines „Gesetzes zur Weiterentwicklung der Qualität in der Kindertagesbetreuung“ vom 3.8.2019, abrufbar hier.
[4] Siehe COM (2020) vom 14.01.2020, abrufbar unter: https://ec.europa.eu/transparency/regdoc/rep/1/2020/DE/COM-2020-14-F1-DE-MAIN-PART-1.PDF,
[5] Für die Konsultation siehe hier.
[6] 2020 European Semester: Assessment of progress on structural refroms, prevention and correction of macroeconomic imbalances, Country Report Germany 2020, abrufbar unter: https://op.europa.eu/en/publication-detail/-/publication/7f9a22a9-5943-11ea-8b81-01aa75ed71a1/language-en
]]>Die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege bedanken sich für die Möglichkeit, zum vorliegenden Referentenentwurf Stellung zu nehmen, und äußern sich gemeinschaftlich als Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW).
Das Elterngeld sichert die wirtschaftliche Existenz der Familien bei Geburt eines Kindes.
Der Partnerschaftsbonus ist ein Angebot an Eltern, Familie und Beruf untereinander partnerschaftlich aufzuteilen.
Die BAGFW begrüßt grundsätzlich eine an den Wünschen und Bedarfen von Eltern orientierte neue und flexiblere Gestaltung des Elterngeldes.
Die BAGFW unterstützt das Anliegen des BMFSFJ, das Elterngeld flexibler und die Nutzung des Partnerschaftsbonus‘ für Familien berechenbarer zu gestalten.
Die BAGFW unterstützt die Flexibilisierung des Partnerschaftsbonus von mindestens zwei Monaten bis max. vier Monaten mit der Option, während des Bezugs des Partnerschaftsbonus mit Änderungsanträgen die Bezugszeiten anzupassen, wenn der Bonus kürzer oder länger als beantragt in Anspruch genommen wird.
Insbesondere unterstützt die BAGFW die vorgesehene Vereinfachung der Beantragung des Partnerbonus sowie den Verzicht auf Rückforderungen bei Eintreten veränderter Leistungsvoraussetzungen, bspw. weil ein Elternteil alleinerziehend wird.
Unter dem Aspekt der Flexibilisierung begrüßt die BAGFW die Ausweitung der Höchstarbeitszeitgrenze bzw. des Stundenkorridors von 25 bis 30 Stunden auf 24 bis 32 Stunden.
Die BAGFW gibt aber zu bedenken, dass diese Regelung dazu führen kann, dass Väter ihre Arbeitszeit erhöhen und die Mütter weiterhin in geringfügigen oder Teilzeitbeschäftigungsverhältnissen verbleiben, d.h. kaum ihren Beschäftigungsumfang erhöhen werden und damit die bislang vorherrschenden tradierten Rollen der Aufteilung der familiären Aufgaben unintendiert fortgeschrieben werden.
Die BAGFW begrüßt grundsätzlich das Anliegen des BMFSFJ, Familien mit besonders frühgeborenen Kindern einen verlängerten Bezug von Elterngeld zu gewähren, erachtet die vorgesehene Regelung aber als nicht ausreichend.
In Deutschland kommen 9 % der Lebendgeborenen als Frühgeburten zur Welt. Das ist eine der höchsten Frühgeburtenrate im europäischen Vergleich. In Frankreich und Schweden beispielsweise liegt die Rate bei knapp mehr als 6 %.[1]
Besonders frühgeborene Kinder benötigen Zeit, um ihre Entwicklung nach der Geburt aufzuholen. Ihre Eltern sind durch die zusätzlich erforderlichen medizinischen und therapeutischen Maßnahmen über einen länger andauernden Zeitraum extrem belastet.
Dies wird bei der Regelung des Mutterschaftsgeldes berücksichtigt, indem bei zu früh geborenen Kindern der Mutterschutz um vier Wochen verlängert wird. Nach dem Mutterschutzgesetz wird eine Frühgeburt als ein vor dem errechneten Geburtstermin geborenes Kind definiert, das ein Geburtsgewicht von weniger als 2.500 g oder nicht alle vollausgebildeten Reifezeichen aufweist. Aus Sicht der BAGFW ist nicht nachvollziehbar, warum der Zeitpunkt für die Gewährung eines zusätzlichen Elterngeldmonats auf mindestens sechs Wochen vor dem errechneten Entbindungstermin begrenzt ist.
Bei mindestens sechs Wochen zu früh geborenen Kindern wird der Mutterschutz um vier Wochen verlängert und die Zeiten des Mutterschutzes, die vor der Geburt gelegen hätten, aber durch die zu frühe Geburt nicht in Anspruch genommen werden konnten, auf die Mutterschutzzeit nach der Geburt hinzugerechnet. Die BAGFW weist darauf hin, dass sich das Elterngeld damit deutlich verringert, da Mutterschaftsgeld vollständig auf das Elterngeld angerechnet wird.
Das sind unsere Forderungen:
- Die BAGFW regt an, insbesondere auch ergänzende Regelungen für Alleinerziehende, die neben ihrer beruflichen Tätigkeit die alleinige Verantwortung für die Organisation des Familienalltags tragen, in Betracht zu ziehen. Gerade alleinerziehende Mütter sind oftmals in atypischen Beschäftigungsverhältnissen beschäftigt bspw. in den Abendstunden oder am Wochenende, an denen eine entsprechende Kinderbetreuung nicht vorhanden ist. Deshalb plädiert die BAGFW dafür, für alleinerziehende Eltern ebenfalls die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Partnerbonus zu ändern, indem die geltende feste Bezugsdauer zwischen zwei und vier Monaten und der Stundenkorridor auch unter 25 Wochenstunden liegen kann.
- Die BAGFW sieht die Bezugsverlängerung von einem Elterngeldmonat bei einer Geburt mindestens sechs Wochen vor dem errechneten Entbindungstermin (ET) als zu gering an. Frühgeborene haben mit Entwicklungsverzögerungen, Starthindernissen und Belastungen zu kämpfen und können bis ins Schulalter und darüber hinaus unter körperlichen und psychischen Entwicklungsverzögerungen leiden.
Die BAGFW setzt sich dafür ein, die Bezugsverlängerung des Elterngeldes schon bei einer Geburt mehr als drei Wochen vor dem ET anstatt erst mehr als sechs Wochen vor dem ET zu gewähren, da schon bei Geburten in der 37. SSW mit Entwicklungsverzögerungen zu rechnen ist. Zur Unterstützung dieser Familien wäre zudem eine deutliche Verlängerung der Elternzeit über den Zeitraum von drei Jahren hinaus anzustreben.
- Bislang ist in § 2a Abs. 2 S. 3 BEEG lediglich geregelt, dass der Geschwisterbonus für Kinder mit Beeinträchtigung bis zum 14. Lebensjahr gewährt wird. Eine gesonderte Regelung des Elterngeldes bei Familien mit Kindern, die beeinträchtigt zur Welt oder neu zur Familie hinzukommen, gibt es bislang nicht. Dabei benötigen gerade diese Familien viele zeitliche und finanzielle Ressourcen, um die besondere Situation zu bewältigen.
Die BAGFW spricht sich über die im Referentenentwurf enthaltenen Regelungen hinaus dafür aus, den Elterngeldbezug und die Elternzeit für Eltern mit einem Kind mit Beeinträchtigung deutlich zu verlängern, um die Lebensgestaltung in der besonderen Situation zu unterstützen.
Die BAGFW fordert, im Sinne der Inklusion und einer besonderen Unterstützung von Familien mit Kindern mit Beeinträchtigung eine entsprechende Regelung mit aufzunehmen. - Die BAGFW begrüßt die vorgeschlagenen Regelungen zur Vereinfachung und Entbürokratisierung des Verwaltungsverfahrens beim Elterngeld. Zukünftig sollen primär die Elterngeldstellen für die Beantragung zuständig sein. Sie erleichtert Eltern den Zugang zu dieser Leistung. Die Erfahrung zeigt, dass es immer wieder zu längeren Bearbeitungszeiten kommt, die gerade bei Familien mit geringem Einkommen wie bspw. Alleinerziehende zu finanziellen Engpässen bis hin zu existenziellen Problemen führen. So regt die BAGFW an, zu beobachten, ob die im Referentenentwurf vorgeschlagenen Regelungen die intendierten Veränderungen bewirken. Ggf. muss nachgesteuert werden.
- Weiter hält die BAGFW die Erhöhung des Mindestbetrags für Eltern ohne oder mit geringem Einkommen für dringend erforderlich. Seit der Einführung im Jahr 2007 ist der Mindestsatz des Elterngeldes von 300,- € trotz gestiegener Verbraucherpreise nicht angepasst worden.
[1] https://www.tk.de/resource/blob/2061920/cb0a2bd21b6839f4e0d13d5259c09597/studie--kindergesundheitsreport-2019-data.pdf
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Allgemeines:
Im Zentrum des Referentenentwurfs stehen Neuregelungen im Rehabilitationsrecht des SGB V, mit denen auf öffentliche Kritik im Zusammenhang mit dem „offenen Zulassungsverfahren“ geantwortet wird. In Übereinstimmung mit dem europäischen Vergaberecht soll nun das bereits praktizierte Zulassungsverfahren gesetzlich geregelt und weiterentwickelt werden.
Die BAGFW begrüßt ausdrücklich, dass der Referentenentwurf an der bestehenden Praxis eines offenen Zulassungsverfahrens festhält. Alle Leistungserbringer, die Interesse an der Leistungserbringung haben und fachlich geeignet sind, sollten einen Anspruch auf Zulassung haben. Ausdrücklich wird die Stärkung des Wunsch- und Wahlrechts der Versicherten begrüßt.
Ausgehend von einer – von uns geteilten - Kritik an der bestehenden Praxis, sollen zukünftig die Verfahren der Zulassung, Vergütung und Belegung transparent und diskriminierungsfrei ausgestaltet werden.
Die vom BMAS gesteckten grundsätzlichen Zielsetzungen werden begrüßt, gleichwohl sind aus Sicht der BAGFW die vorgeschlagenen Lösungen vor allem aus drei Gründen problematisch:
Erstens: Der nachvollziehbare Wunsch, sich gegen den Zwang zur Anwendung von Vergaberecht abzugrenzen, führt bedauerlicherweise nicht zu einem klaren Modell des Dreiecksverhältnisses. Vielmehr schafft das Nebeneinander von Zulassungssystem und Verträgen eine Annäherung an das sog. Open House Modell mit allen damit verbundenen einseitigen Steuerungsbefugnissen für die Leistungsträger.
Zweitens: Es wird zwar als explizites Anliegen des Entwurfs die Selbstverwaltung der Rentenversicherung, gestärkt, nicht jedoch die gemeinsame Selbstverwaltung von Reha-Trägern, Leistungserbringern unter Einbeziehung der Verbände der Menschen mit Behinderungen und der Selbsthilfe.
Drittens: Das rehabilitationsträgerübergreifende Recht des SGB IX wird zugunsten spezialgesetzlicher Regelungen beschädigt. Zusammengenommen mit den Diskussionen um das IPREG entwickelt sich das Leistungserbringungsrecht für die medizinische Rehabilitation in der Trägerschaft der Rentenversicherung und das der Krankenkasse diametral auseinander. In der Folge wird das Leistungserbringungsrecht des SGB IX zu einer leeren Hülle.
Aus Sicht der BAGFW sollte stattdessen das gemeinsame Rehabilitationsrechts des SGB IX gestärkt und weiterentwickelt werden.
Zu den Regelungen im Einzelnen
Zu § 15 Abs. 3 (1) (neu), hier: Datenaustausch
Nach § 15 Abs. 3 (1) ist den Einrichtungen vorgegeben, den elektronischen Datenaustausch mit den Trägern der Rentenversicherung sicherzustellen. Auch zu diesen strukturellen Anforderungen wird die Rentenversicherung weitere Entscheidungen herbeiführen. Auch auf diesem Feld des Datenaustausches muss aufgrund der Verträge der Einrichtungen mit mehreren Reha-Trägern für die Zukunft ein Gleichschritt der Reha-Träger sichergestellt bleiben.
Der Datenaustausch, der faktisch bereits gemeinsam von Renten- und Krankenversicherung und in vertraglicher Vereinbarung mit den Spitzenverbänden der Reha-Leistungserbringer auf der Grundlage des § 301 SGB V durchgeführt wird, sollte vereinheitlicht bleiben und nicht durch die vorgesehene gesetzliche Regelung im SGB VI separiert werden.
Zu § 15 Abs. 3 und 4 bis 9 (neu); hier: Zulassung und Vertrag
Bislang gibt es keine gesetzliche Regelung für die „Zulassung“ von Einrichtungen der medizinischen Rehabilitation zur Leistungserbringung. Die neuen Bestimmungen stellen die bisherige Praxis auf eine rechtliche Grundlage und sollen klarstellen, dass die damit zusammenhängenden Verfahren die Merkmale des öffentlichen Auftrags im Sinne von
§ 130 GWB nicht erfüllen und folglich auch keine Pflicht zur Ausschreibung begründen. Zu diesem Zweck unterscheidet der Gesetzentwurf zwischen Zulassung, Vertrag sowie der tatsächlichen Inanspruchnahme/ Belegung.
Mit diesem Vorgehen schafft der Entwurf ein System, das dem Open House System sehr nahekommt, das nach Rechtsprechung des EuGH ausdrücklich nicht auszuschreiben ist, weil dabei jede selektive Auswahl von Vertragspartnern unterbleibt. Die BAGFW begrüßt, dass die Leistungserbringer bei Erfüllung bestimmter Zulassungsvoraussetzungen einen Anspruch auf die Zulassung haben. Ebenfalls begrüßt sie, dass der Referentenentwurf den für eine bestehende Angebotsinfrastruktur immer bedenklichen exklusiven und damit auszuschreibenden Vertragsgestaltungen eine deutliche Absage erteilt.
Allerdings wirft das hier ersichtlich angestrebte offene Zulassungssystem auch Fragen auf:
Es bleibt völlig unklar, wie die einzelnen Elemente dieses Systems ineinandergreifen. Abs. 6 sieht vor, dass die konkrete Inanspruchnahme einer Einrichtung durch Leistungsberechtigte durch einen Vertrag erfolgt. Jedoch heißt es in Abs. 6 auch, dass der Vertrag keinen Anspruch auf Inanspruchnahme durch den Träger der Rentenversicherung begründet. Verbunden damit stellt sich dann aber die Frage, welche Rechtsnatur und welche Bedeutung der Vertrag nach Abs. 6 und 8 die Zulassungsentscheidung nach Abs. 3 hat. Wir bitten dringend, das Verhältnis der einzelnen Regelungs- und Gestaltungsinstrumente nochmals zu überdenken und nachvollziehbar aufeinander abzustimmen.
Darüber hinaus weist die BAGFW darauf hin, dass Einrichtungen der medizinischen Rehabilitation in der Regel von mehreren Rehabilitationsträgern belegt werden. Auch die Federführung kann wechseln. Bislang gibt es auch bei der externen Qualitätssicherung ein gemeinsames Verfahren, das mit dem Referentenentwurf gemäß § 15 Absatz 3 Satz 1 Nummer 2 aufgehoben wird. Um diesem Sachverhalt genauso gerecht zu werden wie einem einheitlichen Leistungserbringungsrecht wäre es plausibel, Fragen der Zulassung trägerübergreifend zu regeln. Auf diese Weise würde auch deutlich werden, dass die Anforderungen der Reha-Träger an die Einrichtungen gemeinsame sind. Mit der Zulassung durch einen Reha-Träger sollten die Einrichtungen Anspruch auf Versorgungsverträge nach § 38 SGB IX bei allen den Reha-Trägern haben.
Zudem weisen wir auf zwei weitere Probleme im Katalog der Zulassungsvoraussetzungen nach Abs. 3 hin:
Die Voraussetzung für eine “Zulassung“, die aus der Sicht der BAGFW mit einem Versorgungsvertrag verbunden sein soll, sollten sich auf Fragen der fachlichen Eignung beschränken. Alle weiteren relevanten Inhalte sollten in Rahmen- und Versorgungsverträgen geregelt werden. Dies ist deshalb von Bedeutung, da ansonsten Kliniken sich an spezifischen Verfahren, wie etwa dem externen QS-System der DRV, beteiligen müssten, ohne belegt zu werden.
Das Kriterium der Teilnahme am QS-Verfahren der DRV Bund ist auch deshalb problematisch, weil sie die von der DRV zugelassenen Einrichtungen zwingt, falls sie auch von der GKV belegt werden, an zwei Verfahren teilzunehmen. Damit wird die diesbezügliche Absprache zwischen GKV und DRV, die genau dies ausschließen soll, torpediert.
Zu § 15 Abs. 9 (neu), hier: Vergütung
§ 15 Abs. 3 formuliert, dass die Rehabilitationseinrichtungen sich mit der Zulassung verpflichten, das Vergütungssystem der DRV Bund, das von dieser ohne Beteiligung der Leistungserbringer erarbeitet wird, anzuerkennen. Abs. 9 Nummer 2 sieht vor, dass die DRV Bund auch zu einem Vergütungssystem verbindliche Entscheidungen zu treffen hat.
Es ist nicht gewährleistet, dass das in § 15 Abs. 3 Satz 3 vorgesehene Vergütungssystem mit den einrichtungsindividuellen Konzepten, Leistungsanforderungen hinreichend verbunden ist. Wesentlich für die Leistungserbringer ist es, sicherzustellen, dass die Zulassungsanforderungen nach § 15 Abs. 9 Nr. 1 auch im Rahmen des zu entwickelnden Vergütungssystems und in der einrichtungsindividuellen Vergütung zu einer leistungsgerechten Vergütung führen. Das klassische Open House-Modell geht davon aus, dass der Leistungsträger einen Vertrag entwickelt, bei dem die zu erbringende Leistung der vertraglich zugesagten Vergütung entspricht. Die Rehabilitationseinrichtungen haben in den letzten Jahren individuelle Leistungsprofile entwickelt, die sich in den einrichtungsbezogenen Versorgungs- und Vergütungsverträgen abbilden. Zudem müssen sich die tarifvertraglichen Vergütung sowie entsprechender Vergütungen nach kirchlichen Arbeitsrechtsregelungen in der Vergütung widerspiegeln. § 38 Absatz 2 SGB IX gilt entsprechend. Nur ein solches Vertragssystem ist geeignet, regionale, medizinische, patientenbezogene und weitere Besonderheiten der jeweiligen Leistungserbringung aufzunehmen, nicht hingegen ein Vergütungssystem, wie in Abs. 9 Ziffer 2 vorgesehen, dass einem einseitigen Preisdiktat entspricht. Von daher spricht deutlich mehr dafür, die von § 15 Abs. 9 vorgesehenen Themen in einem Rahmenvertrag zwischen Reha-Trägern und den Spitzenverbänden der Leistungsträger zu regeln, der auch Grundsätze der Vergütung formuliert, jedoch in einrichtungsbezogenen Verträgen umgesetzt wird.
In der Begründung des Referentenentwurfs wird (auf S. 21) ausgeführt, dass die Höhe der Vergütung zukünftig nicht, wie bisher das Ergebnis von Verhandlungen ist, sondern das Ergebnis einer Bewertung der Leistungen der Reha-Einrichtungen anhand vorgegebener objektiver Kriterien. Nach Auffassung der BAGFW verkennt diese Vorgabe den Spielraum, den eine Einrichtung bei der Erbringung von rehabilitativen Leistungen haben muss. Eine rehabezogene Diagnose auf der Basis der ICF determiniert kein rehabilitatives Behandlungsprogramm: Die rehabilitativen Maßnahmen müssen einzelfallspezifisch auf die jeweilige Problemkonstellation bezogen sein; hier verbieten sich deduktive Ableitungen zwischen Indikation und rehabilitativer Leistung. Zwar ist in der Begründung die Rede von einer „Vielzahl von ‚Reha-Produkten‘ (…), für die jeweils ein Vergütungssatz bestimmt wird“ (S.21). Dies setzt jedoch nur voraus, dass nicht nur patientenseitig die fallspezifischen Bedarfe erkannt werden, sondern auch die einrichtungsbezogenen Besonderheiten vertragsindividuell beachtet werden.
Des Weiteren sollte, wie in anderen Leistungsgesetzen, unzweifelhaft klargestellt werden, dass entsprechende der Regelung in § 38 Abs. 2 SGB IX die Bezahlung tarifvertraglich vereinbarter Vergütungen sowie entsprechender Vergütungen nach kirchlichen Arbeitsrechtsregelungen nicht als unwirtschaftlich gilt und anzuerkennen ist. § 15 Absatz 9 Satz 1 Nummer 3, in der auf den Grundsatz der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit verwiesen wird, ist entsprechend zu ergänzen.
Zu § 15 Abs. 9 (neu), hier: externe Qualitätssicherung
Derzeit unterliegen die Einrichtungen der medizinischen Rehabilitation nach dem Federführungsprinzip unterschiedlichen Programmen der externen Qualitätssicherung. Die –ohne rechtliche Grundlage- abgeschlossenen Vereinbarungen der Reha-Träger geben den Einrichtungen keine Sicherheit, in der Inanspruchnahme durch die Reha-Träger so behandelt zu werden, wie bei Anwendung des jeweils anderen QS-Verfahrens[1].
In der Praxis werden Einrichtungen bzw. Fachabteilungen durchaus gehalten, sich an zwei Verfahren gleichzeitig zu beteiligen, weil die Qualitätssicherungsergebnisse aus dem jeweils anderen Verfahren vom jeweils anderen Träger nicht anerkannt bzw. berücksichtigt werden.
Zwei Verfahren der externen Qualitätssicherung, wie etwa im Bereich der orthopädischen Rehabilitation oder der Kinderrehabilitation, widersprechen dem Geist des SGB IX, erschweren die Transparenz für die Versicherten, verursachen doppelte Kosten bei den Reha-Trägern und führen zu erheblichen Problemen in der Praxis der Leistungserbringer.
Stattdessen wäre ein zwar einheitliches, aber flexibel ausgestaltetes und im SGB IX zu verankerndes Verfahren der Qualitätssicherung sinnvoll. Es sollte, wie es im SGB V-Bereich der Fall ist, zwischen Leistungsträgern und Leistungserbringern vertraglich vereinbart werden.
Sollte sich der Gesetzgeber sich diese Position nicht zu Eigen machen, plädiert die BAGFW entschieden dafür, Leistungserbringer, Wohlfahrtsverbände, Selbsthilfe und die Verbände der Menschen mit Behinderung frühzeitig in die Erarbeitung bzw. Weiterentwicklung der externen Qualitätssicherung der Rentenversicherung zu beteiligen. Ein bloßes Anhörungsrecht wie in Absatz 9 Satz 2 vorgesehen ist nicht ausreichend. Die zu beteiligenden Akteure sind bei den Entscheidungen ins Benehmen zu setzen.
In Absatz 9 Satz 1 Nummer 3 ist völlig unklar, was unter einer „nachweislich besten Qualität“ zu verstehen ist. Dies ist ein unbestimmter Rechtsbegriff. Die Qualität einer Einrichtung hängt eng mit der Indikation bzw. den Nebenindikationen, die in Ziffern 3a und b vorgesehen sind, zusammen. Da Satz 1 der Nummer 3 die Qualitätsanforderungen benennt, ist eine gesonderte Nennung von Ziffer 3d) entbehrlich. Unklar ist des Weiteren, was „unabdingbare Sonderanforderungen“ in Ziffer 3c) bedeuten soll. Die Sonderanforderungen hängen einer Einrichtung hängen wiederum eng mit der Indikation zusammen. Diesen sollte in Punkt 3c) Rechnung getragen werden. Darüber hinaus kann es behindertenspezifische Sonderbedarfsregelungen geben. Zu streichen ist die Nummer 1e) „Entfernung zum Wohnort“, denn je nach Indikation und Fallkonstellation kann es durchaus sinnvoll sein, eine Rehabilitationseinrichtung in größerer Ferne zum eigenen Wohnort zu wählen.
Zu § 15 Abs. 9 (neu), hier: Wunsch- und Wahlrecht der Versicherten
Nach § 15 Abs. 9 erfolgt sowohl die Entscheidung der DRV Bund bezüglich die Anforderungen für die Zulassung als auch zu den objektiven sozialmedizinischen Kriterien, nach den die Belegung erfolgt, unter Beachtung des Wunsch- und Wahlrechts der Versicherten nach § 8 SGB IX.
In der Gesetzesbegründung wird ausgeführt, dass in der verbindlichen Entscheidung auch festgelegt wird, dass die versicherte Person bereits bei der Beantragung der Leistung über das Wunsch- und Wahlrecht informiert wird. Im weiteren Verfahren wird ihm die Möglichkeit eines Vorschlagsrechts eingeräumt und er wird dabei vom Träger der Rentenversicherung fachlich unterstützt. Diese Bestimmungen werden von der BAGFW ausdrücklich unterstützt. Sie sollten explizit in den Gesetzestext aufgenommen werden. Im vorliegenden Gesetzentwurf bleibt unklar, in welchem Verhältnis das Wunsch- und Wahlrecht zu den Auswahlkriterien nach § 15 Abs. 9 Nr. 3 steht. Hier sollte klar- und sichergestellt werden, dass das Wunsch- und Wahlrecht vorrangig vor den in Ziffer 3 genannten Kriterien ist und sichergestellt werden muss.
Darüber hinaus sollten, wie auch im SGV V, die besonderen Belange pflegender Angehöriger berücksichtigt werden können.
Auf ein weiteres Problem soll aufmerksam gemacht werden: So sehr wir die Heraushebung des Wunsch- und Wahlrechts nach § 8 SGB IX begrüßen, stellt sich uns die Frage, welchen praktischen Stellwert dieses neben der von § 15 Abs. 9 Nr. 1 RefE intendierten engmaschigen Vorgabe von Zulassungsanforderungen hat. Der Entwurf lässt offen, inwieweit das hier verwirklichte Open House-Modell den Leistungserbringern Spielraum für die Umsetzung von individuellen Leistungskonzepten lässt. Je enger dieser Spielraum wird, desto mehr verengt sich auch der Spielraum der Leistungsberechtigten, bis nur noch die Auswahl des Leistungsortes verbleibt
Fazit:
Die BAGFW weist darauf hin, dass in dem in Diskussion befindlichen GKV IPREG ein anderer Weg beschritten wird: In der medizinischen Rehabilitation (und Vorsorge) in der Verantwortung der gesetzlichen Krankenkassen verständigen sich Krankenkassen und Spitzenverbände der Leistungserbringer auf Rahmenempfehlungen (vgl. § 111 SGB V neu). Die Rahmenempfehlungen enthalten auch Grundsätze für die Vergütung. Dieser Regelungsweg wird von der BAGFW ausdrücklich begrüßt und sollte paradigmatisch für das medizinische Rehabilitationsrecht beschritten werden.
Wir machen mit großer Sorge darauf aufmerksam, dass es, sollte dieser Referentenentwurf Gesetzeskraft erlangen, in Zukunft sehr unterschiedliche Regelungen zum Verhältnis von Reha-Trägern und Leistungserbringern geben wird: Die Rahmenverträge im SGB V §, die Bestimmungen in § 15 SGB VI sowie das komplexe Leistungserbringungsrecht des SGB IX, das gemeinsame Empfehlungen, Rahmenverträge zwischen den Arbeitsgemeinschaften der Rehabilitationsdienste und der Reha-Einrichtungen (nach § 38 Abs. 4) (fakultativ) und Verträge zwischen Leistungserbringern und Reha-Trägern nach § 38 SGB IX vorsieht. Diese divergente Entwicklung ist angesichts einer Vielzahl von Reha-Trägern, die Leistungen zur medizinischen Rehabilitation erbringen und von Einrichtungen, die gleichzeitige Verträge mit unterschiedlichen Reha-Trägern haben sowie für die Rehabilitanden, die nach dem Anspruch des SGB IX für vergleichbare Ansprüche auch vergleichbare Leistungen erhalten sollen, nicht akzeptabel. Das Rehabilitationswesen droht in einen Zustand des zersplitterten Rechts vor Schaffung des SGB IX zurückzufallen. Dieser Entwicklung gilt es dringend entgegen zu wirken.
Diese Diagnose spricht dafür, dass anstelle neuer spezialgesetzlicher Regelungen in SGB V und VI das SGB IX als trägerübergreifender Rahmen weiterzuentwickeln ist, um in Rahmenverträgen der beteiligten Akteure (Reha-Träger und Spitzenverbände der Leitungserbringer) Fragen der Zulassungskriterien, Grundsätze der Vergütung und sozialmedizinische Kriterien für die Belegung zu bestimmen. Das hätte zudem den Vorteil, die Selbstverwaltung als gemeinsame Selbstverwaltung von Reha-Trägern und Leistungserbringern im Rahmen des sozialrechtlichen Dreiecksverhältnisses zu gestalten.
[1] Gemeinsame Erklärung der Spitzenverbände der gesetzlichen Krankenversicherung, der Spitzenverbände der gesetzlichen Unfallversicherung, des Verbandes Deutscher Rentenversicherungsträger (VDR), der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) und der Bundesknappschaftüber eine Zusammenarbeit in der Qualitätssicherung der medizinischen Rehabilitation Oktober 1999 und Vereinbarung des GKV-Spitzenverbands und der Träger der Deutschen Rentenversicherung Oktober 2013
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Notwendig ist aus Sicht der BAGFW ein ausreichendes und kurzfristig verfügbares Angebot an Kurzzeitpflegeplätzen. Die in der BAGFW kooperierenden Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege schlagen dazu folgende Maßnahmen vor:
- Pflegegradunabhängiger Einheitssatz für die Kurzzeitpflege auf der kalkulatorischen Grundlage des PG 4 bei einem Auslastungsgrad von max. 70 Prozent, bezogen auf die Kosten der Pflege, der Unterkunft und Verpflegung, der Investitionskosten als auch der Ausbildungskosten
- Finanzierung über einen Vergütungszuschlag aus den Mitteln der Pflegeversicherung.
- Ausgangslage und Problembeschreibung
Kurzzeitpflege kann in Situationen in Anspruch genommen werden, in denen eine Versorgung in der Häuslichkeit zeitweise nicht, noch nicht oder nicht im erforderlichen Umfang gewährleistet werden kann. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn Angehörige die häusliche Pflege wegen eines Erholungsurlaubs oder eigener Krankheit vorübergehend nicht sicherstellen können oder wenn ein/e Patient/-in nach Krankenhausaufenthalt wegen eines hohen behandlungspflegerischen Bedarfs und erheblichen Beeinträchtigungen in der Selbstständigkeit vorerst noch nicht im häuslichen Umfeld gepflegt werden kann. Der Bedarf an pflegerischer Nachsorge nach einem Krankenhausaufenthalt in einer Kurzzeitpflegeeinrichtung hat durch die reduzierte Aufenthaltsdauer in den Krankenhäusern nach Wahrnehmung vieler Kurzzeitpflegeeinrichtungen kontinuierlich zugenommen.
Die Zielsetzung der Kurzzeitpflege nach dem SGB XI besteht darin,
- die häusliche Pflegesituation zu stabilisieren,
- einen vorzeitigen Einzug in eine vollstationäre Pflegeeinrichtung zu vermeiden und
- die pflegenden An- und Zugehörigen in ihrer Funktion als Pflegepersonen zu entlasten und zu stärken.
Leistungen der Kurzzeitpflege werden derzeit vorrangig durch sogenannte „eingestreute Kurzzeitpflegeplätze“ in vollstationären Einrichtungen und nur zu einem sehr geringeren Teil durch solitäre Kurzzeitpflegeeinrichtungen erbracht. Zudem werden diese eingestreuten Kurzzeitpflegeplätze zum Teil auch für die Langzeitpflege vergeben, da viele stationäre Pflegeeinrichtungen aufgrund der hohen Nachfrage nach Pflegeplätzen bereits Wartelisten führen müssen.
Die im Jahr 2017 veröffentlichte Untersuchung des IGES Instituts „Wissenschaftliche Studie zum Stand und den Bedarfen der Kurzzeitpflege NRW“[1] zeigt, dass die vorhandenen Kurzzeitpflegeplätze nicht den bestehenden Bedarf decken. Als Grund für diesen Mangel nennt die Studie vor allem Schwierigkeiten, solitäre Kurzzeitpflegeeinrichtungen wirtschaftlich zu betreiben.
Im Jahr 2016 wurde mit dem Krankenhausstrukturgesetz (KHSG) ein Leistungsanspruch auf Kurzzeitpflege bei fehlender Pflegebedürftigkeit (§ 39c SGB V) für Personen eingeführt, bei denen die Leistungen der Grundpflege und der Hauswirtschaft im Rahmen der häuslichen Krankenpflege „bei schwerer Krankheit oder wegen akuter Verschlimmerung einer Krankheit“ nicht ausreichen, um der Versorgungssituation der Betroffenen gerecht zu werden (§ 39c Satz 1, 1. Halbsatz SGB V). Gemeint sind hierbei insbesondere Bedarfskonstellationen nach einem Krankenhausaufenthalt, einer ambulanten Operation oder einer ambulanten Krankenhausbehandlung
(§ 39c Satz 1, 2. Halbsatz SGB V). Auch diese Möglichkeit kann wegen fehlender Kurzzeitpflegeplätze nicht ausreichend in Anspruch genommen werden.
Den Leistungsempfängern/-innen stehen für die Inanspruchnahme der Kurzzeitpflege derzeit Leistungen nach dem SGB XI in Höhe von bis zu 1.612 Euro / Kalenderjahr für die Kurzzeitpflege nach § 42 SGB XI zur Verfügung. Dieser Betrag kann um den Betrag der Verhinderungspflege nach § 39 SGB XI in Höhe von bis zu 1.612 Euro auf insgesamt 3.224 Euro aufgestockt werden, sofern dieser im Kalenderjahr noch nicht in Anspruch genommen wurde. Je höher der Kostensatz pro Tag in einer Pflegeeinrichtung ist, umso geringer ist die Aufenthaltsdauer, die die Gäste mit den Leistungen der Pflegeversicherung finanzieren können. Bundesweit beträgt die durchschnittliche Verweildauer in der Kurzzeitpflege 21 Tage[2]. Die Kosten der Unterkunft und Verpflegung sowie die Investitionskosten, für welche viele Bundesländer schon seit vielen Jahren nicht mehr aufkommen, sind privat zu tragen. Um Entlastungsleistungen der Kurzzeitpflege, der Verhinderungspflege nach § 39 SGB XI, aber auch der Unterstützungsleistungen im Alltag nach § 45a SGB XI möglichst flexibel, entsprechend der individuellen Bedarfe, abrufen zu können, sollten diese Leistungen zu einem jährlichen Entlastungsbudget zusammengefasst werden. Dieses kann dann auch für die Kurzzeitpflege eingesetzt werden.
Pflegebedürftige Menschen haben bei Bedarf einen Leistungsanspruch auf Kurzzeitpflege, der wegen eines zu geringen Angebots an Plätzen oft nicht eingelöst werden kann. Notwendig ist aus Sicht der BAGFW ein ausreichendes und kurzfristig verfügbares Angebot an Kurzzeitpflegeplätzen. Dafür sind die erforderlichen Anreize und Rahmenbedingungen zu schaffen:
- Kurzzeitpflegeeinrichtungen werden in die Lage versetzt, die erforderlichen pflegerischen und betreuerischen Leistungen entsprechend der Nachfrage im erforderlichen Umfang und der erforderlichen Qualität zu erbringen.
- Die Leistungen der Kurzzeitpflege werden leistungsgerecht vergütet.
2. Konzeptionelle Anforderungen an die Qualität der Kurzzeitpflege
Die Versorgung in der Kurzzeitpflege ist durch einen hohen Arbeitsaufwand aufgrund häufiger Aufnahme- und Entlassungsprozesse gekennzeichnet. Bestandteil der Aufnahmephase ist die Übergabe aus der Häuslichkeit oder dem Krankenhaus, die Eingewöhnung in die stationäre Einrichtung, das pflegerische Assessment und die Aushandlung des Pflegeprozesses. Bestandteil des Entlassungsprozesses ist wiederum die Übergabe in die häusliche Versorgung oder in eine sonstige Versorgungssituation sowie ggf. das Aussprechen von Empfehlungen an die pflegenden Angehörigen für die weitere Versorgung. Insoweit ist mit der Entlassung immer auch eine Beratung zur weiteren individuellen Versorgung verbunden.
Kurzzeitpflege impliziert einen präventiven, pflegerischen, kurativen, rehabilitativen und therapeutischen Versorgungsauftrag. Dabei steht vor allem die Wiederherstellung bzw. Stabilisierung von gesundheitlichen Ressourcen im Sinne des geltenden Pflegeverständnisses sowie die Stärkung der individuellen Selbstständigkeit durch medizinisch-pflegerische Maßnahmen einschließlich der therapeutischen Versorgung, die Fortführung der ärztlichen Behandlung sowie der medizinischen Behandlungspflege im Mittelpunkt. Ziel ist es, Gesundheitsprobleme und aktuelle und/oder potentielle Risiken zu reduzieren, vorhandene Gesundheitsressourcen zu stärken, ggf. dauerhafter Pflegebedürftigkeit vorzubeugen und/oder Pflegebedürftigkeit zu verringern, um die Rückkehr in die eigene Häuslichkeit zu ermöglichen oder den Übergang in eine geeignete Versorgungsform zu gestalten. Die Kurzzeitpflege kann die geriatrische Rehabilitation nicht ersetzen; der Leistungsanspruch der Versicherten auf geriatrische Rehabilitation bleibt unberührt.
Darüber hinaus ist es in der Krankenhausnachsorge erforderlich, die persönliche Lebenssituation der veränderten gesundheitlichen Situation anzupassen. Dazu bedarf es einer kontinuierlichen Erfassung und Einschätzung von Informationen nicht nur zum aktuellen Versorgungsbedarf, sondern auch zu sich verändernden individuellen Ressourcen und dem sich daraus ergebenden perspektivischen Hilfebedarf. Dies schließt auch die Bewertung verfügbarer formeller und informeller Unterstützungspotentiale einschließlich des Erfordernisses von psychologischer, sozialarbeiterischer und seelsorgerischer Begleitung mit ein.
Zur medizinisch-pflegerischen Versorgung bedarf es daher der Vernetzung, Kooperation und Koordination der Kurzzeitpflegeeinrichtung mit anderen Leistungserbringern, wie ambulanten Pflegediensten, Logopäd/-innen, Ergotherapeut/-innen, Physiotherapeut/-innen, Ärzt/-innen, Psycholog/-innen, Sozialarbeiter/-innen, Seelsorger/-innen, Apotheken sowie Sanitätshäusern.
Zudem erfordert die Überleitung aus der Kurzzeitpflege in eine längerfristige, tragfähige Versorgungssituation eine umfassende Beratung unter Einbeziehung der An- und Zugehörigen zur aktuellen Lebenssituation und Prognose.
Den Versorgungsanforderungen der Krankenhausnachsorge können vor allem solitäre Kurzzeitpflegeeinrichtungen gerecht werden, da sie als vollstationäre Einrichtung mit zeitlich begrenzter Versorgungsleistung darauf spezialisiert sind, sich durch entsprechend qualifizierte Mitarbeitende und einer zielgruppengerechten Konzeption auf die spezifischen Bedarfe von Menschen nach Krankenhausaufenthalt und/ oder pflegebedürftigen Menschen mit individuellem Versorgungsbedarf einzustellen.
- Sicherung eines ausreichenden Angebotes an Kurzzeitpflegeplätzen auf einer tragfähigen finanziellen Grundlage
Unabhängig vom konkreten Versorgungsbedarf kommt es in der Kurzzeitpflege zu zahlreichen Aufnahmen und Entlassungen erkrankter und pflegebedürftiger Menschen. Durch die häufigen Fluktuationen entsteht in der Kurzzeitpflege ein erhöhter Organisations- und Verwaltungsaufwand.
Die Kurzzeitpflege, insbesondere als Krankenhausnachsorge, muss zudem einem erhöhten Aufwand an medizinischer Behandlungspflege, Beratung, aktivierend-therapeutischen Leistungen, Koordination und Vernetzung mit anderen Leistungser-bringern und Sicherstellung der Anschlussversorgung Rechnung tragen.
Die übliche vorläufige Einstufung von Patienten nach Krankenhausaufenthalt in den Pflegegrad 2 (gemäß § 18 Abs. 3 Satz 6 SGB XI) entspricht häufig nicht dem tatsächlichen medizinisch-pflegerischen Aufwand der Nachsorge nach einem Krankenhausaufenthalt in einer Kurzzeitpflegeeinrichtung. In der Regel werden die Pflegebedürftigen erst nach der Entlassung aus der Kurzzeitpflege bedarfsgerecht vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) eingestuft. Damit erhält die Kurzzeitpflegeeinrichtung keine leistungsgerechte Vergütung, so dass dem Träger ein wirtschaftlicher Betrieb der Kurzzeitpflege nicht möglich ist.
Auch die Kurzzeitpflege in sonstigen Krisensituationen, in denen vorübergehende häusliche oder teilstationäre Pflege nicht möglich oder nicht ausreichend ist, geht mit einem erhöhten Versorgungsbedarf einher. So zeigt sich in der Kurzzeitpflege häufig, dass die (fach-)ärztliche Versorgung angepasst werden muss, oder auch therapeutische Interventionen erforderlich sind, um eine Stabilisierung des Gesundheitszustandes zu erreichen.
Für die Kurzzeitpflege ist deshalb künftig, statt der heute pflegegradabhängigen, eine pflegegradunabhängige Finanzierung erforderlich. Ausschlaggebend ist hierbei, dass die Kurzzeitpflegeeinrichtungen in die Lage versetzt werden, dem tatsächlichen Versorgungsbedarf der Patienten/-innen zu entsprechen. In Fachkreisen wird geschätzt, dass der Arbeitsaufwand in Kurzzeitpflegeeinrichtungen ca. 30 Prozent höher ist als in der vollstationären Pflege, so dass eine diesem erhöhten Versorgungs-bedarf entsprechende Vergütung verhandelt werden muss.[3] Bei Kurzzeitpflegeplätzen sollten die Vergütungssätze einheitlich und unabhängig vom individuellen Versorgungsbedarf den Vergütungssätzen des Pflegegrad 4 der angeschlossenen vollstationären Einrichtung entsprechen.
Aufgrund des bereits erwähnten häufigen Wechsels von Kurzzeitpflegegästen besteht für die Einrichtung ein Risiko von zeitweilig unbelegten Plätzen. Dieser Umstand ist in der Vergütung zu berücksichtigen. Wir sehen daher einen Auslastungs-grad von max. 70 Prozent als kalkulatorische Grundlage für die Pflegesatzverhandlungen als erforderlich an. Dieser Auslastungsgrad muss dabei den pflegebedingten Aufwendungen, den Aufwendungen für Unterkunft und Verpflegung, für die Investitionskosten als auch den Ausbildungskosten zu Grunde gelegt werden. Entsprechende Regelungen sind auf Landesebene zu treffen.
Zur Finanzierung der Vorhaltung von Kapazitäten und des erhöhten Aufwands ist für die Kurzzeitpflege zusätzlich ein Vergütungszuschlag vorzusehen. Dieser Vergütungszuschlag darf dabei die Leistungsempfänger/-innen nicht zusätzlich finanziell belasten, um deren Eigenbeteiligung an den Kosten nicht weiter zu erhöhen. Vor diesem Hintergrund ist der Vergütungszuschlag von den Pflegekassen zu tragen. Der Vergütungszuschlag gilt für eingestreute Kurzzeitpflegeplätze unter der Voraussetzung, dass ein mit den Kostenträgern vereinbartes Kontingent für Kurzzeitpflegegäste vorgehalten wird. Dieses ist in einer Zusatzvereinbarung zum Versorgungs-vertrag und zur Vergütungsvereinbarung festzulegen; ein eigener Versorgungsvertrag für eingestreute Kurzzeitpflege ist nicht erforderlich. Vollstationäre Pflegeeinrichtungen können frei entscheiden, ob sie eingestreute Kurzzeitpflegeplätze anbieten, dabei sind die Landesregelungen zu beachten. Für solitäre Kurzzeitpflegeeinrichtungen gilt der Vergütungszuschlag für alle angebotenen Plätze der Einrichtung.
Zusammengefasst sieht die BAGFW sowohl für die eingestreuten Kurzzeitpflegeplätze als auch für die solitäre Kurzzeitpflege folgenden Handlungsbedarf, um das Angebot der Kurzzeitpflege zu stärken und der Nachfrage an Kurzzeitpflegeplätzen zu entsprechen:
- Pflegegradunabhängiger Einheitssatz für die Kurzzeitpflege auf der kalkulatorischen Grundlage des PG 4 bei einem Auslastungsgrad von max. 70 Prozent, bezogen auf die Kosten der Pflege, der Unterkunft und Verpflegung, der Investitionskosten als auch der Ausbildungskosten
- Finanzierung über einen Vergütungszuschlag aus den Mitteln der Pflegeversicherung
- Gesetzlicher Änderungsbedarf
Für die Umsetzung der vorgenannten Verbesserungsvorschläge zur Sicherung des Kurzzeitpflegeangebots sind folgende gesetzlichen Änderungen erforderlich:
§ 84a SGB XI Vergütungszuschlag für Kurzzeitpflegeplätze in vollstationären Pflegeeinrichtungen
„Der Vergütungszuschlag für Kurzzeitpflegeplätze ist abweichend von § 84 Absatz 2 Satz 2 und Absatz 4 Satz 1 sowie unter entsprechender Anwendung des Absatzes 2 Satz 1 und 5, des Absatzes 7 und des § 87a als zusätzliche Entgelte zur Pflegevergütung für die Leistungen nach § 42 zu vereinbaren. Der Vergütungszuschlag errechnet sich aus der Differenz zwischen der für die Kurzzeitpflege gültigen Vergütung entsprechend für Pflegegrad 2 und Pflegegrad 4. Er ist von der Pflegekasse zu tragen und von dem privaten Versicherungsunternehmen im Rahmen des vereinbarten Versicherungsschutzes zu erstatten; § 28 Absatz 2 ist entsprechend anzuwenden. Pflegebedürftige dürfen mit den Vergütungszuschlägen weder ganz noch teilweise belastet werden. Das Nähere ist auf Landesebene zu regeln.
§ 85 SGB XI wird um folgenden Absatz 9 ergänzt:
„ (9) Die Vereinbarung des Vergütungszuschlags nach § 84a SGB XI erfolgt unter der Voraussetzung, dass die stationäre Pflegeeinrichtung ausschließlich für die Kurzzeitpflege genutzte Pflegeplätze vorhält und über das vereinbarte Pflegepersonal verfügt. Die Aufwendungen für dieses Personal dürfen weder bei der Bemessung der Pflegesätze noch bei den Zusatzleistungen nach § 88 berücksichtigt werden.“
[1] Wissenschaftliche Studie zum Stand und zu den Bedarfen der Kurzzeitpflege in NRW, Abschlussbericht für das Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen, Grit Braeseke u.a., Berlin, 2017
[2]ebd.
[3] Beschlussvorlage Landespflegesatzkommission Bayern „Einheitlicher Personalschlüssel und Pflegesatz für die eingestreute Kurzzeitpflege“ vom 24. Januar 2017
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Regionale Hospiz- und Palliativ-Netzwerke sind - nach Ansicht der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege - notwendige Eckpfeiler für eine qualitativ hochwertige und nachhaltig wirksame hospizliche und palliative Beratung, Begleitung und Versorgung schwerstkranker und sterbender Menschen und ihrer Zugehörigen vor Ort (im Weiteren: Betroffene).
Schon früh haben in einzelnen Regionen Akteure der Hospizarbeit die Notwendigkeit der Vernetzung erkannt und damit begonnen Netzwerke zu initiieren. Der gesetzliche Anspruch auf eine Spezialisierte Ambulante Palliativversorgung (SAPV, 2008) und auch das Hospiz- und Palliativgesetz (HPG, 2015) gaben weitere wesentliche Impulse für die Vernetzung regionaler Akteure. Insbesondere die Einführung eines neuen Beratungsangebotes zur Gesundheitlichen Versorgungsplanung für die letzte Lebensphase erfordert hierbei die Abstimmung und Koordination der regionalen Leistungserbringer. Regionale Netzwerke dienen der Kooperation und der Koordination in der hospizlichen und palliativen Beratung, Begleitung und Versorgung und schaffen Transparenz und Orientierung für Betroffene sowie weitere Akteure. Sie tragen dazu bei, eine passgenaue, an den Bedürfnissen der Betroffenen ausgerichtete Beratung, Begleitung und Versorgung zu etablieren, auszubauen und zu fördern.
Inzwischen wurden von Engagierten und Akteuren in vielen Regionen die neuen Möglichkeiten zur Weiterentwicklung der Beratung, Begleitung und Versorgung in der Hospiz- und Palliativversorgung aufgegriffen. Die Vielfalt in der Beratung, Begleitung und Versorgung wurde weiter ausgebaut und damit differenziert.
Der Aufbau übergreifender Netzwerkstrukturen erfolgt jedoch bisher nur vereinzelt und in unterschiedlicher Ausprägung. Die Bedeutung und die Möglichkeiten eines regionalen Hospiz- und Palliativ-Netzwerkes sind den Akteuren vielfach bewusst; Hemmnisse liegen vielmehr in der fehlenden Unterstützung bei der Schaffung der strukturellen und finanziellen Voraussetzungen für die Koordination eines Netzwerkes.
Übergeordnetes Ziel sind daher nach Ansicht der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege der weitere flächendeckende Aufbau und die nachhaltige Förderung regionaler Hospiz- und Palliativnetzwerke, die, orientiert an den jeweiligen Strukturen und regionalen Gegebenheiten, zugänglich sind für alle an der Beratung, Begleitung und Versorgung Beteiligten.
Definition regionaler Hospiz- und Palliativ-Netzwerke
Regionale Hospiz- und Palliativ-Netzwerke dienen der strukturierten Zusammenarbeit von Akteuren, die an der Beratung, Begleitung und Versorgung der Betroffenen beteiligt sind und die sich im Rahmen einer freiwilligen Vereinbarung vernetzen.
Ziele regionaler Hospiz- und Palliativ-Netzwerke
Das Ziel eines regionalen Hospiz- und Palliativ-Netzwerkes ist es, in der Region eine abgestimmte, nicht nur vom Engagement einzelner Personen abhängige, nachhaltige und an den Bedürfnissen Betroffener angepasste, strukturierte Beratung, Begleitung und Versorgung systematisch zu entwickeln, zu fördern und zu etablieren.
Dabei orientiert sich das Zusammenwirken der Netzwerk-Akteure nicht an einzelnen fachlichen oder organisatorischen Interessen, sondern am Gesamtnutzen für die Betroffenen sowie der Bürgerinnen und Bürger einer Kommune. Im Mittelpunkt des Netzwerks stehen also die Vorteile, die Betroffene von der sektorenübergreifenden Kooperation von Praktikerinnen und Praktikern – etwa bei der Beratung, Begleitung, und Versorgung – in ihrem Alltagsleben vor Ort haben. Die spezifischen Ziele der jeweiligen Hospiz- und Palliativ-Netzwerke orientieren sich an den regional bereits vorhandenen Strukturen.
Aufgaben regionaler Hospiz- und Palliativ-Netzwerke
Regionale Netzwerke dienen der Bündelung lokaler Kräfte, Potentiale und Ressourcen, der Verbesserung der Kooperationsfähigkeit der regionalen Leistungserbringer, der Optimierung des Gesamtangebots und dem Schließen von Versorgungslücken durch Synergien. Durch Netzwerkarbeit kann der Zugang zu Kompetenzen und Ressourcen erreicht werden, die in der einzelnen Organisation oder Institution allein nicht vorhanden sind.
Aus Sicht der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege dienen regionale Hospiz- und Palliativ-Netzwerke im Wesentlichen
- der Schaffung einer Plattform durch die Förderung des Austausches, der Kommunikation und der Information mit dem Ziel, die Kooperationsfähigkeit im Netzwerk zu erhöhen, eine gemeinsame Handlungslogik zu entwickeln um somit die Qualität, Effizienz und Effektivität der Beratung, Begleitung und Versorgung zu steigern.
- der Beförderung einer Netzwerkidentität und einer gemeinsamen Orientierung durch das Zusammenbringen der Sichtweisen und Erwartungen in dem Netzwerk und der Abstimmung der Arbeitsansätze im Sinne von Versorgungsqualität und Versorgungskontinuität unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Stärken der Netzwerk-Akteure.
- der Verbesserung des Schnittstellenmanagements und der Überwindung von Sektorengrenzen durch Förderung der Zusammenarbeit aller Einrichtungen und Berufsgruppen, die für die Beratung, Begleitung und Versorgung der Betroffenen im ambulanten und stationären Bereich Verantwortung tragen.
- der bedarfsorientierten Wissensvermittlung und der Durchführung von Fort- und Weiterbildungen sowie fachlichen Veranstaltungen und Fallbesprechungen.
- dem Austausch der regionalen Leistungserbringer bzgl. der notwendigen Schritte zu einer abgestimmten Zusammenarbeit zur Umsetzung der Beratung zur gesundheitlichen Versorgungsplanung gem. § 132 g SGB V in der letzten Lebensphase in der Region (insbesondere der betroffenen Einrichtungen der Altenhilfe und der Eingliederungshilfe, der Krankenhäuser, der Ärzt/innen und der Notfall- und Rettungsdienste).
- der niedrigschwelligen Beratung, sowohl von Betroffenen aus allen gesellschaftlichen Schichten und Kulturen, als auch von Verantwortlichen und Mitarbeiter/innen der in die Beratung, Begleitung, Versorgung involvierten oder an der Verbesserung der Beratung, Begleitung und Versorgung interessierten Institutionen.
- der transparenten Gestaltung von Versorgungsstrukturen mit dem Ziel der besseren Information und Orientierung von Betroffenen und der Reduzierung der Komplexität bezüglich der möglichen Optionen zur Beratung, Begleitung und Versorgung. Dies erleichtert den Zugang zu hospizlicher und palliativer Versorgung und stellt eine bedarfsorientierte Beratung, Begleitung und Versorgung sicher.
- der Öffentlichkeitsarbeit mit dem Ziel, die Arbeit des Netzwerks transparent zu machen, im Gemeinwesen (dem Sozialraum, der Kommune) zu verankern und hospizlich- und palliativ-relevante Themen gesellschaftlich und politisch voranzutreiben.
- der Förderung des bürgerschaftlichen Engagements und einer Sorgekultur im Sinne der Hospizphilosophie, die zum Ziel hat, ein würdevolles Lebensende an allen Orten und in allen Institutionen wo Menschen leben möglich zu machen.
Mögliche Mitglieder regionaler Hospiz- und Palliativ-Netzwerke
Mitglieder regionaler Hospiz- und Palliativ-Netzwerke sind Organisationen, Institutionen und Einzelpersonen, die mittelbar oder unmittelbar mit der Beratung, Begleitung und Versorgung der Betroffenen befasst sind.
Dies können insbesondere sein: ambulante Hospizdienste, Hospiz- und Fördervereine, stationäre Hospize für Erwachsene und Kinder, sowie sonstige zum bürgerschaftlichen Engagement bereite Personen, die sich für die hospizliche und palliative Arbeit engagieren, niedergelassene Haus- und Fachärzt/innen, ambulante Pflegedienste, stationäre Pflegeeinrichtungen, Krankenhäuser mit und ohne Palliativ-Abteilungen, SAPV-Teams für Kinder, Jugendliche und Erwachsene, Notfall- und Rettungsdienste, Apotheken, Sanitätshäuser, Bestattungsinstitute, sowie weitere Vertreter/innen von Professionen aus den Bereichen Beratung (z.B. Gesprächsbegleiter/innen der Gesundheitlichen Versorgungsplanung), Psychologie und Psychotherapie und anderen therapeutischen Berufsgruppen, kirchliche/seelsorgende Dienste, ggf. auch weitere soziale Dienste und Einrichtungen wie z.B. Einrichtungen der Eingliederungs- und Wohnungslosenhilfe, Selbsthilfegruppen, Vertreter/innen der Ärzte- und Pflegekammern, kassenärztlichen Vereinigungen, Kranken- und Pflegekassen, der Verbände der Freien Wohlfahrtspflege, Hospiz- und Palliativ-Akademien und anderer kirchlicher und freier Bildungsträger sowie Kommunen und kommunale Einrichtungen, die zum Ziel haben, die regionale Hospiz- und Palliativversorgung zu verbessern.
Ein Netzwerk kann daher zur Förderung einer Sorgekultur weitere Einrichtungen und Dienste des Gesundheits- und Sozialwesens, der Kommunen (wie z.B. Stadtplaner, Quartiersentwickler) sowie Akteure der lokalen Bürgergesellschaft (Besuchsdienste, Trauergruppen, Vereine wie z.B. Bürgervereine, Migrantenvereine, etc.) einbeziehen, sofern sie die Ziele des Netzwerkes unterstützen.
Die regionale Koordinierungsstelle des Netzwerkes steht mit allen Mitgliedern in Kontakt. Sie erhält die Kommunikationsstrukturen des Netzwerkes aufrecht, unterstützt die Prozessorganisation des Netzwerkes und wirkt daran mit, dass die operativen Leistungen der verschiedenen Netzwerk-Akteure erfolgreich miteinander verknüpft werden können, ohne dabei die Autonomie der einzelnen Netzwerkmitglieder einzuschränken. Darüber hinaus organisiert und moderiert die Koordinierungsstelle die verschiedenen Treffen und Aktivitäten des Netzwerkes.
Um diese Aufgaben erfüllen zu können, muss die oder der für die Koordination Verantwortliche über spezifische, fachliche Expertise verfügen.
Förderung der Koordination regionaler Hospiz- und Palliativ-Netzwerke
Hospiz- und Palliativ-Netzwerke arbeiten am erfolgreichsten und effektivsten, wenn sie eine Instanz zur Koordinierung haben. Ziel dieser Förderung der Koordinierung ist die Stärkung und Weiterentwicklung bestehender Beratungs-, Begleitungs- und Versorgungsstrukturen für Betroffene. Vor diesem Hintergrund bedarf es, nach Ansicht der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege, der Einrichtung und finanziellen Förderung einer festen, auf Dauer angelegten Stelle, die die Koordination des Netzwerkes übernimmt, um eine strukturierte Zusammenarbeit der Netzwerkmitglieder zu erreichen und zu verstetigen.
Die Fördermittel sind für die Koordination des Auf- und Ausbaus von Netzwerken und für die Verstetigung der Koordination bestehender regionaler Netzwerke zu verwenden. Sie können auch dazu verwendet werden, bereits bestehende Netzwerke zum Beispiel im Übergang von der Pionierphase zur Schaffung verbindlicherer Strukturen zu unterstützen. Darüber hinaus können sie der Schaffung von Synergien durch die Integration und Zusammenführung bereits bestehender Netzwerke dienen.
Um Neutralität und Allparteilichkeit zu gewährleisten muss sich, nach Ansicht der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege, die Förderung der koordinierten und strukturierten regionalen Zusammenarbeit aus mehreren Quellen speisen (Mischfinanzierung). Dabei sind die Kommunen aufgrund ihrer Aufgabe zur kommunalen Daseinsvorsorge, nach Ansicht der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege, zu beteiligen.
Die Förderung erfolgt zum einen durch den Spitzenverband Bund der Krankenkassen. Zum anderen ist der Zuschuss aus Mitteln der Krankenversicherung um die Förderung durch das jeweilige Land oder die jeweilige kommunale Gebietskörperschaft zu ergänzen. Der Zuschuss des jeweiligen Landes oder der jeweiligen kommunalen Gebietskörperschaft kann auch als Personal- oder Sachmittel eingebracht werden, sofern diese Mittel nachweislich ausschließlich und unmittelbar dazu dienen, den Förderzweck zu erreichen.
Darüber hinaus kann das Netzwerk vom jeweiligen Land oder der jeweiligen kommunalen Gebietskörperschaft auch durch die Förderung des ehrenamtlichen Engagements im Netzwerk oder der regionalen Hospiz- und Palliativarbeit unterstützt werden (z.B. durch freie Fahrten, freie Eintritte, Werbung auf Bussen usw.). Soweit Mittel der Arbeitsförderung oder zur Förderung des regionalen hospizlich/palliativen Ehrenamts eingesetzt werden, sind diese als ein vom Land oder von der Kommune geleisteter Zuschuss zur Förderung anrechenbar.
Zusätzlich können zur Finanzierung der Koordination des Netzwerkes Eigenmittel der Netzwerkmitglieder eingebracht werden. Beispiele hierfür sind Mitgliedsbeiträge, immaterielle Ressourcen, Spenden etc.
Gefördert werden können netzwerkbedingte Kosten wie Personal- und Sachkosten (z.B. Raummiete, Büroausstattung, Medien, Veranstaltungen), die durch die Koordination des regionalen Netzwerkes und z.B. durch die Organisation und Durchführung fachlicher Fortbildungen, der an dem regionalen Netzwerk beteiligten Akteure, entstehen. Zu den förderfähigen Kosten gehören ebenfalls die Kosten für die Öffentlichkeitsarbeit des Netzwerkes.
Voraussetzungen für die Förderung der Koordination regionaler Hospiz- und Palliativ-Netzwerke
Die Koordination regionaler Netzwerke ist, nach Ansicht der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege, förderfähig, wenn es sich um Netzwerke handelt, bei denen alle Organisationen, Institutionen und Einzelpersonen, die mittelbar oder unmittelbar mit der Beratung, Begleitung und Versorgung der Betroffenen befasst sind, mitwirken können.
Voraussetzung für die Förderung ist auch, dass sie auf einem freiwilligen Zusammenschluss, z. B. als eingetragener Verein (e. V.), als gemeinnützige Gesellschaft mit beschränkter Haftung (gGmbH) oder ohne Rechtsform auf Basis von schriftlichen Kooperationsvereinbarungen der in der Region beteiligten Netzwerk-Akteure basieren.
Eine weitere Voraussetzung ist, dass sich in dem Netzwerk Angehörige unterschiedlicher Professionen (mindestens drei) aus der ambulanten und stationären Regel- und Spezialversorgung engagieren.
An dem Netzwerk können sich Organisationen, Institutionen und Einzelpersonen, Ehrenamtliche und Selbstvertretungen der Betroffenen beteiligen.
Um eine Förderung zu erhalten, muss das Netzwerk darüber hinaus für die zu bewältigenden Aufgaben Strukturen festlegen, die den Anliegen aller Mitglieder Gehör verschaffen und gleichzeitig der Pluralität, Heterogenität und Autonomie der Mitglieder gerecht werden.
Die an dem Netzwerk beteiligten Akteure schließen hierzu eine Vereinbarung, aus der sich die gemeinsam erarbeiteten und festgelegten Ziele und Inhalte, Strukturen, die beabsichtigte Durchführung der Aufgaben und deren Kosten und die an der Vernetzung beteiligten Akteure ergeben.
Zur regelmäßigen Überprüfung der Netzwerkarbeit und -prozesse legt das Netzwerk seine Konzeption und seine Struktur schriftlich dar und erstellt jährlich einen Sachbericht und Verwendungsnachweis.
]]>Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) begrüßt grundsätzlich die Intention des Gesetzentwurfes „das Bürgerschaftliche Engagement und Ehrenamt in Deutschland nachhaltig zu stärken und zu fördern.“ Ca. 2,5 bis 3 Millionen Menschen engagieren sich in Vereinen, Initiativen, Hilfswerken und Selbsthilfegruppen der Mitgliedsverbände der BAGFW. Die Errichtung einer durch den Staat dominierten Stiftung, die sich hauptsächlich als Servicestelle versteht, sieht die BAGFW sehr kritisch. Auf der Grundlage der einzelverbandlichen Stellungnahmen im Rahmen der Anhörung des BMFSFJ (siehe Anlage) sieht die BAGFW im aktuellen Gesetzgebungsverfahren folgenden Korrekturbedarf:
1. Doppelstrukturen vermeiden und subsidiär fördern
Die Stiftung sollte vorrangig eine Förderstiftung sein, sich am Grundsatz der Subsidiarität orientieren, weniger operative Funktionen wahrnehmen und keine Aufgaben übernehmen, die bereits von anderen Stellen bearbeitet werden. Die Errichtung der Bundesstiftung darf nicht zu Lasten bestehender und bewährter Angebote, z. B. der Verbände und der Länder gehen.
2. Nachhaltige und transparente Projektförderungen schaffen
Die Förderentscheidungen der Stiftung müssen auf der Grundlage von Qualitätskriterien erfolgen. Dadurch sollen Transparenz und Nachvollziehbarkeit der Entscheidungen gewährleistet sein und Förderungen nach dem Gießkannenprinzip ausgeschlossen werden. Die Stiftung sollte sowohl mittelfristig angelegte Projektförderungen (fünf bis sieben Jahre) als auch kurzfristige Projektförderungen ermöglichen.
3. Adäquate Mitwirkung in den Entscheidungsstrukturen der Stiftung ermöglichen
Die in der BAGFW zusammengeschlossenen sechs Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege gehen davon aus, dass sie aufgrund ihrer besonderen zivilgesellschaftlichen Bedeutung in angemessener Weise in die Entscheidungsstrukturen und insbesondere in den Stiftungsrat eingebunden werden. Darüber hinaus ist eine möglichst breite Partizipation der Zivilgesellschaft zu ermöglichen. Das aktuell bestehende Vetorecht der am Stiftungsrat beteiligten Ministerien sollte nach Auffassung der BAGFW im Gesetzentwurf gestrichen werden.
Berlin, 02.12.2019
Bundesarbeitsgemeinschaft
der Freien Wohlfahrtspflege e. V.
Dr. Gerhard Timm
Geschäftsführer
Kontakt:
Dörte Lüdeking (d.luedeking(at)drk.de)
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Die ursprünglich im Referentenentwurf des Angehörigenentlastungsgesetzes enthaltene Regelung, die die durch den BTHG-Systemwechsel (Trennung der Leistungen) bedingte „Rentenlücke“ von Menschen mit Behinderungen, die in stationären Einrichtungen leben und Renten beziehen, schließen soll, wurde mittlerweile in den Gesetzentwurf zum SGB IX und XII-Änderungsgesetz vorgezogen und dahingehend angepasst, dass die Regelung nunmehr für alle betroffenen Menschen mit Behinderungen in besonderen Wohnformen gelten soll. Das Gesetz wurde bereits vom Bundestag in zweiter und dritter Beratung beschlossen. Dies bewertet die BAGFW positiv, da so sichergestellt wird, dass diese Regelungen von der Verwaltung rechtzeitig zum 01.01.2020 umgesetzt werden können und somit Sicherheiten für den betreffenden Personenkreis bieten.
Nach Auffassung der BAGFW sind darüber hinaus folgende Anpassungen im SGB IX kurzfristig umzusetzen:
- Klarstellungen zur Umsatz- und Ertragssteuer von Leistungen in besonderen Wohnformen[1],
- Sicherung der Leistungskontinuität für junge Volljährige, die in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe leben,
- Zuerkennung der Regelbedarfsstufe eins statt zwei für Menschen mit Behinderungen in besonderen Wohnformen nach § 42a Abs. 2 Ziffer 2 i.V. mit Abs. 5-7 SGB XII neu. ; die Anwendung der Regelbedarfsstufe zwei ist nicht sachgerecht, da sie auf einer freihändigen Schätzung und nicht auf validen Daten beruht. Zudem ist die besondere Wohnform nicht mit einer eheähnlichen oder lebenspartnerschaftlichen Gemeinschaft vergleichbar. [2]
- Zeitnahe Neuregelung des leistungsberechtigten Personenkreises nach § 99 BTHG einschl. der Verordnung und zügige Umsetzung auf der Grundlage des in der Arbeitsgruppe des BMAS unter allen Beteiligten erarbeiteten Vorschlags vom September 2019. An dieser Stelle sei angemerkt, dass die BAGFW eine Evaluation im Vorfeld der Umsetzung für verzichtbar, jedoch einen Verweis auf § 4 SGB IX in § 99 und in der Verordnung für notwendig hält.
Zu den vorgeschlagenen Änderungen nimmt die BAGFW im Einzelnen wie folgt Stellung:
Zu Artikel 1
Änderung des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch
Zu Ziffer 2
§ 41 SGB XII Leistungen der Grundsicherung im Eingangs- und Berufsbildungsbereich
Die BAGFW begrüßt, dass mit der geplanten Änderung nun klargestellt ist, dass auch Menschen, die den Eingangs- und Berufsbildungsbereich in einer WfbM bzw. bei einem anderen Leistungsanbieter durchlaufen, Anspruch auf Leistungen der Grundsicherung bei Erwerbsminderung haben, ohne dass die dauerhafte Erwerbsminderung geprüft werden muss. Menschen, die während der Zeit, in der sie eine betriebliche Ausbildung durchlaufen, ein Budget für Ausbildung in Anspruch nehmen, werden diesem Personenkreis gleichgestellt, was sachgerecht ist, da das Budget für Ausbildung eine Alternative zur beruflichen Bildung im Berufsbildungsbereich einer WfbM darstellen sollte.
Zu Ziffern 3 und 4
§§ 43, 94 SGB XII i.V.m. § 138 SGB IX sowie § 94 Abs. 2 SGB IX
Aufhebung der Unterhaltsheranziehung von Eltern und Kindern mit einem Jahresbruttoeinkommen von bis zu 100.000 Euro in der Sozialhilfe
Die BAGFW bewertet die vorgesehenen Änderungen der §§ 43 und 94 SGB XII in Verbindung mit § 138 SGB IX als sehr positiv, da diese Regelungen einen deutlichen Beitrag zur Entlastung der Angehörigen darstellen, indem die Freigrenze von 100.000 Euro für das Jahresbruttoeinkommen nun für alle Leistungen des SGB XII gilt und auch der Beitrag von 32,08 Euro von Eltern volljähriger Menschen mit Behinderungen zu Leistungen der Eingliederungshilfe nach § 138 Absatz 4 SGB IX aus Gründen der Gleichbehandlung entfällt.
Zu Ziffer 5
§ 140 SGB XII
Der neue § 140 SGB XII soll die sog. „Rentenlücke“ schließen, die einmalig bei der Systemüberleitung im Januar 2020 bei Menschen entsteht, die in bisherigen stationären Einrichtungen leben (ab 01.01.2020 in besonderen Wohnformen). Damit wird der Verwaltungsaufwand gemindert und der Systemübergang für die betroffenen Menschen einfacher gestaltet. Wie bereits ausgeführt wurden diese Regelungen mittlerweile in den Gesetzentwurf zum SGB IX und XII-Änderungsgesetz aufgenommen, das bereits vom Bundestag in zweiter und dritter Beratung beschlossen wurde. Dies bewertet die BAGFW positiv, da so sichergestellt wird, dass diese Regelungen von der Verwaltung rechtzeitig zum 01.01.2020 umgesetzt werden können und somit Sicherheit für den betreffenden Personenkreis bieten.
Zu Artikel 2
Änderung des Neunten Buches Sozialgesetzbuch
Zu Ziffer 2 b)
§ 32 Absatz 6 (neu) SGB IX: Weiterführung der Förderung der EUTB
Die vorgeschlagene Entfristung der EUTB wird von den Spitzenverbänden der Freien Wohlfahrtspflege als wichtiger Schritt auf dem Weg zur Etablierung einer qualitativ hochwertigen Beratungslandschaft für Menschen mit Behinderungen bewertet, die die Betroffenen im gegliederten System der sozialen Sicherung dauerhaft und nachhaltig unterstützen kann. Wir begrüßen die Aufstockung der Fördersumme von gegenwärtig 58 Mio. Euro jährlich auf 65 Mio. ab dem Jahr 2023, geben allerdings zu bedenken, dass für eine flächendeckende Beratungsinfrastruktur eine höhere Fördersumme erforderlich ist, um insbesondere steigende Personalkosten, Mietzinsen, Fahrtkostenerstattungen sowie den Ausbau aufsuchender Beratung kostendeckend zu gestalten. Es ist davon auszugehen, dass mit dem Inkrafttreten der dritten Stufe des Bundesteilhabegesetzes ab Januar 2020 mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Zunahme der Beratungsbedarfe zu erwarten sein wird. Um eine zukunftsfähige und wirksame unabhängige Teilhabeberatung zu etablieren, sollte der Gesetzentwurf auch eine Dynamisierung entsprechend der zu erwartenden Steigerungen bei den Personal- und Sachkosten vorsehen.
Zu Ziffer 3
§ 60 Absatz 2 c) Nr. 8 (neu) SGB IX Personalschlüssel anderer Leistungserbringer
Dieser Passus stellt klar, dass der Personalschlüssel anderer Leistungsanbieter sich am Bedarf der Leistungsberechtigten orientieren muss. Da § 9 Abs. 3 WVO oft dahingehend missverstanden wird, dass der hier normierte Personalschlüssel für alle Werkstätten verbindlich sei, ist diese Klarstellung ein richtiger Schritt.
Die BAGFW hält es nicht für ausreichend, diese Klarstellung nur für die anderen Leistungsanbieter in betrieblicher Form vorzunehmen. Vielmehr sollte auf gesetzlicher Ebene – und nicht nur auf Ebene der Werkstätten-Verordnung – ausdrücklich geregelt werden, dass der Personaleinsatz bei der Teilhabe am Arbeitsleben sich stets am Bedarf der Leistungsberechtigten zu orientieren hat.
Änderungsbedarf:
Streichung der Wörter „ausschließlich in betrieblicher Form“
Zu Ziffer 4
§ 61 Einführung eines Budgets für Ausbildung
Zu Absatz 1 (neu)
Mit dem vorgelegten Gesetzentwurf führt die Bundesregierung ein Budget für Ausbildung ein. Dafür haben sich die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege seit langem eingesetzt. Allerdings setzt der Gesetzgeber im Regelungsentwurf die Hürden so hoch, dass dieses Instrument nur sehr wenigen Menschen mit Behinderungen offenstehen wird: Voraussetzung ist ein sozialversicherungspflichtiges Ausbildungsverhältnis in einem anerkannten Ausbildungsberuf oder einem Ausbildungsgang nach § 66 des Berufsbildungsgesetzes oder § 42m der Handwerksordnung. Diese Voraussetzung wird dazu führen, dass das Budget für Ausbildung nur für leistungsstärkere Menschen mit Behinderungen in Frage kommen wird, die ohnehin Chancen auf eine Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt haben.
Die BAGFW lehnt diese hohen Zugangshürden ab und fordert stattdessen ein niedrigschwelliges Budget für Ausbildung und berufliche Bildung (und auch für Arbeit), das allen Menschen mit Behinderungen einen Zugang zur Ausbildung und beruflichen Bildung auch unabhängig von der WfbM ermöglicht.
Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege setzen sich im Übrigen dafür ein, die Dauer des Berufsbildungsbereichs grundsätzlich auf drei Jahre zu verlängern, um die Benachteiligung von Menschen mit Beeinträchtigungen gegenüber Menschen ohne Beeinträchtigungen, deren Ausbildungsdauer im Rahmen der dualen Berufsausbildung drei Jahre umfasst, aufgehoben wird.
Änderungsbedarf:
§ 61a Absatz 1 SGB XII wird wie folgt formuliert:
- Menschen mit Behinderungen, die Anspruch auf Leistungen nach § 57 haben und denen von einem privaten oder öffentlichen Arbeitgeber ein sozialversicherungspflichtiges Ausbildungsverhältnis in einem anerkannten Ausbildungsberuf oder in einem Ausbildungsgang nach § 66 des Berufsbildungsgesetzes oder § 42m der Handwerksordnung angeboten wird, erhalten mit Abschluss des Vertrages über dieses Ausbildungsverhältnis als Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben ein Budget für Ausbildung. Das Budget für Ausbildung wird von den Leistungsträgern nach § 63 Absatz 1 erbracht. Ein Budget für Ausbildung und berufliche Bildung erhalten auch nach § 57 anspruchsberechtigte Menschen mit Behinderungen, die keine reguläre Ausbildung absolvieren können und nach der Schule nicht in eine WfbM wechseln möchten, als Leistungen der beruflichen Bildung im Rahmen betrieblicher Angebote.
Die BAGFW regt an, dem Vorschlag des Bundesrates in der Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Neunten und des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch und anderer Rechtsvorschriften (BR-Drucksache 196/19 Beschluss) zu folgen und das Budget für Ausbildung auch für einen nach Landesrecht geregelten anerkannten (dualen) Ausbildungsgang oder für andere Tätigkeiten und Maßnahmen zur beruflichen Qualifizierung (z. B. Teilqualifizierungen) in privaten oder öffentlichen Betrieben oder in Dienststellen zu ermöglichen.
Zu Absatz 2 (neu)
Der Regelungsvorschlag zur finanziellen Ausstattung des Budgets für Ausbildung orientiert sich am Budget für Arbeit nach § 60 SGB IX und ist grundsätzlich zu begrüßen.
Wir begrüßen, dass in Absatz 2 klargestellt wird, dass die Erstattung der Ausbildungsvergütung bis zur Höhe von tarifvertraglichen Vergütungsregelungen festgelegt wird. Da kirchliche Träger im Dritten Weg keine Tarifvertragsparteien sind, ist Absatz 2 Satz 2 dahingehend anzupassen, dass die Vorschrift auch auf die tariflichen Vergütungen, die nach kirchlichen Arbeitsrechtsregelungen abgeschlossen werden, Anwendung findet. Der Begriff der „einschlägigen“ tarifvertraglichen Vergütungsrege-lung ist ein unbestimmter Rechtsbegriff und daher zu präzisieren. Die hier eingefügte Vorschrift muss zum Ausdruck bringen, dass alle tarifvertraglichen Vergütungsregelungen als wirtschaftlich anerkannt werden.
Absatz 2 sollte unmissverständlich einen Anspruch auf individuell bedarfsgerechte Leistungen zur Anleitung und Begleitung am Ausbildungsplatz beschreiben.
Daher ist er, wie beim Budget für Arbeit (§ 61 Abs. 2 SGB IX), um den folgenden Satz zu ergänzen:
(2) Das Budget für Ausbildung umfasst die Erstattung der Ausbildungsvergütung und die Aufwendungen für die wegen der Behinderung erforderliche Anleitung und Begleitung am Ausbildungsplatz und in der Berufsschule. Die Erstattung der Ausbildungsvergütung erfolgt bis zu der Höhe, die in einer einschlägigen tarifvertraglichen Vergütungsregelung oder Vergütungsregelung nach kirchlichen Arbeitsrechtsregelungen festgelegt ist. Fehlt eine solche, erfolgt die Erstattung bis zu der Höhe der nach § 17 des Berufsbildungsgesetzes für das Berufsausbildungsverhältnis ohne öffentliche Förderung angemessenen Vergütung. Ist wegen Art oder Schwere der Behinderung der Besuch einer Berufsschule am Ort des Ausbildungsplatzes nicht möglich, so kann der schulische Teil der Ausbildung in Einrichtungen der beruflichen Rehabilitation erfolgen; die entstehenden Kosten werden ebenfalls vom Budget für Ausbildung gedeckt. Dauer und Umfang der Leistungen bestimmen sich nach den Umständen des Einzelfalls.
Die BAGFW weist in diesem Zusammenhang noch einmal darauf hin, dass ihrer Auffassung nach für die Leistungen „Anleitung und Begleitung am Arbeitsplatz“ und „Anleitung und Begleitung am Ausbildungsplatz“ die Entwicklung und Etablierung bundeseinheitlicher Qualitätsstandards erforderlich ist und bietet hierbei ihre Unterstützung an.
Zu Absatz 3 (neu)
Absatz 3 bestimmt die Dauer des Budgets für Arbeit. Dieses ist aus Sicht der BAGFW bis zum erfolgreichen Abschluss der Ausbildung zu erbringen oder solange es erforderlich ist. Das Wort „längstens“ ist dringend zu streichen, da die Finanzierung des Budgets für Ausbildung bis zum Abschluss der Ausbildung gewährleistet sein muss.
Des Weiteren sollen die Zeiten eines Budgets für Ausbildung auf die Dauer des Eingangsverfahrens und des Berufsbildungsbereiches in Werkstätten für behinderte Menschen nach § 57 Absatz 2 und 3 angerechnet werden (Satz 2). Diese Einschränkung lehnt die BAGFW ab. Nach einem Wechsel muss eine Berufsorientierung und Bildung in der WfbM im vollen Zeitumfang möglich sein, weil sich der Leistungsberechtigte möglicherweise nach dem Wechsel für eine andere Fachrichtung entscheidet.
Änderungsbedarf § 61a Absatz 3:
(3) Das Budget für Ausbildung wird erbracht, solange es erforderlich ist, längstens bis zum erfolgreichen Abschluss der Ausbildung. Zeiten eines Budgets für Ausbildung werden auf die Dauer des Eingangs-verfahrens und des Berufsbildungsbereiches in Werkstätten für behinderte Menschen nach § 57 Absatz 2 und 3 angerechnet.
Zu Absatz 4 (neu)
Die Inanspruchnahme von Leistungen zur Anleitung und Begleitung im Rahmen des Budgets für Ausbildung kann – so der Gesetzentwurf – auch durch mehrere Leistungsberechtigte gemeinsam erfolgen. Dies sollte nach Auffassung der BAGFW ausschließlich unter dem Vorbehalt der individuellen Bedarfsdeckung und vor allem der Zustimmung durch die Leistungsberechtigten erfolgen.
Änderungsbedarf:
Absatz 4 wird wie folgt ergänzt:
Die wegen der Behinderung erforderliche Anleitung und Begleitung kann von mehreren Leistungsberechtigten nach den Umständen des Einzelfalls gemeinsam in Anspruch genommen werden, sofern die Leistungsberechtigten zustimmen.
Zu Absatz 5 (neu)
Die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege begrüßen, dass die Leistungsträger in die Pflicht genommen werden, Menschen mit Behinderungen bei der Suche nach einem geeigneten Ausbildungsplatz zu unterstützen.
Zu Ziffer 7
§ 142 Absatz 3 SGB IX: Streichung der Begrenzung des gesetzlichen Übergangs des Unterhalts von Eltern von volljährigen Internatsschülern
Die BAGFW unterstützt, dass § 142 Abs. 3 SGB IX aufgehoben wird.
Zu Ziffer 8 und 9
§ 185 Absatz 5 SGB IX i.V. mit § 191 SGB IX: Aufhebung der Ermessensregelung bei Übernahme der Arbeitsassistenzkosten
Die BAGFW bewertet die vorgeschlagene Regelung, nach der die Kosten für die notwendige Assistenz von den Integrationsämtern zu übernehmen sind, ausdrücklich als positiv und regt an, perspektivisch eine veränderte Verteilung der Ausgleichsabgabe zwischen Bund und Ländern auszuloten.
Insofern stimmt die BAGFW der Bewertung des Bundesrats, die Klarstellung sei überflüssig, nicht zu.
Zu Artikel 4, Ziffer 3 und Artikel 5, Ziffer 2
Der Zugang zum Budget für Ausbildung wird in der aktuellen Fassung des Gesetzes nur jungen Menschen ermöglicht, die sich am Übergang von der Schule in den Beruf befinden. Erwachsene Menschen mit abgeschlossener Berufsausbildung oder Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt sind davon ausgeschlossen. Wie bereits der Bundesrat in seiner Stellungnahme zum SGB IX/XII-Änderungsgesetz spricht sich auch die BAGFW dafür aus, dass auch Menschen, die Anspruch auf Leistungen nach § 58 SGB IX haben, in den anspruchsberechtigten Personenkreis des § 61a neu SGB IX aufgenommen werden (Drucksache 196/19, Beschluss vom 07.06.2019, S. 4 f.).
[1] Siehe hierzu BAGFW Schreiben vom 10.10.2019 an das Bundesfinanzministerium sowie Stellungnahme der BAGFW zur Frage der umsatzsteuerrechtlichen Behandlung von in besonderen Wohnformen der Eingliederungshilfe erbrachten Leistungen in Folge der Reform des BTHG vom 09.10.2019
[2] Siehe hierzu BAGFW Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen sowie zur Änderung des zweiten und zwölften Buches Sozialgesetzbuch vom 04.11.2016
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A. Einleitung und zusammenfassende Bewertung
Der Entwurf des Gesetzes für den Schutz vor Masern und zur Stärkung der Impfprävention vom 23.09.2019 sieht vor, dass Personen in bestimmten Einrichtungen entweder einen ausreichenden Impfschutz gegen Masern oder aber eine Immunität gegen Masern aufweisen. Hintergrund ist, dass die Bundesregierung eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Gesundheit sieht, der mit weiterführenden Maßnahmen begegnet werden muss. Eine dieser weiterführenden Maßnahmen soll eine entsprechende Impfpflicht sein, die möglichst früh ansetzt, und vor allem da gelten soll, wo Menschen täglich in engen Kontakt miteinander kommen. Zur Sicherstellung der Umsetzung sieht der Gesetzesentwurf Zugangskontrollen zu bestimmten Einrichtungen vor, um dem Ziel der vollständigen Vermeidung von Masernerkrankungen näherzukommen.
Die in der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) zusammengeschlossenen Wohlfahrtsverbände halten die zunächst vorgesehenen Pläne des Gesetzgebers eine Bundesstatistik zum öffentlichen Gesundheitsdienst einzuführen, für sehr wichtig. Dies ist ein wichtiges Mittel, um die Situation im Öffentlichen Gesundheitsdienst substanzieller bewerten zu können und auf dieser Grundlage besser Maßnahmen zu Stärkung des Öffentlichen Gesundheitsdienstes zu ergreifen. Die Verbände bedauern, dass in dem Änderungsantrag davon wieder Abstand genommen wird.
Die in der BAGFW zusammengeschlossenen Wohlfahrtsverbände positionieren sich vorliegend nicht für oder gegen eine Impfpflicht. Sie betonen jedoch ausdrücklich, dass sie die Umsetzung des „Masernschutzgesetzes“ mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln unterstützen wollen. Die Impfquoten für Kinder liegen laut einer aktuellen Veröffentlichung des Robert-Koch-Instituts bei der ersten Masernimpfung bei durchschnittlich 95 Prozent, bei der zweiten Impfung bei durchschnittlich 92 Prozent. Aus dieser Differenz kann nach Auffassung der Verbände nicht geschlossen werden, dass Eltern ihre Kinder aus Überzeugung nicht impfen lassen wollen, sondern dass Impftermine häufig schlicht vergessen werden. Aus Sicht der Verbände sind Erinnerungssysteme durch die Gesundheitsämter oder ein Recall in Kinderarztpraxen, ein digitaler Impfpass oder auch der vorgesehene Vermerk in Impfpässen, wann die nächste Impfung fällig ist, gute und wichtige Methoden, um das Ziel des Gesetzes zu erreichen.
In der vorliegenden Stellungnahme konzentrieren sich die Verbände auf die Folgen des aktuellen Gesetzesentwurfs und die Auswirkungen auf ihre Einrichtungen. Denn in den Einrichtungen und Diensten der Freien Wohlfahrtspflege entscheidet sich maßgeblich, ob und wie die mit dem Gesetz verfolgten Ziele erreicht werden können.
Die Verbände kritisieren dabei insbesondere, dass die Hauptverantwortung der Umsetzung in die Hände von Gemeinschaftseinrichtungen gelegt wird und hier neue Aufgaben definiert werden. Sie regen an, hier im Sinne der nachfolgenden Vorschläge nachzubessern und die Prüfpflicht dem Öffentlichen Gesundheitsdienst zu übertragen.
Auch regen die Verbände an, klarzustellen, wie der gesetzlich normierte Anspruch auf bspw. einen Kitaplatz und damit auch ein Vorhalten des entsprechenden Personals zu der Verpflichtung von Einrichtungen steht, ungeimpfte, impfpflichtige Personen nicht aufzunehmen oder zu beschäftigen. Hier sehen die Verbände erhebliche Unsicherheiten für die Praxis, wie in solchen Fällen verfahren werden soll.
Der Gesetzesentwurf lässt zudem offen, wie mit Mitarbeitenden umgegangen werden soll, die impfpflichtig sind, aber nicht bereit sind, sich impfen zu lassen. Wären Einrichtungen auf Grund der Impfpflicht dazu gezwungen, gegenüber diesen Personen eine Kündigung auszusprechen? In Zeiten der Debatte um Fachkräftemangel und der Unsicherheit, wie in Zukunft die Sorgearbeit in Deutschland ausgestaltet werden kann, wird mit der Impfpflicht ein neuer Stolperstein geschaffen. Sollte der Gesetzgeber an der Nachweispflicht für Beschäftigte festhalten, dann hat der Impfnachweis gegenüber dem Arbeitgeber bzw. dem Träger der Einrichtung und nicht der Leitung der Einrichtung zu erfolgen. Hier bedarf es einer entsprechenden Änderung im Gesetzesentwurf.
In der Konsequenz sehen die Verbände daher auch die Erweiterung der Bußgeldvorschriften kritisch, die auf die Sanktionierung sowohl der Träger als auch der Eltern abzielt. Sollte der Gesetzgeber hier an den Sanktionsmaßnahmen festhalten wollen, dann regen die Verbände an, zunächst mit Erinnerungssystemen auf eine Einhaltung der Gesetzesvorschriften hinzuwirken.
B. Auswirkungen für Einrichtungen der Freien Wohlfahrtspflege
- Kitas, Kinderhorte, Schulen, Ausbildungseinrichtungen und Heime
Problemaufriss:
Die in der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) zusammengeschlossenen Wohlfahrtsverbände betreiben mehr als 26.485 Kindertageseinrichtungen, mit 1.808.612 Plätzen und beschäftigen dort 106.685 Mitarbeitende.[1] Die Kita-Einrichtungen der Verbände stellen damit bundesweit mehr als 55 % aller Angebote zur Verfügung. Die Angebote der Kinder- und Jugendhilfe umfassen ca. 35 % aller Angebote der Wohlfahrtspflege, was die Bedeutung dieses Arbeitsbereiches deutlich macht.
Der freie, unreglementierte Zugang für alle Kinder zu diesen Angeboten hat einen sehr hohen Wert und ermöglicht die gesellschaftliche Teilhabe von Kindern. Die Aufgabe der Fachkräfte in den Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe ist es, vertrauensvoll mit den Familien für die Entwicklung der Kinder zusammenzuarbeiten. Der im Gesetzesentwurf gewählte Zugang durch die Übertragung hoheitlicher Aufgaben an die Leitungen der Einrichtungen bzw. Kindertagespflegepersonen und die damit verbundene Reglementierung des Zugangs ist eine Hemmschwelle für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit.
Bewertung und Änderungsvorschläge:
Die BAGFW kritisiert insbesondere das Vorhaben, hoheitliche Aufgaben auf Kindertagesstätten und Kindertagespflegepersonen, Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe und weitere Gemeinschaftseinrichtungen und Angebote zu übertragen.
Hoheitliche Aufgaben werden im Gesundheitsbereich durch den öffentlichen Gesundheitsdienst beziehungsweise das Gesundheitsamt erfüllt. Daher sollte der Nachweis einer Impfung und damit die Aufgabe der Beurteilung von Impfdokumenten gegenüber dem Gesundheitsamt erfolgen und nicht den pädagogischen Fachkräften bzw. der Leitung der Einrichtung obliegen. Sie verfügen nicht über die geeigneten Kompetenzen für eine solche Beurteilung. Es bedarf in diesem Falle allerdings einer Klarstellung, dass das Gesundheitsamt, sollte es in diesem Zusammenhang von dem Fehlen eines Aufenthaltsstatus des Kindes oder Jugendlichen erfahren, von der Ausnahme der Übermittlungspflicht des § 87 Absatz 1 Aufenthaltsgesetz erfasst ist. Andernfalls würde der Zweck dieser Ausnahme unterlaufen werden, nämlich allen Kindern und Jugendlichen den Zugang zu Schulen, Bildungs- und Erziehungseinrichtungen zu gewähren.
Sollte der Gesetzgeber an den vorgesehenen Regelungen festhalten, ist der Impfnachweis der in der Einrichtung betreuten Kinder sowie der dort Beschäftigten gegenüber dem Träger der Einrichtung und nicht gegenüber der Leitung zu erbringen. Generell sollte eine Regelung analog zur Schuleingangsuntersuchung getroffen werden: Diese ist in vielen Bundesländern vor der Einschulung verpflichtend. In ähnlicher Weise könnte zur Aufnahme eines Kindes in eine Gemeinschaftseinrichtung oder eine Kindertagespflege eine Bestätigung des Gesundheitsamtes zur Voraussetzung gemacht werden.
Des Weiteren weisen die Verbände schon jetzt auf die auftretenden Umsetzungskosten für die Einrichtungen hin. Für jedes auf den Impfschutz in Gemeinschaftseinrichtungen zu prüfendem Kind wäre eine Verwaltungspauschale zu zahlen. Es gilt ebenfalls zu bedenken, dass durch den entstehenden Verwaltungsaufwand wertvolle Betreuungskapazitäten für die Kinder und Jugendlichen verloren gehen würden. Die Verbände begrüßen in diesem Zusammenhang, dass von den Plänen Abstand genommen wurde, eine Impfpflicht für Ferienlager einzuführen.
Im Gesetzesentwurf ist zudem vorgesehen, dass auch Tagespflegepersonen im Sinne des § 43 Absatz 1 SGB VIII von der Nachweispflicht und Prüfpflicht erfasst werden. Diese Aufnahme führt allerdings dazu, dass Tagespflegepersonen künftig eine Reihe an weiteren Anforderungen im Infektionsschutzgesetz zu erfüllen haben, die teilweise nicht erfüllbar sind. Hierauf hat auch der Bundesrat in seiner Stellungnahme vom 20.09.2019 hingewiesen. In Reaktion auf die Stellungnahme des Bundesrats sieht Änderungsantrag 7 nun vor, dass die Länder bestimmen können, ob die erlaubnispflichtige Kindertagespflege unter die infektionshygienische Überwachung gemäß § 36 Absatz 1 Satz 1 IfSG fällt. Das halten wir für eine sachgerechte Lösung.
- Flüchtlingsunterkünfte
Problemaufriss:
Die in der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) zusammengeschlossenen Wohlfahrtsverbände übernehmen auch weiterhin in zahlreichen Flüchtlingsunterkünften die soziale Betreuung oder sind Bertreiber solcher Einrichtungen.[2]
Gem. § 20 Absatz 8 Nr. 2 und Nr. 3 IfSG-E sollen Personen, die in einer Einrichtung gem. § 36 Absatz 1 Nr. 4 IfSG, also in einer Flüchtlingsunterkunft, leben, bzw. in einer solchen Einrichtung tätig sind, zu einem ausreichenden Impfschutz gegen Masern verpflichtet werden. Der impfpflichtige Personenkreis würde sich somit auf Bewohnerinnen und Bewohner, Mitarbeitende und ehrenamtlich engagierte Personen in den Unterkünften erstrecken. Personen, die am Tag des Inkrafttretens, also am 01.03.2020, bereits in einer solchen Unterkunft leben bzw. dort tätig sind, könnten den Nachweis des ausreichenden Impfschutzes bis zum 31.07.2021 erbringen (s. § 20 Absatz 10, Absatz 11 Nr. 2 IfSG-E).
Neu unterzubringende Personen müssen den Nachweis des ausreichenden Impfschutzes innerhalb von vier Wochen beibringen,[3] andernfalls hat die Leitung der Unterkunft das zuständige Gesundheitsamt zu benachrichtigten und personenbezogene Daten zu übermitteln (§ 20 Absatz 11 IfSG-E). Die Aufnahme einer neuen Tätigkeit in der Unterkunft soll zwingend an die Vorlage eines entsprechenden Impfnachweises durch den Mitarbeitenden gegenüber der Leitung geknüpft werden, § 20 Absatz 9 IfSG-E.
Bewertung und Änderungsvorschläge:
Die BAGFW kritisiert, anlehnend an die obigen Ausführungen, dass mit dem vorgelegten Gesetzesentwurf hoheitliche Aufgaben auf die Leitungen von Flüchtlingsunterkünften übertragen werden, nämlich die Prüfung von Impfnachweisen und die Benachrichtigung des Gesundheitsamtes bei Fällen von Nichteinhaltung der Pflicht des ausreichenden Impfschutzes. Leitungen von Flüchtlingsunterkünften stehen in einem spezifischen Vertrauensverhältnis zu Bewohnerinnen und Bewohnern und verfügen überdies nicht zwingend über die geeigneten Kompetenzen zur Beurteilung eines Impfnachweises. Sollte der Gesetzgeber an den vorgesehenen Regelungen festhalten, sollte der Impfnachweis von Bewohnerinnen und Bewohnern sowie von Mitarbeitenden und Ehrenamtlichen gegenüber dem Träger der Unterkunft und nicht gegenüber der Leitung vorzulegen sein. Auch die Information des zuständigen Gesundheitsamtes über ein Nichtbefolgen der Pflicht sollte durch den Träger der Unterkunft und nicht durch die Leitung erfolgen.
Die BAGFW regt an klarzustellen, dass keine Bewohnerin und kein Bewohner aufgrund von Nichtbefolgung der Impfpflicht bzw. der Nichtvorlage eines Nachweises i.S.d. § 20 Absatz 9 Satz 1 IfSG-E der Unterkunft verwiesen werden darf. Dies gilt insbesondere für Personen, die nicht mehr verpflichtet sind, in der Unterkunft zu leben, aber bisher keine Wohnung gefunden haben und deswegen in der Unterkunft verbleiben.
Die BAGFW begrüßt die Bekräftigung, dass gem. § 4 Absatz 1 Satz 2, Absatz 3 Satz 1 AsylbLG i.V.m. §§ 47, 52 Absatz 1 Satz 1 SGB XII ein Anspruch auf eine Masernimpfung besteht (Gesetzesbegründung, S. 27). Bei neu ankommenden Personen könnte die Masernimpfung zum Beispiel im Rahmen der Gesundheitsuntersuchung[4] stattfinden. Es sollte jedoch ausdrücklich klargestellt werden, dass ein solcher Anspruch auf eine Impfung gegen Masern für alle Personen besteht, die in der Unterkunft leben, unabhängig von der Art der Leistungen, die sie beziehen.
Berlin, 18.10.2019
Bundesarbeitsgemeinschaft
der Freien Wohlfahrtspflege e. V.
Dr. Gerhard Timm
Geschäftsführer
Kontakt:
Karolina Molter (k.molter(at)drk.de)
[1] BAGFW-Gesamtstatistik, herausgegeben Dezember 2018, https://www.bagfw.de/fileadmin/user_upload/Veroeffentlichungen/Publikationen/Statistik/BAGFW_Gesamtstatistik_2016_final_Einzelseiten.pdf
[2] Mit Stand 2016 unterhielten die Verbände knapp 500 Flüchtlingsunterkünfte (Erstaufnahmeeinrichtungen, Gemeinschaftsunterkünfte und weitere Unterkünfte) mit einer Kapazität von insgesamt 48.250 Plätzen. 2.270 Mitarbeitende sind in diesen Unterkünften beschäftigt. Siehe hierzu: BAGFW Gesamtstatistik 2016, veröffentlicht im Dezember 2018, S. 34, https://www.bagfw.de/fileadmin/user_upload/Veroeffentlichungen/Publikationen/Statistik/BAGFW_Gesamtstatistik_2016.pdf (zuletzt aufgerufen am 14.10.2019).
[3] Durch die Einräumung dieser Frist soll verhindert werden, dass die Aufnahme in die Einrichtung vom Vorliegen eines ausreichenden Impfschutzes abhängt, s. Gesetzesbegründung, S. 27.
[4] Gesundheitsuntersuchung gem. § 62 AsylG.
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A. Einleitung und zusammenfassende Bewertung
Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) begrüßt, dass der Gesetzgeber eine Strukturreform vorgelegt hat, die grundsätzliche Reformen der Medizinischen Dienste (MD) angeht und Grundlagen für eine einheitliche Arbeitsweise der MDen schafft. Die gesetzliche Verankerung der unabhängigen Arbeit im Rahmen der Begutachtung für nicht-ärztliche Berufe leistet einen wichtigen Beitrag zur Unabhängigkeit der Medizinischen Dienste. Zentral ist insbesondere die zukünftige Besetzung der Verwaltungsräte und hier vor allem die Rolle, die den maßgeblichen Organisationen der Selbsthilfe für die Wahrung der Interessen der Selbsthilfe, der pflegebedürftigen und behinderten Menschen sowie der pflegenden Angehörigen zukommt. Die BAGFW fordert das Parlament dazu auf, Besetzungsregelungen der Verwaltungsräte zu beschließen, wie sie im Referentenentwurf zu finden waren, mit einer dreiteiligen Besetzung. Bei der nun vorgesehenen überwiegenden Stimmmehrheit der Kassen wäre es folgerichtig, die aktuelle Benennung der Dienste als Medizinische Dienste der Krankenkassen beizubehalten.
Die BAGFW zeigt auf, an welchen Stellen der Gesetzgeber weitere Maßnahmen ergreifen kann. Sie fordert, dass Patientinnen und Patienten, über die der MDK ein Gutachten erstellt, dieses regelhaft zugestellt bekommen. Patientenorganisationen sollten ebenfalls Stellungnahme berechtigt sein, wenn es um die Erstellung von Richtlinien des Medizinischen Dienstes Bund geht. In mehreren Bereichen der Neuregelungen zum SGB XI fordern die in der BAGFW kooperierenden Spritzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege, die Erarbeitung von Richtlinien nicht dem MD Bund, sondern dem Qualitätsausschuss Pflege zu übertragen, da sie sich seit langem dafür einsetzen, dass dem Qualitätsausschuss Pflege eine Rolle entsprechend dem Gemeinsamen Bundesausschuss im SGB V-Bereich zukommt.
B. Stellungnahme zu den Einzelvorschriften
Artikel 1: Änderungen des Fünften Sozialgesetzbuches
§ 275 Begutachtung und Beratung
Die Stärkung der Versichertenrechte in § 275 Absatz 3, indem die Krankenkassen vor einer ablehnenden Leistungsentscheidung bei der medizinischen Erforderlichkeit von Hilfsmitteln oder bezüglich der Form der Dialyseversorgung im Einzelfall sowie bei Behandlungsfehlern nun zwingend den MD einzuschalten haben, ist zu begrüßen. Es bleibt allerdings offen, wie mit Fällen umgegangen wird, in denen Uneinigkeit zwischen Kasse und Versicherten darüber besteht, ob medizinische Gründe zur Ablehnung geführt haben oder nicht. Für Kassen besteht so der Anreiz, medizinisch entscheidungserhebliche Gründe aus ablehnenden Leistungsbescheiden heraus zu halten. Hier gilt es, die Patientenrechte zu stärken, indem man weitere Anforderungen mit Blick auf das Verwaltungsverfahrensrecht vorsieht. Die bzw. der Versicherte sollte in einer Rechtsbehelfsbelehrung durch eine gesetzliche Krankenkasse immer darauf hingewiesen werden müssen, dass sie/er ein Recht auf eine Begutachtung durch den MD hat, wenn ein negativer Leistungsentscheid medizinische Gründe hat. Rechtsbehelfsbelehrungen ohne einen entsprechenden Passus sollten als unvollständig gewertet werden. Ein Punkt, der aus Patientenperspektive eine Nachvollziehbarkeit getroffener Entscheidungen erschwert, liegt in der Trennung zwischen dem Medizinischen Dienst und den Kassen begründet. Aus Datenschutzgründen und, um die Vertraulichkeit der medizinischen Daten der Versicherten zu wahren, übermittelt der Medizinische Dienst den Krankenkassen keine medizinischen Details. Dies führt dazu, dass diese auch nicht in den ablehnenden Leistungsbescheiden der Krankenkassen auftauchen. Dadurch kann bei Patient/-innen der Eindruck entstehen, dass ihre medizinischen Belange nicht ausreichend berücksichtigt worden sind. Zur Stärkung der Patientensouveränität sollten Patientinnen und Patienten, über welche die Medizinischen Dienste ein Gutachten erstellen, dieses zur Kenntnis zugesandt bekommen.
Ausdrücklich zu begrüßen ist, dass die Neuregelungen in § 275 Absatz 5 eigens kodifizieren, dass das bisher für Ärzt/innen geltende Recht auf eine fachlich unabhängige Tätigkeit auch auf nicht-ärztliche Beschäftigte des MD ausgeweitet wird. Hierzu gehören beispielsweise Pflegefachkräfte und Vertreter/innen anderer Heil- und Gesundheitsberufe. Dies stärkt die Unabhängigkeit der Begutachtung im SGB V und im SGB XI-Bereich.
Änderungsbedarf
(3b) Hat in den Fällen des Absatzes 3 die Krankenkasse den Leistungsantrag des Versicherten ohne vorherige Prüfung durch den Medizinischen Dienst wegen fehlender medizinischer Erforderlichkeit abgelehnt, hat sie vor dem Erlass eines Widerspruchsbescheids eine gutachterliche Stellungnahme des Medizinischen Dienstes einzuholen. Rechtsbehelfsbelehrungen, die mit einem negativen Leistungsbescheid durch gesetzliche Krankenkassen versandt werden, müssen in allen Fällen den Versicherten über sein Recht aufklären, dass ein Gutachten durch den Medizinischen Dienst zu erstellen ist, wenn die Leistung aus medizinischen Gründen abgelehnt wird, um Gültigkeit zu haben.
(3c) Personen, über die der Medizinische Dienst ein Gutachten erstellt, erhalten eine Ausfertigung des erstellten Gutachtens. Dieses hat eine laienverständliche Erläuterung der zentralen Inhalte und Ergebnisse des Gutachtens zu enthalten.
§ 278 Medizinischer Dienst
Der Medizinische Dienst wird organisationsrechtlich und in Hinblick auf seinen Haushaltsrahmen unabhängiger. Für eine konsequente Umsetzung der Unabhängigkeit von den Krankenkassen bedarf es einer entsprechenden Besetzung der Verwaltungsräte. In Absatz 2 wird nochmals klargestellt, dass die Gutachter/innen des MD sich aus Ärzt/innen, Pflegefachkräften sowie Angehörigen anderer Gesundheitsberufe zusammensetzen können und dass die Gesamtverantwortung bei medizinischen Sachverhalten bei den Ärzt/innen und bei pflegerischen Sachverhalten bei den Pflegefachkräften liegt. Unklar ist, warum die Gesamtverantwortung bei Sachverhalten wie z.B. Hilfsmittelversorgung nicht bei den Angehörigen der entsprechenden Berufsgruppen liegt.
Besonders positiv zu bewerten ist die Einführung einer Ombudsperson und damit eines institutionalisierten Beschwerdemanagements. Sowohl die Versicherten als auch die Beschäftigten können sich mit ihren Beschwerden an diese Ombudsperson richten. Die regelmäßige zweijährige Berichtspflicht der Ombudsperson gegenüber dem Verwaltungsrat sollte auf eine einjährige Berichtspflicht verkürzt werden. Die Transparenz im neuen System des MD wird auch durch die neu eingeführte Berichtspflicht der Länder-MDen an den MDB Bund in Absatz 4 gestärkt.
Änderungsbedarf
(3) Bei jedem Medizinischen Dienst wird eine unabhängige Ombudsperson bestellt, an die sich sowohl Beschäftigte des Medizinischen Dienstes bei Beobachtung von Unregelmäßigkeiten, insbesondere Beeinflussungsversuchen durch Dritte, als auch Versicherte bei Beschwerden über die Tätigkeit des Medizinischen Dienstes vertraulich wenden können. Die Ombudsperson berichtet dem Verwaltungsrat und der zuständigen Aufsichtsbehörde in anonymisierter Form zweijährlich und bei gegebenem Anlass. Das Nähere regelt die Satzung nach § 279 Absatz 2 Satz 1 Nummer 1.
§§ 279, 282 Verwaltungsrat und Vorstand der MDen sowie des MD Bund
Eine absolute Stimmmehrheit von durch Krankenkassen benannten Vertreter/innen, führt nicht dazu, dass die Medizinischen Dienste in ihrer Ausübung und in ihrer strategischen Ausrichtung unabhängig agieren können. Die vom Bundesgesundheitsministerium im Referentenentwurf vorgesehene Besetzung hätte diesen Zweck erfüllt. Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege fordert, dass die Verwaltungsräte der Medizinischen Dienste wie folgt besetzt werden: 6 Kassenvertreter/innen, 6 Patientenvertreter/innen und 4 Vertreter/innen von Pflegekammer und Ärztekammer. Ausdrücklich zu begrüßen ist, dass Vertretern von Patienten- und Selbsthilfeorganisationen bestellt werden und ein Stimmrecht erhalten und dass mit dieser Bank auch die Interessen der pflegenden Angehörigen sowie der Verbraucherschutz entsprechend vertreten sind. Des Weiteren ist sachgerecht, dass sich Mitglieder des Verwaltungsrats aus den Landesärztekammern bzw. Pflegekammern bzw. den maßgeblichen Verbänden der Pflegeberufe rekrutieren. Die Gesetzesbegründung weist aus, dass die Zusammensetzung des Verwaltungsrats sicherstellen soll, dass „alle wesentlichen Gruppen, die von der Tätigkeit des MD betroffen sind“ in dessen Verwaltungsrat vertreten werden können“ (S. 61).
Der vorliegende Gesetzentwurf sieht vor, dass auf Landesebene Vorgaben für Organisationen der Patientenvertretung getroffen werden sollen, die im Verwaltungsrat der Medizinischen Dienste vertreten sein können. Hierbei seien Vorgaben mit Blick auf die fachliche Qualifikation, Unabhängigkeit, Organisationsform und Anforderungen an die Offenlegung zu treffen. Hierbei gilt es zu bedenken, dass wenn solche Vorgaben einmal kodifiziert sind, dass sie auf andere Bereiche ausstrahlen werden und hier ebenfalls Wirkung entfalten. Die vorgesehene Regelung würde voraussichtlich zu einem sehr divergenten System an landesspezifischen Vorgaben führen. Dies gilt es zu verhindern. Es ist wichtig, dass Patientenorganisationen, die sowohl auf Landesebene aber auch bundesweit aktiv sind, nicht eine Vielzahl an unterschiedlichen landesrechtlichen Vorgaben zu erfüllen haben. Bedenkt man, dass der Gesetzgeber zugleich bundesweit eine Vorgabe hinsichtlich der Finanzierung der Vertreter in den Verwaltungsräten normieren möchte (zu nicht mehr als 10 Prozent von Dritten finanziert, die Leistungen für die GKV oder die gesetzliche Pflegeversicherung erbringen), zeigt dies auf, dass auch bundesweite Vorgaben möglich sein sollten. Der Bundesrat hatte in seiner Stellungnahme ebenso darauf verwiesen, dass er hier bundesweite Vorgaben für sachgerecht hält. Die hier vorgesehene bundesweite Vorgabe zur Finanzierung sollte sich ebenso auf die benennenden Organisationen, wie auf die Vertreter beziehen. Wir schlagen vor, sich bei dieser Regelung auf bereits bestehende Offenlegungsvorgaben zu beziehen, wie sie beispielsweise vom Forum chronisch kranker und behinderter Menschen im Paritätischen Gesamtverband und durch die Mitglieder der BAG Selbsthilfe getroffen worden sind (siehe: www.bag-selbsthilfe.de/informationsportal-selbsthilfe-aktive/unabhaengigkeit-der-selbsthilfe/zuwendungen-von-wirtschaftsunternehmen-transparenzliste/). Auf diese Weise würden Vorgaben genutzt, auf die die Vielzahl der Patientenorganisationen bereits eingestellt ist. Hier gilt die Vorgabe, dass maximal 15% der Gesamteinnahmen von Unternehmen der Gesundheitswirtschaft stammen dürfen.
Änderungsbedarf
§ 279 Abs. 5
(5) (…)
Die für die Sozialversicherung zuständige oberste Verwaltungsbehörde des Landes legt die Einzelheiten für das Verfahren der Übermittlung und der Bearbeitung der Vorschläge nach Satz 1 fest. Sie bestimmt die Voraussetzungen der Anerkennung der Organisationen und Verbände nach Satz 2 Nummer 1 sowie der maßgeblichen Verbände der Pflegeberufe auf Landesebene, insbesondere die Erfordernisse an die fachlichen Qualifikationen, die Unabhängigkeit, die Organisationsform und die Offenlegung der Finanzierung. Als Vertreter nach Satz 1 Nummer 1 sind mindestens zwei Frauen und zwei Männer, als Vertreter nach Satz 1 Nummer 2 sind jeweils eine Frau und ein Mann zu benennen. Ist eine Satz 5 entsprechende Benennung nicht möglich, gelten nur so viele Personen des Geschlechts, das mehrheitlich vertreten ist, als benannt, dass dem Verhältnis nach Satz 5 entsprochen wird; die Anzahl der Vertreter nach Satz 1 Nummer 1 und 2 reduziert sich entsprechend. Die Vertreter nach Satz 1 und die Organisationen, durch die sie benannt werden, dürfen nicht zu mehr als 15 10 Prozent von Unternehmen der Gesundheitswirtschaft Dritten finanziert werden, die Leistungen für die gesetzliche Krankenversicherung oder für die Soziale Pflegeversicherung erbringen.
§§ 280, 281 Finanzierung, Haushalt und Aufsicht der Medizinischen Dienste und des MD Bund
Insbesondere der MD Bund wird im Unterschied zum MDS vom GKV-Spitzenverband organisatorisch unabhängig und auch in der Finanzierung vollständig aus dessen Strukturen herausgelöst. Das wird von den Verbänden der Freien Wohlfahrtspflege begrüßt. Die Finanzierung erfolgt nun aus der Umlage der MDen. Der Haushaltsplan der einzelnen MDen sowie des MD Bund unterliegt der Kontrolle durch die jeweilige Aufsichtsbehörde, was diese Unabhängigkeit unterstreicht.
§ 283 Aufgaben des MD Bund
Der neuen Rolle der MDen entspricht, dass der MD Bund künftig anstelle des GKV-Spitzenverbands die Richtlinien über die Tätigkeit der Medizinischen Dienste erlässt. Von zentraler Bedeutung ist die Richtlinie über die systematische Qualitätssicherung der Tätigkeit des MD (Nummer 6), da diese für die Versicherten einen hohen Stellenwert hat. Positiv bewertet wird, dass der Kreis der jeweils Stellungnahme berechtigten Organisationen nach § 283 Absatz 2 Satz 2 so offen formuliert ist, dass die jeweils von einer Regelung betroffenen Körperschaften und Organisationen Anhörungsrechte erhalten. Es wird ausdrücklich begrüßt, dass der Kreis der Stellungnahme berechtigten Organisationen um die maßgeblichen Organisationen zur Wahrnehmung der Interessen der Patientinnen und Patienten und der Selbsthilfe chronisch kranker und behinderter Menschen erweitert wurde. Dies war eine Forderung der BAGFW.
Artikel 7: Änderungen des Elften Buches Sozialgesetzbuches
Soweit es sich um redaktionelle Änderungen in Folge der neuen Bezeichnung der Medizinischen Dienste bzw. um Folgeänderungen des Übergangs der bisherigen Aufgaben des GKV-Spitzenverbandes auf den MD Bund handelt, wird hier zu einzelnen Paragraphen nicht gesondert Stellung genommen.
§ 18 Absatz 3 Satz 11: Transparenz des Gutachtens
Die Sichtweise und Expertise der Betroffenenorganisationen sowie der Pflegeeinrichtungen auf die Transparenz der Darstellung und Verständlichkeit des Gutachtens ist nach Auffassung der BAGFW unverzichtbar. Ebenso sollte den Pflegeeinrichtungen, welche die Kunde/innen auf der Grundlage des Gutachtens bezüglich des Leistungsangebots beraten, Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben werden. Daher sollte den maßgeblichen Organisationen für die Wahrnehmung der Interessen und der Selbsthilfe der pflegebedürftigen und behinderten Menschen auf Bundesebene sowie den Vereinigungen der Träger der Pflegeeinrichtungen bei den Richtlinien nach § 17 Absatz 1 SGB XI Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben werden.
Änderungsbedarf
(3) (…) Der Medizinischen Dienst Bund konkretisiert im Benehmen mit dem Spitzenverband Bund der Pflegekassen und unter Beteiligung der maßgeblichen Organisationen für die Wahrung der Interessen der Selbsthilfe, der pflegebedürftigen und behinderten Menschen sowie der pflegenden Angehörigen, sowie den Vereinigungen der Träger der Pflegeeinrichtungen in den Richtlinien nach § 17 Absatz 1 die Anforderungen an eine transparente Darstellungsweise und verständliche Erläuterung des Gutachtens“..
§ 18 Absatz 5a Satz 4: Kriterien Module 7 und 8 der Begutachtungsrichtlinien
Nach dem Gesetzentwurf ist der Spitzenverband Bund der Pflegekassen im Unterschied zum Referentenentwurf bei der Konkretisierung der Kriterien in den Begutachtungs-Richtlinien zu den Beeinträchtigungen in Modul 7 und 8 (außerhäusliche Aktivitäten, Haushaltsführung) nicht mehr nur zu beteiligen, sondern sogar ins Benehmen zu setzen. Die Konkretisierung der Begutachtungs-Richtlinien stellt eine rein pflegefachliche Aufgabe dar, sodass die Beteiligung des Spitzenverbands Bund der Pflegekassen nicht angemessen ist.
Änderungsbedarf
Die Neuregelung ist zu streichen.
§ 18 Absatz 7 Satz 1
Die Klarstellung, dass Pflegefachkräfte und Ärzt/innen in Zusammenarbeit mit anderen geeigneten Fachkräften die Begutachtung durchführen können, ist sachgerecht und wird von den Verbänden der Freien Wohlfahrtspflege begrüßt.
§ 114a Absatz 6: Bericht
Die Medizinischen Dienste sollen dem MD Bund künftig nicht nur im Abstand von drei, sondern von zwei Jahren über ihre Erfahrungen mit der Anwendung der Beratungs- und Prüfvorschriften, Ergebnisse der Qualitätsprüfungen und Erkenntnisse zur Entwicklung der Pflegequalität und Qualitätssicherung berichten. Seit 2007 werden alle Pflegeeinrichtungen jährlich geprüft und die Ergebnisse der Qualitätsprüfung nach § 115 Abs. 1a SGB XI sowie zu den künftig halbjährlich erhobenen Qualitätsindikatoren in der vollstationären Pflege im Internet veröffentlicht. Mit der Richtlinie nach § 53a Satz 1 Nr. 4 – alt bzw. § 53d Absatz 3 Nr. 4 neu zur Qualitätssicherung der Qualitätsprüfungen werden darüber hinaus jährlich Berichte der Medizinischen Dienste zur Umsetzung und zur Qualitätssicherung der Qualitätsprüfungen veröffentlicht. Mit den Veröffentlichungen nach § 115 Abs. 1a SGB XI sowie der Veröffentlichung der Berichte gemäß des Richtlinie zur Qualitätssicherung der Qualitätsprüfungen nach § 53a SGB XI alt bzw. § 53d neu liegen zu allen in § 114a Abs. 6 genannten Themen wesentlich aktuellere Veröffentlichungen vor, als dies ein alle zwei Jahre erscheinender Bericht leisten kann. Der Bericht nach § 114a Abs. 6 hat durch diese neuen Entwicklungen somit für die Zukunft seinen Nutzen verloren.
Änderungsbedarf
Der Absatz 6 in § 114a ist ersatzlos zu streichen.
§ 114a Absatz 7: Richtlinien über die Durchführung der Qualitätsprüfung
Nach § 114a Absatz 7 Satz 1 neu beschließen nun der Medizinische Dienst Bund im Benehmen mit dem Spitzenverband Bund der Pflegekassen zur verfahrensrechtlichen Konkretisierung Richtlinien über die Durchführung der Prüfung der in Pflegeeinrichtungen erbrachten Leistungen und deren Qualität nach § 114 sowohl für den ambulanten als auch für den stationären Bereich. Auch hier ist es unserer Ansicht nach zu kurz gegriffen, wenn es zu einem Rollentausch zwischen MD Bund und dem Spitzenverband Bund der Pflegekassen kommt. Aus Sicht der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege gehört die Verabschiedung von Richtlinien über die Durchführung der Prüfung der in Pflegeeinrichtungen erbrachten Leistungen und deren Qualität nach § 114 in den Kompetenzbereich des Qualitätsausschusses Pflege und ist dort zu verankern. Sollte dieser Vorschlag im Gesetzgebungsprozess keine Berücksichtigung finden, ist der Spitzenverband Bund der Pflegekassen, wie noch im Referentenentwurf vorgesehen, an den Richtlinien nur zu beteiligen, jedoch nicht ins Benehmen zu setzen. Des Weiteren weisen wir darauf hin, dass aus dem Gesetzentwurf nicht klar hervorgeht, ob der Prüfdienst des Verbands der privaten Krankenversicherung e.V. gleichfalls ins Benehmen zu setzen oder nur zu beteiligen ist.
Änderungsbedarf
(7) Der Medizinischer Dienst Bund Qualitätsausschuss Pflege beschließt im Benehmen mit dem Spitzenverband Bund der Pflegekassen und dem Prüfdienst des Verbandes der privaten Krankenversicherung e. V. zur verfahrensrechtlichen Konkretisierung Richtlinien über die Durchführung der Prüfung der in Pflegeeinrichtungen erbrachten Leistungen und deren Qualität nach § 114 sowohl für den ambulanten als auch für den stationären Bereich. In den Richtlinien sind die Maßstäbe und Grundsätze zur Sicherung und Weiterentwicklung der Pflegequalität nach § 113 zu berücksichtigen. Die Richtlinien für den stationären Bereich sind bis zum 31. Oktober 2017, die Richtlinien für den ambulanten Bereich bis zum 31. Oktober 2018 zu beschließen. Sie treten jeweils gleichzeitig mit der entsprechenden Qualitätsdarstellungsvereinbarung nach § 115 Absatz 1a in Kraft. Die maßgeblichen Organisationen für die Wahrnehmung der Interessen und der Selbsthilfe der pflegebedürftigen und behinderten Menschen wirken nach Maßgabe von § 118 mit. Der Medizinische Dienst Bund hat die Vereinigungen der Träger der Pflegeeinrichtungen auf Bundesebene, die Verbände der Pflegeberufe auf Bundesebene, den Verband der privaten Krankenversicherung e. V. sowie die Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger der Sozialhilfe und die kommunalen Spitzenverbände auf Bundesebene zu beteiligen. Ihnen ist unter Übermittlung der hierfür erforderlichen Informationen innerhalb einer angemessenen Frist vor der Entscheidung Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben; die Stellungnahmen sind in die Entscheidung einzubeziehen. Die Richtlinien sind in regelmäßigen Abständen an den medizinisch-pflegefachlichen Fortschritt anzupassen. Sie sind durch das Bundesministerium für Gesundheit im Benehmen mit dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zu genehmigen. Beanstandungen des Bundesministeriums für Gesundheit sind innerhalb der von ihm gesetzten Frist zu beheben. Die Richtlinien über die Durchführung der Qualitätsprüfung sind für die Medizinischen Dienste und den Prüfdienst des Verbandes der privaten Krankenversicherung e. V. verbindlich.
Analog dazu ist § 53d Absatz 3 Ziffer 4 ersatzlos zu streichen.
§ 114c: Richtlinien zur Verlängerung des Prüfrhythmus
In § 114c Absatz 1 neu geht die Regelungskompetenz für die Richtlinien zur Verlängerung des Prüfrhythmus in vollstationären Einrichtungen bei guter Qualität vom Spitzenverband Bund der Pflegekassen auf den MD Bund über. Die Berichtspflicht über die Erfahrungen der Pflegekassen mit der ersten Erhebung und Übermittlung von indikatorenbezogenen Daten zur vergleichenden Messung und Darstellung von Ergebnisqualität in vollstationären Pflegeeinrichtungen nach § 114b Absatz 1, den neuen Qualitätsprüfungen in der vollstationären Pflege einschließlich der Evaluation der in den Qualitätsdarstellungsvereinbarungen festgelegten Bewertungssystematik für die Ergebnisse der Qualitätsprüfungen verbleiben dagegen beim Spitzenverband Bund der Pflegekassen. Wir halten beides nicht für sachgerecht. Diese Kompetenzen, insbesondere die zur Evaluation der in den Qualitätsdarstellungsvereinbarungen festgelegten Bewertungssystematik für die Ergebnisse der Qualitätsprüfungen, gehören unserer Auffassung nach in den Aufgabenbereich des Qualitätsausschusses Pflege. Sollte dieser Vorschlag im Gesetzgebungsprozess keine Berücksichtigung finden, ist der Spitzenverband Bund der Pflegekassen, wie noch im Referentenentwurf vorgesehen, an den Richtlinien nur zu beteiligen, jedoch nicht ins Benehmen zu setzen. Des Weiteren weisen wir darauf hin, dass aus dem Gesetzentwurf nicht klar hervorgeht, ob der Prüfdienst des Verbands der privaten Krankenversicherung e.V. gleichfalls ins Benehmen zu setzen oder nur zu beteiligen ist.
Analog dazu ist § 53d Absatz 3 Ziffer 5 ersatzlos zu streichen.
Änderungsbedarf
(1) Abweichend von § 114 Absatz 2 kann eine Prüfung in einer zugelassenen vollstationären Pflegeeinrichtung ab dem 1. Januar 2021 regelmäßig im Abstand von höchstens zwei Jahren stattfinden, wenn durch die jeweilige Einrichtung ein hohes Qualitätsniveau sichergestellt ist. Der Medizinische Dienst Bund Qualitätsausschuss Pflege legt im Benehmen mit dem Spitzenverband Bund der Pflegekassen und des Prüfdienstes des Verbandes der privaten Krankenversicherung e. V. bis zum 30. September 2019 in Richtlinien Kriterien zur Feststellung eines hohen Qualitätsniveaus sowie Kriterien für die Veranlassung unangemeldeter Prüfungen nach § 114a Absatz 1 Satz 3 fest. Bei der Erstellung der Richtlinien sind die Empfehlungen heranzuziehen, die in dem Abschlussbericht des wissenschaftlichen Verfahrens zur Entwicklung der Instrumente und Verfahren für Qualitätsprüfungen nach den §§ 114 bis 114b und die Qualitätsdarstellung nach § 115 Absatz 1a in der stationären Pflege „Darstellung der Konzeption für das neue Prüfverfahren und die Qualitätsdarstellung“ in der vom Qualitätsausschuss Pflege am 17. September 2018 abgenommenen Fassung zum indikatorengestützten Verfahren dargelegt wurden. Die Feststellung, ob ein hohes Qualitätsniveau durch eine Einrichtung sichergestellt ist, soll von den Landesverbänden der Pflegekassen auf der Grundlage der durch die Datenauswertungsstelle nach § 113 Absatz 1b Satz 3 übermittelten Daten und der Ergebnisse der nach § 114 durchgeführten Qualitätsprüfungen erfolgen. Die auf Bundesebene maßgeblichen Organisationen für die Wahrnehmung der Interessen und der Selbsthilfe pflegebedürftiger und behinderter Menschen wirken nach Maßgabe von § 118 an der Erstellung und Änderung der Richtlinien mit. Der Medizinische Dienst Bund hat die Vereinigungen der Träger der Pflegeeinrichtungen auf Bundesebene, die Verbände der Pflegeberufe auf Bundesebene, den Verband der privaten Krankenversicherung e. V., die Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger der Sozialhilfe und die kommunalen Spitzenverbände auf Bundesebene zu beteiligen. Ihnen ist unter Übermittlung der hierfür erforderlichen Informationen innerhalb einer angemessenen Frist vor der Entscheidung Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben; die Stellungnahmen sind in die Entscheidung einzubeziehen. Die Kriterien nach Satz 2 sind auf der Basis der empirischen Erkenntnisse der Datenauswertungsstelle nach § 113 Absatz 1b zur Messung und Bewertung der Qualität der Pflege in den Einrichtungen sowie des allgemein anerkannten Standes der medizinisch-pflegerischen Erkenntnisse regelmäßig, erstmals nach zwei Jahren, zu überprüfen.
(…)
(3) Der Qualitätsausschuss Pflege Spitzenverband Bund der Pflegekassen berichtet dem Bundesministerium für Gesundheit zum 30. September 2020, zum 31. März 2021 und danach jährlich über die Erfahrungen der Pflegekassen mit
1. der Erhebung und Übermittlung von indikatorenbezogenen Daten zur vergleichenden Messung und Darstellung von Ergebnisqualität in vollstationären Pflegeeinrichtungen nach § 114b Absatz 1 und
2. Qualitätsprüfungen, die ab dem 1. November 2019 nach § 114 in vollstationären Pflegeeinrichtungen durchgeführt werden.
Für die Berichterstattung zum 31. März 2021 beauftragt der Qualitätsausschuss Pflege Spitzenverband Bund der Pflegekassen eine unabhängige wissenschaftliche Einrichtung oder einen unabhängigen Sachverständigen mit der Evaluation der in den Qualitätsdarstellungsvereinbarungen festgelegten Bewertungssystematik für die Ergebnisse der Qualitätsprüfungen.
C. Änderungsanträge
Änderungsantrag 4: Förderung der Weiterbildung von Kinder- und Jugendärzten (§ 75a Absatz 9 SGB V)
Nach Angaben des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte (bvkj) werden in den nächsten 5 Jahren 25 Prozent der Kinder- und Jugendärzte in Deutschland in den Ruhestand gehen. Schon jetzt besteht in vielen Regionen eine spürbare Unterversorgung mit Kinderärzten, sowohl im ländlichen, aber auch im städtischen Bereich. Auch im klinischen Bereich kommt es zur Unterversorgung, die eine wesentliche Ursache in der unzureichenden Finanzierung hat, welche zur Schließung von Kinderkliniken und Kinderstationen führt. Aus Sicht der Freien Wohlfahrtspflege besteht im Bereich der Pädiatrie somit dringender Handlungsbedarf. Der Änderungsantrag sieht nun vor, dass künftig mindestens 250 der insgesamt 2000 Weiterbildungsstellen für die Kinder- und Jugendärzte vorzusehen sind. Nach dem Evaluationsbericht über die Förderung der Weiterbildung gemäß § 75a SGBV aus dem Jahr 2016 wurden bereits 216 Kinder- und Jugendärzte gefördert und gegenwärtig etwas mehr als 250. Da weiterhin ein akuter Mangel besteht, ist die im Änderungsantrag genannte Zahl von 250 Weiterbildungsstellen noch nicht ausreichend; sie sollte auf 400 Stellen, wie sie die Bedarfsplanung für die Kinder- und Jugendärzte vorsieht, erhöht werden.
Änderungsantrag 12: Vereinfachung Kassenwechsel (§§ 175, 304 SGB V)
Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege begrüßen die Erleichterungen, die im Änderungsantrag für den Fall des Kassenwechsels für die Versicherten vorgesehen sind. Die Änderungen setzen auch die aktuelle Rechtsprechung um. Bisher müssen wechselwillige Mitglieder ihrer bisherigen Krankenkasse kündigen, einen Aufnahmeantrag bei der neuen Krankenkasse stellen, die schriftliche Kündigungsbestätigung ihrer alten Krankenkasse abwarten und diese an die neue Kasse übersenden. Bis die Kündigungsbestätigung vorliegt, ist der Kassenwechsel schwebend unwirksam, was für die Versicherten in Einzelfällen durchaus problematisch sein konnte. Die vorgesehenen Änderungen werden daher aus Versichertensicht als positiv bewertet.
Änderungsantrag 18: Erhöhung der Mitgliederzahl des Beirates beim Sozialmedizinischen -dienst der Deutschen Rentenversicherung Knappschaft-Bahn-See (§ 283a Absatz 2 SGB V)
Wir begrüßen die Erweiterung des Beirats von sechs auf neun Verbände der maßgeblichen Organisationen für die Vertretung der Rechte von pflegebedürftigen Menschen und Patientinnen und Patienten nachdrücklich, weil dadurch das gesamte Spektrum der Interessen im Beirat weiterhin abgebildet wird.
D. Ergänzender Änderungsbedarf
Zugang zu Rehabilitationsmaßnahmen vereinfachen
Bei Anzeichen eines möglichen Rehabilitationsbedarfs sollten in Zukunft auch Pflegefachkräfte, therapeutische Fachberufe und klinisch arbeitende Sozialarbeiter mit Einverständnis der betroffenen Person einen Rehabilitationsbedarf ermitteln können und die Ergebnisse dem Rehabilitationsträger mitteilen. Dies gilt als Antragstellung. Der Reha-Träger kann den Bedarf weiterermitteln und entscheidet über den Antrag.
Berlin, 08.10.2019
Bundesarbeitsgemeinschaft
der Freien Wohlfahrtspflege e. V.
Dr. Gerhard Timm
Geschäftsführer
Kontakt:
Dr. Elisabeth Fix (elisabeth.fix(at)caritas.de);
Erika Stempfle (erika.stempfle(at)diakonie.de);
Verena Holtz (gesundheit(at)paritaet.org)
]]>(§ 12a Asylgesetz)
Die in § 12 a AsylG gesetzlich verankerte unabhängige Asylverfahrensberatung ist in zwei Phasen unterteilt. Die individuelle Beratung in Phase 2 kann dabei durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) oder durch Wohlfahrtsverbände durchgeführt werden.
Die Unabhängigkeit der Asylverfahrensberatung ist nach Auffassung der in der BAGFW zusammengeschlossenen Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege nur dann gewährleistet, wenn sie von freien Trägern durchgeführt wird und eine klare Trennung zum BAMF als anhörende und entscheidende Instanz im Asylverfahren besteht. Die Beteiligung der Wohlfahrtsverbände ist somit erforderlich, um ein faires Asylverfahren nach rechtsstaatlichen Grundsätzen sicherzustellen.
Um ein solches Angebot zu etablieren, bedarf es einer Finanzierung, die keinen Projektcharakter hat und den tatsächlichen Bedarfen entspricht.
Die Wohlfahrtsverbände haben kalkuliert, dass für eine bundesweite flächendeckende, unabhängige und qualifizierte Asylverfahrensberatung jährlich mittelfristig ca. 59,1 Mio. EUR notwendig sind. Folgende Parameter wurden herangezogen:
- Es wird von insgesamt 150.000 Personen ausgegangen, die 2020 einen Asylantrag in Deutschland stellen werden.[1] Die Erfahrung zeigt, dass unter den Antragstellenden häufig Familien sind, die zum Teil gemeinsam beraten werden können. Daher sind ca. 60.000 Schutzsuchende (40%)[2] von den potentiell zu beratenden Personen abzuziehen. Es bleibt eine Summe von 90.000 zu beratenden Asylantragsstellenden.
- Die Beratung erfolgt bedarfsgerecht, was insbesondere eine sorgfältige Anhörungsvorbereitung beinhaltet. Es sollte somit kein höherer Beratungs-schlüssel als 180 zu beratenden Personen pro Vollzeitkraft und Jahr angesetzt werden.
- Bei 90.000 Beratungsfällen und einem Beratungsschlüssel von max. 1:180 bedarf es 500 Vollzeitstellen. Angelehnt an die MBE ist mit 80.000 EUR für Personal(gemein-)kosten und Sachkosten pro Vollzeitstelle zu rechnen, insg. 40 Mio. EUR. Die Eingruppierung hat dabei entsprechend der besonderen Schwierigkeit und Bedeutung der Beratungstätigkeit zu erfolgen.
- Mindestens während einem Viertel der Arbeitszeit einer Vollzeitstelle ist eine Sprachmittlung durch eine qualifizierte Fachkraft erforderlich. Es wird ein Stundenlohn von 70 EUR angesetzt. Bei 200 Arbeitstagen und 2 Stunden Sprachmittlung pro Vollzeitstelle ergeben sich Kosten von 14 Mio. EUR.
- Hinzu kommen Maßnahmen der Qualitätssicherung, wie Supervision und Weiterbildung der Beratungskräfte, Supervision und juristische Anleitung durch Volljuristinnen und -juristen. Hierfür werden 4.500 EUR pro Vollzeitstelle angesetzt. Es ergeben sich Kosten von 2,3 Mio. EUR.
- Darüber hinaus bedarf es der koordinierenden Fachbegleitung durch die Verbände. Zu den bereits berechneten Kosten von 56,3 Mio. EUR werden zu diesem Zweck 5 %, also 2,8 Mio. EUR, Overhead-Kosten addiert.
Insgesamt ergeben sich somit Kosten von 59,1 Mio. EUR.
Durch die MBE und andere Formen der Beratung haben die Verbände jahrelange Erfahrung im Aufbau und der Unterhaltung von Beratungsstrukturen. Insbesondere aufgrund des Fachkräftemangels in der Sozialen Arbeit wird es im ersten Jahr jedoch nicht möglich sein, die volle Leistungsfähigkeit herzustellen, so dass sich ein stufenweiser Aufbau anbietet:
2020: 30 Mio. EUR für 250 Vollzeitstellen
2021: 45 Mio. EUR für 375 Vollzeitstellen
2022: 59,1 Mio. EUR für 500 Vollzeitstellen
Die Berechnung berücksichtigt die anteiligen Kosten pro Vollzeitstelle sowie die 5% Overhead-Kosten für die koordinierende Fachbegleitung durch die Verbände.
Bestehende Landesprogramme sollten von Förderung der bundesweiten Asylverfahrensberatung unberührt bleiben und sind ggf. fachlich abzugrenzen.
Berlin, 27.09.2019
Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege e. V.
Dr. Gerhard Timm
Geschäftsführer
Kontakt:
Nadja Saborowski (N.Saborowski@drk.de)
Inga Matthes (I.Matthes@drk.de)
[1] Die Bundesregierung geht nach jetzigem Stand für das laufende Jahr 2019 mit einer Zuwanderung von 140.000 bis 150.000 Personen insgesamt aus, s. die Antwort der Bundesregierung (10/12878) auf die Kleine Anfrage der Fraktion Die Linke (19/12291), siehe:
https://www.bundestag.de/presse/hib/657340-657340
[2] Vgl. hierzu die Zahlen des BAMF aus dem Jahr 2018: 185.853 Antragssteller, davon 71.472 (38 %) unter 16 Jahren, siehe: Das Bundesamt in Zahlen 2018, S. 13, 24.
]]>Die in der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) zusammenarbeitenden Spitzenverbände nehmen zu dem obigen Entwurf wie folgt Stellung:
- § 3 Nr. 49 EStG (Art. 1, Änderung des EStG)
Wir begrüßen die Befreiung von der Einkommensbesteuerung von Sachleistungen des Wohnraumnehmers und des Wohnraumgebers zur Förderung alternativer Wohnformen, da sie die gegenseitige Unterstützung von Menschen in unterschiedlichen Lebenssituationen und somit das soziale Engagement der Beteiligten fördert.
- § 4 Nr. 18 UStG (Art. 9, Weitere Änderung des UStG)
Grundsätzlich begrüßt wird weiterhin die Intention, die Umsatzsteuerbefreiung für Leistungen im Bereich der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit (§ 4 Nr. 18 UStG) neu zu fassen und an das Recht der Europäischen Union und die Rechtsprechung anzupassen. In der Umsetzung dieses Vorhabens weichen unsere Vorstellungen jedoch von denen des vorliegenden Gesetzentwurfs ab. Wir verweisen insoweit auf unsere Stellungnahmen zu den Gesetzentwürfen aus den Jahren 2013 und 2014, die ebenfalls eine Abänderung des § 4 Nr. 18 UStG vorsahen. In der Stellungnahme aus dem Jahr 2014 hatten wir auch explizit einen Vorschlag zur Neuformulierung der in Rede stehenden Regelung unterbreitet.
Nach dem bisherigen Wortlaut des § 4 Nr. 18 UStG waren die Leistungen der amtlich anerkannten Verbände der Freien Wohlfahrtspflege unter dort weiter genannten Voraussetzungen von der Umsatzsteuer befreit. Die hiergegen durchgeführten Klagen von Wohlfahrtsverbänden und anderen Leistungserbringern waren insofern erfolgreich, als nach der Rechtsprechung sowohl der Kreis der Leistenden als auch das in § 4 Nr. 18 Satz 1 Buchstabe c UStG geregelte Abstandsgebot als europarechtswidrig angesehen wurden, so dass die jeweiligen Berufungen der Kläger auf die „günstigere“ Regelung gem. Art. 132 Abs. 1 Buchstabe g MwStSystRL erfolgreich waren.
In Anlehnung an Art. 132 Abs. 1 Buchstabe b) MwStSystRL umfasst die Steuerbefreiung gem. § 4 Nr. 18 künftig die eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbundenen Leistungen, die von Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder anderen Einrichtungen erbracht werden, die keine systematische Gewinnerzielung anstreben. Etwaige Gewinne müssen zur Erhaltung oder Verbesserung der durch die Einrichtung erbrachten Leistungen verwendet werden.
Die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege bedauern ausdrücklich, dass nach dem Gesetzentwurf die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege als begünstigte Einrichtungen aus dem UStG gestrichen werden sollen. Auch wenn die zugrunde liegende MwStSystRL diese Formulierung nicht explizit vorsieht, ist sie dennoch nicht ausgeschlossen. Nach der EU-Richtlinie ist lediglich eine Umsatzsteuerbefreiung nach einer spezifischen Verbandszugehörigkeit unzulässig, nicht jedoch die Nennung der Verbände der Freien Wohlfahrtspflege als erläuternder Hinweis bei der Definition der Einrichtungen, die keine systematische Gewinnerzielung anstreben.
Aus dem Streichen der Verbände der Freien Wohlfahrtspflege in § 4 Nr. 18 UStG folgt, dass § 23 UStDV entfällt, der die als amtlich anerkannten Verbände der Freien Wohlfahrtspflege definiert, so dass mit einer langen, aus unserer Sicht bewährten Tradition, gebrochen wird. Wir bedauern das ausdrücklich.
Es wurde, wie in dem Gesetzentwurf ausgeführt wird, auf die unionsrechtswidrige Regelung gem. § 4 Nr. 18 c UStG und den eingeschränkten Anwendungsbereich der Leistungsanbieter hingewiesen. Die genannten Einwände wären durch geringfügige Anpassungen des § 4 Nr. 18 UStG lösbar. Stattdessen stellt die nach dem Entwurf vorgesehene Formulierung auf Voraussetzungen für die Steuerbefreiung ab, die nach unserem Verständnis unklar und daher äußerst streitanfällig sind. Es wird mehrere Jahre dauern, bis im Detail und letztendlich durch die Rechtsprechung (wieder) geklärt ist, welche Leistungen nach der neuen Regelung noch umsatzsteuerbefreit sind. Für die Dienste und Einrichtungen der Freien Wohlfahrtspflege bedeutet dies eine Zunahme steuerlicher Risiken, da die bisherigen Leistungen als Sachverhalt bereits verwirklicht sind, so dass eine eindeutige Klärung im Rahmen einer Verbindlichen Auskunft nach § 89 AO ausscheidet.
In der Gesetzesbegründung zu § 4 Nr. 18 UStG wird u.a. darauf hingewiesen, dass Betreuungs- und Pflegeleistungen an körperlich, geistig und seelisch hilfsbedürftigen Personen nicht mehr unter die Befreiung nach § 4 Nr. 18 UStG, sondern ausschließlich unter § 4 Nr. 16 UStG fallen. Dieser Hinweis zeigt schon, welche Diskussionen mit der Finanzverwaltung hinsichtlich der Einordnung von Leistungen zu § 4 Nr. 18 UStG künftig erfolgen werden.
Ferner gibt es vielfältige Angebote zur Freizeitgestaltung wie Gymnastik-, Tanz-, Mal- oder Handarbeitsgruppen sowie Ausflüge oder Reisen für Menschen mit Behinderung. Diese Leistungen unterliegen bisher der Umsatzsteuerbefreiung nach § 4 Nr. 18 UStG. Nach § 88 SGB XI handelt es sich bei Zusatzleistungen nicht um notwendige Leistungen. Hieraus könnte mit Blick auf die Umsatzsteuer der Schluss gezogen werden, dass es sich um Leistungen handelt, die für die Sozialfürsorge nicht unerlässlich sind (Artikel 134 MwStSystRL). Diese Schlussfolgerung ist nach unserem Verständnis unzutreffend, denn auch diese Leistungen sind eng mit der Sozialfürsorge verbunden, da die Angebote der Bereicherung des Alltags, der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft sowie dem Erhalt und der Förderung der persönlichen Fähigkeiten und Kompetenzen dienen. Zur Klarstellung sollten diese Angebote in der Gesetzesbegründung und im UStAE ausdrücklich als eng mit der Sozialfürsorge verbundene Leistungen genannt werden.
Außerdem wird in der Gesetzesbegründung darauf verwiesen, dass nach dem BFH-Urteil vom 1.12.2010 (XI R 46/08) die Leistungen eines Mahlzeitendienstes, auch wenn sie an den Kreis der Bedürftigen erbracht werden, nicht nach § 4 Nr. 18 UStG steuerbefreit sind. Aus unserer Sicht handelt es sich um ein Fehlurteil, da hier u.a. nicht berücksichtigt wurde, dass das von den Wohlfahrtsverbänden angebotene „Essen auf Rädern" eine Form der hauswirtschaftlichen Versorgung ist und deshalb auch in § 68 Ziffer 1 Buchstabe a AO als Mahlzeitendienst in den Katalog der Zweckbetriebe aufgenommen wurde. Ferner wird bestritten, dass es sich bei dem Menüservice um eine eng mit der Sozialfürsorge oder der sozialen Sicherheit verbundene Leistung handelt. Begründet wird dies damit, dass unabhängig vom jeweiligen Gesundheitszustand oder vom Alter alle Menschen essen würden. Die Richter verkennen dabei, dass bei einer Leistung wie „Essen auf Rädern“ nicht allein der Aspekt des Essens im Vordergrund steht, sondern die lebensnotwendige und flächendeckende Versorgung insbesondere alter und gebrechlicher Menschen. Aus unserer Sicht sind alle Leistungen auch dann als eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbunden anzusehen, wenn diese Leistungen einem nach einem Sozialgesetzbuch begünstigten Zweck dienen. So regelt beispielsweise § 71 SGB XII, dass die Altenhilfe dazu beitragen soll, „Schwierigkeiten, die durch das Alter entstehen, zu verhüten, zu überwinden oder zu mildern…“. Mahlzeitendienste sind ein wichtiger Baustein, um insbesondere alten und gebrechlichen Menschen den Verbleib in ihrer gewohnten häuslichen Umgebung zu ermöglichen. Hinzu kommt, dass Dienste und Einrichtungen der Freien Wohlfahrtspflege oft eben nicht nur Essen anliefern, sondern die Mahlzeiten in ein Portfolio altersgerechter Dienste einbinden (können), so dass insgesamt eine altersgerechte Versorgung im häuslichen Umfeld sichergestellt wird. Daher hat entsprechend unserer Auffassung die OFD Münster mit Datum vom 04.09.2012 verfügt, dass es sich bei dem Mahlzeitendienst durch Wohlfahrtsverbände um eine nach § 4 Nr. 18 UStG befreite Leistung handelt, sofern die Leistungen gegenüber dem begünstigten Personenkreis erbracht werden.
Eine Abschaffung der Umsatzsteuerbefreiung für Mahlzeitendienste würde bei vielen gemeinnützigen Trägern – auch bei einer Besteuerung zum ermäßigten Steuersatz und dem dann möglichen Vorsteuerabzug – zu einer Verteuerung der Leistung führen. Das würde insbesondere bei Seniorinnen und Senioren mit geringen Renten zu einer erheblichen finanziellen Zusatzbelastung führen.
Die gleiche Problematik stellt sich aktuell nicht nur bei „Essen auf Rädern“, sondern nach Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) auch bei Verpflegungsleistungen in Einrichtungen der Behindertenhilfe.
Für die bisher nach § 4 Nr. 18 UStG steuerbefreite kurzfristige Vermietung an Studierende (unter 6 Monate) sollte in der Gesetzesbegründung und/oder im UStAE klargestellt werden, dass es sich hierbei auch zukünftig um Leistungen handelt, die eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbunden sind. Die kurzzeitige Vermietung betrifft vor allem Studierende aus dem Ausland, die im Rahmen der Internationalisierungsstrategie des Bundes und der Länder an deutschen Hochschulen nur kurzzeitig studieren und aufgrund ihrer schlechten finanziellen Situation auf preiswerte Unterkünfte in den Studentenwohnheimen angewiesen sind.
Gleiches gilt für Bewegungstherapien (wie Funktions- und Bewegungstrainings für Menschen mit rheumatischen Erkrankungen) sowie für Informations- und Schulungsangebote für Menschen mit chronischen Erkrankungen und Behinderungen, wie sie beispielsweise von Verbänden der Selbsthilfe angeboten werden. Diese nicht auf der Basis einer ärztlichen Verordnung durchgeführten Maßnahmen und Angebote sind derzeit nur nach § 4 Nr. 18 UStG steuerbefreit. Um die Steuerbefreiung auch zukünftig zu gewährleisten, sollten auch sie in der Gesetzesbegründung sowie im Umsatzsteuer-Anwendungserlass ausdrücklich als Leistungen der Sozialfürsorge genannt werden.
Ein weiterer erheblicher Diskussionspunkt wird durch die Ergänzung um die systematische Gewinnerzielung entstehen. Es stellt sich nämlich die Frage, wann eine systematische Gewinnerzielung vorliegt. Ist diese zu bejahen, wenn über eine bestimmte Anzahl von Jahren jährlich ein Gewinn anfällt, darf dieser bestimmte prozentuale oder absolute Grenzen überschreiten etc.? Wir dürfen hierzu auf die Diskussion um die Änderung des AEAO, Ziff. 2 zu § 66 AO verweisen. Die Änderung dieser Ziffer, die ebenfalls die Gewinnerzielung thematisiert, war ebenfalls unnötig, sie hat die Wohlfahrtsverbände erheblich verunsichert und ihre Interpretation wird uns sicherlich noch viele Jahre beschäftigen. Aus unserer Sicht wäre es sinnvoller, auf die Gemeinnützigkeit i.S.v. §§ 51 ff. AO der leistungserbringenden Einrichtungen abzustellen. Dies wäre ein deutlich einfacherer Weg sicherzustellen, dass möglicherweise erzielte Gewinne in der Einrichtung verbleiben und zweckentsprechend verwendet werden.
Zusammenfassend empfehlen wir daher, den bisherigen Text des § 4 Nr. 18 UStG zu belassen und Anpassungen nur insoweit vorzunehmen, wie die Rechtsprechung diese gefordert hat, um einen Einklang mit der MwStSystRL zu erreichen. Alternativ sollte der Umfang der steuerbefreiten Leistungen möglichst klar und praktikabel definiert und der Kreis der leistungserbringenden Einrichtungen auf juristische Personen des öffentlichen Rechts sowie gemeinnützige Einrichtungen i.S.v. §§ 51 ff. AO beschränkt werden, so dass sich die Diskussion über die systematische Gewinnerzielung und Gewinnverwendung erübrigt.
Eine mögliche, unsere Belange berücksichtigende angepasste Formulierung (Ergänzung kursiv) schlagen wir vor wie folgt:
„18. Eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbundenen Leistungen, wenn diese Leistungen von Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder anderen Einrichtungen, die keine systematische Gewinnerzielung anstreben, erbracht werden. Etwaige Gewinne, die trotzdem anfallen, dürfen nicht entnommen, sondern müssen zur Erhaltung oder Verbesserung der durch die Einrichtung erbrachten Leistungen verwendet werden. Einrichtungen, die keine systematische Gewinnerzielung anstreben im Sinne dieser Vorschrift, sind auch steuerbegünstigte Körperschaften im Sinne der §§ 51 ff. AO, die ausschließlich und unmittelbar gemeinnützige, mildtätige oder kirchliche Zwecke verfolgen. Für die in anderen Nummern dieses Paragrafen bezeichnete Leistungen kommt die Steuerbefreiung nur unter den dort genannten Voraussetzungen in Betracht.“
Einen vergleichbaren Vorschlag zur Ergänzung der im Gesetzentwurf vorgesehenen Neuformulierung der Vorschrift haben in der Rechtsliteratur auch die Professoren Hüttemann und Schauhoff unterbreitet (DStR 2019, Ziffer 4.4, S. 1606).
- § 4 Nr. 21 Buchstabe a UStG (Art. 10, Weitere Änderung des UStG)
Der § 4 Nr. 21 UStG setzt nach der Gesetzesbegründung die Terminologie des Art. 132 Abs. 1 Buchstabe i und j MwStSystRL unter Berücksichtigung der EuGH-Rechtsprechung um. Der § 4 Nr. 22 Buchstabe a UStG entfällt künftig, da die Vorschrift nach der Gesetzesbegründung in der Neufassung des § 4 Nr. 21 UStG aufgehen soll.
Zunächst dürfen wir darauf aufmerksam machen, dass nach der Rechtsliteratur eine richtlinienwidrige Umsetzung dieser Vorschrift in nationales Recht nicht erkennbar ist (Schwarz/Widmann/Radeisen, Kommentar zum UStG, TZ 7 zu § 4 Nr. 22a UStG). Daher besteht kein Erfordernis, § 4 Nr. 22a UStG zu streichen und ihn in § 4 Nr. 21 UStG aufgehen zu lassen. Aus unserer Sicht gibt es dagegen gewichtige Argumente, die bisherige Regelung beizubehalten.
Die amtlich anerkannten Verbände der Freien Wohlfahrtspflege führen u.a. satzungsgemäß Fortbildungsmaßnahmen durch, die in einem großen Umfang bislang gem. § 4 Nr. 22 a UStG von der Umsatzsteuer befreit sind. Wir haben die große Sorge, dass nach dem neuen Gesetzeswortlaut künftig ein großer Teil der Leistungen nicht mehr von der Umsatzsteuer befreit sein wird, so dass auf die Teilnehmer Kostenerhöhungen zukommen werden. Daher empfehlen wir, den richtlinienkonformen § 4 Nr. 22 a UStG in seinem Wortlaut zu erhalten.
Unsere Bedenken hinsichtlich einer deutlichen Einschränkung der bisher geltenden Steuerbefreiung begründen wir wie folgt: Die Wohlfahrtsverbände haben ein sehr vielfältiges Bildungsangebot, das u.a. die Berufsausbildung (z.B. Ausbildung zum Notfallsanitäter), die ehrenamtliche Tätigkeit (z.B. Ausbildung Ehrenamtlicher zur qualifizierten Begleitung kranker und alter Menschen), die Durchführung von Seminaren im Rahmen der Inlandsfreiwilligendienste (FSJ, BFD) oder den Erwerb von Kenntnissen „lebensrettender Sofortmaßnahmen“ zum Erwerb eines Pkw-Führerscheins zum Gegenstand hat. Zudem führen die Wohlfahrtsverbände ihre Bildungsangebote in einer Vielzahl verschiedener Einrichtungen durch, die nicht zwingend in ihrer Gesamtheit auf die Aus- und Fortbildung ausgerichtet sind, da sie auch andere Leistungen, wie z.B. den häuslichen Pflegdienst, den Rettungsdienst oder den Hausnotrufdienst erbringen.
Nach dem neuen Gesetzeswortlaut bestehen u.E. große Zweifel, ob z.B. das Bildungsangebot für Ehrenamtliche, sofern hierfür keine mehrtätigen Seminare erforderlich sind, z.B. in Form eintägiger Workshops, oder die Ausbildung im Rahmen der „lebensrettenden Sofortmaßnahmen am Unfallort“ zum Erwerb eines Pkw-Führerscheins, unter die Befreiungsvorschrift nach dem neuen § 4 Nr. 21 Buchstabe a UStG fallen. Bislang fielen die genannten Angebote unzweifelhaft unter den Begriff der Veranstaltungen belehrender Art gem. § 4 Nr. 22 Buchstabe a UStG, so dass diese steuerbefreit waren. Nach dem bisherigen § 4 Nr. 22 Buchstabe a UStG waren als Vortrag belehrender Art viele weitere Angebote an die Klient/innen der Freien Wohlfahrtspflege umsatzsteuerbefreit, beispielsweise niedrigschwellige Vortragsreihen und Schulungsmaßnahmen in Krankenhäusern (z.B. zur Diabetes-Behandlung) sowie Vorträge und Bildungsmaßnahmen in Seniorenbegegnungsstätten und Alten- und Pflegeeinrichtungen (z.B. Malkurse). Eine auf eine Berufsausübung gerichtete Aus- und Weiterbildung ist hiermit nicht verbunden, die Angebote dienen vielmehr der Information, der Freizeitgestaltung und sozialen Teilhabe hilfebedürftiger Menschen. Unsere Bedenken betreffen weitere Seminarangebote, wie die Durchführung von Seminaren der Inlandsfreiwilligendienste, die ihre Teilnehmer nicht zwingend auf einen Beruf vorbereiten, sondern der Selbstreflektion der Teilnehmer und der Vorbereitung auf die Tätigkeit in den Einrichtungen dienen sollen. Nach Streichung des § 4 Nr. 22a UStG würden diese Angebote zukünftig der Umsatzsteuer unterliegen, was diese sinnvollen Angebote zusätzlich verteuern würde.
Ferner bestehen u. E. erhebliche Bedenken, ob die bisherigen Träger der beruflichen Fortbildung auch weiterhin von der Umsatzsteuer befreit sind, da private Einrichtungen nach § 4 Nr. 21 Buchstabe a, Satz 3 UStG „in ihrer Gesamtheit darauf ausgerichtet“ sein müssen, „Kenntnisse oder Fähigkeiten zu vermitteln, die geeignet sind, einen Schul- oder Hochschulabschluss oder einen Berufsabschluss zu erwerben oder berufliche Kenntnisse durch Fortbildung zu erhalten oder zu erweitern.“ Sie engen mit dem zitierten Satz 3 den Kreis der privaten Einrichtungen über den Gesetzestext von Art. 132 Abs. 1 Buchstabe i MwStSystRL hinaus so weit ein, dass nach unserer Auffassung streitig sein dürfte, ob viele Einrichtungen, die bislang nach § 4 Nr. 22 Buchstabe a UStG befreit waren, auch künftig befreit sein werden. Dies dürfte z.B. für gemeinnützige Einrichtungen gelten, die u.a. bislang umsatzsteuerfreie Kurse für Sofortmaßnahmen am Unfallort anbieten, daneben aber auch z.B. ein Altenheim und/oder einen Rettungsdienst betreiben, da diese nicht in ihrer Gesamtheit Bildungsleistungen anbieten, sondern dies nur ein Teilbereich von mehreren ist. Insbesondere im Hochschulbereich werden z.B. Tutoren- und Betreuungsprogramme für ausländische Studierende oder Studierende mit Behinderung oder zur Steigerung der Studienkompetenz von sonstigen Trägern, wie z.B. den Studentenwerken in Abstimmung mit den Hochschulen realisiert. Mit der vorliegenden Regelung würden juristische Personen des öffentlichen Rechts oder des Privatrechts, die zwar keine Bildungseinrichtung im engeren Sinne sind, aber die soziale Unterstützung der Lernenden übernommen haben und für ein erfolgreiches Studium oder einen erfolgreichen Schulabschluss unerlässlich sind, steuerlich benachteiligt werden. Es wird somit nicht berücksichtigt, dass bildungsunterstützende Angebote häufig gerade nicht von einer Bildungseinrichtung im engeren Sinne erbracht werden.
Wir interpretieren die Rechtsprechung des EuGH nicht in der Schärfe, wie sie von Ihnen in Satz 3 zum Ausdruck gebracht wird. Zwar können nach der EuGH-Rechtsprechung nicht sämtliche Bildungsleistungen einer privaten Einrichtung, unabhängig von ihrer Zielsetzung, von der Umsatzsteuer befreit werden. Gemäß dem EuGH-Urteil vom 28.11.2013, C-319/12, TZ 37, haben die Mitgliedstaaten aber einen Ermessenspielraum in der Anerkennung der Bildungseinrichtungen als von der Umsatzsteuer befreite Leistungserbringer. Wir empfehlen daher, diesen Spielraum zugunsten der Bildungsanbieter zu nutzen, z.B. durch das Beibehalten eines Bescheinigungsverfahrens in der bisherigen Form. Dies führt zwar zu einem zusätzlichen Verwaltungsaufwand, gibt aber Rechtssicherheit und vermeidet viele Auseinandersetzungen darüber, ob die von Ihnen definierten Kriterien erfüllt werden. Die Alternative, die Bildungsleistungen in eigens dafür errichtete Gesellschaften auszugliedern, dürfte für viele Anbieter aus Kostengründen nicht in Betracht kommen, so dass nur der Weg einer Kostenerhöhung für die TeilnehmerInnen bleibt.
Eine Beibehaltung des bisherigen Bescheinigungsverfahrens würde auch die bisher nach § 4 Nr. 21 Buchstabe b UStG zulässige Umsatzsteuerbefreiung für selbständige DozentInnen erleichtern. Nach unserem Verständnis der Gesetzesbegründung sollen die selbständigen Dozent*innen unserer Fortbildungseinrichtungen weiterhin ihre Rechnungen umsatzsteuerfrei ausstellen können. Bisher lag hier eine Bescheinigung der zuständigen Behörden vor, dass die Einrichtung der beruflichen Fortbildung dient. Auch wenn die Bescheinigung nicht den Charakter eines Grundlagenbescheids hatte, haben sich die Finanzverwaltungen in der Regel sowohl bei der Veranlagung der Fortbildungseinrichtung als auch bei den selbständigen DozentInnen an dieser Bescheinigung orientiert. Entfällt diese zukünftig, dann befürchten wir hier zunehmende Anfragen – insbesondere bei DozentInnen aus anderen Bundesländern - und zusätzliche steuerliche Risiken.
Ergänzend weisen wir darauf hin, dass bislang gem. § 4 Nr. 23 UStG die Kosten für die Beherbergung und Beköstigung etc., die im Rahmen von Erziehungs-, Ausbildungs- oder Erziehungszwecken von Jugendlichen anfielen, von der Umsatzsteuer befreit waren. Nach der Gesetzesbegründung zur Neuformulierung von § 4 Nr. 23 UStG wird darauf verwiesen, dass die Befreiung der Aus- und Fortbildung etc. von Jugendlichen nunmehr von § 4 Nr. 21 UStG erfasst wird. Sofern die Bildungsleistungen der Träger nicht mehr von der Umsatzsteuer befreit werden, entfällt auch die Befreiung der Beköstigung etc. als eng verbundener Umsatz. Sofern die Bildungseinrichtungen die Umsatzsteuerbefreiung verlieren, führt die Neuformulierung des § 4 Nr. 23 UStG zu einer weiteren erheblichen Kostenbelastung in den Bildungseinrichtungen, die Jugendliche beköstigen und beherbergen bzw. zu einer Kostenerhöhung für die TeilnehmerInnen.
Hinsichtlich der Voraussetzungen gem. § 4 Nr. 21 Buchstabe a, Satz 7 UStG (systematische Gewinnerzielung und Gewinnverwendung), verweisen wir auf unsere Ausführungen zu § 4 Nr. 18 UStG.
Eine Steuerbefreiung für Vorträge belehrender Art nach § 4 Nr. 18 UStG scheint uns nach der neuen Formulierung dieser Vorschrift schwierig, zur Begründung verweisen wir auf die hierzu erfolgten Ausführungen. Hinzu kommt, dass eine Umsatzsteuerbefreiung nach § 4 Nr. 18 UStG einen erheblichen bürokratischen Mehraufwand mit sich bringen würde, da hier für die TeilnehmerInnen nachgewiesen werden müsste, dass die Teilnahme an der Veranstaltung auch im Einzelfall eng mit der Sozialfürsorge verbunden ist. Bei der bisherigen Qualifizierung als Vortrag belehrender Art, war dieser Aufwand nicht erforderlich.
Im Ergebnis empfehlen wir daher, den bisherigen § 4 Nr. 22 Buchstabe a UStG beizubehalten, um eine drohende Verteuerung unserer Leistungen für die Teilnehmenden zu vermeiden. Alternativ schlagen wir vor, die Voraussetzungen für die Umsatzsteuerbefreiung von Bildungseinrichtungen deutlich zu entschärfen, indem z.B. wieder der Begriff der Veranstaltung belehrender Art verwendet wird, und Auffangtatbestände wie das genannte Bescheinigungsverfahren in den Gesetzestext aufzunehmen.
4. § 4 Nr. 23 UStG (Art. 9, Weitere Änderung des UStG)
Wir verweisen hier auf die Ausführungen zu § 4 Nr. 21 Buchstabe a UStG.
Die geplante Regelung des § 4 Nr. 23 Buchst. c UStG wird ausdrücklich begrüßt. Die Sicherstellung einer ausgewogenen, gesunden Verpflegung von Kindern und jungen Erwachsenen im Rahmen der Schul- und Hochschulausbildung ist unerlässlich und fördert den Bildungserfolg. Es wird angeregt, in die Begründung klarstellend aufzunehmen, dass auch die Verpflegung in Hochschulen privater oder kirchlicher Träger, die in den Landeshochschulgesetzen staatlich anerkannt sind, von der Umsatzsteuerbefreiung erfasst werden.
Hinsichtlich unserer Bedenken gegen die Voraussetzungen gem. § 4 Nr. 23 Buchstabe a UStG (systematische Gewinnerzielung und Gewinnverwendung) verweisen wir auf unsere Ausführungen zu § 4 Nr. 18 UStG und empfehlen, auf die Gemeinnützigkeit der Anbieter i.S.v. §§ 51 ff. AO zu verweisen.
- § 4 Nr. 25 UStG (Art. 9, Weitere Änderung des UStG)
Der Gesetzesentwurf sieht vor, in § 4 Nr. 25, Satz 2, Buchstabe a UStG die Wörter „sowie die amtlich anerkannten Verbände der Freien Wohlfahrtspflege“ zu streichen. In der Gesetzesbegründung wird dies als „Folgeänderung auf Grund der Aufhebung des § 23 UStDV“ bezeichnet.
Unter unseren Ausführungen zu § 4 Nr. 18 UStG haben wir dazu aufgefordert, die amtlich anerkannten Verbände der Freien Wohlfahrtspflege unverändert als begünstigte Einrichtungen aufzuführen. Sollten Sie unserer Anregung nicht folgen, schlagen wir vor, § 23 UStDV zu belassen und in der Überschrift zu § 23 UStDV die Nr. 18 durch die Nr. 25 zu ersetzen.
Die Tätigkeiten in der Kinder- und Jugendbetreuung von steuerbegünstigten Körperschaften sind so vielfältig und allesamt förderungswürdig, dass nicht jedem steuerbegünstigten Träger der Freien Wohlfahrtspflege der Status eines Trägers der freien Jugendhilfe zuerkannt wird bzw. werden kann.
- § 4 Nr. 29 UStG (Art. 9, Weitere Änderung des UStG)
Die Neuformulierung des § 4 Nr. 29 UStG entspricht einer seit vielen Jahren von der Freien Wohlfahrtspflege vorgetragenen Forderung nach der Umsetzung der Steuerbefreiung gem. Art. 132 Abs. 1 Buchstabe f MwStSystRL in nationales Recht und wird deshalb von uns sehr begrüßt.
In der Gesetzesbegründung wird darauf verwiesen, dass ein pauschaler Kostenaufschlag schädlich ist. Gemeint ist nach unserem Verständnis ein Gewinnaufschlag, da sämtliche Kosten, incl. der anteiligen Verwaltungskosten, zu den Selbstkosten gehören. Dies sollte in der Gesetzesbegründung klargestellt werden.
Nach der Gesetzesbegründung sollen Tätigkeiten, die lediglich mittelbar der Ausführung von nicht steuerbaren oder steuerfreien Umsätzen der Mitglieder dienen oder von den Mitgliedern für solche bezogen werden (z.B. allgemeine Verwaltungsdienstleistungen) nicht unter die neue Befreiungsnorm fallen. Diese Einschränkung darf nicht zu eng gefasst werden. So fordert beispielsweise die zunehmende Digitalisierung der Gesellschaft eine Neuausrichtung der Beratungsangebote der Freien Wohlfahrtspflege. In einer zunehmend mobilen Gesellschaft verändern sich auch die Anforderungen an die soziale Infrastruktur. Mit bestehenden dezentralen Beratungsangeboten werden nicht mehr alle Hilfesuchenden erreicht. Es müssen deshalb zunehmend digitale Beratungsformate angeboten werden, um die Hilfesuchenden auch tatsächlich in ihrer Lebenswelt mit ihren Medien zu erreichen und ihnen eine nutzerfreundliche, qualitäts- und datensichere Unterstützung anzubieten. Die hierfür erforderliche Infrastruktur kann nicht von einzelnen Trägern allein bereitgestellt werden, vielmehr sind größere Verbünde und Zusammenschlüsse notwendig. Die hierbei umgelegten Kosten sind jedoch nicht dem Bereich der allgemeinen Verwaltung zuzurechnen, sondern die bereitgestellte Infrastruktur dient unmittelbar der Ausführung der nichtsteuerbaren oder steuerbefreiten Umsätze. Auch hier wäre eine entsprechende Klarstellung in der Gesetzesbegründung sowie im Umsatzsteuer-Anwendungserlass hilfreich.
Zu dem Kreis der Mitglieder gehören nach unserem Verständnis ferner auch sogenannte korporative Mitglieder, d.h. Mitglieder, die kein Stimmrecht haben. Dies wurde verschiedentlich von der Finanzverwaltung bestätigt. Daher bitten wir Sie, dies klarstellend in der Gesetzesbegründung oder im UStAE zu erwähnen.
Berlin, 19.09.2019
undesarbeitsgemeinschaft
der Freien Wohlfahrtspflege e. V.
Dr. Gerhard Timm
Geschäftsführer
Kontakt:
Annette Schneider (schneida@drk.de)
]]>
Was ist Asylverfahrensberatung?
Eine bundesweit für alle Schutzsuchenden zugängliche qualifizierte, unentgeltliche und behördenunabhängige Asylverfahrensberatung vor und während des Verfahrens ist unerlässlich, um frühzeitig die eigenen Rechte und Pflichten im Verfahren zu erkennen und den Ablauf des Verfahrens zu verstehen. Sie kann zu einem vollständigen Sachvortrag bezogen auf das individuelle Verfolgungsschicksal und folglich zu einer besseren Aufklärung des Sachverhalts in der Anhörung beitragen. Die Verfahrensberatung hilft, einen effektiven Zugang zu den Verfahrensgarantien in einem fairen Asylverfahren sowie zum Rechtsschutz zu gewährleisten. Eine Verfahrensbera-tung kann darüber hinaus bei der Identifizierung besonderer Bedarfe im Hinblick auf eine besondere Schutzbedürftigkeit unterstützen. Die Asylverfahrensberatung fördert somit die Qualität der getroffenen behördlichen Entscheidung und entlastet auch die Verwaltungsgerichte. Die unabhängige Asylverfahrensberatung führt zu einer frühzeitigen Abklärung von Verfahrensfragen und dadurch zu einer Effizienzsteigerung. Dies hat der Evaluationsbericht des BAMF-Pilotprojektes „Asylverfahrensberatung“ (2017) mit den Wohlfahrtsverbänden bestätigt.
Warum ist eine Asylverfahrensberatung durch die Wohlfahrtsverbände notwendig?
Die individuelle Beratung ist der zentrale Baustein einer fairen und effizienten Asylverfahrensberatung. Gesetzlich vorgesehen ist gem. § 12a AsylG eine allgemeine Information zum Asylverfahren (Stufe 1), die vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge bereitgestellt wird und eine individuelle Fallberatung (Stufe 2), die laut Gesetz durch das Bundesamt oder durch Wohlfahrtsverbände durchgeführt wird.
Die Wohlfahrtsverbände, Kirchen und Nichtregierungsorganisationen halten seit Jahren aus eigenen Mitteln, EU Mitteln und – in einigen Bundesländern – kommunalen und Landesmitteln behördenunabhängige Beratungsangebote zum Asylverfahren vor.
Im Unterschied zur allgemeinen Information und individuellen Beratung durch das BAMF bieten die Wohlfahrtsverbände eine individuelle Rechtsberatung im Rahmen des Rechtsdienstleistungsgesetzes, die anhand der individuellen Verfolgungsgründe und des gesetzlichen Rahmens erfolgt.
Die Beratungspraxis zeigt, dass es für Schutzsuchende wichtig ist, Information und Beratung nicht allein von Behörden zu erhalten, da viele Menschen im Herkunftsstaat negative Erfahrungen mit staatlichen Stellen machen mussten. Vertrauen in die Unabhängigkeit der Beratung ist zum einen wichtig, um individuelle, vor allem besonders sensible Fluchtgründe vollständig und dadurch nachvollziehbar darlegen zu können. Zum anderen dient das Vertrauen in die Beratung dem Verständnis und der Akzeptanz einer eventuell negativen Entscheidung über den Asylantrag.
Aus diesem Grund sollte die zweite Stufe der Asylverfahrensberatung grundsätzlich durch freie gemeinnützige Träger durchgeführt werden. Die Wohlfahrtsverbände haben gezeigt, dass sie verlässliche Partner sind, die auf hohem Niveau eine qualifizierte Beratung durchführen.
Rahmenbedingungen und Qualitätssicherung einer Asylverfahrensberatung
Für eine flächendeckende, qualifizierte und behördenunabhängige Asylverfahrens-beratung ist es notwendig, dass Asylsuchende vor der Stellung eines Asylantrages, spätestens jedoch vor ihrer Anhörung im Asylverfahren effektiven Zugang zum Beratungsangebot haben. Daher sollten die Beratungsstellen grundsätzlich in den Erstaufnahmeeinrichtungen oder ihrem unmittelbaren Umfeld unter Berücksichtigung der speziellen Situation in den einzelnen Bundesländern angesiedelt sein. Damit die Unabhängigkeit des Beratungsangebotes auch für die Asylsuchenden erkennbar ist, sollte sie jedoch nicht in den Außenstellen des BAMF angesiedelt sein. Zudem muss zwischen Asylgesuch und Antragstellung sowie im Asylverfahren bis zur Bestandskraft des Bescheides über den Asylantrag ausreichend Zeit für die Beratung vorgesehen sein.
Die Wohlfahrtsverbände haben auf der Grundlage jahrzehntelanger Praxis in der Beratung von Migrantinnen und Migranten Qualitätsstandards entwickelt, die sozialarbeiterische und rechtliche Kompetenzen miteinander verbinden und absichern. Asylverfahrensberaterinnen und -berater haben danach ein abgeschlossenes Hochschulstudium der Rechtswissenschaft, Sozialwissenschaft, Sozialen Arbeit oder eine vergleichbare Qualifikation. Darüber hinaus verfügen die Beratenden über fundierte Fachkenntnis im Asyl- und Aufenthaltsrecht und ausgewiesene Fähigkeiten in der Gesprächsführung, gepaart mit interkulturellen Kompetenzen. Spezielle Einführungs- und Fortbildungsmaßnahmen werden durchgeführt. Ein regelmäßiger kollegialer Austausch zu aktuellen Entwicklungen in der Rechtsprechung und Verwaltungspraxis ist gewährleistet. Darüber hinaus stellt der von den Wohlfahrtsverbänden mitgetragene „Informationsverbund Asyl & Migration“ stets aktuelle Informationen zur Verfügung.
Die Wohlfahrtsverbände gewährleisten die Anleitung der Beratenden durch Volljuristinnen und Volljuristen derzeit in unterschiedlichen Modellen, die teilweise auch in Kombination angewandt werden. Eines der bereits in der Gesetzesbegründung zum RDG erwähnten Modelle ist die Rechtsberaterkonferenz, in der selbständige, im Migrationsrecht spezialisierte Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte an drei Wohlfahrtsverbände angebunden sind. Die Rechtsberaterkonferenz arbeitet mit UNHCR Deutschland zusammen. Darüber hinaus gibt es ein Multiplikatorensystem, das auf angestellten Volljuristinnen und Volljuristen der Wohlfahrtsverbände fußt sowie Kooperationen mit Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten vor Ort.
Die verbandlichen Asylverfahrensberaterinnen und -berater der Wohlfahrtsverbände verweisen schwierige Fälle und solche, in denen Rechtsvertretung vor Gericht nötig ist, an Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte.
In Anlehnung an das vom BAMF in Kooperation mit DRK, DCV und Diakonie durchgeführte Pilotprojekt „Asylverfahrensberatung“ sollen für die Durchführung der Asylverfahrensberatung nach § 12a AsylG anliegende Standards zugrunde gelegt werden (Anlage 1: Stellenbeschreibung für Asylverfahrensberatende; Anlage 2: Verhaltenskodex Asylverfahrensberatende).
Um ein umfassendes Beratungsangebot sicherstellen zu können, ist es elementar, dass darüber hinaus der Zugang zu Erstaufnahmeeinrichtungen auch für andere freie Träger sowie sonstige Beratungsangebote der Verbände gewährleistet wird.
Kosten einer bundesweiten Asylverfahrensberatung
Für eine qualifizierte und behördenunabhängige Asylverfahrensberatung müssen die personellen Kapazitäten so bemessen sein, dass Asylsuchende bundesweit Zugang haben und die Qualitätskriterien umgesetzt werden können.
Eine adäquate Bundesfinanzierung
- orientiert sich an der Zahl der erwarteten neu ankommenden Schutzsuchenden
- sichert eine permanente Beratungsstruktur in Anbindung an das Asylverfahren durch eine dauerhafte Finanzierung der Beratungsstellen der Verbände,
- bemisst den Beratungsschlüssel an der oben beschriebenen Komplexität der Beratung und Unterstützung während der einzelnen Verfahrensschritte des Asylverfahrens,
- berücksichtigt das gesetzliche Erfordernis der besonderen rechtlichen Qualifikation der Beraterinnen und Berater und der Anleitung durch Personen mit Befähigung zum Richteramt,
- umfasst die Sprachmittlung, ohne die qualifizierte Asylverfahrensberatung und der Zugang zum Recht für die Betroffenen nicht möglich ist,
- umfasst Maßnahmen zur dauerhaften Sicherung der Qualität der Mitarbeitenden in der Asylverfahrensberatung (bspw. Supervision, Weiterbildung, regionale und überregionale Fachbegleitung und Vernetzung).
Im Übrigen verweisen wir auf das BAGFW-Positionspapier „Unabhängige Asylverfahrensberatung – ein Beitrag zur Verbesserung von Fairness, Qualität und Effizienz des Asylverfahrens“ vom 14.11.2017.
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Voraussetzung für den regelhaften Austausch von medizinischen und pflegerischen Informationen zwischen Pflegeeinrichtungen und Vertragsärzten ist der unverzügliche Anschluss der Pflegeeinrichtungen an die TI. Diese Möglichkeit wird durch das Digitale-Versorgungs-Gesetz (DGV) nun eröffnet. Dort wurde auch der Forderung der BAGFW, dass die Kosten für den Anschluss der Pflegeeinrichtungen an die TI entsprechend der Regelungen zur Finanzierungsvereinbarung nach § 291a Absatz 7b für die Vertragsärzte aus dem SGB XI bzw. SGB V refinanziert werden müssen, Rechnung getragen.
Zudem wurde die Rahmenvereinbarung nach § 119b Absatz 2 an die GBA-Richtlinie zu § 22a SGB V angepasst.
Zur Vereinbarung im Einzelnen nehmen die in der BAGFW zusammengeschlossenen Verbände wie folgt Stellung: § 4 Aufgaben des Kooperationszahnarztes
§ 4 wurde an die Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschuss über Maßnahmen zur Verhütung von Zahnerkrankungen bei Pflegebedürftigen und Menschen mit Behinderungen nach § 22a SGB V angepasst. Dies ist sachgerecht. Änderungsbedarf besteht allerdings in Bezug auf die Verwendung des Begriffs „Pflege- und Unterstützungspersonen“ in Ziffer 3 und 4. Da sich die Aufgaben des Kooperationszahnarztes ausschließlich auf den stationären Bereich beziehen, ist der Begriff der „Unterstützungsperson“ zu streichen. Die Kooperation in Bezug auf die Durchführung der Maßnahmen erfolgt ausschließlich mit Pflegekräften.
Änderungsbedarf:
In Ziffer 3 und 4 wird das Wort „Pflege- und Unterstützungspersonen“ gestrichen und durch „Pflegekräfte“ ersetzt.
§ 7 Anforderungen an den Datenaustausch
§ 7 Absatz 1
Die vorliegende Vereinbarung bezieht sich ausschließlich auf stationäre Einrichtungen. Die Gesetzesgrundlage des § 119b Absatz 2 Satz 2 SGB V sieht jedoch ausdrücklich vor, dass sich die in der Vereinbarung zu definierenden verbindlichen Anforderungen an die Informations- und Kommunikationstechnik zum elektronischen Datenaustausch im Rahmen der Zusammenarbeit zwischen stationären (einschließlich teilstationären) Einrichtungen und Vertragsärzt/innen auch auf ambulante Pflegeeinrichtungen erstrecken können. Dafür spricht sich die BAGFW nachdrücklich aus. Das Format der vorliegenden Vereinbarung erschwert eine Ausweitung auf ambulante Dienste, da sich die Rahmenvereinbarung im Übrigen ausschließlich auf die Kooperationsverträge zwischen stationären Einrichtungen und Vertragszahnärzt/innen bezieht. § 7 Absatz 1 sollte daher um einen ergänzenden Satz erweitert werden, der klarstellt, dass sich das sichere Übermittlungsverfahren auch auf ambulante Pflegeeinrichtungen erstreckt.
Aus Sicht der BAGFW sollten zudem auch die Krankenhäuser, die Apotheken sowie die Heil- und Hilfsmittelerbringer in die Vereinbarung einbezogen werden, um durch Datenaustausch an diesen weiteren Schnittstellen eine lückenlose Versorgungskette gewährleisten zu können, auch wenn dies nicht Gegenstand der vorliegenden Vereinbarung ist. Es macht keinen Sinn, Anforderungen an die Informations- und Kommunikationstechnik bzgl. der Kriterien der semantischen und syntaktischen Interoperabilität isoliert für die stationären Pflegeeinrichtungen zu entwickeln.
Änderungsbedarf:
In § 7 Absatz 1 wird nach Satz 1 folgender Satz angefügt:
„Pflegeeinrichtungen i.S. des Satzes 1 sind dabei sowohl vollstationäre als auch teilstationäre und ambulante Pflegeeinrichtungen“.
§ 7 Absatz 2
Da die Pflegeeinrichtungen noch nicht an die Telematikinfrastruktur angeschlossen sind, ist es erforderlich, eine Übergangsregelung für eine sichere Ende-zu-Ende-Verschlüsselung zu schaffen, wie in Absatz 2 vorgesehen, um die Vertraulichkeit, Integrität und Authentizität der Daten sicherzustellen.
§ 7 Absatz 2 Satz 2 sieht vor, dass Standards für die Signierung des zu übertragenden Informationsobjektes, die an anderer Stelle getroffen wurden, einzuhalten sind. Zentrale Voraussetzung für die Nutzung einer gemeinsamen Informations- und Kommunikationstechnik ist die Identifikation der am Datenaustausch Beteiligten über den elektronischen Heilberufeausweis (eHBA). Die BAGFW weist darauf hin, dass Pflegekräfte immer noch keinen Zugang zum eHBA haben. Authentifizierungsmöglichkeiten der Pflegekräfte sind jedoch die Voraussetzung für die Nutzung digitaler Anwendungen in Pflegeeinrichtungen. Es bedarf daher eines schnellen Abschlusses des Staatsvertrags zum eHBA. Neben der Identifikation der einzelnen Pflegekräfte bedarf es ergänzend eines institutionsgebundenen Zugangs über IKT-Nummern. Technisch muss der Anschluss der Pflegeeinrichtungen über Konnektoren und mobile Endgeräte erfolgen. Dies ist erforderlich, um die lückenlose Versorgungskette Ärzte/Ärztinnen-Patienten/Patientinnen-Pflegeeinrichtungen-weitere an der Versorgung beteiligte Einrichtungen (Apotheken, Heilmittelerbringer, Hilfsmittelerbringer, Krankenhäuser etc.) zu gewährleisten. Die/der Patient/in muss dabei die Gelegenheit haben, die Übermittlung der Daten für den jeweiligen Leistungserbringer selbst freizugeben.
Neben der Schaffung dieser zentralen technischen Voraussetzungen muss es aus Sicht der BAGFW Ziel sein, eine gemeinsame Semantik für den strukturierten Austausch von medizinischen und pflegerischen Informationen zwischen Vertragszahnärzt/innen und Pflegeeinrichtungen nach § 291b Abs. 1, Satz 7ff. SGB V zu entwickeln und IT-Insellösungen zu vermeiden. Dies ist zu unterstreichen, auch vor dem Hintergrund, dass nach § 119b Absatz 2a nicht nur die stationären Pflegeeinrichtungen, sondern zu Recht auch die ambulanten Pflegeeinrichtungen, Krankenhäuser, Apotheken und andere therapeutische Berufsgruppen in die Informations- und Kommunikationstechnik perspektivisch eingebunden werden können und aus Sicht der BAGFW auch sollten.
Änderungsbedarf:
Keiner
§ 7 Absatz 3
Es ist zu begrüßen, dass für die Übertragung der standardisierten medizinischen Informationen (MIOs) die Festlegungen der Gesellschaft für Telematik und der KBV zur Gewährleistung der semantischen und syntaktischen Interoperabilität einzuhalten sind. Eine gemeinsame Prozess-Steuerung von Ärzten /Ärztinnen und Pflegeeinrichtungen mit Blick auf Austausch von Diagnosen und gesundheitsrelevanten Ereignissen erfordert eine gemeinsame Semantik für die Übertragung der standardisierten medizinischen Informationsobjekte (MIOs). § 291b Absatz 1 Satz 7 SGB V sieht vor, dass die KBV die Festlegungen für die Inhalte der ePA im Benehmen mit den betroffenen Spitzenorganisationen – u.a. den maßgeblichen Bundesverbänden der Pflege – zu treffen hat, um deren semantische und syntaktische Interoperabilität zu gewährleisten. Wir weisen darauf hin, dass die mit dieser Vereinbarung vorzusehenden Anforderungen an die Informations- und Kommunikationstechnik für die koordinierte ärztliche und pflegerische Versorgung in stationären Pflegeeinrichtungen in diesen Prozess integriert werden muss. Der Aufbau einer Parallelstruktur nur für die Anwendungen nach § 119b SGB V ist aus unserer Sicht nicht sinnvoll.
Des Weiteren sollten in Absatz 3 konkrete medizinische Informationsobjekte für den Datenaustausch genannt werden. Die Anwendungsbereiche sollten in dem in § 125 SGB XI im Digital-Versorgungs-Gesetz vorgesehenen Modellvorhaben zur Einbindung der Pflegeeinrichtungen in die Telematik-Infrastruktur erprobt werden. Die Gesetzesbegründung zu § 125 SGB XI sieht vor, dass das Modellprogramm die notwendigen Grundlagen für bundesweite Vereinbarungen und Standardisierungen schaffen soll. Ausdrücklich erwähnt werden in diesem Zusammenhang Fragen der technischen und semantischen Interoperabilität, die Vereinbarungen zu Standards des Informationsaustausches betreffen.
Änderungsbedarf:
In Absatz 3 soll der Punkt durch einen Doppelpunkt ersetzt und wie folgt ergänzt werden:
• E-Verordnungen
• E-Rezept
• E-Medikationsplan
• Notfalldatensatz einschließlich Daten zu Patientenverfügungen und Patientenvollmachten
• E-Arztbrief
• Labordaten
• E-Entlass- und Überleitungsmanagement (digitale Überleitungsbogen) aus dem Krankenhaus
• Daten zur Gesundheitlichen Versorgungsplanung für die letzte Lebensphase nach § 132g SGB V
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Die in der BAGFW kooperierenden Verbände begrüßen und unterstützen das Ziel des Gesetzgebers, den Prüfrhythmus in vollstationären Einrichtungen zu verlängern. Die in der BAGFW zusammengeschlossenen Verbände bedanken sich zu den Richtlinien zur Umsetzung dieses Vorhabens Stellung nehmen zu können und tun dies in einer gemeinsamen Stellungnahme. Da die Inhalte der Anlage 1 als Dreh- und Angelpunkt der gesamten Richtlinie nicht vorliegen, kann die Stellungnahme jedoch nur als vorläufig angesehen werden. Eine abschließende Einschätzung kann erst nach Vorlage der Anlage 1 erfolgen. Aus unserer Sicht muss daher nach Erarbeitung derselben erneut ein Beteiligungsverfahren durchgeführt werden.
B. Allgemeines
Diese Richtlinien bilden vor allem die Grundlage für die Feststellung eines hohen Qualitätsniveaus ab und erst an zweiter Stelle Regelungen für unangekündigte Regelprüfungen, mithin sollte die Reihenfolge in der gesamten Richtlinie verändert werden.
Wir regen ferner an, in der Richtlinie grundsätzlich den Begriffen in der Gesetzesterminologie zu folgen. Als Beispiel seien hier die Begriffe „angemeldet/unangemeldet“
statt „angekündigt/unangekündigt“ aufgeführt. Die Begriffe werden nach §114a Abs. 1 Satz 2 und 3 wie folgt verwendet[1]:
- „(…); Anlassprüfungen sollen unangemeldet erfolgen.“;
- „Die Prüfungen (…) sollen unangekündigt erfolgen, wenn die Einrichtung ihrer Verpflichtung nach § 114b Abs. 1 gar nicht nachkommt“.
In der Richtlinie bleibt unklar, ob der in der Richtlinie verwendete Begriff „unangemeldet“ etwas anderes bedeuten soll als der Begriff „unangekündigt“, denn der Gesetzestext nimmt die o.g. Zuordnung vor.
C. Stellungnahme zu den einzelnen Regelungen
Textabschnitt
Z. 28 bis 30: „Der GKV-Spitzenverband hat (…) die Kriterien zur Feststellung eines hohen Qualitätsniveaus als Voraussetzung für die Verlängerung des Prüfrhythmus sowie Kriterien für die Veranlassung unangemeldeter Prüfungen nach § 114a SGB XI am XX.XX.2019 festgesetzt.“
Kommentar
Die in der BAGFW kooperierenden Verbände möchten ausdrücklich darauf hinweisen, dass sie nur zu dem bisher vorliegenden Text Stellung nehmen und nicht zu der noch ausstehenden Anlage 1, die die Kriterien zur Verlängerung des Prüfrhythmus in vollstationären Pflegeeinrichtungen festlegen soll. Nach unserer Einschätzung ist Anlage 1 Bestandteil des aktuellen Beteiligungsverfahrens und muss – da sie noch nicht vorliegt – in einem weiteren Beteiligungsverfahren abgestimmt werden (s. a. Einleitung).
1 Ziel der Richtlinien ab Zeile 72
Textabschnitt
Z. 73 bis 78: „Diese Richtlinien bilden die Grundlage für die Durchführung von unangekündigten Regelprüfungen in vollstationären Pflegeeinrichtungen. Sie beinhalten Regelungen zu Verfahrensgrundsätzen zur Entwicklung der Kriterien für ein hohes Qualitätsniveau, die zukünftig die Voraussetzung für die Verlängerung des Prüfrhythmus auf höchstens zwei Jahre sind.“
Kommentar
Diese Richtlinien bilden vor allem die Grundlage für die Feststellung eines hohen Qualitätsniveaus ab und erst an zweiter Stelle Regelungen für unangekündigte Regelprüfungen. Daher sollte der Abschnitt wie folgt verändert werden:
„Diese Richtlinien bilden die Grundlage anhand von entwickelten Kriterien für die Feststellung eines hohen Qualitätsniveaus, die zukünftig die Voraussetzung für die Verlängerung des regelmäßigen Prüfrhythmus auf höchstens zwei Jahre sind. Weiter beinhalten sie auch Regelungen für die Durchführung von unangemeldeten Regelprüfungen in vollstationären Pflegeeinrichtungen.“
2 Geltungsbereich ab Zeile 81
Textabschnitt
Z. 87 bis 90: „(2) Die Richtlinien gelten hinsichtlich der Durchführung von unangekündigten Regelprüfungen in zugelassenen vollstationären Pflegeeinrichtungen der Langzeit- und der Kurzzeitpflege. Die Richtlinien gelten hinsichtlich der Verlängerung des Prüfrhythmus ausschließlich für Regelprüfungen in vollstationären Pflegeeinrichtungen der Langzeitpflege.“
Kommentar
Der Geltungsbereich der Richtlinie erstreckt sich unseres Erachtens nur auf die Pflegeeinrichtungen, die am indikatorengestützten Verfahren beteiligt sind. Dies sind nur die vollstationären Einrichtungen der Langzeitpflege und nicht die Kurzzeitpflegeeinrichtungen. Folglich sind in Zeile 88 die Wörter „und Kurzzeitpflege“ zu streichen.
Da es zuvorderst um die Verlängerung des Prüfrhythmus geht, sollten die beiden Sätze umgestellt werden: Satz 2 wird zu Satz 1 und umgekehrt (analog Kommentar zu Zeile 73-76).
3 Unangekündigte Regelprüfungen ab Zeile 93
Textabschnitt
Z. 94 bis 96: „(1) Unangekündigt sollen die Regelprüfungen mit Einführung des neuen Prüfverfahrens am 01.11.2019 in Pflegeeinrichtungen der vollstationären Langzeitpflege einschließlich der Pflegeeinrichtungen mit sog. eingestreuten Kurzzeitpflegeplätzen erfolgen, wenn (…)“
Kommentar
Die Einfügung eines „nur“ empfiehlt sich zur Klarstellung, da damit der Ausnahmecharakter der unangekündigten Prüfung betont wird. Insbesondere anlasslose Prüfungen sind im Hinblick auf die mit ihnen für die Einrichtung verbundenen Belastungen vor dem Hintergrund der grundrechtlich geschützten Berufsausübungsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) als problematisch anzusehen. Der Satz soll damit lauten:
- Unangekündigt sollen die Regelprüfungen mit Einführung des neuen Prüfverfahrens am 01.11.2019 in Pflegeeinrichtungen der vollstationären Langzeitpflege einschließlich der Pflegeeinrichtungen mit sog. eingestreuten Kurzzeitpflegeplätzen nur erfolgen, wenn …
Textabschnitt
Z. 106 bis 115: „4. bei der letzten Plausibilitätskontrolle im Rahmen der Qualitätsprüfung durch eine Prüfinstitution[2]
a) beim Erhebungsreport für mindestens drei versorgte Personen festgestellt wurde, dass fälschlicherweise ein Ausschluss aus der Ergebniserfassung erfolgte oder die Zuordnung von Pseudonymen fehlerhaft war oder
b) bei mehr als drei Plausibilitätsfragen kritische Ergebnisse (für den betreffenden Themenbereich wurde bei mindestens zwei geprüften Personen festgestellt, dass die Angaben der Pflegeeinrichtung fälschlicherweise auf ein positives Versorgungsergebnis verweisen oder ein tatsächlich vorliegendes negatives Versorgungsergebnis nicht ausweisen) vorlagen.“
Kommentar
Der Abschnitt zu Ziffer 4 Abschnitt b) ist nicht nachvollziehbar und unverständlich formuliert. Die Plausibilitätsfragen in der Qualitäts-Prüfungs-Richtlinie beziehen sich nicht auf Ergebnisse, sondern auf Auffälligkeiten im Abgleich der Datenerhebungen zum Stichtag im Vergleich zum Zustand der betreffenden Person. Positive oder negative Ergebnisse gibt es lediglich in der zusammenfassenden Bewertung des Prüfers / der Prüferin für die verschiedenen Themenreiche innerhalb der Qualitätsbereiche: Kategorie A = keine Auffälligkeiten (positives Ergebnis), Kategorie B = Auffälligkeiten ohne Risiken oder negative Folgen (positives Ergebnis), Kategorie C = Defizit mit Risiko (negatives Ergebnis), Kategorie D = Defizit mit Schaden (negatives Ergebnis). Daher ist in Abschnitt b) deutlich zu formulieren, was der GKV-Spitzenverband als Grund für eine unangekündigte Regelprüfung hier zugrunde legen will.
Textabschnitt
Z. 116 bis 120: „(2) Die Landesverbände der Pflegekassen sollen auf Grundlage der von der Datenauswertungsstelle gemäß § 113 Abs. 1b SGB XI zur Verfügung gestellten Daten prüfen, ob die Voraussetzungen für eine angekündigte Regelprüfung vorliegen und teilen der beauftragten Prüfinstitution mit, ob die Qualitätsprüfung anzukündigen bzw. ob eine unangekündigte Qualitätsprüfung durchzuführen ist.“
Kommentar
Wir empfehlen die Einfügung „nach Maßgabe des Abs. 1“ hinter dem Wort „teilen“ aus Gründen der Klarstellung. Der Satz lautet damit:
- Die Landesverbände der Pflegekassen sollen auf Grundlage der von der Datenauswertungsstelle gemäß § 113 Abs. 1b SGB XI zur Verfügung gestellten Daten prüfen, ob die Voraussetzungen für eine angekündigte Regelprüfung vorliegen und teilen nach Maßgabe des Abs. 1]der beauftragten Prüfinstitution mit, ob die Qualitätsprüfung anzukündigen bzw. ob eine unangekündigte Qualitätsprüfung durchzuführen ist.
4 Ankündigung von Regelprüfungen ab Zeile 123
Textabschnitt
Z. 124 – 125: „Regelprüfungen gemäß § 114ff SGB XI sind grundsätzlich am Tag zuvor durch die beauftragte Prüfinstitution anzukündigen.“
Kommentar
Der Text „Regelprüfungen gemäß § 114ff SGB XI sind grundsätzlich am Tag zuvor durch die beauftragte Prüfinstitution anzukündigen“ gibt nur den Gesetzestext wieder. Hier ist klarzustellen, dass sich der Tag auf die Arbeitstage (Montag bis Freitag, wenn diese nicht gesetzliche Feiertage sind) bezieht.
Der Text ist anlog dem Kommentar Klie/Kramer/Plantholz, 4. Auflage zu § 114a SGB XI, II Erläuterungen (S. 1176) wie folgt zu konkretisieren: „Am Tag zuvor“ ist so … auszulegen, dass die Ankündigung am Vormittag des Vortages zu erfolgen hat, damit sich tatsächlich noch personelle Dispositionen treffen lassen. Der rechtzeitige Zugang der Ankündigung muss sichergestellt sein, was bei einer Telefaxmitteilung nach Büroschluss der Einrichtung nicht der Fall ist. Eine für Montag geplante Prüfung muss daher bis spätestens Freitagmittag avisiert sein, entsprechend ist bei Prüfungen unmittelbar nach Feiertagen zu verfahren. (…) Wird die Ankündigungspflicht nicht eingehalten, ist der Pflegedienst berechtigt, die Prüfung zu verweigern.“
5 Verlängerung des Prüfrhythmus ab Zeile 128
Textabschnitt
Z. 129 - 145
- Regelprüfungen in Pflegeeinrichtungen der vollstationären Langzeitpflege einschließlich der Pflegeeinrichtungen mit sog. eingestreuten Kurzzeitpflegeplätzen erfolgen nach § 114 Abs. 2 Satz 1 SGB XI grundsätzlich regelmäßig im Abstand von höchstens einem Jahr.
- Eine Regelprüfung in Pflegeeinrichtungen der vollstationären Langzeitpflege einschließlich der Pflegeeinrichtungen mit sog. eingestreuten Kurzzeitpflegeplätzen kann regelmäßig im Abstand von höchstens zwei Jahren stattfinden, wenn durch die Pflegeeinrichtung ein hohes Qualitätsniveau sichergestellt wird. Die Feststellung, ob ein hohes Qualitätsniveau sichergestellt ist, soll von den Landesverbänden der Pflegekassen auf der Grundlage der durch die Datenauswertungsstelle nach § 113 Abs. 1b Satz 3 SGB XI übermittelten Daten (Abs. 3) und der Ergebnisse der nach § 114 SGB XI durchgeführten Qualitätsprüfungen (Abs. 4) erfolgen.
- Die Kriterien für die Feststellung eines hohen Qualitätsniveaus aufgrund der nach § 113 Abs. 1b SGB XI übermittelten Daten sowie aufgrund der Ergebnisse der nach § 114 SGB XI durchgeführten Qualitätsprüfungen werden auf empirischer Grundlage bis zum 31.10.2020 festgelegt (Anlage 1).
- Die Landesverbände der Pflegekassen sollen vor der Auftragsvergabe an die jeweilige Prüfinstitution prüfen, ob die Voraussetzungen für eine Verlängerung des Prüfrhythmus vorliegen.
Kommentar
Innerhalb von Punkt 5 wird nicht dargestellt, ob die Einrichtungen Kenntnis über eine ggf. erfolgte Verlängerung erhalten. Aus Sicht der in der BAGFW kooperierenden Verbände sollten die Einrichtungen als wesentlich beteiligter Akteur aber entsprechend informiert werden. Wir schlagen deshalb die Aufnahme eines zusätzlichen Abschnitts nach Abs. (4) vor:
„(5) Bei Vorliegen der Voraussetzungen für eine Verlängerung des Prüfrhythmus informieren die Landesverbände der Pflegekassen mit der Übermittlung des Qualitätsprüfberichts die jeweilige Einrichtung über die Verlängerung.“
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Voraussetzung für den regelhaften Austausch von medizinischen und pflegerischen Informationen zwischen Pflegeeinrichtungen und Vertragsärzten ist der unverzügliche Anschluss der Pflegeeinrichtungen an die TI. Diese Möglichkeit wird durch das Digitale-Versorgungs-Gesetz (DGV) nun eröffnet. Dort wurde auch der Forderung der BAGFW, dass die Kosten für den Anschluss der Pflegeeinrichtungen an die TI entsprechend der Regelungen zur Finanzierungsvereinbarung nach § 291a Absatz 7b für die Vertragsärzte aus dem SGB XI bzw. SGB V refinanziert werden müssen, Rechnung getragen.
Zur Vereinbarung im Einzelnen nehmen die in der BAGFW zusammengeschlossenen Verbände wie folgt Stellung:
§ 8 Anforderungen an den Datenaustausch
§ 8 Absatz 1
Es ist positiv zu bewerten, dass sich die Vereinbarung zu § 119b Absatz 2 SGB V nicht nur auf die stationären Pflegeeinrichtungen (einschließlich der teilstationären Pflegeeinrichtungen) bezieht, sondern auch die Möglichkeit eröffnet, ambulante Pflegeeinrichtungen einzubeziehen. Dies sieht § 119b Absatz 2a Satz 2 SGB V ausdrücklich vor. Aus Sicht der BAGFW sollten auch die Krankenhäuser, die Apotheken sowie die Heil- und Hilfsmittelerbringer in die Vereinbarung einbezogen werden, um durch Datenaustausch an diesen weiteren Schnittstellen eine lückenlose Versorgungskette gewährleisten zu können. Es macht keinen Sinn, Anforderungen an die Informations- und Kommunikationstechnik, welche die Kriterien der semantischen und syntaktischen Interoperabilität erfüllen sollen, isoliert für die stationären Pflegeeinrichtungen zu entwickeln.
Änderungsbedarf:
Keiner
§ 8 Absatz 2
Da die Pflegeeinrichtungen noch nicht an die Telematikinfrastruktur angeschlossen sind, ist es erforderlich, eine Übergangsregelung für eine sichere Ende-zu-Ende-Verschlüsselung zu schaffen, wie in Absatz 2 vorgesehen, um die Vertraulichkeit, Integrität und Authentizität der Daten sicherzustellen.
§ 8 Absatz 2 Satz 2 sieht vor, dass Standards für die Signierung des zu übertragenden Informationsobjektes, die an anderer Stelle getroffen wurden, einzuhalten. Zentrale Voraussetzung für die Nutzung einer gemeinsamen Informations- und Kommunikationstechnik ist die Identifikation der am Datenaustausch Beteiligten über den elektronischen Heilberufeausweis (eHBA). Die BAGFW weist darauf hin, dass Pflegekräfte immer noch keinen Zugang zum eHBA haben. Authentifizierungsmöglichkeiten der Pflegekräfte sind jedoch die Voraussetzung für die Nutzung digitaler Anwendungen in Pflegeeinrichtungen. Es bedarf daher eines schnellen Abschlusses des Staatsvertrags zum eHBA. Neben der Identifikation der einzelnen Pflegekräfte bedarf es ergänzend eines institutionsgebundenen Zugangs über IKT-Nummern. Technisch muss der Anschluss der Pflegeeinrichtungen über Konnektoren und mobile Endgeräte erfolgen. Dies ist erforderlich, um die lückenlose Versorgungskette Ärzte-Patienten-Pflegeeinrichtungen-weitere an der Versorgung beteiligte Einrichtungen (Apotheken, Heilmittelerbringer, Hilfsmittelerbringer, Krankenhäuser etc.) zu gewährleisten, sofern die/der Patient/in die Daten für die Übermittlung für den jeweiligen Leistungserbringer freigibt.
Neben der Schaffung dieser zentralen technischen Voraussetzungen muss es aus Sicht der BAGFW Ziel sein, eine gemeinsame Semantik für den strukturierten Austausch von medizinischen und pflegerischen Informationen zwischen Vertragsärzten und Pflegeeinrichtungen nach § 291b Abs. 1 Satz 7ff. SGB V zu entwickeln und IT-Insellösungen zu vermeiden. Dies ist zu unterstreichen, auch vor dem Hintergrund, dass nach § 119b Absatz 2a nicht nur die stationären Pflegeeinrichtungen, sondern zu Recht auch die ambulanten Pflegeeinrichtungen, Krankenhäuser, Apotheken und andere therapeutische Berufsgruppen in die Informations- und Kommunikationstechnik perspektivisch eingebunden werden können und aus Sicht der BAGFW auch sollten.
Änderungsbedarf:
Keiner
§ 8 Absatz 3
Es ist zu begrüßen, dass Absatz 3 hervorhebt, dass für die Übertragung der standardisierten medizinischen Informationen (MIOs) die Festlegungen der Gesellschaft für Telematik und der KBV zur Gewährleistung der semantischen und syntaktischen Interoperabilität einzuhalten sind. Eine gemeinsame Prozess-Steuerung von Ärzten und Pflegeeinrichtungen mit Blick auf Austausch von Diagnosen und gesundheitsrelevanten Ereignissen erfordert eine gemeinsame Semantik für die Übertragung der standardisierten medizinischen Informationsobjekte (MIOs). § 291b Absatz 1 Satz 7 SGB V sieht vor, dass die KBV die Festlegungen für die Inhalte der ePA im Benehmen mit den betroffenen Spitzenorganisationen – u.a. den maßgeblichen Bundesverbänden der Pflege – zu treffen hat, um deren semantische und syntaktische Interoperabilität zu gewährleisten. Wir weisen darauf hin, dass die mit dieser Vereinbarung vorzusehenden Anforderungen an die Informations- und Kommunikationstechnik für die koordinierte ärztliche und pflegerische Versorgung in stationären Pflegeeinrichtungen in diesen Prozess integriert werden muss. Der Aufbau einer Parallelstruktur nur für die Anwendungen nach § 119b SGB V ist nicht sinnvoll.
Des Weiteren sollten in Absatz 3 konkrete medizinische Informationsobjekte für den Datenaustausch genannt werden. Die Anwendungsbereiche sollten in dem in § 125 SGB XI im Digital-Versorgungs-Gesetz vorgesehenen Modellvorhaben zur Einbindung der Pflegeeinrichtungen in die Telematik-Infrastruktur erprobt werden. Die Gesetzesbegründung zu § 125 SGB XI sieht vor, dass das Modellprogramm die notwendigen Grundlagen für bundesweite Vereinbarungen und Standardisierungen schaffen soll. Ausdrücklich erwähnt werden in diesem Zusammenhang Fragen der technischen und semantischen Interoperabilität, die Vereinbarungen zu Standards des Informationsaustausches betreffen.
Änderungsbedarf:
In Absatz 3 soll der Punkt durch einen Doppelpunkt ersetzt werden und wie folgt ergänzt werden:
• E-Verordnungen
• E-Rezept
• E-Medikationsplan
• Notfalldatensatz einschließlich Daten zu Patientenverfügungen und Patientenvollmachten
• E-Arztbrief
• Labordaten
• E-Entlass- und Überleitungsmanagement (digitale Überleitungsbogen) aus dem Krankenhaus
• Daten zur Gesundheitlichen Vorausplanung nach § 132g SGB V
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Zu den vorgeschlagenen Änderungen nimmt die BAGFW im Einzelnen wie folgt Stellung:
Zu Artikel 1
Änderung des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch
Zu Ziffer 2
§ 41 SGB XII
Die BAGFW begrüßt, dass mit der geplanten Änderung nun klargestellt ist, dass auch Menschen, die den Eingangs- und Berufsbildungsbereich in einer WfbM bzw. bei einem anderen Leistungsanbieter durchlaufen, Anspruch auf Leistungen der Grundsicherung bei Erwerbsminderung haben, ohne dass die dauerhafte Erwerbsminderung geprüft werden müsste. Menschen, die während der Zeit, in der sie eine betriebliche Ausbildung durchlaufen, ein Budget für Ausbildung in Anspruch nehmen, werden diesem Personenkreis gleichgestellt, was sachgerecht ist, da das Budget für Ausbildung eine Alternative zur beruflichen Bildung im Berufsbildungsbereich einer WfbM darstellt.
Zu Ziffern 3 und 4
§§ 43, 94 SGB XII in Verbindung mit § 138 SGB IX sowie § 94 Abs. 2 SGB IX
Die BAGFW bewertet die vorgesehenen Änderungen der §§ 43 und 94 SGB XII in Verbindung mit § 138 SGB IX als sehr positiv, da diese Regelungen einen deutlichen Beitrag zur Entlastung der Angehörigen darstellen, indem die Freigrenze von 100.000 Euro für das Jahresbruttoeinkommen nun für alle Leistungen des SGB XII gilt und auch der Beitrag von 32,08 Euro von Eltern volljähriger Menschen mit Behinderungen zu Leistungen der Eingliederungshilfe nach § 138 Absatz 4 SGB IX aus Gründen der Gleichbehandlung entfällt.
Wegen des Wegfalls des sechsten Kapitels des SGB XII zum 01.01.2020 und des Inkrafttretens der Vorschriften des zweiten Teils des SGB IX ist § 94 Abs. 2 Satz 1 SGB IX zum 01.01.2020 wie folgt redaktionell anzupassen: „§ 53“ wird durch „§ 99 SGB IX“ ersetzt. Die Worte „dem Sechsten und“ sind zu streichen.
Zu Ziffer 5
§ 140 SGB XII
Der neue § 140 SGB XII schließt die sog. „Rentenlücke“, die einmalig bei der Systemüberleitung im Januar 2020 bei Menschen entsteht, die in bisherigen stationären Einrichtungen leben (ab 01.01.2020 in besonderen Wohnformen). Damit wird der Verwaltungsaufwand gemindert und der Systemübergang für die betroffenen Menschen einfacher gestaltet.
Zu Artikel 2
Änderung des Neunten Buches Sozialgesetzbuch
Zu Ziffer 2 b)
§ 32 Absatz 6 (neu) SGB IX
Die vorgeschlagene Entfristung der EUTB wird von den Spitzenverbänden der Freien Wohlfahrtspflege als wichtiger Schritt auf dem Weg zur Etablierung einer qualitativ hochwertigen Beratungslandschaft für Menschen mit Behinderungen bewertet, die die Betroffenen im gegliederten System der sozialen Sicherung dauerhaft und nachhaltig unterstützen kann. Wir begrüßen die Aufstockung der Fördersumme von gegenwärtig 58 Mio. Euro jährlich auf 65 Mio. ab dem Jahr 2023, geben allerdings zu bedenken, dass für eine flächendeckende Beratungsinfrastruktur eine höhere Fördersumme erforderlich ist. Um eine zukunftsfähige unabhängige Teilhabeberatung zu etablieren, sollte der Gesetzentwurf auch eine Dynamisierung entsprechend der zu erwartenden Steigerungen bei den Personal- und Sachkosten vorsehen.
Zu Ziffer 3
§ 60 Absatz 2 c) Nr. 8 (neu) SGB IX
Dieser Passus stellt klar, dass der Personalschlüssel anderer Leistungsanbieter sich am Bedarf der Leistungsberechtigten orientieren muss. Da § 9 Abs. 3 WVO oft dahingehend missverstanden wird, dass der hier normierte Personalschlüssel für alle Werkstätten verbindlich sei, ist dieser Klarstellung ein guter Schritt. Allerdings wird diese Öffnung durch die Vorgabe, dies sei nur bei Leistungen anderer Leistungsanbieter möglich, sofern diese ihre Leistungen ausschließlich in betrieblicher Form erbringen, durch den Gesetzgeber dann wieder eingeschränkt.
Die BAGFW hält es nicht für ausreichend, diese Klarstellung nur für die anderen Leistungsanbieter in betrieblicher Form vorzunehmen. Vielmehr sollte auf gesetzlicher Ebene – und nicht nur auf Ebene der Werkstätten-Verordnung – ausdrücklich geregelt werden, dass der Personaleinsatz bei der Teilhabe am Arbeitsleben sich stets am Bedarf der Leistungsberechtigten zu orientieren hat.
Zu Ziffer 4
§ 61 Budget für Ausbildung (neu)
Zu Absatz 1 (neu)
Mit dem vorgelegten Gesetzentwurf führt die Bundesregierung ein Budget für Ausbildung ein. Dafür haben sich die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege seit langem eingesetzt. Allerdings setzt der Gesetzgeber im Regelungsentwurf die Hürden so hoch, dass die Gefahr besteht, dass dieses Instrument nur wenigen Menschen mit Behinderungen offen stehen wird: Voraussetzung ist ein sozialversicherungspflichtiges Ausbildungsverhältnis in einem anerkannten Ausbildungsberuf oder einem Ausbildungsgang nach § 66 des Berufsbildungsgesetzes oder § 42m der Handwerksordnung. Diese Voraussetzung führt dazu, dass das Budget für Ausbildung nur für leistungsstärkere Menschen mit Behinderungen in Frage kommt, die ohnehin schon Chancen auf eine Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt haben.
Die BAGFW lehnt diese hohen Zugangshürden ab und fordert stattdessen ein niedrigschwelliges Budget für Ausbildung/berufliche Bildung (und auch für Arbeit), das allen Menschen mit Behinderungen einen Zugang zu Ausbildung/beruflicher Bildung auch unabhängig von der WfbM ermöglicht.
Ein in diesem Sinne definiertes Budget für Ausbildung/berufliche Bildung wird unter Punkt II. „Wesentlicher Inhalt des Entwurfes“ S. 19 unten aufgegriffen, indem auf die Möglichkeit der Teilnahme an der beruflichen Bildung bei einem anderen Leistungsanbieter im Rahmen eines betrieblichen Angebotes hingewiesen wird. Diese Möglichkeit ist jedoch bisher nicht unter § 61a abgebildet. § 61a Absatz 1 ist aus Sicht der BAGFW entsprechend zu ergänzen:
Vorschlag:
Ein Budget für Ausbildung/berufliche Bildung erhalten auch nach § 57 anspruchsberechtigte Menschen mit Behinderungen, die (noch) keine reguläre Ausbildung absolvieren können und nach der Schule nicht in eine WfbM wechseln möchten, als Leistungen der beruflichen Bildung im Rahmen betrieblicher Angebote.
Die BAGFW regt an, dem Vorschlag der Länder in der Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Neunten und des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch und anderer Rechtsvorschriften (Drucksache 196/19 Beschluss) zu folgen und das Budget für Ausbildung auch für einen nach Landesrecht geregelten anerkannten (dualen) Ausbildungsgang oder für andere Tätigkeiten und Maßnahmen zur beruflichen Qualifizierung (z. B. Teilqualifizierungen) in privaten oder öffentlichen Betrieben oder in Dienststellen zu ermöglichen.
Zu Absatz 2 (neu)
Der Regelungsvorschlag zur finanziellen Ausstattung des Budgets für Ausbildung orientiert sich am Budget für Arbeit nach § 60 SGB IX und ist grundsätzlich zu begrüßen.
Allerdings sollte Absatz 2 unmissverständlich einen Anspruch auf individuell bedarfsgerechte Leistungen zur Anleitung und Begleitung am Ausbildungsplatz beschreiben.
Daher ist er, wie beim Budget für Arbeit (§ 61 Abs. 2 SGB IX), um den folgenden Satz zu ergänzen: „Dauer und Umfang der Leistungen bestimmen sich nach den Umständen des Einzelfalls.“
Die BAGFW weist in diesem Zusammenhang noch einmal darauf hin, dass ihrer Auffassung nach für die Leistungen „Anleitung und Begleitung am Arbeitsplatz“ und „Anleitung und Begleitung am Ausbildungsplatz“ die Entwicklung und Etablierung bundeseinheitlicher Qualitätsstandards erforderlich ist und bietet hierbei ihre Unterstützung an.
Zu Absatz 3 (neu)
Die Inanspruchnahme von Leistungen zur Anleitung und Begleitung im Rahmen des Budgets für Ausbildung kann – so der Referentenentwurf – auch von mehreren Leistungsberechtigten gemeinsam erfolgen. Dies sollte nach Auffassung der BAGFW ausschließlich unter dem Vorbehalt der individuellen Bedarfsdeckung und vor allem der Zustimmung durch die Leistungsberechtigten erfolgen.
Zu Absatz 4 (neu)
Die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege begrüßen, dass die Leistungsträger in die Pflicht genommen werden, Menschen mit Behinderungen bei der Suche nach einem geeigneten Ausbildungsplatz zu unterstützen.
Zu Ziffer 6
§§ 94 Abs. 2 und 138 Abs. 4 SGB IX
Siehe die obigen Ausführungen zu Artikel 1, Ziffern 3 und 4.
Zu Ziffer 7
§ 142 Absatz 3 SGB IX
Die BAGFW unterstützt, dass § 142 Abs. 3 SGB IX aufgehoben wird.
Zu Ziffer 8
§ 185 b) SGB IX
Die BAGFW bewertet die vorgeschlagene Regelung, nach der die Kosten für die notwendige Assistenz von den Integrationsämtern zu übernehmen sind ausdrücklich als positiv und regt an, perspektivisch eine veränderte Verteilung der Ausgleichsabgabe zwischen Bund und Ländern auszuloten.
Zu Artikel 3
Änderung des Bundesversorgungsgesetzes
Grundsätzlich wird von den Spitzenverbänden der Freien Wohlfahrtspflege die Vermutung unterstützt, dass das Gesamteinkommen der unterhaltsverpflichteten Person unter 100.000 € liegt. Da dies eine Folgeänderung ist, muss § 27 Abs. 2 BVG wie § 94 Abs. 2 SGB XII angepasst werden (siehe Artikel 1 zu Ziffern 3 und 4).
]]>Auch wenn zu begrüßen ist, dass im Asylgesetz nunmehr eine Regelung zur Asylverfahrensberatung verankert werden soll, ist der vorliegende Änderungsantrag der Fraktionen von CDU/CSU und SPD zu einem § 12a AsylG nicht geeignet, eine flächendeckende und behördenunabhängige Asylverfahrensberatung zu gewährleisten. Denn zum einen ist durch diese Norm nicht garantiert, dass Asylsuchende tatsächlich vor Ort Zugang zu einer behördenunabhängigen Beratungsstelle haben. Zum anderen muss abweichend von der jetzt vorliegenden Gesetzesbegründung sichergestellt werden, dass entsprechende finanzielle Mittel, insbesondere für Personalkosten, bereitgestellt werden.
Bereits im November 2017 haben die in der BAGFW zusammengeschlossenen Verbände in ihrer Positionierung zur unabhängigen Asylverfahrensberatung die notwendigen Rahmenbedingungen dargelegt:
- bundesweiter Zugang aller Schutzsuchenden zu unentgeltlicher, unabhängiger Asylverfahrensberatung vor und während des Asylverfahrens,
- stabile Bundesfinanzierung für die Asylverfahrensberatung, die nicht nur ausreichende Beratungskapazitäten, sondern auch Sprachmittlung und juristische Anleitung nach den Vorschriften des Rechtsdienstleistungsgesetzes umfasst, sowie
- angemessene zeitliche Rahmenbedingungen für die Asylverfahrensberatung, insbesondere ein ausreichendes Zeitfenster für die Beratung vor der Asylantragsstellung.
In diese Positionierung sind die Erfahrungen aus dem Pilotprojekt „Asylverfahrensberatung“ eingeflossen, welches im Frühjahr 2017 durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) in Kooperation mit der Diakonie Deutschland, dem Deutschen Caritasverband und dem Deutschen Roten Kreuz in drei Ankunftszentren durchgeführt wurde. Ziel des Pilotprojektes war es, die Rechtsstaatlichkeit und Fairness sowie die Qualität und Effizienz des Asylverfahrens durch eine unabhängige, unentgeltliche und fachlich qualifizierte individuelle Asylverfahrensberatung zu verbessern. Die Evaluation des Pilotprojektes liegt dem BMI vor und ist bisher nicht veröffentlicht.
In der Evaluation durch das BAMF und dem UNHCR wird festgestellt, dass ein hoher Informations- und Beratungsbedarf seitens der Asylsuchenden besteht. Asylverfahrensberatung trägt dazu bei, dass Asylsuchende die einzelnen Schritte des Behördenverfahrens und deren Bedeutung bezogen auf ihren konkreten Fall kennen, ihre Rechte besser verstehen und ihren Pflichten besser nachkommen können. Sie kann zu einem effektiveren Sachvortrag bezogen auf das individuelle Verfolgungsschicksal und folglich zu einer besseren Aufklärung des Sachverhalts in der Anhörung beitragen. Die Verfahrensberatung als Rechtsberatung hilft damit, einen effektiven Zugang zu den Verfahrensgarantien eines fairen Asylverfahrens sowie zum Rechtsschutz zu gewährleisten. Zudem kann sie bei der Identifizierung besonderer Bedarfe im Hinblick auf eine besondere Schutzbedürftigkeit unterstützen. Die Asylverfahrensberatung fördert somit die Qualität der getroffenen behördlichen Entscheidung und entlastet auch die Verwaltungsgerichte.
Trotz dieser Erkenntnis wird seit August 2018 ein weiteres Pilotprojekt „Asylverfahrensberatung“ durch das BAMF umgesetzt, in dem Mitarbeitende des BAMF allgemeine Informationen zum Asylverfahren vermitteln, jedoch keine Beratung in Bezug auf die individuellen Verfolgungsgründe und explizit keine Rechtsberatung anbieten. Aus Sicht der Verbände entspricht dieses Projekt weder der Asylverfahrensberatung, wie sie seit langem durch die Verbände angeboten wird, noch den Grundideen des oben erwähnten positiv evaluierten Pilotprojektes.
Grundlage für die gesetzliche Regelung ist jedoch dieses bisher nicht evaluierte Projekt geworden. Aus Sicht der Verbände kann die allgemeine Information zum Asylverfahren - wie im Gesetzentwurf (Stufe 1) dargestellt - durch das Bundesamt durchgeführt werden. Anders verhält es sich mit der individuellen Asylverfahrensberatung (Stufe 2).
Asylsuchende benötigen eine individuelle Beratung, die auch rechtliche Fragen einschließt, um beispielsweise absehen zu können, ob ein Asylantrag angesichts der gesetzlichen Vorgaben in ihrem konkreten Fall aussichtsreich ist und welche Informationen im Rahmen der Anhörung von besonderer Relevanz sind. Weiterhin zeigt die Beratungspraxis, dass es für Schutzsuchende wichtig ist, Informationen nicht allein von Behörden zu erhalten, da viele Menschen im Herkunftsstaat negative Erfahrungen mit staatlichen Stellen machen mussten. Vertrauen in die Unabhängigkeit der Beratung ist zum einen wichtig, um individuelle Fluchtgründe vollständig und nachvollziehbar darlegen zu können. Zum anderen dient das Vertrauen in die Beratung dem Verständnis und der Akzeptanz der eventuell negativen Entscheidung über den Asylantrag.
Es bedarf mithin einer klar erkennbar personellen, institutionellen und räumlichen Trennung der unabhängigen Asylverfahrensberatung von behördlichen Stellen.
In diesem Sinne bitten wir Sie, dafür zu sorgen, dass entsprechend der Verabredung im Koalitionsvertrag eine flächendeckende, individuelle und von Behörden unabhängige Asylverfahrensberatung durch freie gemeinnützige, unabhängige Träger (im Gesetzentwurf Stufe 2) im Asylgesetz verankert und umgesetzt wird.
Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege e. V. (BAGFW) begrüßt, dass das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) die partnerschaftliche Einbeziehung der Wohlfahrtsverbände im Rahmen des Europäischen Semesters kontinuierlich fortsetzt. Gerne nutzt die BAGFW die Gelegenheit für eine gemeinsame Stellungnahme zum vorgelegten Entwurf des Nationalen Reformprogramms 2019 (NRP).
Kommentierte Kapitel
Die Kommentierung konzentriert sich auf die nachfolgenden Bereiche des NRP 2019:
· Abschnitt II: Maßnahmen zur Bewältigung wesentlicher gesamtwirtschaftlicher Herausforderungen
o A. Öffentliche Investitionen auf allen Ebenen stärken: Investitionen in Europa stärken
· Abschnitt III: EU-2020 Kernziele
o A. Beschäftigung fördern
o E. Soziale Eingliederung vor allem durch die Verringerung von Armut fördern
Abschnitt II „Maßnahmen zur Bewältigung wesentlicher gesamtwirtschaftlicher Herausforderungen“
1. „II.A. Öffentliche Investitionen auf allen Ebenen stärken: Investitionen in Europa stärken“
Die BAGFW teilt die positive Einschätzung der Bundesregierung zum Vorschlag der Europäischen Kommission für den Mehrjährigen Finanzrahmen (MFR) der EU für die Jahre 2021 bis 2027. Es ist wichtig, die Zusage aus dem Koalitionsvertrag aufzugreifen, dass Deutschland zu höheren Beiträgen zum Haushalt bereit ist, um dem gewachsenen Aufgabenspektrum der EU gerecht zu werden.
Ziff. 38: Umsetzung der Europäischen Kohäsions- und Strukturpolitik
· In der aktuellen Förderperiode (2014-2020) werden auf der Grundlage der Partnerschaftsvereinbarung aus 2014 Operationelle Programme (OP´s) in Bund und Ländern umgesetzt. Dabei wird von Seiten der BAGFW die partnerschaftliche Umsetzung des Europäischen Sozialfonds (ESF) und des Europäischen Hilfsfonds für die am stärksten Benachteiligten (EHAP) auf der Bundesebene als sehr positiv angesehen.
· Die adressierten Investitionsprioritäten im ESF Bund werden aus Sicht der BAGFW gut umgesetzt. Leider hemmen derzeit zuwendungsrechtliche Auslegungen (Umgang mit Pauschalen) und die schwierige Zusammenarbeit mit der zuständigen Bewilligungsbehörde den Mittelfluss in den bewilligten Projekten und führen zu Problemen bei der Projektumsetzung.
Ziff. 39: Rechtlicher Rahmen der Europäischen Kohäsions- und Strukturfonds für die
Förderperiode 2021-2027
· Die BAGFW begrüßt den Vorschlag der Europäischen Kommission zum ESF+. Die im MFR vorgesehene Finanzausstattung für den ESF+ darf jedoch nicht weiter abgesenkt werden, damit sichergestellt ist, dass weiterhin alle Regionen Europas darüber gefördert werden können.
· Der Vorschlag der Europäischen Kommission zum ESF+ sieht vor, mindestens 25 Prozent der Mittel für soziale Inklusion zu verwenden. Die Bundesregierung sollte dieser Vorgabe in ihrer Prioritätensetzung Rechnung tragen, um die Einbindung sozial benachteiligter Gruppen über ESF+ Mittel als Fokus für die Umsetzung von Maßnahmen zu setzen.
· Die Stärkung des Partnerschaftsprinzips durch die verbindliche Einführung des Verhaltenskodex für gute Partnerschaft in der den Kohäsions- und Strukturfonds übergeordneten Verordnung (Dachverordnung) wird seitens der BAGFW sehr positiv gewertet. Eine Bezugnahme der Bundesregierung auf die gestärkte Kooperation in der Umsetzung der Kohäsions- und Strukturfonds, sowie für den Asyl- und Migrationsfonds (AMF) wäre wünschenswert. Dabei sollte auch die Umsetzung der besonders erfolgreichen Partnerschaftsprogramme im ESF (rückenwind und Sozialpartnerrichtlinie) aufgegriffen werden, die ein hervorragendes Beispiel für gelungene partnerschaftliche Zusammenarbeit bei der Umsetzung der Strukturfonds sind.
· Die vorgeschlagenen Interventionssätze der Kommission sind nicht ausreichend und verhindern insbesondere die Umsetzung der EU-Strukturfonds in den stark entwickelten Regionen und des jetzigen EHAP. Die Bundesregierung muss eine Erhöhung der Finanzierungssätze sicherstellen oder in Ausgleichsleistungen gehen.
· Die vorgeschlagenen Verwaltungsvereinfachungen in den EU-Strukturfonds werden von der BAGFW begrüßt. Dabei sollte von Seiten der Bundesregierung sichergestellt werden, dass diese Vorschläge nicht durch nationale zuwendungsrechtliche Bedenken konterkariert werden.[1]
· Die vorgelegte Indikatorik im ESF+ ist immer noch zu bürokratisch und sollte sich den Erfordernissen der OP’s anpassen: Beschränkung auf die notwendigen Daten bei der Teilnehmenden-Erfassung und wo erforderlich, anonym.
· Für die BAGFW ist die Umsetzung der Europäischen Säule sozialer Rechte (Politisches Ziel 4, Annex D des Länderberichts) durch die Strukturfonds zentral. Dabei sollen die Maßnahmen, die derzeit durch den EHAP gefördert werden auch durch den ESF+ fortgesetzt werden können.
· Die BAGFW unterstützt zudem die im Politischem Ziel 1 (Ein intelligenteres Europa) formulierte Empfehlung, die Strukturfonds auch zur Nutzung von Synergien und gemeinsamen Projekten zwischen verschiedenen Bundesländern, anderen europäischen Regionen und Mitgliedsländern zu nutzen, um den europäischen Mehrwert auch in den Strukturfonds noch sichtbarer zu machen.
Abschnitt III „Europa-2020 Kernziele: Erzielte Fortschritte und Maßnahmen“
1. „III.A. Beschäftigung fördern“
Rahmenbedingungen für Erwerbsbeteiligung verbessern
Ziff. 84: Qualität in der Kinderbetreuung
· Für das „Gesetz zur Weiterentwicklung der Qualität in der Kindertagesbetreuung“ kritisiert die BAGFW, dass es sich durch die zeitliche Befristung des Gesetzes lediglich um kurzfristig finanzierte, projektbasierte Maßnahmen der Länder bis 2022 handelt. Nach Auffassung der BAGFW ist durch die Befristung der Finanzierungszusage eine mittel- beziehungsweise langfristige Weiterentwicklung und Sicherung der Qualität in der Kindertagesbetreuung nicht gewährleistet. Hierfür notwendig wäre eine verbindliche gesetzliche Regelung zweckgebundener Bundesmittel, die dem Ausbau der Qualität der Kindertagesbetreuung dient.
· Das Gesetz ermöglicht den Bundesländern die Verwendung der Mittel zur Entlastung der Eltern von Gebühren. Dies ist zwar eine begrüßenswerte familienpolitische Maßnahme, die aber hier eindeutig auf Kosten möglicher Qualitätsentwicklung in den Einrichtungen geht.
Fachkräftesituation verbessern
Ziff. 87: Fachkräftegewinnung im Bereich Pflege und Gesundheit
· Die Fachkräfteengpässe stellen die Trägereinrichtungen insbesondere im Bereich der Pflege vor große Herausforderungen. Die Anwerbung von Fachkräften aus dem Ausland kann ein Baustein sein, um dem Fachkräftemangel in der Pflege zu begegnen. Hier liegt es bei den politischen Akteuren auf Bundes- und Landesebene günstige Rahmenbedingungen zu schaffen.
· Nötig sind entsprechende Ausbildungs- und Weiterbildungsmöglichkeiten und Erleichterungen für die Anerkennung von im Ausland erworbenen Qualifikationen. Voraussetzung ist jedoch, dass das Anwerben unter fairen Bedingungen stattfindet.
Ziff. 91: Teilhabechancengesetz
Die BAGFW begrüßt ausdrücklich die Schaffung des Regelinstruments „Teilhabe am Arbeitsmarkt“ zu längerfristig angelegten Förderung von Menschen, die schon lange ohne Arbeit sind. Damit ergeben sich neue Chancen auf eine Beteiligung am Erwerbsleben, verbesserte soziale Teilhabe und eine Reintegration in ungeförderte Erwerbstätigkeit.
· Der Gesetzgeber hat es aber versäumt, die notwendige Förderung langfristig als Regelinstrument zu verankern. Das neue Instrument ist befristet. Es tritt zum 01.01.2025 außer Kraft.
· Die Fördervoraussetzungen für das neue Instrument sind so eng gefasst
( grundsätzliche Fördervoraussetzung von sechs Jahren Leistungsbezug nach dem SGB II ohne nennenswerte Beschäftigung im Siebenjahreszeitraum, keine Berücksichtigung entsprechender Zeiten etwa im SGB XII, AsylbLG), dass eine große Zahl von Langzeitarbeitslosen ohne Angebot bleiben werden.
· Nach Auffassung der Verbände der BAGFW kann die Beschäftigung im sozialen Arbeitsmarkt nur auf freiwilliger Basis erfolgen. Es wird daher kritisch bewertet, dass interessierte Leistungsberechtigte bei Maßnahmenantritt mit einer doppelten Sanktionsandrohung (hinsichtlich des Antritts des Arbeitsverhältnisses und Aufrechterhaltung desselben sowie hinsichtlich des verpflichtenden beschäftigungsbegleitenden Coachings) konfrontiert werden.[2]
Ziff: 92/93: Fachkräftezuwanderung aus EU- und Drittstaaten
Die BAGFW begrüßt das Vorhaben des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes der Bundesregierung, das die Erwerbsmigration von qualifizierten Fachkräften aus Drittstaaten bedarfsorientiert zulassen will.
· Insbesondere im Bereich der Einreise zu Ausbildungs- und Qualifizierungszwecken sieht die BAGFW deutlichen Verbesserungsbedarf. Es bedarf klarer Regelungen im Aufenthaltsrecht, die mit der Lebenswirklichkeit übereinstimmen. Zu hohe Anforderungen an Auszubildende bezüglich der Lebensunterhaltssicherung werden eine Anwerbung von Nachwuchskräften erschweren.
· Mit Bedauern ist festzustellen, dass das Gesetzesvorhaben der im Koalitionsvertrag angekündigten Aufhebung einer Vorrangprüfung nicht nachkommt. Diese Maßnahmen sind notwendig, um den Bedarfen des deutschen Arbeitsmarktes gerecht zu werden.
Ziff. 96: Fachkräftebedarf im Pflegebereich
Die Bundesregierung will dem steigenden Bedarf an Pflegepersonal durch verschiedene Initiativen begegnen. Daher begrüßt die BAGFW die breite Einbindung der Wohlfahrts- und Sozialverbände in der Entwicklung konkreter Maßnahmen durch die „Konzertierte Aktion Pflege“.
· Im NRP-Entwurf fehlt eine Bezugnahme auf das Pflegeberufegesetz, das verbesserte Rahmenbedingungen und eine Aufwertung der Pflegeausbildung zum Ziel hat. Um eine qualifizierte Umsetzung des Pflegeberufegesetzes zu ermöglichen bedarf es jedoch einer Anschubfinanzierung der Pflegeschulen. Das gleiche gilt für die Investitions- und Mietkosten, die nicht aus den Ausbildungsfonds finanziert werden können.
· Das Pflegepersonal-Stärkungsgesetz bietet gute Ansätze für eine Verbesserung der Fachkräftesituation, indem es die Pflegekräfte selbst in den Fokus nimmt. Allerdings sind die vorgesehenen Maßnahmen nicht ausreichend, um der Versorgungs- und Betreuungssituation von Menschen mit Pflegebedarf heute und in Zukunft wirklich gerecht zu werden. Hierzu fehlt es an einem umfassenden Konzept, das Rahmenbedingungen für gute Arbeit, eine bessere Bezahlung der Pflegekräfte und mehr Zeit für Pflege und Betreuung sichert.
· Wir halten die Erhöhung des Beitragssatzes zur sozialen Pflegeversicherung für dringend erforderlich, um die Mehrausgaben zu finanzieren, die sich aus der Einführung des Neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs mit dem Zweiten Pflege-Stärkungsgesetz ergeben haben. Mit der Beitragsanpassung sollen jedoch nicht nur entstandene Defizite in der Pflegeversicherung ausgeglichen, sondern auch Kosten für im Koalitionsvertrag vereinbarte Maßnahmen auf eine sichere finanzielle Grundlage gestellt werden. Nach Einschätzung der BAGFW reicht die Anhebung des Beitragssatzes um 0,5 Prozentpunkte zum 01.01. 2019 dafür nicht aus.
III.E. „Soziale Eingliederung vor allem durch die Verringerung von Armut fördern“
Ziff. 160: Nutzung des ESF zur Reduzierung von Langzeitarbeitslosigkeit
· Die Bundesregierung und die Länder nutzen die Mittel des Europäischen Sozialfonds, um über verschiedene Programme Menschen nach langer Arbeitslosigkeit wieder in den Arbeitsmarkt zu integrieren und Übergangsangebote zu schaffen. In diesem Zusammenhang möchte die BAGFW darauf hinweisen, dass es sowohl für die Träger von ESF-Projekten als auch von den Teilnehmenden der Programme von enormer Wichtigkeit ist, dass es einen nahtlosen Übergang von der jetzigen in die nächste Förderperiode ab 2021 gibt. Hier müssen Wege gefunden werden, dass etablierte Strukturen, Programme und Angebote aufgrund der absehbaren Förderlücke nicht abbrechen und eine Weiterfinanzierung sichergestellt wird.
Ziff. 166: Kinderarmut bekämpfen
Es müssen zielgenaue, umfassende Lösungen zur Bekämpfung von Kinderarmut gefunden werden, um die Lebenssituation von Familien unbürokratisch und nachhaltig zu verbessern. Um dieses Ziel zu erreichen sollte perspektivisch eine Bündelung zentraler monetärer Leistungen zu einer existenzsichernden Grundsicherung für Kinder erfolgen.
· Die im Entwurf des Starke-Familien-Gesetzes vorgesehene Erhöhung des Kinderzuschlags bewertet die BAGFW als einen ersten Schritt in Richtung einer allgemeinen Kindergrundsicherung. Allerdings bleiben die Antragsverfahren zu kompliziert. Die geplanten Neuregelungen gehen nicht weit genug, um den besonderen Unterstützungsbedarfen von Familien mit kleinen Einkommen und insbesondere von Alleinerziehenden gerecht zu werden und einen besseren Zugang zu den Förderleistungen zu schaffen.
· Die BAGFW begrüßt auch, dass die Maßnahmen des Starke-Familien-Gesetzes auf eine verbesserte Bildungsteilhabe der von Armut betroffenen Kinder zielen. Allerdings sind auch hier die geplanten Leistungen viel zu niedrig bemessen.[3]
[1] <link europa veroeffentlichungen detail article eckpunkte-der-bagfw-zur-weiterentwicklung-des-eu-haushaltes-und-der-europaeischen-struktur-und-inv-1>Siehe BAGFW-Eckpunkte zur Zukunft der Europäischen Struktur- und Investitionsfonds
[2] Vgl. <link suche detailansicht-tt-news article stellungnahme-der-bagfw-zum-entwurf-eines-10-sgb-ii-aendg-teilhabechancengesetz-und-zu-einem>BAGFW-Stellungnahme zum Teilhabe-Chancen-Gesetz und zu einem sozialen Arbeitsmarkt
[3] Vgl. <link veroeffentlichungen stellungnahmenpositionen detail article stellungnahme-der-bagfw-zum-gesetzentwurf-der-bundesregierung-zum-starke-familien-gesetz-stafamg>BAGFW-Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetzes zur zielgenauen Stärkung von Familien
<link veroeffentlichungen stellungnahmenpositionen detail article stellungnahme-der-bagfw-zum-gesetzentwurf-der-bundesregierung-zum-starke-familien-gesetz-stafamg>und ihren Kindern durch die Neugestaltung des Kinderzuschlags und die Verbesserung der Leistungen für Bildung und Teilhabe (Starke-Familien-GesetzStaFamG)
]]>
Kurzzeitpflege kann in Situationen in Anspruch genommen werden, in denen eine Versorgung in der Häuslichkeit zeitweise nicht, noch nicht oder nicht im erforderlichen Umfang gewährleistet werden kann. Ziele der Leistung sind die Stabilisierung der Versorgungssituation, die Vermeidung eines vorzeitigen Einzuges in eine Pflegeeinrichtung sowie eine Unterstützung / Entlastung der pflegenden Angehörigen. Leistungen der Kurzzeitpflege kann in (solitären) Kurzzeitpflegeeinrichtungen und in stationären Pflegeeinrichtungen der Langzeitpflege als sog. eingestreute Kurzzeitpflegeplätze erbracht werden.
]]>Mit dem Gesetzentwurf sollen die Leistungen der Berufsausbildungsbeihilfe und des Ausbildungsgelds vereinfacht und der Verwaltungsaufwand reduziert werden. Diese Leistungen dienen der Sicherung des Lebensunterhalts von Auszubildenden während der Berufsausbildung oder einer berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahme. Sie verfolgen damit den gleichen Zweck wie die Leistungen des BAföG, das ebenfalls aktuell geändert wird. Beide Leistungssysteme sollen harmonisiert werden. Die Leistungen für Auszubildende mit Behinderung werden ebenfalls an das Leistungssystem des BAföG angepasst. Das Ausbildungsgeld wird strukturell vereinfacht.
Die BAGFW teilt das Anliegen, den Verwaltungsaufwand zu reduzieren und die Leistungen für Schüler/Innen, Auszubildende und Studierende im BAföG bzw. SGB III weitgehend zu harmonisieren. Die Wohlfahrtsverbände sehen es positiv, dass die aktuelle BAföG-Novelle (26. BAföG-ÄndG) höhere Bedarfssätze und Freibeträge vorsieht. Wünschenswert wäre jedoch eine regelhafte Dynamisierung der Bedarfssätze im BAföG und damit verknüpft im SGB III, um die kontinuierliche Steigerung der Lebenshaltungskosten realitätsgerecht abzubilden.
Grundsätzlich möchte die BAGFW einwenden, dass die Vorschläge zur BAföG-Novellierung eine unzureichende Anpassung der finanziellen Ausstattung von Fachschüler/innen und Studierenden darstellen. Die Anpassungen der Grundbedarfssätze des BAföG sind, den Daten der 21. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerkes folgend, nicht bedarfsdeckend und entsprechen in Bezug auf die gestiegenen Lebenshaltungskosten keiner – aus Sicht der BAGFW erforderlichen – realen Erhöhung. Auch die Anhebung der Wohnkostenpauschale ist unzureichend und reicht vielerorts nicht für die Deckung der Mietkosten aus, was eine freie Wahl des Ausbildungsstandortes unabhängig von der finanziellen Ausbildungssicherung beeinträchtigt. Insbesondere an der Schnittstelle zwischen SGB II und BAföG/BAB plädieren die Wohlfahrtsverbände dafür, die vorgelagerten Sicherungssysteme zu stärken und bedarfsgerecht auszubauen und nicht auf das SGB II verweisen zu müssen.
Im Einzelnen nimmt die BAGFW wie folgt Stellung:
1. Zuschuss bei Einstiegsqualifizierung (§ 54a SGB III neu)
Der Zuschuss, den Arbeitgeber für eine betriebliche Einstiegsqualifizierung bekommen, orientiert sich am monatlichen Bedarf für Schüler nach § 12 Abs. 1 Nr. 1 BAföG. Der Betrag wird in Folge der Erhöhung im BAföG auch im SGB III erhöht; von derzeit 231 Euro auf 243 Euro. Es wäre sinnvoller, statt eines Betrags an dieser Stelle mit der systematischen Verweisung auf die entsprechende BAföG-Norm zu arbeiten, so wie dies im Zuge des Gesetzes an vielen anderen Stellen im SGB III erfolgt. Die BAGFW regt an, auf § 12 Abs. 1 Nr. 1 BAföG zu verweisen, damit künftige Änderungen automatisch auch im SGB III wirksam werden.
2. Bedarf für Unterkunft für Auszubildende bzw. BvB-Teilnehmende außerhalb des Elternhauses (§§ 61, 62 SGB III neu)
Die Unterkunftsbedarfe für Auszubildende bzw. BvB-Teilnehmende außerhalb des Elternhauses werden als einheitliche Pauschale nach den Regelungen des BAföG gewährt. Künftig geschieht dies durch einen direkten Verweis auf die entsprechenden BAföG-Regelungen. Bisher konnte der Pauschal-Grundbetrag bedarfsabhängig bis zur Höhe des einheitlichen Pauschalbetrags nach dem BAföG aufgestockt werden.
Eine Harmonisierung der Förderleistungen für Menschen in Ausbildung bzw. Studium ist zwar sinnvoll. Und es ist grundsätzlich positiv zu sehen, dass im Zuge der aktuellen BAföG-Novelle (26. BAföG-ÄndG) die Wohnpauschale deutlich erhöht (von aktuell 250 Euro auf 325 Euro monatlich) werden soll. Allerdings wird mit dieser Erhöhung die nach der 21. Sozialerhebung 2016 ermittelte durchschnittliche Miete von 325 Euro gerade ausgeglichen und bleibt die zwischenzeitliche Mietentwicklung seit 2016, die vor allem Studienanfänger/-innen bzw. Studierende in den unteren Semestern trifft, unberücksichtigt. Eine bundeseinheitliche Pauschale für Unterkunftsbedarfe ermöglicht es zudem nicht, die regionalen Unterschiede des Mietpreisniveaus zu berücksichtigen. Leistungsempfänger mit hohen Unterkunftskosten müssen ergänzende SGB II-Leistungen beantragen. Die Verwaltungsvereinfachung bei den Agenturen für Arbeit geht damit zulasten der Leistungsberechtigten und der Jobcenter. Unnötige Bürokratie könnte vielmehr dadurch vermieden werden, indem das regionale Mietpreisniveau im Rahmen der Unterkunftsleistungen des BAföG bzw. SGB III berücksichtigt wird.
3. Aufwendungen für Arbeitsbekleidung und Kinderbetreuung (§ 64 SGB III neu)
Die BAGFW begrüßt die Erhöhung, die entsprechende Anpassungen im BAföG nachvollzieht. Sie regt jedoch an, statt einer konkreten Bezifferung mit einem Verweis auf die entsprechende BAföG-Norm zu arbeiten. So würden künftige Änderungen automatisch auch im SGB III wirksam.
4. Zuschuss zur Ausbildungsvergütung bei außerbetrieblicher Ausbildung (§ 79 Abs. 2 Satz 1 SGB III neu)
Der Zuschuss zur Ausbildungsvergütung bei einer außerbetrieblichen Berufsausbildung wird auf die Höhe der BAföG-Leistung für Fachschüler/-innen, die bereits eine Berufsausbildung absolviert haben, begrenzt. Leider bleibt damit eine Sonderregelung außerhalb der Mindestausbildungsvergütung (§ 17 BBiMoG) bestehen.
Die BAGFW fordert, in § 79 Abs. 2 Satz 1 SGB III neu Bezug auf die im § 17 BBiMoG zukünftig festgelegte Mindestausbildungsvergütung zu nehmen und damit für eine einheitliche Untergrenze in allen dualen Berufsausbildungssettings zu sorgen.
Außerdem fordert die BAGFW, das Antragsverfahren zu überprüfen, zu vereinfachen und die Regelungen bedarfsgerecht zu optimieren.
5. Kosten für auswärtige Unterbringung und für Verpflegung (§§ 86, 128 SGB III neu)
Die Unterkunfts- und Verpflegungskosten bei auswärtiger Unterbringung werden aufgrund der allgemeinen Preisentwicklung erhöht. Die entsprechende Pauschalen für Menschen mit Behinderung (§ 128 SGB III) werden zur Vereinfachung und Gleichbehandlung an die Pauschalen des § 86 SGB III neu angeglichen. Dadurch erhöhen sich die Leistungen für Menschen mit Behinderung. Es ist positiv, dass hinsichtlich der Pauschalen künftig nicht mehr zwischen Menschen mit und ohne Behinderung unterschieden wird. Ein behinderungsbedingter Mehrbedarf kann weiterhin geltend gemacht werden.
6. Berufsausbildungsbeihilfe für behinderte Auszubildende unter 18 Jahren im Haushalt der Eltern/eines Elternteils (§ 116 Abs. 4 SGB III neu)
Auszubildende mit Behinderung, die jünger als 18 Jahre sind, erhalten Ausbildungsgeld, wenn sie außerhalb des Haushalts ihrer Eltern oder eines Elternteils wohnen und die Ausbildungsstätte von der Wohnung der Eltern oder eines Elternteils in angemessener Zeit erreichbar ist. Die Höhe des Ausbildungsgeldes ist in diesem Fall jedoch auf den Betrag begrenzt, den behinderte Auszubildende erhielten, wenn sie bei ihren Eltern oder einem Elternteil wohnen würden. Für Menschen mit Behinderung, die Berufsausbildungsbeihilfe beziehen, fehlt bislang eine entsprechende Regelung. Diese wird nun im neuen § 116 Abs. 4 geschaffen. Die BAGFW begrüßt, dass so eine bestehende Regelungslücke geschlossen wird.
7. Ausbildungsgeld bei Berufsausbildung und Unterstützter Beschäftigung (§ 123 SGB II neu) sowie bei BvB und Grundausbildung (§ 124 SGB III neu)
Die Struktur des Ausbildungsgelds für Auszubildende mit Behinderungen wird an die Bedarfssatzstruktur der Berufsausbildungsbeihilfe angeglichen und künftig nicht mehr von Alter, Familienstand, Unterbringungsformen und Erreichbarkeit der Ausbildungsstätte abhängig gemacht. Für das Ausbildungsgeld bei Berufsausbildung und unterstützter Beschäftigung gilt zukünftig der Bedarf, der gem. § 13 Abs. 1 Nr. 1 und 2 BAföG auch Auszubildenden an Fachschulklasse, Abendgymnasien und Kollegs zugestanden wird, bei Wohnheim- bzw. Internatsunterbringung monatlich 117 Euro. Dies ist grundsätzlich positiv, weil diese Unterscheidungskriterien nicht mit einer Behinderung zu erklären waren.
Auch die Bedarfssätze bei einer BvB und einer Grundausbildung werden neu festgesetzt und systematisiert und dabei an die Höhe der BAföG-Sätze angepasst. Das Ausbildungsgeld bei berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahmen und bei Grundausbildung wird zukünftig entsprechend des Bedarfs für Schüler von Berufsfachschulen und Fachschulklassen (derzeit 231 Euro) angesetzt. Der Gleichlauf der Leistungen nach §§ 123, 124 SGB III mit dem BAföG wird durch einen Verweis auf die Vorschriften des BAföG sichergestellt, so dass Änderungen der dortigen Leistungssätze automatisch im SGB III nachvollzogen werden. Dadurch werden die Leistungen der beiden Fördersysteme harmonisiert. Allerdings sind die erhöhten BAföG-Sätze immer noch nicht bedarfsgerecht.
Wie schon bei dem Zuschuss zur Ausbildungsvergütung in außerbetrieblichen Berufsausbildungen fordert die BAGFW, dass für alle Auszubildende – und damit auch für alle Auszubildenden mit Behinderung – die im BBiG noch zu regelnde Mindestausbildungsvergütung Anwendung findet.
Positiv ist die Erhöhung des Bedarfssatzes für Teilnehmende an einer InbeQ auf den Bedarfssatz bei einer Berufsausbildung. Dies wird der Tatsache gerecht, dass die Teilnehmenden einer InbeQ aufgrund ihres höheren Alters eher mit Auszubildenden gleichzusetzen sind als mit BvB-Teilnehmenden.
Die Problematik der pauschalierten Leistungen für Unterkunft wurde unter Punkt 2. angesprochen und gilt auch hier.
8. Ausbildungsgeld für Teilnehmende im Eingangsverfahren und Berufsbildungsbereich einer anerkannten WfbM oder bei anderen Leistungsanbietern nach § 60 SGB IX (§ 125 SGB III neu)
Die BAGFW begrüßt die Erhöhung des Ausbildungsgelds für Teilnehmende im Eingangsverfahren/Berufsbildungsbereich einer WfbM und bei vergleichbaren Maßnahmen anderer Leistungsanbieter und den Verzicht auf die Jahresdifferenzierung.
A. Grundsätzliche Bewertung
Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) begrüßt grundsätzlich die Zielsetzung des Gesetzentwurfes, die Finanzierung der unverzichtbaren Arbeit der Betreuungsvereine in Zusammenarbeit mit den Ländern zu stärken und für eine angemessene Vergütung der Berufsbetreuerinnen und Berufsbetreuer zeitnah Sorge zu tragen (vgl. Koalitionsvertrag 19.LP).
Der vorgelegte Gesetzentwurf wurde im Rahmen des interdisziplinären Diskussionsentwurfs im BMJV verschiedenen Expertinnen und Experten, so auch Vertretern der BAGFW und Ländervertretern vorgestellt und dort beraten.
Wir begrüßen eine zeitnahe und längst überfällige Erhöhung der Betreuer- und Vormündervergütung und die Absicht einer auskömmlichen Vergütung, die klare Anreize für eine qualitativ gute Betreuung setzt.
Wir unterstützen folgende Aspekte des Gesetzentwurfes:
Die Beibehaltung des pauschalisierten Vergütungssystems und die Fortschreibung durch vereinfachte Fallpauschalen, die einfach, streitvermeidend und kalkulierbar sind, ist unseres Erachtens der richtige Weg.
Die Erhöhung der Vergütung an den bei den Betreuungsvereinen zur Refinanzierung einer Vollzeit-Vereinsbetreuerstelle anfallenden Kosten zu orientieren und mit der Entgeltordnung Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst – Sozial- und Erziehungsdienst (TVÖD-SuE) objektivierbare Kriterien zu entwickeln, begrüßen wir ausdrücklich.
Wir teilen die Auffassung, dass Anreize für eine qualitativ gute Betreuung eingeführt werden sollten.
Wir nehmen zustimmend zur Kenntnis, dass gesetzliche Änderungen im Sozialrecht und veränderte Strukturen im Hilfesystem berücksichtigt werden.
Wir halten Pauschalen für die Verwaltung höherer Vermögen für gerechtfertigt.
Wir begrüßen die Einführung einer gesonderten Pauschale bei Abgabe einer ehrenamtlich geführten Betreuung an einen beruflichen Betreuer.
Wir haben mit Erleichterung die kontinuierliche Verständigung mit den Ländern im Vorfeld beobachtet und hoffen sehr, dass diesmal die Zustimmung im Bundesrat erreicht werden kann.
Bedenken und Kritikpunkte haben wir zu folgenden Aspekten des Gesetzentwurfes:
Die Erhöhung um durchschnittlich 17 % ist nach fast 14 Jahren unveränderten Vergütung, aber wiederholter Tariferhöhungen, für unsere Betreuungsvereine und vormundschaftsführenden Vereine zu niedrig. Die Vereine müssen stattdessen mit Personalkostenzuwächsen von mindestens 25 % kalkulieren.
Der Gesetzentwurf enthält nicht die seit langem geforderte Dynamisierungsregelung, sondern lediglich eine Evaluierung nach fünf Jahren. Das ist viel zu spät, zumal mit tatsächlichen Anpassungen frühestens nach weiteren zwei bis drei Jahren gerechnet werden kann. Es ist davon auszugehen, dass die Tarifentwicklung aber kontinuierlich fortschreiten wird. Somit werden die Betreuungsvereine und die vormundschaftsführenden Vereine bereits vor Ablauf der fünf Jahre erneut in eine prekäre Schieflage geraten.
Den errechneten Fallpauschalen liegen u.E. einige zu gering berechneten Kosten zugrunde:
Die benannten Overheadkosten in Höhe von 4 % bilden nicht die tatsächlichen Kosten in unseren Betreuungsvereinen ab. Unsere Vereine kalkulieren hier mit mindestens - seitens der KGSt empfohlenen - 10%.
Die Reduzierung der Sachkostenpauschale um die „Kosten in den dezentralen Einheiten für Software und Pflege“ um 900 Euro auf 7.810 Euro ist nicht nachvollziehbar. Es fehlt außerdem die seit langem geforderte Regelung zur zusätzlichen Übernahme von Dolmetscherkosten.
Die zugrunde gelegten Jahresnettoarbeitsstunden sind mit 1.605 hoch bemessen. Die Vereine kalkulieren mit 1.584 Stunden nach KGSt. Gerade die Betreuungsvereine garantieren mit ihrer Organisationsstruktur eine hohe Qualität in der Betreuungsführung. Um dies zu gewährleisten gehören regelmäßige Teamsitzungen, Fortbildung und Supervision zum Standard. Dies muss sich in der Berechnung der Jahresarbeitsstunden niederschlagen.
Die Bestimmung der Höhe der Fallpauschalen greift mit ihrer gewichteten Erhöhung qualitative Gesichtspunkte auf. Allerdings vernachlässigt sie dabei den Personenkreis der langjährigen, schwierigen und komplexen Betreuungsfälle.
Die erste Zeit der Betreuungsführung höher zu vergüten, entspricht dem Mehraufwand in den Anfangsmonaten. Diese Vergütungsstruktur berücksichtigt aber nicht die Vielzahl von Betreuten, die aufgrund eines komplexen Krankheitsbildes (z.B. chronische psychische Erkrankungen, Suchterkrankungen, Mehrfachproblematiken) nur geringe Chancen auf Besserung haben. Hier bleibt der Betreuungsaufwand oft konstant hoch oder erhöht sich sogar im Laufe der Betreuungsführung.
Bei Einhaltung der Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention entsteht durchaus ein erheblicher Mehraufwand, wenn beispielsweise nur in leichter Sprache kommuniziert werden kann oder Leistungen des Betreuers barrierefrei erbracht werden müssen. Gerade diese komplexen und schwierigen Fälle werden aber aufgrund der guten fachlichen Expertise der Betreuungsvereine von deren beruflich Mitarbeitenden übernommen. Die Vergütungserhöhung für diese Fälle beträgt in dem Gesetzentwurf allerdings nur 11 % und ist damit im untersten Bereich angesiedelt.
Die im Betreuungsrecht verankerte Idee, Fälle nach kurzer Zeit z.B. an Ehrenamtliche abzugeben, kann nur gelingen, wenn der Bereich der Begleitung Ehrenamtlicher deutlich umfassender und verbindlicher ausgestaltet wird, als er es derzeit ist. Wir erhoffen uns hier eine deutliche Qualitätsverbesserung mit einem weiteren Gesetzesverfahren in 2020 – nach Abschluss des interdisziplinären Diskussionsprozesses des BMJV.
B. Zu den Änderungen im Einzelnen
(soweit für uns relevant)
§ 3 Abs. 1 E-VBVG Stundensatz des Vormunds
Der vorgeschlagenen Stundensatzanpassung wird auf der Grundlage der aktuellen Vergütungsstruktur im Vormundschaftsbereich insgesamt zugestimmt. Allerdings sind auch hier 17 % zu wenig, weil diese den Kostenanstieg seit 2005 nicht abbilden. Weitere ggf. notwendige Strukturänderungen in der Vergütung der Vormundschaften müssen in der aktuellen Vormundschaftsrechtsreform geklärt werden.
§ 5 E-VBVG Fallpauschalen
Abs. 3: Aufenthaltsort
Wir befürchten durch die neue Begrifflichkeit „ambulantes betreutes Wohnen“ eine erneute jahrelange Rechtsprechung der Abgrenzung. Insoweit weisen wir darauf hin, dass nicht nur der Heimbegriff mittlerweile abgelöst ist. Im BTHG werden ab 2020 auch die Kategorien der stationären, teilstationären Einrichtungen und ambulanten Dienste entfallen. Um die Anschlussfähigkeit des Betreuungsrechts an diese, bereits jetzt absehbare, Entwicklung sicherzustellen, regen wir deshalb an, die Neuausrichtung der Fallkostenpauschalen von Anfang an zukunftsfähig zu formulieren.
Artikel 3 Evaluierung
Wir halten eine Dynamisierung, angelehnt an die Tarifentwicklung im öffentlichen Dienst, für geboten. Übergangsweise unterstützen wir eine Evaluierung. Allerdings ist der Zeitpunkt nach fünf Jahren zu spät. Das gilt im Übrigen auch für den Vormundschaftsbereich. Ein nach dem aktuellen Diskussionsprozess eingeleitetes Gesetzesverfahren sollte neben qualitativen und strukturellen Aspekten auch die finanziellen Konsequenzen erneut aufgreifen. Sollte sich eine unbedingt notwendige Dynamisierung auf Dauer nicht durchsetzen lassen, schlagen wir hilfsweise eine regelmäßige Anpassung der Vergütung an die tatsächlich gestiegenen Kosten und die Tarifentwicklung im Wege einer Verordnung vor.
C. Abschließende Bemerkung
Trotz aller Bedenken stimmen wir dem Gesetzentwurf zu, um eine schnelle Vergütungserhöhung für unsere Vereine nicht zu verhindern. Wir benötigen eine sofortige Anpassung der Vergütungssätze, damit die Existenz unsere Vereine gesichert und sie die Betreuungen und Vormundschaften auch weiterhin in der erforderlichen Qualität und Verlässlichkeit führen können.
Wir erhoffen uns nach dem Diskussionsprozess ein Gesetzesverfahren, das eine echte qualitative Weiterentwicklung des Betreuungsrechtes im Sinne der UN-BRK garantiert. Diesen wichtigen Diskussionsprozess zur Selbstbestimmung und Qualität in der Rechtlichen Betreuung werden wir konstruktiv und intensiv begleiten.
Wenn Selbstbestimmung der Betroffenen konsequent umgesetzt wird, wenn unterstützte Entscheidungsfindung eine ersetzende Entscheidung auf das äußerst Notwendige (Ultima Ratio) reduziert, müssen die Rahmenbedingungen für alle im Betreuungswesen stimmen. In diesem Zusammenhang müssen am Ende des Diskussionsprozesses auch die Vergütung der Betreuer und die Finanzierung der Betreuungsvereine noch einmal genau betrachtet werden. In diesem Sinne sehen wir in dem jetzigen Gesetzentwurf nur eine Übergangslösung.
]]>A. Einleitung und zusammenfassende Bewertung
Mit dem Reformvorhaben werden die Regelungen zur Approbation für Psychotherapeuten auf eine neue Grundlage gestellt. Mit der Schaffung eines Psychotherapiestudiums und einer sich daran anschließenden Approbation wird aus der heutigen Ausbildung in einem psychotherapeutischen Verfahren künftig eine Weiterbildung. Es handelt sich um eine wesentliche Strukturreform, die große Auswirkungen auf das psychotherapeutische Versorgungsangebot in Deutschland haben wird. Hierbei bleiben zentrale Fragen im Gesetzentwurf unbeantwortet, die wesentlich sind, um die Auswirkungen der Reform bewerten zu können. Der Gesetzentwurf lässt beispielsweise offen, welche Kriterien an Universitäten gestellt werden sollen, die künftig ein Psychotherapiestudium anbieten wollen. Es gibt keine Angaben dazu, welche Zahl an Studienplätzen - des neu zu schaffenden Studienfachs der Psychotherapie - der Bundesgesetzgeber anstrebt und für erforderlich hält. Beide Punkte sind entscheidend für den Umfang und die Qualität des zukünftigen Versorgungsangebotes. Wesentlich für das Gelingen einer solch umfassenden Strukturreform ist darüber hinaus, dass Finanzierungsfragen des Aus- und Weiterbildungssystems ausreichend geklärt sind. Diese werden in dem vorliegenden Entwurf ausgeklammert.
Aus Sicht der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege ist es erforderlich, dass in den Vorgaben für das Studium und die Approbationsordnung obligatorische Praxisphasen integriert werden, die außerhalb des Gesundheitswesens zu absolvieren sind. Das Thema Sucht sollte verbindlicher Bestandteil des Psychotherapiestudiums sein. Zur Stärkung der Patientenrechte sollte die höchstrichterliche Rechtsprechung, die sich zur Kostenerstattung durch die GKV im Falle eines Systemversagens im Bereich der ambulanten psychotherapeutischen Versorgung entwickelt hat, ins Gesetz aufgenommen werden. Dies schafft Transparenz für Patientinnen und Patienten. Des Weiteren muss gewährleistet sein, dass Absolventen der Studiengänge der Sozialen Arbeit/Sozialpädagogik, der Heilpädagogik und der Erziehungswissenschaft, die ihr Studium mit dem Ziel aufgenommen haben, im Anschluss eine Ausbildung zum Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten zu absolvieren, in einer ausreichenden Übergangszeit weiterhin Zugang zur Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie-Ausbildung haben.
B. Stellungnahme zu den Einzelvorschriften
Artikel 1: Psychotherapeutengesetz
§ 7: Ziel des Studiums, das Voraussetzung für die Erteilung einer Approbation als Psychotherapeutin oder Psychotherapeut ist
Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege halten eine integrative bio-psycho-soziale Ausbildung und die Einbeziehung (sozial- und heil-) pädagogischen Wissens in den neu zu schaffenden Studiengang der Psychotherapie für unverzichtbar. Bei der Reform bzw. Weiterentwicklung der Ausbildung zum/zur Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten /-therapeutin (KJP) darf die Expertise und Erfahrung der akademischen Sozialberufe nicht vernachlässigt werden.
Änderungsbedarf:
„Ziel des Studiums, das Voraussetzung für die Erteilung einer Approbation als Psychotherapeutin oder Psychotherapeut ist (1) Das Studium, das Voraussetzung für die Erteilung einer Approbation als Psychotherapeutin oder Psychotherapeut ist, vermittelt entsprechend dem allgemein anerkannten Stand psychotherapiewissenschaftlicher, psychologischer, pädagogischer, medizinischer, sozialarbeitswissenschaft-licher bzw. sozialpädagogischer und weiterer bezugswissenschaftlicher Erkenntnisse die grundlegenden personalen, fachlich-methodischen, sozialen und umsetzungsorientierten Kompetenzen, die für eine eigenverantwortliche, selbständige und umfassende psychotherapeutische Versorgung von Patientinnen und Patienten aller Altersstufen im Sinne von § 1 Absatz 2 dieses Gesetzes mittels wissenschaftlich anerkannter psychotherapeutischer Verfahren erforderlich sind.“
§ 28: Abschluss begonnener Ausbildungen
Bei den Übergangsregelungen gilt es sicher zu stellen, dass die in § 5 Abs. 2 des Psychotherapeutengesetzes genannten Studiengänge der Pädagogik und Sozialpädagogik in der aktuellen Studienpraxis in der Regel anders benannt werden. Es ist wesentlich, dass die Übergangsregelungen ebenfalls auf Studierende sowie auf Absolventinnen/Absolventen mit einem Bachelor- und Masterabschluss der Sozialen Arbeit inklusive Heilpädagogik sowie der Erziehungswissenschaft Bezug nehmen.
Der Begriff der Sozialpädagogik ist veraltet. In den Studienordnungen der meisten Bundesländer sind die Inhalte des früheren Sozialpädagogik-Studiums im Studium der Sozialen Arbeit aufgegangen. Der Gesetzestext nimmt jedoch Bezug auf den Begriff der Sozialpädagogik. Daher bedarf es aus unserer Sicht zudem einer entsprechenden Klarstellung.
Artikel 2 Nummer 1: Kostenerstattung für psychotherapeutische Leistungen
Es ist vorgesehen zu regeln, dass selbstbeschaffte Leistungen bei einem Psychotherapeuten auf Grund eines Systemversagens nur dann durch gesetzliche Krankenkassen erstattet werden können, wenn diese gemäß § 95c SGB V ins Arztregister eingetragen sind. An dieser Stelle sollte ergänzt werden, wann Patientinnen und Patienten ein Recht darauf haben, sich eine psychotherapeutische Leistung selbst zu beschaffen. Hierzu hat sich eine höchstrichterliche Rechtsprechung entwickelt. Eine zumutbare Wartezeit liegt demnach zwischen sechs Wochen und drei Monaten (BSG Az. 6 RKA 15/97). Eine „Notwendigkeitsbescheinigung“ werde benötigt, die beispielsweise durch einen Vertragsarzt aufgestellt werden kann. Weist der Versicherte nach, dass er sich bei mindestens drei Vertragspsychotherapeuten vergeblich um einen Termin bemüht hat, hat er ein Recht auf Kostenerstattung, wenn er sich die Leistung privat bei einem qualifizierten Therapeuten selbst beschafft. Diese Regelungen sind im Sinne der Stärkung von Patientenrechten ins Gesetz aufzunehmen. Eine solche Vorgehensweise schafft Transparenz für Patientinnen und Patienten.
C. Ergänzende Änderungsbedarfe
Obligatorische Praxisphasen außerhalb des Gesundheitswesens in das Studium und in die Approbationsordnung integrieren
Im Rahmen der obligatorischen Praxisphasen sollten Studierende der Psychotherapie Erfahrungen in Institutionen sammeln, die nicht originär zum Gesundheitswesen gehören. Erfahrungen mit psychotherapeutischen Tätigkeiten in Einrichtungen der institutionellen Versorgung könnten beispielsweise in der Jugendhilfe, in Beratungsstellen, der Gemeindepsychiatrie, der Behindertenhilfe und Suchthilfe gesammelt werden. Auf diese Weise könnten Studierende einen umfangreicheren Einblick über mögliche spätere Beschäftigungsmöglichkeiten gewinnen. Ein solcher Ansatz kann einen wichtigen Beitrag dazu leisten, einem Fachkräftemangel in der institutionellen Versorgung entgegen zu wirken. Darüber hinaus könnte ein solches Vorgehen zu einem besseren Verständnis über die vielfältigen Versorgungsangebote unter Psychotherapeuten beitragen.
Es sollte außerdem berücksichtigt werden, dass Erfahrungen in der Behandlung von Menschen mit besonderen Versorgungsbedarfen (z. B. Menschen mit Migrationshintergrund, Psychotherapie bei Menschen mit Intelligenzminderung) zu sammeln sind. Die genannten Anforderungen sollten sich auch in der zukünftigen Approbationsordnung wiederfinden. Dies wird ebenfalls von der Bundespsychotherapeutenkammer in ihren Empfehlungen für „Regelungen von Praxisphasen in der Approbationsordnung“ gefordert.
Das Thema Sucht sollte verbindlicher Bestandteil des Psychotherapiestudiums sein
Vor dem Hintergrund einer Komorbidität zwischen 50-90% bei Substanzstörungen und psychischen Störungen (vgl.: Brand 2015, <link http: bit.ly>bit.ly/2RNHHlq) sollte das Thema Sucht verpflichtender Bestandteil eines Psychotherapiestudiums sein. Für die spätere Berufspraxis ist es wesentlich im Rahmen der Hochschulausbildung explizit zu diesem Indikationsbereich und den besonderen Erfordernissen von Suchtpatientinnen und –patienten geschult zu werden.
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Kurzzusammenfassung
1. Auch für die Zeit nach 2020 soll sich die EU, orientiert an den von den Vereinten Nationen 2015 verabschiedeten nachhaltigen Entwicklungszielen (SDGs), konkrete politische Ziele setzen und neue Strategien für ein soziales Europa verwirklichen.
2. Die EU-Institutionen sollen sich zusammen mit den EU-Mitgliedstaaten weiter für die Umsetzung der Europäischen Säule sozialer Rechte einsetzen. Beispielsweise durch einen Rahmen für nationale Grundsicherungssysteme sollten europäische Mindeststandards gesetzt werden, die weniger leistungsfähige Mitgliedstaaten nicht überfordern, leistungsstarke Staaten aber nicht daran hindern, ein höheres Schutzniveau zu gewährleisten.
3. Die Armutsbekämpfung muss zum Kernthema gemacht werden. Dies bedeutet mehr als nur Arbeitsmarktpolitik. Ein integrierter Ansatz ist nötig.
4. Dienste von allgemeinem Interesse müssen qualitativ hochwertig sein. Die Europaabgeordneten sollen sich für die weitere Ausgestaltung des Europarechts einsetzen, damit diese Dienstleistungen entsprechend den mitgliedstaatlichen Traditionen und Grundlagen erbracht werden können und den Bürgerinnen und Bürgern eine Wahlfreiheit zukommt, um qualitativ hochwertige Dienstleistungen von allgemeinem (wirtschaftlichen) Interesse nutzen zu können.
5. Es braucht eine starke unabhängige Zivilgesellschaft und Engagementpolitik, um die EU näher an die Bürger/innen zu bringen. Zivilgesellschaftliche Organisationen müssen besser in die Verhandlungsprozesse integriert werden. Sie müssen gestärkt werden und dürfen nicht an ihrer Arbeit, sei es in der Seenotrettung oder bei der Beratung von Flüchtlingen, gehindert werden.
6. In Zeiten eines spürbaren EU-Skeptizismus und erstarkender nationalistischer Strömungen müssen insbesondere soziale und inklusive Programme im EU-Haushalt gestärkt werden.
7. Die Freizügigkeit der EU-Bürger/innen gehört seit jeher zu den Grundpfeilern der EU. Das Freizügigkeitsrecht aller EU-Bürger/innen darf deshalb nicht in Frage gestellt, die Freizügigkeit nicht auf Erwerbstätige reduziert werden.
8. Die Gestaltung von Migration gehört zu den Aufgaben der EU. Eine weitere Harmonisierung der Regelungen der Arbeitsmigration muss auch künftig die Besonderheiten der jeweiligen Arbeitsmärkte und Sozialsysteme der Mitgliedstaaten berücksichtigen.
Kurzzusammenfassung
1. Auch für die Zeit nach 2020 soll sich die EU, orientiert an den von den Vereinten Nationen 2015 verabschiedeten nachhaltigen Entwicklungszielen (SDGs), konkrete politische Ziele setzen und neue Strategien für ein soziales Europa verwirklichen.
2. Die EU-Institutionen sollen sich zusammen mit den EU-Mitgliedstaaten weiter für die Umsetzung der Europäischen Säule sozialer Rechte einsetzen. Beispielsweise durch einen Rahmen für nationale Grundsicherungssysteme sollten europäische Mindeststandards gesetzt werden, die weniger leistungsfähige Mitgliedstaaten nicht überfordern, leistungsstarke Staaten aber nicht daran hindern, ein höheres Schutzniveau zu gewährleisten.
3. Die Armutsbekämpfung muss zum Kernthema gemacht werden. Dies bedeutet mehr als nur Arbeitsmarktpolitik. Ein integrierter Ansatz ist nötig.
4. Dienste von allgemeinem Interesse müssen qualitativ hochwertig sein. Die Europaabgeordneten sollen sich für die weitere Ausgestaltung des Europarechts einsetzen, damit diese Dienstleistungen entsprechend den mitgliedstaatlichen Traditionen und Grundlagen erbracht werden können und den Bürgerinnen und Bürgern eine Wahlfreiheit zukommt, um qualitativ hochwertige Dienstleistungen von allgemeinem (wirtschaftlichen) Interesse nutzen zu können.
5. Es braucht eine starke unabhängige Zivilgesellschaft und Engagementpolitik, um die EU näher an die Bürger/innen zu bringen. Zivilgesellschaftliche Organisationen müssen besser in die Verhandlungsprozesse integriert werden. Sie müssen gestärkt werden und dürfen nicht an ihrer Arbeit, sei es in der Seenotrettung oder bei der Beratung von Flüchtlingen, gehindert werden.
6. In Zeiten eines spürbaren EU-Skeptizismus und erstarkender nationalistischer Strömungen müssen insbesondere soziale und inklusive Programme im EU-Haushalt gestärkt werden.
7. Die Freizügigkeit der EU-Bürger/innen gehört seit jeher zu den Grundpfeilern der EU. Das Freizügigkeitsrecht aller EU-Bürger/innen darf deshalb nicht in Frage gestellt, die Freizügigkeit nicht auf Erwerbstätige reduziert werden.
8. Die Gestaltung von Migration gehört zu den Aufgaben der EU. Eine weitere Harmonisierung der Regelungen der Arbeitsmigration muss auch künftig die Besonderheiten der jeweiligen Arbeitsmärkte und Sozialsysteme der Mitgliedstaaten berücksichtigen.
Die in der BAGFW zusammengeschlossenen Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege unterstützen die Zielsetzungen des Referentenentwurfs, die Sicherheit in der Arzneimittelversorgung zu stärken, wirtschaftliche Fehlanreize abzubauen und neue digitale Versorgungsangebote zu schaffen. Auch die geplanten Anpassungen im Bereich des Pflegeberufegesetzes werden von uns begrüßt. Hier sehen wir allerdings den Bedarf für eine weitergehende Regelung.
Von den geplanten Neuregelungen im Bereich der Hämophilieversorgung gehen aus Sicht der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege erhebliche negative Folgen für die Patientinnen und Patienten aus.
Die Einführung des elektronischen Rezeptes hingegen wird von uns begrüßt. Gleichzeitig weisen wir aber auch darauf hin, dass die Anbindung der Pflegeeinrichtungen an die Telematikinfrastruktur unverzüglich erfolgen muss, damit die Patientinnen und Patienten von den Entwicklungen auch profitieren können.
Die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege nehmen die Stellungnahme zum Anlass, angesichts der jüngsten Medienberichterstattung über die sog. „Implant Files“ und ergänzend zu den verschärften Regelungen der 2020 in Kraft tretenden EU-Verordnung zum Medizinprodukterecht weitere Regelungen zum Schutz der Patientinnen und Patienten anzuregen. So sollte noch in dieser Legislaturperiode ein Implantate-Register eingeführt werden, um die Qualität der Patientenversorgung flächendeckend zu stärken. Bisherige Register z.B. zu Endoprothesen, Herzschrittmachern etc. sollten in dieses gesetzlich verankerte Register überführt werden. Des Weiteren muss es anstelle von privaten Prüfstellen, die staatlich benannt sind, aber von den Herstellern beauftragt und bezahlt werden, eine zentrale behördliche Zulassung für Medizinprodukte geben. Die Aufgabe des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) darf sich nicht auf die Risikobewertung von Vorkommnissen bei Medizinprodukten beschränken, sondern muss auch die Kompetenz erhalten, Sanktionen bei Nichterfüllung der Anforderungen zu erlassen.
B. Stellungnahme zu den Einzelvorschriften
Artikel 1: Änderung des Arzneimittelgesetze
§ 47 Absatz 1 Satz 1: Regelungen zur Hämophilieversorgung – Veränderter Vertriebsweg für gentechnologisch hergestellte Blutbestandteile
Die medizinische Versorgung von Patient(inn)en mit Hämophilie wird in Deutschland und in anderen europäischen Ländern durch spezialisierte Zentren angeboten, die eine leitliniengerechte medizinische Versorgung ermöglichen. Die Zielsetzungen des Gesetzgebers, finanzielle Verstrickungen zu vermeiden und die Finanzierung der Zentren durch Versorgungsverträge mit Krankenkassen auf eine neue Grundlage zu stellen, wird von den Spitzenverbänden der Freien Wohlfahrtspflege zwar begrüßt. Allerdings liegt mit dem Gesetzentwurf kein Vorschlag dafür vor, wie die finanziellen Verstrickungen konsequent entzerrt werden könnten. Während die Zentren keine gentechnologisch hergestellten Blutbestandteile mehr abgeben und an diesen Präparaten auch nichts mehr verdienen könnten, wäre dies bei den aus menschlichem Blut gewonnenen Arzneimitteln weiterhin der Fall. Dabei handelt es sich um circa 50% der durch die Zentren verordneten Medikamente. Beide Arten von Präparaten sind für die Notfallversorgung der Patientinnen und Patienten gleichermaßen wichtig und sollten den Zentren zur Abgabe zur Verfügung stehen.
Die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege gehen davon aus, dass durch die geplanten Änderungen beim Vertriebsweg die Qualität und Sicherheit der Versorgung gefährdet wird. Die Bindung zwischen Zentren und Patient(inn)en würde geschwächt und damit würde auch die Behandlungsqualität sinken.
Bei einer Abgabe von gentechnologisch hergestellten Blutbestandteilen ausschließlich über die Apotheken bleibt offen, wie die Notfallversorgung sichergestellt werden soll, die aktuell durch die Zentren garantiert wird. Da Patient(inn)en in den Zentren künftig nur plasmatische Produkte direkt erhalten könnten, wäre eine vermehrte Rückkehr zu diesen Präparaten denkbar. Bei plasmatischen Produkten bestehen jedoch Infektionsrisiken, die es bei anderen Präparaten nicht gibt. Darauf wird in der Begründung zum vorliegenden Referentenentwurf explizit hingewiesen (s. Begründung zu § 47, Abs. 1, Satz1, S. 38). Gegen den Apothekenbezug spricht neben versorgungspolitischen Gesichtspunkten auch das Wirtschaftlichkeitsgebot. Bei der Abgabe der Medikamente durch die Apotheken liegen die Preise deutlich höher als beim Direktvertrieb. Darüber hinaus ist fraglich, wie bei den geplanten Anpassungen des Vertriebsweges die Erfordernisse und Ziele der Dokumentation und der Meldung an das Deutsche Hämophilieregister zukünftig sichergestellt werden sollen. Zusätzlich würde die teilweise Abschaffung des Direktvertriebs bestehenden innovativen Versorgungsverträgen mit Krankenkassen die Grundlage entziehen.
Änderungsbedarf
Streichung der vorgesehenen Regelung. Um eine Reform zu ermöglichen, die alle zentralen Aspekte berücksichtigt und zu einer besseren Versorgung führen kann, soll eine Arbeitsgruppe zur Hämophilieversorgung beim BMG eingerichtet werden. An der Arbeitsgruppe sind Patientenvertreter, Vertreter der Ärzteschaft, des Deutschen Hämophilieregisters und der Krankenkassen zu beteiligen.
§ 64 Absatz 3: Unangemeldete Inspektionen bei Verdacht auf Arzneimittel- und Wirkstofffälschungen im Rahmen der Überwachung der Arzneimittelherstellung nach § 35 der Apothekenbetriebsordnung
Unangemeldete Inspektionen im Verdachtsfall sind bereits jetzt nach der geltenden Rechtslage durchführbar. Die geplante Ergänzung und Konkretisierung schafft deshalb keine neuen Handlungsoptionen für die zuständigen Stellen, die für den Vollzug des Arzneimittelgesetzes verantwortlich sind. Eine Stärkung der Arzneimittelsicherheit könnte insbesondere dadurch erreicht werden, wenn die Häufigkeit unangekündigter Inspektionen bzw. deren Umfang konkretisiert würde. Eine gesetzliche Vorgabe zur Häufigkeit unangekündigter Kontrollen könnte darüber hinaus zum Whistleblower-Schutz beitragen. Wenn unangekündigte Kontrollen meist nur auf Grundlage von Verdachtsmomenten durchgeführt werden, müssen Whistleblower in besonderem Maße davon ausgehen, dass es Nachforschungen darüber geben wird, warum es zu einer unangemeldeten Kontrolle gekommen ist. Es sollte daher gesetzlich geregelt werden, dass Betriebe und Einrichtungen, die zur Herstellung von Arzneimitteln gemäß § 35 der Apothekenbetriebsordnung befugt sind, zwei Mal pro Jahr einer unangekündigten Inspektion zu unterziehen sind. Eine solche Inspektion sollte die Kontrolle der Laborräume, die Überprüfung der Herstellung von Infusionsarzneimitteln, Personalkontrollen, eine Kontrolle der Vier-Augen-Protokolle und die Kontrolle von Rückläufern umfassen.
Änderungsbedarf
Dem § 64 Absatz 3 Arzneimittelgesetz werden folgende Sätze angefügt:
„Betriebe und Einrichtungen, die Arzneimittel gemäß § 35 der Apothekenbetriebsordnung herstellen, sind in der Regel zwei Mal pro Jahr unangemeldet zu überprüfen. Bei der Überprüfung ist zu kontrollieren, ob die Vorschriften über das Apothekenwesen beachtet werden. Dies beinhaltet die Anforderungen an die Hygiene, die Räumlichkeiten, das Personal, die ordnungsgemäße Herstellung von Arzneimitteln und die Qualitätssicherung. Hierbei sind Rückläufer zu untersuchen.“
Artikel 6: Änderung des Transfusionsgesetzes i.V. mit Artikel 7: Änderung der Transfusionsgesetz-Meldeverordnung
§§ 14, 16, 21 und 21a Transfusionsgesetz i. V. mit § 2 Abs. 4 Transfusionsgesetz-Meldeverordnung: Erweiterung der Dokumentationserfordernisse u.a. auf alle Arzneimittel zur spezifischen Therapie von Gerinnungsstörungen bei Hämophilie
Die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege begrüßen die geplante Ausweitung der ärztlichen Meldepflicht und Dokumentationserfordernisse auf alle Arzneimittel, die zur Therapie von Gerinnungsstörungen bei Hämophilie verwendet werden. Dies ist insbesondere deshalb bedeutsam, weil neue Medikamente durch Arzneimittelinteraktionen und ein neuartiges Nebenwirkungsprofil weit komplexer sind als herkömmliche Präparate.
Artikel 10: Änderung des Pflegeberufegesetzes
§ 27: Ausbildungskosten
Mit der vorgeschlagenen Änderung in § 27 Absatz 2 PflBG entfällt künftig die Anrechnung der Auszubildenden des ersten Ausbildungsjahres auf den Personalschlüssel der Pflegeeinrichtungen sowie der Krankenhäuser. Die Nicht-Anrechnung der Auszubildenden des ersten Ausbildungsjahrs auf den Personalschlüssel im Krankenhaus ist bereits durch das Pflege-Personalstärkungsgesetz (§ 17a Absatz 1 Satz 3 KHG) erfolgt. Die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege hatten sich bereits in diesem Gesetzgebungsverfahren dafür eingesetzt, dass Gleiches auch für die Altenpflege gelten müsse, um die Pflegeeinrichtungen nicht gegenüber den Krankenhäusern zu benachteiligen und einer Abwanderung von Personal aus der Altenpflege in die Krankenhäuser vorzubeugen. Wir begrüßen deshalb die vorgesehene Änderung des § 27 PflBG zwar nachdrücklich, setzen uns aber weiterhin dafür ein, auch die Anrechnung der Auszubildenden des zweiten und dritten Ausbildungsjahres auf den Personalschlüssel zu streichen, denn Auszubildende sind Lernende, die unter ständiger Begleitung und Aufsicht durch Pflegekräfte und die Praxisanleiter/in ihr theoretisches und praktisches Wissen in der Tätigkeit in der Einrichtung erwerben. Es ist daher nur von einer geringfügigen Wertschöpfung auszugehen, die eine Anrechnung auf den Personalschlüssel nicht rechtfertigt. Die Streichung der Anrechnung auch im zweiten und dritten Ausbildungsjahr ist auch aus einem anderen Grund sinnvoll und erforderlich: Nach der neuen generalistischen Ausbildung durchlaufen die Auszubildenden in der praktischen Ausbildung eine Vielzahl von Ausbildungsstätten. Eine Zurechnung zu einer bestimmten Ausbildungsstätte, wie das in der bisherigen Alten- und Krankenpflegeausbildung möglich war, ist praktisch nicht möglich, da die Auszubildenden zwar bei einem Träger angestellt sind, aber durch die wechselnden Praxisfelder während der Ausbildung nur teilweise ihre Praxisphasen bei diesem Träger durchlaufen. Auch vor diesem Hintergrund fordern die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtpflege die Anrechnung im zweiten und dritten Ausbildungsjahr gänzlich zu streichen.
Änderungsbedarf
Ersatzlose Streichung von § 27 Absatz 2 Satz 2.
Artikel 12: Änderung des Fünften Buches Sozialgesetzbuch
§ 132i (neu) SGB V: Versorgungsverträge mit Hämophiliezentren
Die Zielsetzung, Hämophiliezentren durch Versorgungsverträge mit den Krankenkassen auf eine neue Grundlage zu stellen, wird von den Spitzenverbänden der Freien Wohlfahrtspflege begrüßt. Die in § 47 Arzneimittelgesetz (AMG) geplante Beschneidung der Befugnisse der Zentren im Bereich des Direktvertriebs sehen wir auf Grund der Auswirkungen auf die medizinische Versorgungsqualität der Patientinnen und Patienten hingegen kritisch. Die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege fordern deshalb – wie oben unter unserer Stellungnahme zu § 47 AMG schon erwähnt – die Einrichtung einer Arbeitsgruppe zur Hämophilieversorgung beim BMG. Damit soll eine Reform ermöglicht werden, bei der auch die Aspekte der Notfallversorgung, der Dokumentation, der Patient(inn)enpfade und der Finanzierbarkeit auf einander abgestimmt sind. Da Versorgungsverträge mit den Krankenkassen in wesentlichem Maße von den Befugnissen der Hämophiliezentren abhängen, sind die Ergebnisse dieser Arbeitsgruppe abzuwarten, bevor eine verpflichtende Rechtsgrundlage zu Versorgungsverträgen im SGB V aufgenommen wird.
Änderungsbedarf
Streichung der vorgesehenen Regelung. Um eine Reform zu ermöglichen, die alle zentralen Aspekte berücksichtigt und zu einer besseren Versorgung führen kann, soll eine Arbeitsgruppe zur Hämophilieversorgung beim BMG eingerichtet werden. An der Arbeitsgruppe sind Patientenvertreter, Vertreter der Ärzteschaft, des Deutschen Hämophilieregisters und der Krankenkassen zu beteiligen.
§ 86 (neu) SGB V: Verwendung von Verschreibungen in elektronischer Form
Die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege begrüßen nachdrücklich die neue Regelung in § 86 SGB V, die die Kassenärztliche Bundesvereinigung und den Spitzenverband Bund der Krankenkassen dazu verpflichtet, gemeinsam als Bestandteil der Bundesmantelverträge die notwendigen Regelungen für die Verwendung von E-Rezepten zu schaffen. Das E-Rezept sollte schnellstmöglich eingeführt werden. Zugleich sind die Voraussetzungen zu schaffen, dass auch ambulante und stationäre Pflegeeinrichtungen an die Telematikinfrastruktur angeschlossen werden, um die Effizienzvorteile für stationäre Pflegeeinrichtungen, die ärztliche Verordnungen für ihre Bewohner erhalten, nutzen zu können. Eine elektronisch übermittelte Verordnung erspart sowohl den Patientinnen und Patienten als auch den Pflegediensten die Notwendigkeit, Rezepte bei der Ärztin oder dem Arzt abholen zu müssen und in die Apotheke zu transportieren. Bei der Umsetzung der Regelung ist darauf zu achten, dass eine lückenlose Kette zwischen Arztpraxis-Patient/in-Pflegedienst/Pflegeeinrichtung-Apotheke geschaffen wird.
C. Ergänzende Änderungsbedarfe
Einführung von Dokumentations- und Meldepflichten für die Herstellung von parenteralen Zubereitungen, die in der Onkologie eingesetzt werden
In Anlehnung an die Regelungen in den §§ 17 und 18 des Betäubungsmittelgesetzes, sollten Dokumentations- und Meldepflichten hinsichtlich des Einkaufs, der Verarbeitung und Abgabe von Wirkstoffen im Rahmen der Herstellung von parenteralen Zubereitungen für die onkologische Versorgung eingeführt werden. Hierbei sollte außerdem geregelt werden, dass Vier-Augen-Protokolle eindeutig von den handelnden Personen zu signieren und nach Abschluss der Labortätigkeit in Erfassungssysteme einzuarbeiten sind.
Plausibilitätskontrollen des Wareneingangs- und Warenausgangs bei der Herstellung von parenteralen Zubereitungen, die in der Onkologie eingesetzt werden
Es sollte ein jährlicher Abgleich zwischen dem Einkauf und der Abrechnung von Wirkstoffen mit den Kostenträgern stattfinden. Grundlage hierfür sollten verstärkte Dokumentations- und Meldepflichten sein. Mit den Plausibilitätskontrollen könnten entweder die für den Vollzug des Arzneimittelgesetzes zuständigen Behörden oder die Strafverfolgungsbehörden, die für Abrechnungsbetrug im Gesundheitswesen verantwortlich sind, beauftragt werden.
Whistleblower-Schutz verbessern und gesetzlich verankern
Hinweisgeber spielen eine zentrale Rolle bei der Aufdeckung von Korruptionsfällen und Straftaten. Daher ist es wichtig, dass der Schutz von Whistleblowern gesetzlich verankert wird. Hinweisgeber bedürfen eines rechtlichen Schutzes hinsichtlich ihres Beschäftigungsverhältnisses. Die Offenbarung rechtswidriger Geschäfts- oder Dienstgeheimnisse ist zu entkriminalisieren.
Das Präqualifizierungserfordernis der Pflegeeinrichtungen für die Inkontinenzversorgung ist aufzuheben
Wie bereits im Gesetzgebungsverfahren zum Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) weisen die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege auf einen dringenden Handlungsbedarf bei § 126 SGB V Versorgung durch Vertragspartner hinsichtlich der Präqualifizierung von Pflegeeinrichtungen bei der Hilfsmittelerbringung hin.
Nach § 126 Absatz 1 Satz 2 können Vertragspartner der Krankenkassen nur jene Leistungserbringer sein, die die Voraussetzungen für eine ausreichende, zweckmäßige und funktionsgerechte Herstellung, Abgabe und Anpassung der Hilfsmittel erfüllen. Die Krankenkassen müssen dies nach § 126 Absatz 1a sicherstellen. Zu diesem Zwecke müssen sich Leistungserbringer von der Präqualifizierungsstelle nach Absatz 1a Satz 2 qualifizieren lassen. Die Präqualifizierung gilt für alle Verträge, die durch Ausschreibungen nach § 127 Absatz 1 zustande gekommen sind sowie für Verträge der Landesverbände oder Arbeitsgemeinschaften der Krankenkassen mit Leistungserbringern, die nach § 127 Absatz 2 geschlossen werden.
Eine Präqualifizierung ist lediglich beim Abschluss von Verträgen der Krankenkassen mit Leistungserbringern, die im Einzelfall nach § 127 Absatz 3 geschlossen werden, nicht notwendig.
Grundlage für die Präqualifizierungsanforderungen bildet das Berufsrecht der Leistungserbringer. Hierbei handelt es sich insbesondere um die Handwerksordnung und die Gewerbeordnung (vgl. Hauck/Noftz, SGB V, § 126 Rn. 9 f.). Unter Leistungserbringer fallen somit klassische Handwerksbetriebe und Angehörige von Handwerksberufen (vgl. Hauck/Noftz, SGB V, § 126 Rn. 13 ff.). Bei der Versorgung mit Hilfsmitteln kommt es nicht zu einer „Herstellung, Abgabe und Anpassung“ i. S. d.
§ 126 SGB V, da dies klassische handwerkliche Tätigkeiten nach der Handwerks- oder Gewerbeordnung voraussetzt. Vollstationäre Pflegeeinrichtungen sind daher nicht als Leistungserbringer i. S. d. § 126 SGB V einzuordnen und benötigen keine Präqualifizierung als Lieferant von Hilfsmitteln.
Ohne deren Einbezug in den vorstehend beschriebenen Vorgang der Herstellung, Abgabe und Anpassung von Hilfsmitteln geht es bei Pflegeeinrichtungen allenfalls noch um die sachgerechte Unterstützung der Versicherten bei deren Verwendung. Dies ist Gegenstand der Versorgungsverträge nach §§ 72 ff SGB XI, bei denen das auf die Auftragsvergabe oder die Beitrittsverträge zugeschnittene Präqualifizierungsverfahren aber gerade nicht zur Anwendung kommt. Zudem kontrollieren die im Zusammenhang mit dem Versorgungsvertrag durchgeführten Qualitätsprüfungen des MDK und der Heimaufsichten regelmäßig auch die hier relevante Unterstützung und fachgerechte Durchführung. Vor diesem Hintergrund besteht wegen dieser letztlich wirksameren Kontrolle keinerlei Bedarf nach dem zusätzlichen, kostspieligen und zudem zeitlich immer nur befristeten Präqualifizierungszertifikat im Sinne von § 126 Abs. 1a SGB V.
]]>der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) zum Entwurf
eines Gesetzes zur Einführung einer Teilzeitmöglichkeit in den
Jugendfreiwilligendiensten sowie im Bundesfreiwilligendienst
für Personen vor Vollendung des 27. Lebensjahres
(Freiwilligendienste-Teilzeit-Gesetz – FWDTeilzeitG) - Referentenentwurf Bearbeitungsstand 28.10.2018
Die BAGFW begrüßt das Vorhaben, Freiwilligen in einem gesetzlich geregelten Freiwilligendienst, die das 27. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, bei Vorliegen bestimmter Voraussetzungen einen Freiwilligendienst in Teilzeit ableisten zu können, ausdrücklich.
Die dazu im Referentenentwurf in den Artikeln 1 (Bundesfreiwilligendienstgesetz) und 2 (Jugendfreiwilligendienstegesetz) vorgelegten erforderlichen Änderungen sind nach Auffassung der BAGFW plausibel und sinnvoll. An einer Stelle regen wir allerdings eine Veränderung an:
Artikel 2 sieht u. a. vor, § 2 des Jugendfreiwilligendienstegesetz dahingehend zu ändern, dass das Taschengeld „bei einem Dienst vergleichbar einer Teilzeitbeschäftigung anteilig“ zu kürzen ist. Wir halten diese Regelung unter Hinweis auf die Zielsetzung des Gesetzentwurfes, eine bessere Vereinbarkeit zwischen den individuellen Lebensbedingungen und der Ermöglichung eines Freiwilligendienstes zu erreichen, für kontraproduktiv. Wir sprechen uns dafür aus, dass die Entscheidung über die Taschengeldhöhe in Trägerverantwortung liegt.
In der Begründung zum FWDTeilzeitG werden unter II die wesentlichen Inhalte des Gesetzentwurfs dargelegt und gleichzeitig Hinweise bzw. Erläuterungen zur administrativen Umsetzung gegeben. In diesem Zusammenhang sind der BAGFW folgende Punkte wichtig:
Bei der Umsetzung der gesetzlichen Änderungen gehen wir davon aus, dass die Entscheidung über ein „berechtigtes Interesse der Freiwilligen an einer Reduzierung der täglichen/wöchentlichen Dienstzeit“ in Trägerverantwortung liegt. Die Bestimmung, dass das berechtigte Interesse durch die Vorlage geeigneter Belege nachzuweisen und in der Einsatzstelle bzw. beim Träger als Anlage der Freiwilligendienstvereinbarung zu dokumentieren ist und nicht der weiteren Mitwirkung einer Bundesbehörde bedarf, wird ausdrücklich begrüßt. Hilfreich wäre es, wenn letzteres in der Begründung noch einmal klar bestätigt würde.
Während im FSJ das erforderliche Einverständnis zwischen der Einsatzstelle, dem Träger und der/dem Freiwilligen hergestellt wird, ist dieses für den BFD lediglich zwischen der Einsatzstelle und der/dem Freiwilligen erforderlich. Auch wenn es im BFD eine solche gesetzlich verankerte Trägerstruktur nicht gibt, dies aber durch die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege so praktiziert wird, sprechen wir uns dafür aus, dass auch hier die Träger die Entscheidung über eine Teilzeittätigkeit eigenverantwortlich treffen. Dies könnte durch die Erteilung einer Auflage der Zentralstellen an die Einsatzstellen erfolgen.
Die BAGFW begrüßt, dass „die Anzahl der Seminartage derjenigen im Vollzeitdienst entsprechen“ soll und diese auch teiltägig gestaltet werden können. Wir wünschen uns allerdings, dass grundsätzlich von vollen Bildungstagen ausgegangen wird und die für die pädagogische Begleitung zuständigen Stellen, in aller Regel die Träger, Spielräume für notwendige individuelle Verabredungen mit dem/der Freiwilligen erhalten, die die konkrete Einschränkung (Teilzeitgrund) berücksichtigen.
Durch das Absolvieren von Seminartagen mit einem größeren Stundenumfang als es der vereinbarten reduzierten regelmäßigen Arbeitszeit entspricht, sollten zudem keine Mehrarbeits-/Überstunden entstehen. Ansonsten befürchten wir Akzeptanzprobleme bei allen Beteiligten.
Bei der Umsetzung des FWDTeilzeitG geht die BAGFW selbstverständlich davon aus, dass bei Vorliegen der entsprechenden Voraussetzungen bzw. des Einvernehmens der Beteiligten auch ein bereits begonnener Vollzeit-Freiwilligendienst in einen Teilzeitdienst umgewandelt werden kann. Das sollte gleichermaßen auch für den umgekehrten Fall gelten.
Ebenso geht die BAGFW davon aus, dass der Förderbetrag für die pädagogische Begleitung bei einem Teilzeit-Freiwilligendienst der Höhe bei einem Vollzeit-Freiwilligendienst entspricht, da sich der Aufwand für die Begleitung nicht verringert.
Da der Gesetzentwurf keine explizite Regelung vorsieht, gehen wir davon aus, dass Freiwillige, die das 27. Lebensjahr noch nicht vollendet haben und einen Freiwilligendienst in Teilzeit absolvieren, zum Besuch eines Seminar zur politischen Bildung an einem Bildungszentrum des Bundes verpflichtet sind. Hier geben wir zu bedenken, dass es aufgrund der teilweise nicht unerheblichen Entfernungen vom Wohnort der/des Freiwilligen zu einem Bildungszentrum zu besonderen Belastungen kommen kann. Auch in diesen Fällen wünschen wir uns, dass die Beteiligten pragmatische, individuelle und sachgerechte Lösungen finden können.
Abschließend weisen wir darauf hin, dass Freiwillige, die einen Teilzeitdienst absolvieren, keine Schlechterstellung bei der Anerkennung ihrer Dienstzeit erfahren dürfen, d. h. konkret, dass auch Teilzeit-Freiwillige die gleichen Vergünstigungen und Vorteile (z. B. bei der Vergabe von Credit Points, Anerkennung eines Freiwilligendienstes bei der Aufnahme eines Studiums) wie Vollzeitfreiwillige erhalten sollen.
Wir würden uns freuen, wenn unsere Hinweise und Anmerkungen im weiteren Gesetzgebungsverfahren berücksichtigt würden.
Berlin, 29.11.2018
Bundesarbeitsgemeinschaft
der Freien Wohlfahrtspflege e. V.
Dr. Gerhard Timm
Geschäftsführer
Kontakt:
Michael Bergmann (michael.bergmann@caritas.de)
]]>Der Anstieg der Zahl der Leistungsempfänger/innen ist allerdings nicht erst seit der Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs zu verzeichnen: Bereits seit 2008 sind die Leistungsausgaben vor allem im ambulanten Bereich kontinuierlich angestiegen. Dieser Effekt ist auf die demographische Entwicklung zurückzuführen. Die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege setzen sich deshalb schon seit langem dafür ein, dass einer guten Versorgung pflegebedürftiger Menschen in einer älter werdenden Gesellschaft ein hoher Stellenwert beigemessen wird. Dazu gehört ein auskömmliches Finanzierungsvolumen.
Mit dem Beitragssatzanpassungsgesetz sollen nicht nur entstandene Defizite in der Pflegeversicherung ausgeglichen, sondern auch die Kosten für im Koalitionsvertrag vereinbarte Maßnahmen auf eine sichere finanzielle Grundlage gestellt werden. Nach Einschätzung der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege reicht die Anhebung des Beitragssatzes um 0,5 Prozentpunkte nicht aus, um die notwendigen Verbesserungen gegenfinanzieren zu können. Wir begrüßen nachdrücklich, dass die Regierungskoalition eine kontinuierliche Anpassung der Sachleistungsbeträge, die wir für kurzfristig notwendig erachten, sowie weitere Entlastungen pflegender Angehöriger in Aussicht gestellt hat. Schon in den beiden vergangenen Legislaturperioden haben wir uns für die Einführung eines sog. „Entlastungsbudgets“ für pflegebedürftige Menschen und ihre An- und Zugehörigen eingesetzt, wie dies im Koalitionsvertrag nun vorgesehen ist. Ein solches Entlastungsbudget soll nach Auffassung der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege Entlastungsleistungen wie Kurzzeitpflege, Verhinderungspflege, die Unterstützungsangebote im Alltag und perspektivisch auch die Tagespflege zusammenfassen, sodass die einzelnen Leistungen flexibler und individuell passgenau abgerufen werden können. Laut Koalitionsvertrag soll auch die solitäre Kurzzeitpflege auf- und ausgebaut werden, wofür sich die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege ebenfalls einsetzen. Auch die Möglichkeit des Flexirentengesetzes für pflegende Angehörige, ihre Vollrente auf eine Teilrente zu reduzieren, um zusätzliche Rentenpunkte durch die Pflege ihrer Angehörigen zu erwerben, was wir nachdrücklich unterstützen, entfaltet eine Kostenrelevanz.
Des Weiteren wurden durch das Pflege-Personalstärkungsgesetz (PpSG) viele Maßnahmen eingeführt, welche die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege nachdrücklich begrüßen, deren Kosten jedoch zu refinanzieren sind: So betragen die Leistungsausgaben in Folge des PpSG im Jahr 2019 rund 240 Mio. Euro, im Jahr 2020 rund 260 Mio. Euro, 2021 rund 250 Mio. Euro und 2022 rund 150 Mio. Euro.
Addiert man die Leistungsausgaben, die bereits entstanden sind und die Kosten, die perspektivisch durch die Umsetzung des Koalitionsvertrags entstehen werden, wird deutlich, dass das Finanzvolumen von 7,6 Mrd. Euro, das durch die Beitragssatzerhöhung entsteht, schon bald vollständig ausgeschöpft sein wird. Der Beitragssatz kann laut Gesetzentwurf durch die Erhöhung nur bis zum Jahr 2022 stabil gehalten werden. Bereits in der letzten Legislaturperiode musste der Beitragssatz um 0,5 Prozentpunkte angehoben werden, um die Leistungen zu finanzieren. Gleichzeitig fehlt ein Gesamtkonzept für die Finanzierung der Pflege und der Pflegeversicherung in einer älter werdenden Gesellschaft. Die Beitragssatzsteigerungen gehen gegenwärtig allein zu Lasten der Arbeitskosten.
Leistungsverbesserungen und eine bessere Personalausstattung in der Pflege inklusive der Anwendung einer flächendeckenden tariflichen Entlohnung erfordern eine nachhaltige Sicherung der Finanzierungsbasis der Pflegeversicherung. Aus Sicht der der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege muss die Einnahmebasis in der Pflegeversicherung verbreitert werden.
Ein solches Konzept sollte folgende Elemente beinhalten:
- Eine solidarische und paritätische Finanzierung: Dazu soll die Beitragsbemessungsgrenze bis auf das Niveau der Beitragsbemessungsgrenze in der Rentenversicherung angehoben werden.
- Ein einheitliches Versicherungssystem mit risikounabhängiger Kalkulation der Beiträge bzw. Prämien und einheitlichen Rahmenbedingungen für alle Anbieter. Wie von der LINKEN gefordert, sollen somit alle Bürgerinnen und Bürger in Deutschland das Recht haben, zu den Bedingungen der gesetzlichen Krankenversicherung versichert zu werden.
- Erweiterung der Einnahmebasis der gesetzlichen Pflegeversicherung durch Ausweitung der Beitragsbemessung auf über das Arbeitseinkommen hinausgehende Einkommensarten auf der Grundlage des steuerlichen Einkommensbegriffs.
- Die Refinanzierung der Kosten der medizinischen Behandlungspflege in vollstationären Pflegeeinrichtungen aus dem SGB V: Ein erster Schritt hierzu ist im PpSG erfolgt, indem die Kosten für die 13.000 zusätzlichen Stellen in vollstationären Pflegeeinrichtungen in Höhe von 640 Mio. Euro im Zusammenhang mit der medizinischen Behandlungspflege aus dem SGB V refinanziert werden. Die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege fordern den Gesetzgeber auf, die medizinische Behandlungspflege, deren Kosten nach unterschiedlichen Quellen auf ca. 3 Mrd. Euro geschätzt werden, noch in dieser Legislaturperiode vollumfänglich aus dem SGB V zu refinanzieren.
Die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege setzen sich zudem dafür ein, dass kurzfristig eine jährliche, an Kriterien der Kostenentwicklung orientierte Leistungsanpassung durchgeführt wird, um einen weiteren Realwertverlust der Leistungen zu vermeiden. Nur auf diese Art und Weise ist gewährleistet, dass die Sozialhilfeabhängigkeit pflegebedürftiger Menschen nicht weiter zunimmt.
Der Anteil der Sozialhilfeempfänger/innen an den Leistungsempfänger/innen, der sich in den Anfangsjahren der Pflegeversicherung nahezu halbiert hatte, ist seit 1999 wieder gestiegen. Er beläuft sich – mit Schwankungen – seit 10 Jahren auf ca. 30 Prozent im stationären Bereich und auf unter 5 Prozent im ambulanten Bereich, mit zuletzt leicht sinkenden Tendenzen.
Ein wesentliches Ziel einer nachhaltigen Finanzierung der Pflegeversicherung muss es somit sein, die Eigenbeteiligung der pflegebedürftigen Menschen zu verringern. Dies fordert auch die LINKE in ihrem Antrag. Steigende Eigenanteile sind insbesondere im stationären Bereich ein Problem: Obwohl die Eigenanteile in den vollstationären Einrichtungen nach Einführung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs und des einrichtungseinheitlichen Eigenanteils zunächst stabil waren bzw. in den ehemaligen Pflegestufen 2 und 3 sogar gesunken sind, ist seit dem 1.1.2018 in allen Bundesländern ein Anstieg zu beobachten. Der einrichtungseinheitliche Eigenanteil liegt im bundesweiten Durchschnitt bei 593 Euro (vgl. vdek-Basisdaten des Gesundheitswesens 2017/18, S. 51). Dabei ist darauf hinzuweisen, dass der Eigenanteil für die pflegebedingten Aufwendungen für Pflegebedürftige des Pflegegrad (PG) 1, die nicht dem einheitlichen Eigenanteil unterliegen, mit 918 Euro überdurchschnittlich hoch liegt, auch wenn diese Gruppe relativ klein ist (7,4 Prozent aller stationär Begutachteten des MDS im 1. Quartal 2017, 1,9% im 1. Quartal 2018). Des Weiteren ist darauf hinzuweisen, dass die Pflegebedürftigen des PG 2 im Vergleich zu ihrer Leistung aus der Pflegeversicherung in Höhe von 770 Euro einen hohen Eigenanteil für die pflegebedingten Aufwendungen zu entrichten haben. Hauptgrund für den Anstieg des Eigenanteils für die pflegebedingten Aufwendungen, insbesondere in 2018, dürften Tarifsteigerungen sein. Die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege setzen sich für eine gute Bezahlung auf tariflicher Grundlage ein und begrüßen und unterstützen diese Entwicklung daher nachdrücklich. Auch die Regierungskoalition hat sich zum Ziel gesetzt, die Tarifbindung in der Pflege zu forcieren. Gegenwärtig werden dazu Vorschläge u.a. in der Konzertierten Aktion Pflege erarbeitet. Tarifsteigerungen in der Altenpflege dürfen aber – ebenso wenig wie im Krankenhaus – nicht zu Lasten der Leistungsempfänger gehen.
Ein weiteres Ziel muss eine bedarfsgerechte Personalbemessung auf der Grundlage der Ergebnisse des Projektes zur Personalbemessung nach § 113c SGB XI sein, die bis Mitte 2020 zu erproben sind. Auch hier ist Sorge zu tragen, dass eine bessere Personalausstattung in den Pflegeeinrichtungen nicht zu Lasten der pflegebedürftigen Menschen geht und dass die erhobenen Personalbemessungswerte Verbindlichkeit erhalten.
Einen wesentlichen Beitrag zu der vergleichsweise hohen Quote von Sozialhilfeempfänger/innen im stationären Bereich dürften auch die (nicht refinanzierten) Investitionskosten geleistet haben. Der Anteil der Investitionskosten an der Gesamteigenbe-lastung der Versicherten in stationären Einrichtungen belief sich im bundesweiten Durchschnitt zum 1.1.2018 auf 463 Euro (vgl. vdek-Basisdaten des Gesundheitswesens 2017/18, S. 51), mit erheblichen Schwankungen zwischen den Bundesländern. Dieser Anteil ließe sich reduzieren, wenn die Bundesländer ihrer Verpflichtung zur finanziellen Förderung der Investitionskosten gemäß § 9 SGB XI nachkommen würden. Nur sechs Bundesländer fördern die Investitionskosten in der vollstationären Pflege (BT-Drs. 19/1572, S. 5).
Perspektivisch muss das Pflegeversicherungssystem vom heutigen Teilleistungssystem so weiterentwickelt werden, dass die Versicherten eine bedarfsgerechte Versorgung erhalten und ihre selbst zu tragenden Kosten auf einer transparenten und verlässlichen Basis begrenzt werden.
Der Bericht verweist in diesem Zusammenhang auf die Konzertierte Aktion Pflege (KAP), die den Auftrag hat, den Arbeitsalltag und die Arbeitsbedingungen von beruflich Pflegenden spürbar zu verbessern. Es besteht die Erwartung, dass von der Konzertierten Aktion Pflege (KAP) ein Motivationsschub für die generalistische Pflegeausbildung ausgehen wird.
Der Abschlussbericht würdigt den Start der neuen generalistischen Pflegeausbildung im Jahr 2020 als Chance für die Steigerung der Attraktivität der Pflegeausbildung. Analog zur Ausbildungs- und Qualifizierungsoffensive sollte die neue Ausbildung zur Pflegefachfrau und zum Pflegefachmann durch geeignete Maßnahmen begleitet werden.
Die im Bericht dargestellten Materialen sind umfassend und aussagefähig, so dass ein guter Überblick über die Ausbildungssituation in der Altenpflege vermittelt wird. Allerdings finden sich keine Zahlen zum praktischen Teil der Ausbildung und es bleibt damit offen, ob das Angebot an praktischen Ausbildungsplätzen in den Diensten und Einrichtungen ausreichend war oder sich hinderlich ausgewirkt hat.
Die fördernde Wirkung der bundeslandbezogenen Ausbildungsumlage auf die Ausbildungsbereitschaft wird im Bericht anschaulich belegt. Es ist zu erwarten, dass sich die im Pflegeberufegesetz vorgesehene Umlage der Ausbildungskosten ebenso positiv auf die Ausbildungszahlen auswirken wird.
Die Gewinnung Auszubildender aus dem Ausland wird nur kurz behandelt, ohne dass ihre quantitative Bedeutung für die Ausbildungszahlen ausgeführt und bewertet wird. Die Gewinnung Auszubildender aus dem Ausland ist ein Beispiel für ein Thema, das zukünftig zur Förderung der Ausbildung in der Pflege erneut aufgegriffen und weitergeführt werden sollte.
Zur besseren Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf wird auf die Regelungen des Pflegezeitgesetzes und des Familienpflegezeitgesetzes verwiesen. Es fehlt der Hinweis, dass die gesetzlichen Regelungen nicht zu den angestrebten Wirkungen geführt haben und es dringend wirkungsvollerer unterstützender gesetzlicher Regelungen bedarf.
Ebenso fehlt eine fundierte Behandlung der Personen, die die Altenpflegeausbildung vorzeitig beenden. Eine quantitative und qualitative Analyse der Gründe und Ursachen könnte zu einer Reduzierung der nicht abgeschlossenen Ausbildungen beitragen.
In der ausführlichen „Bilanz der Offensive“ setzt sich der Abschlussbericht mit der Verbesserung der Arbeitssituation in der Altenpflege auseinander. Dort finden sich Einschätzungen, die nicht durch entsprechende Fakten belegt werden. Auf einen kritischen Aspekt sei an dieser Stelle hingewiesen: Auf Seite 24 findet sich der Satz „Aufgrund des Fachkräftemangels und der zunehmenden Herausforderung, Pflegekräfte zu gewinnen, hat sich das Entgeltniveau für Altenpflegefachkräfte nach Aussagen der Verbände bereits deutlich vom Mindestlohn in der Pflege entfernt.“ Es fehlt ein Bezug für diese angebliche „Aussage der Verbände“. Weiterhin bestehen deutliche Zweifel, ob die Aussage, dass sich der Lohn einer Pflegefachkraft vom gesetzlichen Mindestlohn (9,40 Euro Bruttostundenlohn in 2015) wegbewegt hat, wirklich als Erfolg bewertet werden kann.
Im Folgenden betont der Abschlussbericht die Bedeutung der Einkommensentwicklung in den Pflegeberufen. In diesem Zusammenhang sei auf die unbefriedigende Situation der ambulanten Pflegedienste hingewiesen, die ihre Vergütung im freien Spiel der Kräfte mit denen der Krankenkassen aushandeln müssen. Faire Verhandlungen setzen jedoch auch ein Gleichgewicht dieser Kräfte voraus. Ein solches besteht allerdings nicht. Die Krankenkassen berufen sich auf eine Lücke im Fünften Sozialgesetzbuch und verweigern eine volle Refinanzierung der Tarifsteigerungen. Den ambulanten Pflegediensten stehen keine wirkungsvollen Möglichkeiten zur Verfügung, um ihre Vergütungsforderungen durchsetzen zu können. Selbst die Nutzung von Rechtsschutzmöglichkeiten wie z.B. Schiedsverfahren kann einem langjährigen Zeitverlust bis zum eventuellen und höchst unsicheren Erfolg nicht verhindern. Die Folgen sind dramatisch. Sozialstationen berichten immer wieder von Arbeitsverdichtungen bei den Mitarbeitenden und wirtschaftlichen Notlagen der Dienste. Das zeigt, wie sehr sie existenziell von der Vergütung eines marktgerechten und kostendeckenden Stundensatzes durch die jeweilige gesetzliche Krankenkasse abhängig sind.
Viele gesetzliche Krankenkassen weigern sich jedoch, diesen sachgerechten Kosten Rechnung zu tragen. Die Gleichsetzung tariflicher Entlohnung mit wirtschaftlicher Betriebsführung muss deshalb auch im SGB V festgeschrieben werden.
Der Verband katholischer Altenhilfe in Deutschland e. V. (VKAD) hat im Jahr 2014/15 mit einer Online-Petition (über 50.000 Unterzeichner/innen) gegen diesen Missstand mobilisiert, weil dieser bundesweit die ambulanten Pflegedienste unter massiven Existenzdruck stellt.
Der Erfolg der Ausbildungs- und Qualifizierungsoffensive ist nicht zuletzt auch dem Engagement der Mitarbeitenden in den Pflegeschulen sowie in den Diensten und Einrichtungen zu verdanken, die sich neben ihren Alltagsaufgaben für die Auszubildenden engagiert haben. Es wäre schön dieses Engagement im Abschlussbericht zu würdigen.
Berlin, 29.08.2018
Bundesarbeitsgemeinschaft
der Freien Wohlfahrtspflege e. V.
Dr. Gerhard Timm
Geschäftsführer
Kontakt:
Manfred Carrier (manfred.carrier@diakonie.de)
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Please provide a brief overview of the general approach in your country to support the social inclusion of people of working age who are furthest away
from the labour market (around 500 words)
Please describe further the target group, possible sub-groups and respective support measures.
Für arbeitsmarktferne Menschen im erwerbsfähigen Alter sieht das Sozialleistungs- system im SGB II die Grundsicherung für Arbeitssuchende vor. Aufgabe und Ziel der Förderung im SGB II ist neben der Existenzsicherung auch die Unterstützung bei der Aufnahme oder Beibehaltung einer Erwerbstätigkeit. Leistungen zur Eingliederung in Arbeit können erbracht werden, damit langfristig der Lebensunterhalt wieder aus ei- genen Mitteln und Kräften durch Erwerbsarbeit unabhängig von der Grundsicherung bestritten werden kann. Der gesetzliche Rahmen zur Erbringung von Eingliederungs- leistungen (§ 16 SGB II i.V.m SGB III) ist weit gespannt und ermöglicht potentiell viele Förderaktivitäten, um auch arbeitsmarktferne Personen schrittweise wieder an den allgemeinen Arbeitsmarkt heranzuführen. Die Ursachen für Langzeitarbeitslosigkeit sind oftmals sehr heterogen. Neben Hemmnissen wie z. B. ein höheres Alter, geringe Qualifikation oder fehlender Bildungsabschluss, können auch gesundheitliche und psychische Probleme oder fehlende Kinderbetreuung die Vermittlung in Arbeit er- schweren. Deshalb gibt es neben den Leistungen zur Eingliederung in Arbeit gem. § 16 SGB II auch kommunale Eingliederungsleistungen, die die Betreuung minder- jähriger oder behinderter Kinder, die häusliche Pflege von Angehörigen, Schuldner- beratung, psychosoziale Beratung oder eine Suchtberatung vorsehen. Die kommunalen Eingliederungsleistungen sollen bei der Lösung der persönlichen Prob- leme unterstützen und so zur Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt beitragen, wenn sie auch in der Regel nicht alleine zum Erfolg führen. Diese Leistungen können nur insofern erbracht werden, als sie für die Eingliederung der Leistungsberechtigten ins Erwerbsleben erforderlich sind (§ 16a SGB II). Neu ist das Vorhaben der Bundes- regierung, mit längerfristiger öffentlich geförderter Beschäftigung ein Angebot zur Teilhabe an Erwerbsarbeit für sehr langjährige Arbeitslose ohne Zugang zum Ar- beitsmarkt zu schaffen. Alle genannten Ansätze sind darauf gerichtet, die Erwerbsin- tegration zu befördern; darüber kann auch soziale Teilhabe vermittelt werden.
Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege plädieren dafür, auch die soziale Teilhabe als Ziel im SGB II zu verankern. Zur Teilhabe gehört neben auskömmlichen Regel- bedarfen und einer sozialen Infrastruktur auch Teilhabe durch Arbeitsmöglichkeiten. Leistungsberechtige, die z.B. psychische Probleme haben, brauchen für den Erhalt ihrer Teilhabechancen allerdings auch niedrigschwellige Angebote, die nicht unmit- telbar der Aufnahme und Beibehaltung einer Erwerbstätigkeit dienen.
Für die Zielgruppe der schwer erreichbaren Jugendlichen und jungen Erwachsenen wurde zudem subsidiär zu den Maßnahmen nach dem im SGB VIII geregelten Kin- der- und Jugendhilfegesetz der § 16h SGB II geschaffen. Dieser soll schwer erreich- baren Jugendlichen und jungen Erwachsenen eine Förderung ermöglichen, um individuelle Schwierigkeiten zu überwinden und erforderliche therapeutische Behand- lungen einzuleiten, aber auch um sie in die Lage zu versetzen, eine „… schulische, ausbildungsbezogene und berufliche Qualifikation abzuschließen oder anders ins Arbeitsleben einzumünden“ bzw. „Sozialleistungen zu beantragen oder anzunehmen“ Leistungen nach § 16h SGB II sind nachrangig gegenüber Leistungen nach SGB
VIII. Grundsätzlich sollte der örtliche Träger der öffentlichen Jugendhilfe Leistungen für diese Zielgruppe anbieten. Nur im Falle, dass eine gleichartige – wie in § 16h be- schriebene – Leistungserbringung durch die örtliche Jugendhilfe tatsächlich nicht erfolgt, kann eine Leistung über das Jobcenter erbracht werden.
II. Questionnaire
1. What social services, besides active labour market inclusion measures, are available in your country to support the people of working age furthest away from the labour market?
Please list the social services available for this sub/ group/s. Please focus on the need they address.
Are these social services part of the mainstream social services or are they specifically set- up to support the people of working age furthest from the labour market?
Neben der Arbeitsförderung (SGB III) ist die “Grundsicherung für Arbeitssuchende” (SGB II) das zentrale Sicherungssystem für Menschen im erwerbsfähigen Alter, die ihren Lebensunterhalt nicht aus eigenen Kräften und Mitteln sicherstellen können. Neben der Existenzsicherung sieht das SGB II Leistungen zur Eingliederung in Arbeit (§ 16 SGB II) und die sogen. kommunalen Eingliederungsleistungen nach § 16a SBG II vor. Die Leistungen zur Eingliederung in Arbeit richten sich teils explizit an arbeits- marktferne Personen, wie z.B. die Instrumente der öffentlich geförderten Beschäfti- gung oder haben – mit Einschränkungen – das Potential, in der Praxis so ausgerichtet zu werden, dass sie den Bedürfnissen arbeitsmarktferner Personen ge- recht werden. Insbesondere die vorbereitenden bzw. flankierenden Maßnahmen gem. § 16a SGB II sollen verhindern helfen, dass die Eingliederung ins Erwerbsleben an Schwierigkeiten scheitert, die in der allgemeinen Lebensführung ihren Grund ha- ben und werden auch sozial-integrative Leistungen genannt. Umfasst sind: die Be- treuung minderjähriger oder behinderter Kinder oder die häusliche Pflege von Angehörigen, Schuldnerberatung, psychosoziale Betreuung und Suchtberatung. Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege stellen in der Förderpraxis gravierende För- derlücken fest.
Zentrale Voraussetzungen für Ansprüche nach dem SGB II ist die Hilfebedürftigkeit (§ 9 SGB II). Zu den Leistungsberechtigten gehören folglich nicht nur Arbeitslose, sondern auch sog. Aufstocker, deren Einkommen nicht zur Sicherung des Lebensunterhalts ausreicht. Einige Arbeitsmarktdienstleistungen richten sich speziell an arbeitsmarktferne Personen. Die sozial-integrativen Leistungen des § 16 a SGB II haben diese Einschränkung nicht. Sie sind jedoch nur dann zu erbringen, wenn es der ganzheitlichen Unterstützung und Betreuung bedarf und sie für die Eingliederung in das Erwerbsleben erforderlich sind.
2. Are there conditions on access to these services/measures?
Please describe the access criteria per (type of) service/measure (e.g.: universal or targeted, type of means-test, referral, needs assessment, eligibility of social assistance beneficiaries, etc.).
Leistungen nach § 16a SGB II können nur an Leistungsberechtigte des SGB II er- bracht werden, d.h. wenn Hilfebedürftigkeit im Sinne des § 9 Abs. 1 SGB II besteht. Folglich ist es ausgeschlossen, eine präventive Leistung vor Eintritt der Hilfebedürftigkeit zur erbringen, was die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege kritisieren. Die Leistungen müssen “für die Eingliederung der oder des erwerbsfähigen Leistungsberechtigten in das Erwerbsleben erforderlich” sein, § 16a SGB II. Dafür genügt es, wenn sich langfristig eine Verbesserung der Eingliederungschancen erreichen lässt. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) ist das Vorliegen einer Eingliederungsvereinbarung nicht Voraussetzung für die Gewährung von Leistungen nach § 16a SGB II. Wenn der erwerbsfähige Leistungsberechtigte mit anderen Personen, insbes. mit Kindern, in einer Bedarfsgemeinschaft lebt, können Sach- und Dienstleistungen nach § 16a SGB II auch an diese erbracht werden, wenn sie deren Eingliederungschancen verbessern.
3. How are the services provided?
Please describe the level of the administration and provision (national, regional, local level), type of providers (public, NGO, private for profit), accreditation measures, and funding sys- tem.
Please describe if any of the measures are provided as a part of an integrated/complex pro- vision?
§ 16a SGB II umfasst vier Leistungen. Die Kinderbetreuung wird von Kommunen, privaten, kirchlichen Anbietern und Trägern der Freien Wohlfahrtspflege erbracht. Schuldner-, Sucht- und psychosoziale Beratung werden zum Großteil von den Verbänden der Freien Wohlfahrtspflege, aber auch von freien Trägern und dem sozial- psychiatrischen Dienst, der in der Regel bei den Kommunen angesiedelt ist, erbracht. Die Leistungen zur Eingliederung in Arbeit gem. § 16 SGB II werden in der Praxis als Maßnahmen der Arbeitsmarktförderung von freien Trägern, privat-gewerblichen Bil- dungsanbietern und teils auch von staatlichen Einrichtungen wie z.B. Schulen durchgeführt.
Leistungsberechtigte nach dem SGB II werden von ihrem Fallmanager einer Maß- nahme zugewiesen und müssen sich vor Ort das Angebot ihrer Wahl aussuchen. Die Maßnahmen der § 16 a-h SGB II werden von privaten Anbietern bzw. den Verbän- den der Freien Wohlfahrtspflege angeboten. Die Ausrichtung und Schwerpunkte der Maßnahmen werden von den regionalen Jobcentern nach den regionalen Bedingun- gen gestaltet. Aufgrund der örtlich unterschiedlichen Situation gibt es keine einheitliche Organisation der Leistungserbringung.
Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege erbringen Leistungen der genannten Art vielerorts auch für Nicht-Leistungsberechtigte. Aufgrund der oft prekären Refinanzie- rung dieser Beratungsstellen gibt es regelmäßig lange Wartelisten. In der Situation,
in der Menschen z. B. eine Schuldner- oder Suchtberatungsstelle aufsuchen, besteht jedoch in der Regel akuter Handlungsbedarf, damit sich z.B. die Verschuldungssituation nicht verschlimmert. Die Verbände fordern daher eine regelhafte Finanzierung dieser Angebote für alle Ratsuchenden.
4. How are these services focusing specifically at the social inclusion?
Please describe briefly how the provision of the services is specifically aiming at the social inclusion of this group of people (if relevant at national/regional or local levels). For example, vocational rehabilitation for people with disabilities aimed at their further integration into the labour market, or housing and coaching/psychological counselling for homeless people.
Please describe briefly how the respective measures/services elaborate a path-way for social inclusion of the people of working age furthest away from the labour market?
Please focus on the cooperation/link between these services and the active labour market measures/ services (if existing), or on the overall long-run strategy requiring cooperation of these two types of services.
Eine Abstimmung zwischen den sozial-integrativen § 16a-Leistungen und Arbeits- marktleistungen sollte insofern stattfinden, als dass sie Teil einer Integrationsstrate- gie sind, die die Integrationsfachkraft im Jobcenter gemeinsam mit dem Leistungs- berechtigten vereinbart. In der Praxis ist die räumliche und zeitliche Koordination der unterschiedlichen Leistungen schwierig, weil sie in der Regel durch verschiedene Träger umgesetzt werden und notwendige Ressourcen zur Koordination der Hilfen oft nur im Fallmanagement der Jobcenter bereitstehen. Eine einzelfallübergreifende Abstimmung der Hilfen unterschiedlicher Rechtskreise, z.B. im Rahmen der kommu- nalen Sozialplanung, findet insgesamt zu wenig statt.
Für Menschen mit Behinderungen sind im SGB IX spezielle Leistungen zur Rehabilitation und Teilhabe geregelt. Ziel ist es gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu fördern, Benachteiligungen zu vermeiden oder ihnen entgegenzuwirken. Dazu gehört ganz wesentlich auch die Teilhabe am Arbeitsleben.
Spezielle Maßnahmen für Wohnungslose sieht das SGB II bzw. der § 16 a SGB II nicht vor. Diese können z. B. auf Grundlage der §§ 67 f. SGB XII erbracht werden.
In der Straffälligenhilfe gilt es vor allem sicherzustellen, dass Maßnahmen direkt nach der Haft begonnen werden können. D.h. Planung und Beantragung sollte noch während der Haft und in Kooperation mit den Strafvollzugsbehörden erfolgen.
5. What is the role of the European Structural and Investment Funds?
If applicable, please describe the use of the European Structural and Investment Funds (es- pecially the European Social Fund) in establishing and running the services.
Für den Europäischen Sozialfonds gilt das Prinzip der Zusätzlichkeit, d.h. Förderung durch EU-Programme darf keine nationale Regelförderung ersetzen. ESF-Förderung wird daher auf Bundes- und Landesebene genutzt, um zusätzliche Angebote u.a. zur Integration bestimmter Gruppen in den Arbeitsmarkt zu entwickeln und neue Ansätze und Maßnahmen zu testen (Innovation). Die entsprechenden Projekte werden u.a. durch Wohlfahrtsverbände, Kommunen oder die Jobcenter durchgeführt. Auf Bundesebene wird beispielsweise ein Programm zur Re-Integration von Müttern in die Erwerbstätigkeit angeboten oder arbeitsmarktferne langzeitarbeitslose Leistungsbe- zieher im SGB II durch intensives Coaching, gezielte Betriebsakquise und einen fi- nanziellen Zuschuss für Arbeitgeber in den allgemeinen Arbeitsmarkt vermittelt. Um die Leistungsfähigkeit des ESF zu steigern, müssen jedoch für die Projektträger drin- gend Verwaltungserleichterungen eingeführt werden. Für Obdachlose und stark be- nachteiligte EU-Zugewanderte wird zusätzlich der Europäische Hilfsfonds EHAP genutzt, um diese an die Regelinstrumente des bestehenden Hilfe- und Unterstüt- zungssystems heranzuführen. Projekte werden hier von einem Wohlfahrtsverband oder einer Migrant(inn)enorganisation gemeinsam mit der Kommune durchgeführt. Die Nachfrage durch diese Zielgruppe übersteigt die Erwartungen bei weitem, so dass dieses Angebot ausgebaut werden sollte und aus Sicht der Verbände der Freien Wohlfahrtspflege am besten in die Regelförderung überführt werden sollte.
6. What are the monitoring practices?
Please describe how the objectives are monitored. What assessment and monitoring tools have been put in place (e.g. indicators, evaluations, audits)? Which areas are covered through monitoring (e.g. quality aspects, take-up of the social services, etc.)?
Die Inanspruchnahme der Instrumente im SGB II (inklusive der kommunalen Einglie- derungsleistungen nach § 16a) wird durch die Jobcenter statistisch erfasst. Die Daten sind in der Statistik der Bundesagentur für Arbeit öffentlich einsehbar.
Ein Monitoring der unterschiedlichen sozialen Hilfen für arbeitsmarktfernste Personen findet – wenn überhaupt – nur punktuell im Rahmen der kommunalen Sozialplanung statt. In der Arbeitsmarktpolitik des Bundes gibt es eine ausdifferenzierte Wirkungs- forschung, deren Reichweite sich aber auf die Arbeitsmarktförderung im engeren Sinne begrenzt (und insofern benachbarte Hilfesysteme wie etwa die psychiatrischen Hilfen oder Angebote der Kinder- und Jugendhilfe ausblendet) und nur die Wirkung einzelner Arbeitsmarktinstrumente auf die Erwerbsintegration beleuchtet. Es fehlen Studien, die systematisch individuelle Fallverläufe nachzeichnen und damit qualitative Erkenntnisse über Fortschritte und Misserfolge im zeitlichen Förderverlauf und im Zusammenwirken unterschiedlicher Hilfen liefern.
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Please provide a brief overview of the general approach in your country to support the social inclusion of people of working age who are furthest away
from the labour market (around 500 words)
Please describe further the target group, possible sub-groups and respective support measures.
Für arbeitsmarktferne Menschen im erwerbsfähigen Alter sieht das Sozialleistungs- system im SGB II die Grundsicherung für Arbeitssuchende vor. Aufgabe und Ziel der Förderung im SGB II ist neben der Existenzsicherung auch die Unterstützung bei der Aufnahme oder Beibehaltung einer Erwerbstätigkeit. Leistungen zur Eingliederung in Arbeit können erbracht werden, damit langfristig der Lebensunterhalt wieder aus ei- genen Mitteln und Kräften durch Erwerbsarbeit unabhängig von der Grundsicherung bestritten werden kann. Der gesetzliche Rahmen zur Erbringung von Eingliederungs- leistungen (§ 16 SGB II i.V.m SGB III) ist weit gespannt und ermöglicht potentiell viele Förderaktivitäten, um auch arbeitsmarktferne Personen schrittweise wieder an den allgemeinen Arbeitsmarkt heranzuführen. Die Ursachen für Langzeitarbeitslosigkeit sind oftmals sehr heterogen. Neben Hemmnissen wie z. B. ein höheres Alter, geringe Qualifikation oder fehlender Bildungsabschluss, können auch gesundheitliche und psychische Probleme oder fehlende Kinderbetreuung die Vermittlung in Arbeit er- schweren. Deshalb gibt es neben den Leistungen zur Eingliederung in Arbeit gem. § 16 SGB II auch kommunale Eingliederungsleistungen, die die Betreuung minder- jähriger oder behinderter Kinder, die häusliche Pflege von Angehörigen, Schuldner- beratung, psychosoziale Beratung oder eine Suchtberatung vorsehen. Die kommunalen Eingliederungsleistungen sollen bei der Lösung der persönlichen Prob- leme unterstützen und so zur Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt beitragen, wenn sie auch in der Regel nicht alleine zum Erfolg führen. Diese Leistungen können nur insofern erbracht werden, als sie für die Eingliederung der Leistungsberechtigten ins Erwerbsleben erforderlich sind (§ 16a SGB II). Neu ist das Vorhaben der Bundes- regierung, mit längerfristiger öffentlich geförderter Beschäftigung ein Angebot zur Teilhabe an Erwerbsarbeit für sehr langjährige Arbeitslose ohne Zugang zum Ar- beitsmarkt zu schaffen. Alle genannten Ansätze sind darauf gerichtet, die Erwerbsin- tegration zu befördern; darüber kann auch soziale Teilhabe vermittelt werden.
Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege plädieren dafür, auch die soziale Teilhabe als Ziel im SGB II zu verankern. Zur Teilhabe gehört neben auskömmlichen Regel- bedarfen und einer sozialen Infrastruktur auch Teilhabe durch Arbeitsmöglichkeiten. Leistungsberechtige, die z.B. psychische Probleme haben, brauchen für den Erhalt ihrer Teilhabechancen allerdings auch niedrigschwellige Angebote, die nicht unmit- telbar der Aufnahme und Beibehaltung einer Erwerbstätigkeit dienen.
Für die Zielgruppe der schwer erreichbaren Jugendlichen und jungen Erwachsenen wurde zudem subsidiär zu den Maßnahmen nach dem im SGB VIII geregelten Kin- der- und Jugendhilfegesetz der § 16h SGB II geschaffen. Dieser soll schwer erreich- baren Jugendlichen und jungen Erwachsenen eine Förderung ermöglichen, um individuelle Schwierigkeiten zu überwinden und erforderliche therapeutische Behand- lungen einzuleiten, aber auch um sie in die Lage zu versetzen, eine „… schulische, ausbildungsbezogene und berufliche Qualifikation abzuschließen oder anders ins Arbeitsleben einzumünden“ bzw. „Sozialleistungen zu beantragen oder anzunehmen“ Leistungen nach § 16h SGB II sind nachrangig gegenüber Leistungen nach SGB
VIII. Grundsätzlich sollte der örtliche Träger der öffentlichen Jugendhilfe Leistungen für diese Zielgruppe anbieten. Nur im Falle, dass eine gleichartige – wie in § 16h be- schriebene – Leistungserbringung durch die örtliche Jugendhilfe tatsächlich nicht erfolgt, kann eine Leistung über das Jobcenter erbracht werden.
II. Questionnaire
1. What social services, besides active labour market inclusion measures, are available in your country to support the people of working age furthest away from the labour market?
Please list the social services available for this sub/ group/s. Please focus on the need they address.
Are these social services part of the mainstream social services or are they specifically set- up to support the people of working age furthest from the labour market?
Neben der Arbeitsförderung (SGB III) ist die “Grundsicherung für Arbeitssuchende” (SGB II) das zentrale Sicherungssystem für Menschen im erwerbsfähigen Alter, die ihren Lebensunterhalt nicht aus eigenen Kräften und Mitteln sicherstellen können. Neben der Existenzsicherung sieht das SGB II Leistungen zur Eingliederung in Arbeit (§ 16 SGB II) und die sogen. kommunalen Eingliederungsleistungen nach § 16a SBG II vor. Die Leistungen zur Eingliederung in Arbeit richten sich teils explizit an arbeits- marktferne Personen, wie z.B. die Instrumente der öffentlich geförderten Beschäfti- gung oder haben – mit Einschränkungen – das Potential, in der Praxis so ausgerichtet zu werden, dass sie den Bedürfnissen arbeitsmarktferner Personen ge- recht werden. Insbesondere die vorbereitenden bzw. flankierenden Maßnahmen gem. § 16a SGB II sollen verhindern helfen, dass die Eingliederung ins Erwerbsleben an Schwierigkeiten scheitert, die in der allgemeinen Lebensführung ihren Grund ha- ben und werden auch sozial-integrative Leistungen genannt. Umfasst sind: die Be- treuung minderjähriger oder behinderter Kinder oder die häusliche Pflege von Angehörigen, Schuldnerberatung, psychosoziale Betreuung und Suchtberatung. Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege stellen in der Förderpraxis gravierende För- derlücken fest.
Zentrale Voraussetzungen für Ansprüche nach dem SGB II ist die Hilfebedürftigkeit (§ 9 SGB II). Zu den Leistungsberechtigten gehören folglich nicht nur Arbeitslose, sondern auch sog. Aufstocker, deren Einkommen nicht zur Sicherung des Lebensunterhalts ausreicht. Einige Arbeitsmarktdienstleistungen richten sich speziell an arbeitsmarktferne Personen. Die sozial-integrativen Leistungen des § 16 a SGB II haben diese Einschränkung nicht. Sie sind jedoch nur dann zu erbringen, wenn es der ganzheitlichen Unterstützung und Betreuung bedarf und sie für die Eingliederung in das Erwerbsleben erforderlich sind.
2. Are there conditions on access to these services/measures?
Please describe the access criteria per (type of) service/measure (e.g.: universal or targeted, type of means-test, referral, needs assessment, eligibility of social assistance beneficiaries, etc.).
Leistungen nach § 16a SGB II können nur an Leistungsberechtigte des SGB II er- bracht werden, d.h. wenn Hilfebedürftigkeit im Sinne des § 9 Abs. 1 SGB II besteht. Folglich ist es ausgeschlossen, eine präventive Leistung vor Eintritt der Hilfebedürftigkeit zur erbringen, was die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege kritisieren. Die Leistungen müssen “für die Eingliederung der oder des erwerbsfähigen Leistungsberechtigten in das Erwerbsleben erforderlich” sein, § 16a SGB II. Dafür genügt es, wenn sich langfristig eine Verbesserung der Eingliederungschancen erreichen lässt. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) ist das Vorliegen einer Eingliederungsvereinbarung nicht Voraussetzung für die Gewährung von Leistungen nach § 16a SGB II. Wenn der erwerbsfähige Leistungsberechtigte mit anderen Personen, insbes. mit Kindern, in einer Bedarfsgemeinschaft lebt, können Sach- und Dienstleistungen nach § 16a SGB II auch an diese erbracht werden, wenn sie deren Eingliederungschancen verbessern.
3. How are the services provided?
Please describe the level of the administration and provision (national, regional, local level), type of providers (public, NGO, private for profit), accreditation measures, and funding sys- tem.
Please describe if any of the measures are provided as a part of an integrated/complex pro- vision?
§ 16a SGB II umfasst vier Leistungen. Die Kinderbetreuung wird von Kommunen, privaten, kirchlichen Anbietern und Trägern der Freien Wohlfahrtspflege erbracht. Schuldner-, Sucht- und psychosoziale Beratung werden zum Großteil von den Verbänden der Freien Wohlfahrtspflege, aber auch von freien Trägern und dem sozial- psychiatrischen Dienst, der in der Regel bei den Kommunen angesiedelt ist, erbracht. Die Leistungen zur Eingliederung in Arbeit gem. § 16 SGB II werden in der Praxis als Maßnahmen der Arbeitsmarktförderung von freien Trägern, privat-gewerblichen Bil- dungsanbietern und teils auch von staatlichen Einrichtungen wie z.B. Schulen durchgeführt.
Leistungsberechtigte nach dem SGB II werden von ihrem Fallmanager einer Maß- nahme zugewiesen und müssen sich vor Ort das Angebot ihrer Wahl aussuchen. Die Maßnahmen der § 16 a-h SGB II werden von privaten Anbietern bzw. den Verbän- den der Freien Wohlfahrtspflege angeboten. Die Ausrichtung und Schwerpunkte der Maßnahmen werden von den regionalen Jobcentern nach den regionalen Bedingun- gen gestaltet. Aufgrund der örtlich unterschiedlichen Situation gibt es keine einheitliche Organisation der Leistungserbringung.
Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege erbringen Leistungen der genannten Art vielerorts auch für Nicht-Leistungsberechtigte. Aufgrund der oft prekären Refinanzie- rung dieser Beratungsstellen gibt es regelmäßig lange Wartelisten. In der Situation,
in der Menschen z. B. eine Schuldner- oder Suchtberatungsstelle aufsuchen, besteht jedoch in der Regel akuter Handlungsbedarf, damit sich z.B. die Verschuldungssituation nicht verschlimmert. Die Verbände fordern daher eine regelhafte Finanzierung dieser Angebote für alle Ratsuchenden.
4. How are these services focusing specifically at the social inclusion?
Please describe briefly how the provision of the services is specifically aiming at the social inclusion of this group of people (if relevant at national/regional or local levels). For example, vocational rehabilitation for people with disabilities aimed at their further integration into the labour market, or housing and coaching/psychological counselling for homeless people.
Please describe briefly how the respective measures/services elaborate a path-way for social inclusion of the people of working age furthest away from the labour market?
Please focus on the cooperation/link between these services and the active labour market measures/ services (if existing), or on the overall long-run strategy requiring cooperation of these two types of services.
Eine Abstimmung zwischen den sozial-integrativen § 16a-Leistungen und Arbeits- marktleistungen sollte insofern stattfinden, als dass sie Teil einer Integrationsstrate- gie sind, die die Integrationsfachkraft im Jobcenter gemeinsam mit dem Leistungs- berechtigten vereinbart. In der Praxis ist die räumliche und zeitliche Koordination der unterschiedlichen Leistungen schwierig, weil sie in der Regel durch verschiedene Träger umgesetzt werden und notwendige Ressourcen zur Koordination der Hilfen oft nur im Fallmanagement der Jobcenter bereitstehen. Eine einzelfallübergreifende Abstimmung der Hilfen unterschiedlicher Rechtskreise, z.B. im Rahmen der kommu- nalen Sozialplanung, findet insgesamt zu wenig statt.
Für Menschen mit Behinderungen sind im SGB IX spezielle Leistungen zur Rehabilitation und Teilhabe geregelt. Ziel ist es gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu fördern, Benachteiligungen zu vermeiden oder ihnen entgegenzuwirken. Dazu gehört ganz wesentlich auch die Teilhabe am Arbeitsleben.
Spezielle Maßnahmen für Wohnungslose sieht das SGB II bzw. der § 16 a SGB II nicht vor. Diese können z. B. auf Grundlage der §§ 67 f. SGB XII erbracht werden.
In der Straffälligenhilfe gilt es vor allem sicherzustellen, dass Maßnahmen direkt nach der Haft begonnen werden können. D.h. Planung und Beantragung sollte noch während der Haft und in Kooperation mit den Strafvollzugsbehörden erfolgen.
5. What is the role of the European Structural and Investment Funds?
If applicable, please describe the use of the European Structural and Investment Funds (es- pecially the European Social Fund) in establishing and running the services.
Für den Europäischen Sozialfonds gilt das Prinzip der Zusätzlichkeit, d.h. Förderung durch EU-Programme darf keine nationale Regelförderung ersetzen. ESF-Förderung wird daher auf Bundes- und Landesebene genutzt, um zusätzliche Angebote u.a. zur Integration bestimmter Gruppen in den Arbeitsmarkt zu entwickeln und neue Ansätze und Maßnahmen zu testen (Innovation). Die entsprechenden Projekte werden u.a. durch Wohlfahrtsverbände, Kommunen oder die Jobcenter durchgeführt. Auf Bundesebene wird beispielsweise ein Programm zur Re-Integration von Müttern in die Erwerbstätigkeit angeboten oder arbeitsmarktferne langzeitarbeitslose Leistungsbe- zieher im SGB II durch intensives Coaching, gezielte Betriebsakquise und einen fi- nanziellen Zuschuss für Arbeitgeber in den allgemeinen Arbeitsmarkt vermittelt. Um die Leistungsfähigkeit des ESF zu steigern, müssen jedoch für die Projektträger drin- gend Verwaltungserleichterungen eingeführt werden. Für Obdachlose und stark be- nachteiligte EU-Zugewanderte wird zusätzlich der Europäische Hilfsfonds EHAP genutzt, um diese an die Regelinstrumente des bestehenden Hilfe- und Unterstüt- zungssystems heranzuführen. Projekte werden hier von einem Wohlfahrtsverband oder einer Migrant(inn)enorganisation gemeinsam mit der Kommune durchgeführt. Die Nachfrage durch diese Zielgruppe übersteigt die Erwartungen bei weitem, so dass dieses Angebot ausgebaut werden sollte und aus Sicht der Verbände der Freien Wohlfahrtspflege am besten in die Regelförderung überführt werden sollte.
6. What are the monitoring practices?
Please describe how the objectives are monitored. What assessment and monitoring tools have been put in place (e.g. indicators, evaluations, audits)? Which areas are covered through monitoring (e.g. quality aspects, take-up of the social services, etc.)?
Die Inanspruchnahme der Instrumente im SGB II (inklusive der kommunalen Einglie- derungsleistungen nach § 16a) wird durch die Jobcenter statistisch erfasst. Die Daten sind in der Statistik der Bundesagentur für Arbeit öffentlich einsehbar.
Ein Monitoring der unterschiedlichen sozialen Hilfen für arbeitsmarktfernste Personen findet – wenn überhaupt – nur punktuell im Rahmen der kommunalen Sozialplanung statt. In der Arbeitsmarktpolitik des Bundes gibt es eine ausdifferenzierte Wirkungs- forschung, deren Reichweite sich aber auf die Arbeitsmarktförderung im engeren Sinne begrenzt (und insofern benachbarte Hilfesysteme wie etwa die psychiatrischen Hilfen oder Angebote der Kinder- und Jugendhilfe ausblendet) und nur die Wirkung einzelner Arbeitsmarktinstrumente auf die Erwerbsintegration beleuchtet. Es fehlen Studien, die systematisch individuelle Fallverläufe nachzeichnen und damit qualitative Erkenntnisse über Fortschritte und Misserfolge im zeitlichen Förderverlauf und im Zusammenwirken unterschiedlicher Hilfen liefern.
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Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege begrüßen die Bestrebungen, die Ermittlung der Kosten der Unterkunft und Heizung im SGB II/ SGB XII zu reformieren. Der zunehmende Mangel an bezahlbarem Wohnraum betrifft in besonderer Weise Menschen im Leistungsbezug des SGB II und XII. Aus der Praxis unserer Beratungsstellen sind die Probleme bekannt: Leistungsbezieher/innen haben enorme Probleme, auf angespannten Wohnungsmärkten geeigneten Wohnraum mit der erforderlichen Notwendigkeitsbescheinigung der Jobcenter anzumieten, die tatsächlichen Mietkosten werden nicht immer in voller Höhe übernommen, selbst dann nicht, wenn alternativer Wohnraum nicht zur Verfügung steht.
Der vom BMAS beauftragte Forschungsbericht des Instituts Wohnen und Umwelt (IWU) vom Januar 2017 zeigt, dass eine nicht unerhebliche Anzahl an Personen, die Leistungen nach dem SGB II/SGB XII beziehen, in deutlichem Umfang Aufwendungen für die Unterkunft aus dem Regelbedarf aufbringen müssen (IWU, v. Malottki u.a., Forschungsbericht 478, S. 64). Dies liegt nach unserer Auffassung auch daran, dass die Angemessenheitsgrenze in vielen Fällen zu niedrig bemessen ist, um die Kosten der Unterkunft und Heizung in adäquater Höhe zu berücksichtigen. Nach den o.g. Studienergebnissen haben immerhin 17,3 % der Bedarfsgemeinschaften im SGB II und 14,4 % der Einstandsgemeinschaften im SGB XII-Leistungsbezug eine Miete aufzubringen, die oberhalb der abstrakten Angemessenheitsgrenze liegt. Die äußerst heterogenen Verfahren zur Bestimmung der Angemessenheitsgrenzen führen zu einer fragwürdigen Ungleichbehandlung der Leistungsberechtigten bei der Absicherung des grundgesetzlich garantierten Existenzminimums. Die Situation ist aber auch für die Leistungsträger nicht einfach. Sie stehen vor dem Problem, ein rechtssicheres schlüssiges Konzept zu erstellen. Das gelingt nicht immer.
So ist eine Situation entstanden, in der das Recht auf Existenzsicherung der Leistungsbezieher/innen nicht immer gewährleistet ist.
Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege sprechen sich daher dafür aus, dass bei der Reform der Ermittlung angemessener Kosten der Unterkunft und Heizung vor allem zwei Ziele beachtet werden:
· Zum einen ist sicherzustellen, dass die Angemessenheitsgrenze so ermittelt wird, dass die angemessenen tatsächlichen Aufwendungen für die Unterkunft und Heizung gedeckt werden. Dabei sind die Gegebenheiten des örtlichen Wohnungsmarktes zu berücksichtigen. Die angemessene Wohnung muss für die Leistungsbezieher/innen tatsächlich verfügbar sein. Sie dürfen nicht in die Situation kommen, Aufwendungen für die Unterkunft und Heizung teilweise aus dem Regelbedarf begleichen zu müssen (Gesichtspunkt der tatsächlichen Verfügbarkeit von Wohnraum).
· Zum anderen bedarf es einer praktikablen Regelung im SGB II, die Rechtssicherheit für Leistungsbezieher/innen und Leistungsträger schafft (Gesichtspunkt der Verfahrenssicherheit).
Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) spricht sich angesichts der großen Heterogenität des Wohnungsmarktes sowie der unterschiedlichen Wohnbedarfe der Leistungsberechtigten klar gegen eine Pauschalierung der Leistungen für die Unterkunft und Heizung aus. Geteilt wird die Auffassung, dass der Anspruch auf Übernahme der Unterkunftskosten auf ein angemessenes Maß zu begrenzen ist. Dabei ist jedoch sicherzustellen, dass für alle Leistungsberechtigten tatsächlich Wohnungen zur Verfügung stehen, deren Kosten in voller Höhe vom Grundsicherungsträger übernommen werden und die einen angemessenen Wohnstandard aufweisen. Die Angemessenheit ist grundsätzlich im Einzelfall zu bestimmen und dabei auch die Verfügbarkeit zu berücksichtigen (konkrete Angemessenheitsgrenze).
Aus Gründen der Praktikabilität und der Verlässlichkeit des Verwaltungshandelns ist es sinnvoll und notwendig, eine abstrakte Angemessenheitsgrenze festzulegen, die im Regelfall gilt, im Einzelfall aber nach oben zu korrigieren ist. Die abstrakte Angemessenheitsgrenze sollte jedoch nicht mit dem gleichgesetzt werden, was zur Sicherung einer menschenwürdigen Existenz gerade so erforderlich ist (Zumutbarkeit nach unten). Sie ist vielmehr so zu bemessen, dass in der überwiegenden Zahl der Fälle eine Anpassung im Einzelfall nicht erforderlich ist. Den Kommunen ist bei der Festlegung des Werts zwischen der Zumutbarkeit nach unten (Existenzminimum) und der Angemessenheit nach oben daher ein Spielraum zu belassen.
Bei der Weiterentwicklung des Normierungsrahmens zur Ermittlung von Bedarfen der Unterkunft und Heizung sind Entscheidungen in verschiedenen Regelungsbereichen zu treffen, die für die Berechnung der abstrakten Angemessenheit von Relevanz sind. Da sich in der Praxis eine große Unsicherheit gezeigt hat, wie die abstrakte Angemessenheitsgrenze ermittelt werden kann, sollte der Gesetzgeber Vorgaben für ein schlüssiges Konzept machen. Schon bei der Ermittlung der abstrakten Angemessenheitsgrenze sollte die Bedeutung der Verfügbarkeit des Wohnraums berücksichtigt werden. Dies könnte über die Wahl der Datenquelle erfolgen, indem die Angemessenheitsgrenze durch Neuvertragsmieten/ Angebotsmieten und nicht auf der Grundlage von Bestandsmieten ermittelt wird. Wenn die Unterkunftskosten im Einzelfall höher sind als die abstrakte Angemessenheitsgrenze, ist zu entscheiden, ob die höheren Kosten für diesen konkreten Fall angemessen sind oder ob eine kostengünstigere Unterkunftsalternative tatsächlich zur Verfügung steht.
Die abstrakte und konkrete Angemessenheitsgrenze sind in einem transparenten und sachgerechten Verfahren zu ermitteln. Dabei ist insbesondere sicherzustellen, dass es nicht den Leistungsberechtigten aufgebürdet wird zu beweisen, dass eine kostengünstigere Unterkunft nicht zur Verfügung steht. Es sollte stattdessen den Grundsicherungsträgern obliegen, im Einzelfall nachzuweisen, dass kostengünstigerer angemessener Wohnraum tatsächlich zur Verfügung steht. Solange keine neue, angemessene Wohnung zur Verfügung steht, sind die Kosten der bisherigen Wohnung vollständig zu übernehmen.
Neben der Ermittlung der Höhe der Angemessenheit der Kosten der Unterkunft und Heizung regelt § 22 Abs. 1 Satz 2 SGB II, dass Bezieher/innen von SGB II-Leistungen, die in eine Wohnung umziehen, deren angemessene Miete höher ist als ihre bisherige, die Kosten der Unterkunft nur in Höhe der alten Miete bewilligt werden. Diese Regelung verkennt, dass es viele gute schutzwürdige Gründe für einen Umzug gibt, auch wenn dieser nicht unabdingbar erforderlich ist. Die Beschränkung der Freiheit der Leistungsbezieher/innen innerhalb des Vergleichsraums umzuziehen, lässt sich im Verhältnis hierzu nicht rechtfertigen. Zudem führt die Regelung in der Praxis zu zahlreichen Problemen und Rechtsstreitigkeiten. Die BAGFW ist entschieden der Auffassung, dass diese besondere Restriktion (Beschränkung der Kosten der Unterkunft bei nicht erforderlichem Umzug) gestrichen werden muss. Nach zahlreichen Rückmeldungen aus den Arbeitslosenberatungen der Verbände der BAGFW sind die Jobcenter oft schlecht erreichbar, wenn es um die notwendige Abklärung von Mietübernahmegarantien geht, die in der Regel unter großem Zeitdruck erfolgen muss. Nicht nur dieses Problem sollte durch eine verbesserte Verwaltungspraxis in den Jobcentern behoben werden.
Ein weiteres Problem stellt die automatische Aufrechnung von Mietkautionen und Genossenschaftsanteilen mit dem laufenden Regelbedarf dar. Für diese Ausgaben müssen die Leistungsberechtigten ein Darlehen beim Jobcenter aufnehmen, das nach neuerer Rechtslage automatisch mit dem laufenden Regelbedarf verrechnet wird. Dadurch kommt es zu Abzügen vom Regelbedarf und damit zur Unterschreitung des soziokulturellen Existenzminimums, oft über mehrere Monate hinweg. Viele Sozialgerichte und Landessozialgerichte haben sich gegen die Anwendung der pauschalen Aufrechnung ausgesprochen. Der Gesetzgeber sollte zur ursprünglichen Regelung zurückkehren, nach der erst bei Auszug Kautionen und Genossenschaftsanteile wieder an die Jobcenter fließen und nur von der Kaution abgezogene Kosten für Schäden von den Leistungsberechtigten selbst zu erstatten sind.
Offenbar gibt es flächendeckend große Probleme, für in Einkommensarmut lebende Haushalte genügend günstigen Wohnraum zur Verfügung zu stellen. Die BAGFW regt daher ergänzend zu den konkreten Regelungen bezüglich der Angemessenheitsgrenzen an, einen politischen Schwerpunkt in der Arbeit der neuen Bundesregierung in der Erarbeitung von Vorschlägen für die Wiederbelegung eines ausreichend großen gemeinwohlorientierten Sektors auf dem Wohnungsmarkt zu setzen.
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Diese notwendige Diskussion darf aber nicht von der Politik dazu genutzt werden, die seit Jahren überfällige Erhöhung der Stundensätze noch weiter hinauszuzögern.
Unsere Betreuungsvereine haben diese Zeit nicht mehr. Seit einigen Jahren ist die Anzahl der Betreuungsvereine der Freien Wohlfahrtspflege rückläufig. Bereits 2017 mussten Vereine schließen. Für 2018 haben weitere Vereine ihre Schließung bekannt gegeben. Im Abschlussbericht der ISG Studie wird explizit eine Erhöhung der Stundensätze vorgeschlagen, auch um eine weitere Belastung der Qualität zu verhindern.
Wir fordern daher eine sofortige Erhöhung der Stundensätze der Vergütung. Mindestens sollte als eine Art Notfallplan - und damit als Übergangslösung - die Umsetzung des Gesetzesvorhabens aus 2017 (Gesetz zur Verbesserung der Beistandsmöglichkeiten unter Ehegatten und Lebenspartnern in Angelegenheiten der Gesundheitssorge und zur Anpassung der Betreuer- und Vormündervergütung) erfolgen. Dieses Gesetz ist am 18. Mai 2017 im Bundestag verabschiedet worden und im Bundesrat mit dem Hinweis auf die zu erwartenden Studienergebnisse von der Tagesordnung genommen worden.
Drei Kernaussagen im Abschlussbericht der ISG-Studie machen die existenzbedrohende Situation der Betreuungsvereine deutlich:
• der derzeit vergütete Zeitaufwand beträgt 3,3 Stunden pro Betreuungsfall im Monat; der tatsächlich geleistete Zeitaufwand liegt bei 4,1 Stunden pro Betreuungsfall im Monat
• die Arbeitgeberkosten für Vereinsbetreuer können mit der derzeitigen Vergütung nicht gedeckt werden
• unter Berücksichtigung des ermittelten tatsächlichen Zeitaufwandes besteht eine beträchtliche Finanzierungslücke bei den Betreuungsvereinen
Die dringend erforderliche Erhöhung der seit 2005 festgeschriebenen Stundensätze ist im Wesentlichen nur der Ausgleich der seitdem entstandenen Inflation, insbesondere der gestiegenen Personal- und Sachkosten. Die weitere Verweigerung dieses Inflationsausgleiches ist nicht mehr länger hinnehmbar.
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Zusammenfassung der Forderungen
- Die BAGFW begrüßt die Schaffung eines Regelinstruments zur längerfristig angelegten Förderung von Menschen, die schon sehr lange arbeitslos sind. Langzeitarbeitslose, die seit zwei oder mehr Jahren im Leistungsbezug sind, ohne in dieser Zeit in nennenswertem Umfang einer Beschäftigung nachgegangen zu sein, sollten auf freiwilliger Basis an der Förderung teilnehmen können.
- Der BAGFW spricht sich ausdrücklich dafür aus, das neue Regelinstrument „Teilhabe am Arbeitsmarkt für alle“ für privatwirtschaftliche, gemeinnützige und kommunale Arbeitgeber/-innen gleichermaßen zu öffnen und so die Chancen auf eine arbeitsmarkt- und betriebsnahe Integration zu erhöhen. Um eine nennenswerte Anzahl an Arbeitsplätzen gewinnen zu können, wird es zugleich entscheidend auf das Engagement gemeinnütziger Arbeitgeber ankommen, die Zielgruppe zu beschäftigen.
- Die Förderung soll degressiv ausgestaltet werden können, wobei als Anfangsförderung im ersten Beschäftigungsjahr ein Lohnkostenzuschuss von 100 Prozent gewährt werden solle. Für die Berechnung ist das tatsächlich gezahlte Arbeitgeberbrutto maßgeblich.
- Zusätzlich zum Coaching ist unbedingt die Möglichkeit berufsbezogener und arbeitsplatzbezogener Qualifizierung zu schaffen.
- Geförderte Beschäftigungsverhältnisse sollten anschlussfähig an die bestehenden Instrumente sein und auch als Teilzeit-Arbeitsplätze angeboten werden. Die Befristung bei der Förderung von Arbeitsverhältnissen nach § 16e SGB II muss gelockert werden. Im Rahmen des Passiv-Aktiv-Transfers sollten die von Bundesseite eingesparten Regelleistungen und der Bundesanteil an den Kosten für Unterkunft und Heizung prognostiziert und im Bundeshaushalt unter einem gesonderten Titel ausgewiesen werden. Das PAT-Modell der BAGFW geht davon aus, dass auch ein Anteil der eingesparten Kosten der Unterkunft der Kommunen in die Finanzierung eingebracht wird. Die eingesparten Bundesmittel sollen an die Länder weitergeleitet und für flankierende Maßnahmen vor Ort eingesetzt werden, bspw. den Aufbau von Sozialunternehmen. Bund und Länder sollen entsprechende Vereinbarungen treffen.
- Soziale Teilhabe muss als Ziel der Grundsicherung für Arbeitsuchende normiert werden.
- Das neue Instrument „Teilhabe am Arbeitsmarkt für alle“ und das bestehende Instrument der Förderung von Arbeitsverhältnissen (nach § 16e SGB II) sollten im Rahmen des Zielsteuerungssystems im SGB II als Integration gezählt und damit als Beitrag zur Zielerreichung der Jobcenter anerkannt werden.
- Die BAGFW fordert eine aufgabenadäquate Finanzierung des Förderinstrumentariums. Der Eingliederungstitel muss haushaltsrechtlich so ausgestaltet werden, dass eine Umwidmung zugunsten des Verwaltungstitels die Ausnahme bleibt. Es muss sichergestellt werden, dass im Bundeshaushalt die Verpflichtungsermächtigungen so gestaltet werden, dass Förderungen über einen längeren Zeitraum gewährleistet werden.
- Die BAGFW plädiert dafür, im SGB II die Voraussetzungen für den Aufbau von Sozialunternehmen nach dem Vorbild der Inklusionsbetriebe gem. § 215 SGB IX zu schaffen.
- Weiterbildungen und Möglichkeiten zur Umschulung erhöhen die Teilhabechancen von Langzeiterwerbslosen, nicht zuletzt im Kontext digitaler Herausforderungen der Arbeitswelt 4.0. Auch qualifizierte Angebote zur beschäftigungsorientierten Lese- und Schreibförderung und eine entsprechende Sensibilisierung der Fachkräfte im Jobcenter sind erforderlich. Die Weiterbildungsförderung für Langzeitarbeitslose muss bei der Kalkulation der Finanzmittel entsprechend berücksichtigt werden.
Im Folgenden nimmt die BAGFW zum geplanten Regelinstrument „Teilhabe am Arbeitsmarkt für alle“ Stellung und zeigt im Anschluss weitere Punkte auf, die zum Gelingen eines sozialen Arbeitsmarkts erforderlich sind
1. Regelinstrument „Teilhabe am Arbeitsmarkt für alle“
Die Bundesregierung spricht sich im Koalitionsvertrag dafür aus, Menschen, die schon sehr lange arbeitslos sind, wieder eine Perspektive auf dem Arbeitsmarkt zu eröffnen. Mit einem ganzheitlichen Ansatz soll die Qualifizierung, Vermittlung und Reintegration von Langzeitarbeitslosen in den Arbeitsmarkt vorangetrieben werden. Für diejenigen, die schon sehr lange ohne Arbeit sind und kurz- und mittelfristig keine Perspektive auf Integration in Erwerbsarbeit haben, soll Teilhabe am Arbeitsmarkt durch einen sozialen Arbeitsmarkt ermöglicht werden. Dazu soll ein neues unbürokratisches Regelinstrument „Teilhabe am Arbeitsmarkt für alle“ im SGB II für sozialversicherungspflichtig bezuschusste Arbeitsverhältnisse geschaffen und der Eingliederungstitel um vier Milliarden Euro im Zeitraum 2018 bis 2021 aufgestockt werden. Außerdem sieht der Koalitionsvertrag vor, dass der Bund den Passiv-Aktiv-Transfer in den Bundesländern ermöglicht, indem die eingesparten Passiv-Leistungen zusätzlich für die Finanzierung der Maßnahmen zur Verfügung gestellt werden. Die geförderten Arbeitsverhältnisse sollen Arbeitgeber/innen der freien Wirtschaft, gemeinnützige Einrichtungen und Kommunen einschließen. Bis zu 150.000 Menschen sollen gefördert werden.
Allgemeine Bewertung
Die BAGFW begrüßt, dass die Bundesregierung als eines der ersten Vorhaben die Verbesserung der Teilhabe am Arbeitsmarkt von langzeitarbeitslosen Menschen in den Blick nimmt und dafür ein Regelinstrument im SGB II schafft. Sozialversicherungspflichtige Beschäftigung bildet das Kernstück des sozialen Arbeitsmarkts, weil sich gesellschaftliche Teilhabe zu einem Großteil über die Teilhabe an Erwerbsarbeit definiert. Anders ausgedrückt: Erwerbsarbeit ermöglicht (auch) Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Zugleich sei aber darauf hingewiesen, dass Menschen mit besonderen Schwierigkeiten am Arbeitsmarkt, z.B. wegen verfestigten gesundheitlichen oder psychischen Problemen, vorheriger Wohnungslosigkeit oder Straffälligkeit), andere niedrigschwelligere Formen der Beschäftigung (z.B. Arbeitsgelegenheiten) zur Teilhabe benötigen können. Die Wohlfahrtsverbände begrüßen das Vorhaben, mit dem geplanten Regelinstrument unterschiedliche sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze bei allen Arbeitgebern- von privat-gewerblichen über kommunalen bis hin zu gemeinnützigen Arbeitgebern – zu erschließen. Nach aller Erfahrung mit der Umsetzung öffentlich geförderter Beschäftigung wird es dabei vor allem auch auf das Engagement der gemeinnützigen Arbeitgeber ankommen, um eine ausreichend große Anzahl an Arbeitsplätzen für die Beschäftigung dieser Zielgruppe gewinnen zu können. Wie hierfür die notwendigen Rahmenbedingungen der Förderung ausgestaltet werden müssen, begründet die BAGFWim Einzelnen wie folgt:
Zielgruppe
Die Eckpunkte des BMAS vom März 2017 sahen die Förderung von „besonders arbeitsmarktfernen“ Personen vor, die seit mindestens acht Jahren Leistungen nach SGB II bezogen haben und in dieser Zeit nicht oder nur kurz selbständig oder abhängig beschäftigt waren. Bei der Zielgruppenbeschreibung geht das Konzept nach unserer Einschätzung an den tatsächlichen Herausforderungen vorbei. Aus dem Umstand, dass die am Bundesprogramm „Soziale Teilhabe am Arbeitsmarkt“ Teilnehmenden zuvor durchschnittlich 8,6 Jahre lang im SGB II-Leistungsbezug waren, schlussfolgert das BMAS, dass dieser langjährige Leistungsbezug auch die Voraussetzung zur Förderung im neuen Regelinstrument sein soll. Nach Auffassung der BAGFW macht es keinen Sinn, langzeitarbeitslose Menschen derart lange von der Förderung auszuschließen, bis sie nach einem mindestens achtjährigen Langzeitleistungsbezug ohne Beschäftigung in ihrer Leistungsfähigkeit und gesundheitlichen Verfasstheit soweit eingeschränkt sind, dass eine Integration in den Arbeitsmarkt nicht mehr erreichbar ist. Gerade in Regionen mit einer sehr guten Arbeitsmarktlage würden sich – das oben genannte Kriterium bundesweit angewandt- kaum mehr förderungsfähige Personen für das neue Regelinstrument finden lassen. Es darf zudem nicht übersehen werden, dass im Bundesprogramm „Soziale Teilhabe am Arbeitsmarkt“ die Kriterien der „Zusätzlichkeit“, der „Wettbewerbsneutralität“ und des öffentlichen Interesses“ bei den Arbeitsverhältnissen mit der Folge gelten, dass in der Praxis häufig Arbeitsgelegenheiten mit einfachsten Tätigkeiten in Programmarbeitsplätze umgewidmet wurden. Demgegenüber adressiert der Koalitionsvertrag auf Arbeitsplätze bei unterschiedlichen Arbeitgebern inmitten des allgemeinen Arbeitsmarkts. Die Wohlfahrtsverbände schlagen alternativ für die Bestimmung der Zielgruppe folgendes vor:
Dass die Vermittlungschancen mit zunehmender Dauer der Arbeitslosigkeit sinken, lässt sich schon nach zwei Jahren ohne Erwerbstätigkeit statistisch signifikant nachweisen. Langzeitarbeitslose, die bereits so lange im Leistungsbezug sind, haben regelmäßig mit sogenannten „Vermittlungshemmnissen“ zu kämpfen, d.h. sie sind krank, gesundheitlich eingeschränkt, älter oder schlecht qualifiziert. Auf die formale Feststellung von Vermittlungshemmnissen sollte daher nach Auffassung der Freien Wohlfahrtspflege verzichtet werden, zumal dieses Verfahren defizitorientiert ist und als stigmatisierend empfunden werden kann. Das Teilhabeinstrument sollte sich an Erwerbslose richten, die seit zwei oder mehr Jahren ohne nennenswerte Unterbrechungen im Leistungsbezug sind und in dieser Zeit nicht oder nur kurz selbstständig oder abhängig ungefördert erwerbstätig waren. Ein Orientierungswert für mögliche Unterbrechungen können 1 bis 2 Monate pro Jahr darstellen. Bei einer solch langen Dauer der Beschäftigungslosigkeit hat der/die Betroffene kaum Chancen auf Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt (Kirsch/Knuth/Zink (2013): Ansätze zur Entwicklung eines Sozialen Arbeitsmarkts/Studie im Auftrag des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, Landesverband Baden-Württemberg, S. 49ff).
Arbeitsbedingungen (Förderdauer, Förderhöhe, Arbeitgeber)
Gerade ALG II-Empfänger/innen, die viele Jahre keine Beschäftigung auf dem ersten Arbeitsmarkt hatten, bekommen heute oftmals keine hinreichende Förderung. Phasen der Arbeitslosigkeit werden immer wieder durch wechselnde Maßnahmen unterbrochen, ohne dass eine nachhaltige Integration in Arbeit und Teilhabe gelingt. Die bestehenden Instrumente sind aufgrund der zeitlichen Befristungen und Förderrestriktionen nicht hinreichend geeignet, diese Gruppe wieder an den Arbeitsmarkt heranzuführen und/oder ihnen die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen.
Förderabbrüche, wenn eine Maßnahme endet, stellen für die Leistungsempfänger/innen ein großes Problem dar. Aus unserer Beratungspraxis wissen wir, dass sie sich bereits während der befristeten Maßnahmen große Sorgen machen, was nach der Maßnahme kommt. Die Leistungsempfänger/innen möchten die neugewonnenen Kontakte zu den Kolleg/innen am Arbeitsplatz halten und weiterhin Anerkennung bekommen. Der Blick auf die Befristung der Maßnahme ruft daher verständlicherweise Ängste hervor. Die Sorge nicht mehr gebraucht zu werden, nagt am Selbstwertgefühl. Langzeitarbeitslose brauchen eine Perspektive, um zu sehen, dass sich ihre Bemühungen auch längerfristig lohnen. Sie wollen wissen, wie es nach Beendigung der Maßnahme weiter geht. Die Eckpunkte des BMAS vom März 2017 sahen eine Förderung von maximal fünf Jahren vor. Die BAGFW betont, dass es wichtig ist, die Förderdauer nach dem individuellen Förderbedarf zu bestimmen. Das Instrument sollte die notwendige Flexibilität bieten, um in begründeten Einzelfällen auch unbefristete Förderungen zu ermöglichen. Die BAGFW weist darauf hin, dass es einer gesetzlichen Klarstellung über die Zulässigkeit der Befristung von Arbeitsverträgen bedarf, um die Möglichkeit zu sichern, geförderte Arbeitsverhältnisse in Orientierung an längerfristige Förderdauern zu befristen.
Der Koalitionsvertrag sieht für das neue Instrument Lohnkostenzuschüsse vor. Als Anfangsförderung sollte nach Auffassung der BAGFW im ersten Beschäftigungsjahr ein Lohnkostenzuschuss von 100 Prozent gewährt werden. Der Lohnkostenzuschuss ist am tatsächlich gezahlten Arbeitgeberbrutto zu bemessen. Das ist eine zentrale Voraussetzung, dass tatsächlich Arbeitgeber/innen gewonnen und Erwerbslose, die lange vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen sind, erreicht werden. Die Förderung soll degressiv ausgestaltet werden können.
Ein Lohnkostenzuschuss, der sich am Mindestlohn orientiert – wie im Koalitionsvertrag formuliert – würde dazu führen, dass tarifgebundene Arbeitgeber/innen aufgrund von Tarifvertragspflichten bzw. nicht tarifgebundene Arbeitgeber/innen, die eine ortsübliche Entlohnung gewähren, unmittelbar ab Beschäftigungsbeginn höhere Eigenanteile tragen müssen. Für Arbeitgeber/innen ohne Tarifbindung würden hingegen ungewollte Wettbewerbsvorteile entstehen. Des Weiteren drohen falsche Anreize gesetzt zu werden, die geförderten Arbeitnehmer/innen gesondert und zu niedriger Entlohnung als die ungeförderten Mitarbeiter/innen zu vergüten.
Der BAGFW spricht sich ausdrücklich dafür aus, das neue Regelinstrument „Teilhabe am Arbeitsmarkt für alle“ für privatwirtschaftliche, gemeinnützige und kommunale Arbeitgeber/-innen gleichermaßen zu öffnen. Dies eröffnet unterschiedliche Beschäftigungsmöglichkeiten und erhöht die Chancen auf eine arbeitsmarkt- und betriebsnahe Integration. Auch bei einer anfänglich vollen Förderung der Lohnkosten im geplanten Regelinstrument verbleiben erhebliche Kosten für Anleitung, Arbeitsplatzausstattung und Infrastruktur bei den Arbeitgeber/innen. Die Zwischenevaluation des Bundesprogramms „Soziale Teilhabe am Arbeitsmarkt“ hat gezeigt, dass auch gemeinnützige Arbeitgeber/innen (aber nicht nur diese) davor zurückwichen, Arbeitsplätze bereit-zustellen, weil sie teils keine Markterlöse erwirtschaften (können), eine arbeitsmarktferne Zielgruppe zu beschäftigen war und die Träger- und Overheadkosten nicht aus dem Bundesprogramm refinanziert wurden. Dementsprechend schwierig gestaltete es sich für die Jobcenter im Rahmen dieses Programms, Arbeitsplätze zu akquirieren. Die BAGFW fordert vor diesem Hintergrund für das Regelinstrument, dass Arbeitgeber/innen eine Pauschale für Personalkosten erhalten, die entstehen, wenn eine besondere Anleitung, eine tätigkeitsbezogene Unterweisung oder eine sozialpädagogische Betreuung notwendig ist.
Die BAGFW hält eine gesetzliche Klarstellung über die Zulässigkeit der Befristung von Arbeitsverträgen für nötig, um die Möglichkeit zu sichern, geförderte Arbeitsverhältnisse in Orientierung an längerfristige Förderdauen zu befristen.
Coaching und Betreuung
Für die Stabilisierung der geförderten Arbeitsverhältnisse ist ein begleitendes Coaching durch eine sozialpädagogische Fachkraft ein unabdingbarer Bestandteil der Förderung. Das Coaching richtet sich sowohl an die geförderten Leistungsbezieher/innen als auch an die Arbeitgeber/innen. Es sollte im ersten Jahr verpflichtend sein und auch in den weiteren Jahren möglich bleiben und finanziert sein. Sinnvoll ist es, das Coaching bereits im Vorfeld der Beschäftigungsaufnahme anbieten zu können und im Fall einer Anschlussbeschäftigung bei Bedarf auch für einen gewissen Zeitraum nach Beendigung der Förderung. Das Coaching soll so gestaltet sein, dass die Kontinuität der Begleitung gewährleistet ist. Zusätzlich zum Coaching ist unbedingt die Möglichkeit berufsbezogener und arbeitsplatzbezogener Qualifizierung zu schaffen, um dadurch die Beschäftigungsfähigkeit der Geförderten zu verbessern und Perspektiven zu ermöglichen. Weitere Hilfen (wie z.B. kommunale Eingliederungsleistungen), die auf den individuellen Unterstützungsbedarf ausgerichtet sind, sollen mit der öffentlich geförderten Beschäftigung verknüpft erbracht und finanziert werden.
Freiwilligkeit der Teilnahme
Die Teilnahme kann nur auf freiwilliger Basis erfolgen. Die Entscheidung sollten die Fachkräfte in den Jobcentern gemeinsam mit den Leistungsbeziehenden treffen und dabei auch den/die potenziellen Arbeitgeber/in eng einbinden. Auch weitere Netzwerkpartner wie z.B. kooperierende Träger und soziale Dienste können einbezogen werden.
Anschlussfähigkeit
Um das neue Instrument „Teilhabe am Arbeitsmarkt für alle“ gut in die bestehende Fördersystematik implementieren zu können, ist es wichtig, dass es anschlussfähig an bestehenden Instrumente wie z.B. Maßnahmen zur Aktivierung und Eingliederung, Arbeitsgelegenheiten nach § 16d SGB II (AGH) und § 16e SGB II (Förderung von sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnissen) ist. Auch eine Rückkehroption von einem geförderten Arbeitsverhältnis in eine Arbeitsgelegenheit sollte für die Geförderten eröffnet werden. Übergänge aus den Bundesprogrammen „Soziale Teilhabe am Arbeitsmarkt“, dem „ESF-Bundesprogram zur Eingliederung langzeitarbeitsloser Leistungsberechtigter nach dem SGB II auf den allgemeinen Arbeitsmarkt“ und einem nach § 16e SGB II geförderten Arbeitsverhältnis sollen auch beim gleichen Arbeitgeber möglich sein.
Die Gruppe der Langzeitarbeitslosen, die für eine Förderung in Betracht kommt, ist sehr heterogen und hat unterschiedlichste Unterstützungsbedarfe. Neben fehlenden beruflichen Qualifikationen, fehlenden oder geringen Kenntnisse der deutschen Sprache spielen gesundheitliche Beeinträchtigungen häufig eine große Rolle, aber auch Schulden oder Suchterkrankungen oder besonders belastende Lebensverhältnisse wie (frühere) Obdachlosigkeit. Daher ist es notwendig, dass die Förderung auf die individuelle Leistungsfähigkeit und die individuellen Unterstützungsbedarfe ausgerichtet und mit anderen Leistungen des SGB II und der Sozialgesetzbücher kombiniert erbracht werden kann. Geförderte Beschäftigungsverhältnisse sollten aus diesem Grund auch als Teilzeit-Arbeitsplätze angeboten werden.
Finanzierung und Passiv-Aktiv-Transfer
Die Bundesregierung will für das neue Regelinstrument „Teilhabe am Arbeitsmarkt für alle“ den Eingliederungstitel im Zeitraum 2018 bis 2021 um vier Milliarden Euro aufstocken. ..
Darüber hinaus soll zur Finanzierung ein Passiv-Aktiv-Transfer umgesetzt werden. Die von Bundesseite eingesparten Regelleistungen und der Bundesanteil an den Kosten für Unterkunft und Heizung werden prognostiziert und die Mittel im Bundeshaushalt unter einem gesonderten Titel ausgewiesen. Der Titel für die Passivleistungen wird entsprechend reduziert. Die eingesparten Bundesmittel sollen an die Länder weitergeleitet und für flankierende Maßnahmen vor Ort eingesetzt werden, bspw. den Aufbau von Sozialunternehmen. Bund und Länder sollen entsprechende Vereinbarungen treffen. Das PAT-Modell der BAGFW geht davon aus, dass auch ein Anteil der eingesparten Kosten der Unterkunft der Kommunen in die Finanzierung eingebracht wird.
2. Weitere Vorschläge
Für die flexible Auswahl der Maßnahmen sollte die individuelle Leistungsfähigkeit das Kriterium sein. Grundlage der Förderung sollte eine fundierte Teilhabe- und Hilfeplanung gemeinsam mit den Leistungsempfänger/innen sein, damit ihre Wünsche und Perspektiven Berücksichtigung finden.
Soziale Teilhabe als Ziel der Grundsicherung für Arbeitsuchende normieren
Die Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft ist Teil des soziokulturellen Existenzminimums. § 1 SGB II muss dazu klarstellend ergänzt werden: Soziale Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben gehört zu einer der Würde des Menschen entsprechenden Lebensführung dazu. Zur Teilhabe gehört neben auskömmlichen Regelbedarfen und einer sozialen Infrastruktur auch Teilhabe durch Arbeitsmöglichkeiten. Das Ziel der Grundsicherung für Arbeitssuchende ist es „erwerbsfähige Leistungsberechtigte bei der Aufnahme oder Beibehaltung einer Erwerbstätigkeit zu unterstützen.“ (§ 1 Abs. 2 SGB II) Leistungsberechtige, die z.B. psychische Probleme haben, brauchen für den Erhalt ihrer Teilhabechancen allerdings auch niedrigschwellige Angebote, die nicht unmittelbar der Aufnahme und Beibehaltung einer Erwerbstätigkeit dienen. Soziale Teilhabe muss als Ziel in § 1 Abs. 2 SGB II explizit verankert werden, damit dieser Aspekt normativ angemessen einbezogen wird.
Zielsteuerung
Das neue Instrument „Teilhabe am Arbeitsmarkt für alle“ und das bestehende Instrument der Förderung von Arbeitsverhältnissen (nach § 16e SGB II) sollten im Rahmen des Zielsteuerungssystems im SGB II als Integration gezählt und damit als Beitrag zur Zielerreichung der Jobcenter anerkannt werden. Denn mit diesem Instrument wird die Integration von bisher abgekoppelten Zielgruppen in sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse bei unterschiedlichen Arbeitgebern inmitten des allgemeinen Arbeitsmarkts erreicht. Aus Sicht der BAGFW sollten auch Fortschritte bei der sozialen Teilhabe, der Alltagsstrukturierung sowie der psychischen und physischen Stabilisierung im Rahmen der Zielsteuerung honoriert werden.
Aufgabenadäquate Finanzierung des Förderinstrumentariums
Für eine erfolgreiche Integration in den Arbeitsmarkt ist von großer Bedeutung, dass eine intensive und passgenaue Beratung und Begleitung stattfindet, die auch soziale Teilhabe umfasst. In den letzten Jahren wurden regelmäßig Mittel aus dem unterfinanzierten Eingliederungstitel in den ebenfalls unterfinanzierten Verwaltungstitel verschoben.. Theoretisch wäre dann zumindest eine bessere Betreuung der Langzeitarbeitslosen durch Fachpersonal möglich, tatsächlich werden damit aber häufig ungedeckte Personal- und Sachkostensteigerungen aufgefangen. Die Mittel fehlen für Fördermaßnahmen für Leistungsberechtigte. Eine neuere Untersuchung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung zeigt, dass die Förderung der beruflichen Weiterbildung in den letzten fünf Jahren um 40 Prozent reduziert wurde. Bei der öffentlich geförderten Beschäftigung sind die Platzzahlen sogar um 70 Prozent geringer. Die potentielle Zielgruppe dieser Förderinstrumente hat sich jedoch nicht verkleinert. Die Zahl der Langzeitarbeitslosen liegt seit 2012 bei ca. einer Million Personen. Die Zahl derer, die seit mindestens zwei Jahren im Leistungsbezug ist, ist von 49,7 % in 2010 auf 54,3 % in 2014 gestiegen (Beste u.a. 2017, S. 5, 6). Eine adäquate Ausstattung der Eingliederungs- und Verwaltungstitel ist dringend notwendig (Beste u.a. 2017, S. 11).
Der Eingliederungstitel muss haushaltsrechtlich so ausgestaltet werden, dass eine Umwidmung zugunsten des Verwaltungstitels die Ausnahme bleibt. Es muss sichergestellt werden, dass im Bundeshaushalt die Verpflichtungsermächtigungen so gestaltet werden, dass Förderungen über einen längeren Zeitraum gewährleistet werden.
Sozialunternehmen
Die BAGFW plädiert dafür, im SGB II die Voraussetzungen für den Aufbau von Sozialunternehmen nach dem Vorbild der Inklusionsbetriebe gem. § 215 SGB IX zu schaffen, damit ansonsten vom Arbeitsmarkt ausgeschlossene Langzeitarbeitslose – auch mit psychischen Erkrankungen und Suchterkrankungen – neue Beschäftigungsperspektiven erhalten. Unternehmen dieser Art besetzen ihre Arbeitsplätze zu einem Anteil mit Menschen, die bislang von Arbeitsmarkt ausgeschlossen waren und müssen sich mit ihren Produkten oder Dienstleistungen am Markt betätigen; sie tun dies aber mit dem besonderen sozialen Auftrag, stark unterstützungsbedürftige Langzeitarbeitslose wieder an den Arbeitsmarkt heranzuführen und hierfür zu qualifizieren. Um diesen Auftrag erfüllen zu können und gewerblich tätig zu sein, brauchen Sozialunternehmen eine eigenständige gesetzliche Grundlage im SGB II ähnlich wie Inklusionsbetriebe im SGB IX. Dadurch können für vom Arbeitsmarkt ausgegrenzte Langzeitarbeitslose im SGB II zusätzliche Erwerbschancen nach dem Erfolgsmodell der Integrationsunternehmen erschlossen werden. Ausgangspunkt hierfür können Beschäftigungs- und Qualifizierungsunternehmen sein, die bereits als soziale Unternehmen tätig sind oder sich entsprechend weiterentwickeln.
Die öffentlichen Auftraggeber von Bund, Ländern und Kommunen sollten die Möglichkeiten des Vergaberechts ausschöpfen, um regelmäßig Aufträge zum Zweck der Beschäftigung von benachteiligten Zielgruppen an Werkstätten für Menschen mit Behinderungen, Inklusionsbetriebe und Sozialunternehmen zu vergeben.
Weiterbildung im SGB II
Weiterbildung findet heute vielfach am Arbeitsplatz/über den/die Arbeitgeber/in statt. Das gilt nicht zuletzt für Fähigkeiten und Kenntnisse in Bezug auf den digitalen Wandel der Arbeitswelt. Langzeitarbeitslosen fehlen diese Zugänge. Anschlussfähige Qualifizierung von Langzeiterwerbslosen im Kontext digitaler Herausforderungen kann daher idealerweise in (öffentlich geförderter) Beschäftigung erfolgen. Wichtig ist für Teilhabechancen auf dem Arbeitsmarkt 4.0 auch die Möglichkeit zu Umschulungen, wenn im Zuge der Digitalisierung Berufsfelder sich verändern oder wegfallen.
Darüber hinaus soll ein Augenmerk auf etwaige Defizite im Bereich der Lese- und Schreibkompetenzen von langzeitarbeitslosen Menschen gelegt werden. Nach der Leo Level One Studie aus dem Jahr 2014 sind überdurchschnittlich viele Menschen im SGB II von funktionalem Analphabetismus betroffen, d.h. sie können schlecht lesen und schreiben (37%, im Vergleich dazu 21,8% im SGB III). Fehlenden bzw. schlechte Lese- und Schreibkompetenzen stellen ein beträchtliches Hindernis bei der Arbeitsmarktintegration dar. Eine entsprechende Sensibilisierung von Fachkräften im SGB II sowie qualifizierte Angebote zur beschäftigungsorientierten Lese- und Schreibförderung sind erforderlich.
Die Weiterbildungsförderung für Langzeitarbeitslose muss bei der Kalkulation der Finanzmittel entsprechend berücksichtigt werden.
]]>Vorbemerkung:
Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) beschränkt sich in ihrer Stellungnahme zu den Anträgen von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN zur Personalsituation in der Alten- und Krankenpflege auf den Bereich der Langzeitpflege, da nicht alle in der BAGFW zusammengeschlossenen Verbände Träger von Krankenhäusern sind.
Antrag der Bundestagsfraktion BÜNDNIS 90/Die GRÜNEN „Sofortprogramm für mehr Personal in der Altenpflege“ (BT-Drs. 19/446)
Die GRÜNEN weisen in ihrem Antrag auf den gravierenden Personalmangel in der Altenpflege hin. Die GRÜNEN setzen sich für ein Sofortprogramm für die Pflege, verbindliche Personalbemessungsinstrumente sowie eine „Konzertierte Aktion Pflege“ zur bedarfsgerechten Weiterentwicklung der Altenpflege einschließlich der Unterstützung für pflegende Angehörige ein. Konkret soll ein Sofortprogramm Pflege aufgelegt werden, das eine Ausbildungsoffensive, Anreize für eine Rückkehr von Teilzeit in Vollzeit, ein Wiedereinstiegsprogramm, eine bessere Gesundheitsvorsorge für die Beschäftigten sowie die Weiterqualifizierung von Pflegehelfern zu Pflegefachkräften beinhaltet. Zur Finanzierung der zusätzlichen Pflegestellen schlagen die GRÜNEN vor, den Pflegevorsorgefonds aufzulösen. Damit stünden Mittel in Höhe von 1,2 Mrd. Euro jährlich zur Verfügung.
Bewertung:
Das „Sofortprogramm Pflege“, das die GRÜNEN vorschlagen, enthält aus Sicht der in der BAGFW zusammengeschlossenen Verbände genau die richtigen Elemente, um dem Pflegekräftemangel in einem ersten Schritt wirksam entgegentreten zu können.
Die Studie „Pflege-Thermometer 2018“ des Deutschen Instituts für angewandte Pflegeforschung (dip) zeigt auf, dass derzeit 17.000 Stellen in den rund 13.500 stationären Pflegeeinrichtungen nicht besetzt werden können. Zentrale Ursache ist die Arbeitssituation in der Pflege, die von hoher Arbeitsverdichtung gekennzeichnet ist. Trotz gestiegener quantitativer wie qualitativer Anforderungen sind die Personalschlüssel seit Beginn der Pflegeversicherung fast unverändert geblieben und variieren überdies stark zwischen den Bundesländern. Die im Zuge der Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs erfolgte Mehrpersonalisierung ist nur ein erster Schritt. Nicht eingerechnet sind hier Faktoren wie der gestiegene Bedarf an medizinischer Behandlungspflege und palliativer Versorgung in den stationären Pflegeeinrichtungen. Studien gehen hier von mindestens 50.000 zusätzlichen Stellen aus. Aufgrund der derzeitigen Arbeitssituation in der Altenpflege – von Arbeitsverdichtung bis hin zu schlechterer Bezahlung als in der Krankenpflege (s. u.) – ist es allerdings problematisch, genügend Fachkräfte zu gewinnen. Zentraler Schlüssel zur kurzfristigen Behebung des Personalmangels in der Pflege ist daher aus Sicht der BAGFW die Verbesserung der Arbeitssituation und eine Ausbildungsoffensive
Kurzfristig ist eine Verbesserung der Personalsituation nur möglich durch:
· Aufstockung von Teilzeit- in Vollzeitstellen: Mehr als zwei Drittel der Beschäftigten arbeiten in Teilzeit. Lt. BARMER Pflegereport (2017) sind rund 27 Prozent der Pflegekräfte in der ambulanten Pflege und rund 29 Prozent in der stationären Pflege vollzeitbeschäftigt (Stand 2015). Insbesondere in der stationären Pflege ist dabei ein deutlicher und kontinuierlicher Rückgang der Vollzeitbeschäftigten von rund 48 Prozent im Jahre 1999 auf rund 29 Prozent im Jahre 2015 zu verzeichnen (BARMER Pflegereport 2017). Bei den Teilzeitkräften handelt es sich teilweise um gewollte Teilzeitbeschäftigungen, teilweise um ungewollte Teilzeitbeschäftigungen. Unter den Teilzeitkräften gibt es viele Pflegekräfte, die durchaus gerne Vollzeit arbeiten würden, aber auf dem Pflegearbeitsmarkt keine Vollzeitstellen angeboten bekommen. Nach einer Untersuchung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung gaben beispielweise 46 Prozent der teilzeitbeschäftigten Altenpflegekräfte in Ostdeutschland als Grund für ihre Teilzeitbeschäftigung an, dass eine Vollzeitstelle nicht zu finden war (Presseinformation des MASGF Brandenburg 018/2018). Darüber hinaus gibt es eine nicht unerhebliche Zahl von Pflege(fach)kräften, die von sich aus wegen der hohen Arbeitsbelastung, der Arbeitsverdichtung und der ungünstigen Arbeitsbedingungen Teilzeit wählen.
· Wiedereinstiegsprogramm für Pflegekräfte: Viele Pflegekräfte verlassen ihr Berufsfeld zwar aufgrund der o.g. belastenden Arbeitsbedingungen, sind aber ggf. für einen Wiedereinstieg zu motivieren. Um den Wiedereinstieg zu erleichtern, bedarf es u.a. entsprechender Schulungsprogramme. Dabei sind auch neue Lernformen wie Blended Learning, d.h. die Verknüpfung von traditionellen Präsenzveranstaltungen und modernen Formen von E-Learning, zu erproben.
Arbeitgeber und Politik müssen gemeinsam Rahmenbedingungen schaffen, damit folgende Maßnahmen zur kurzfristigen Gewinnung von Personalkapazität Wirkung erzielen können:
· „Entschleunigung“ der Pflegearbeit: Mehr Zeit für eine umfassende, personenorientierte Pflege – insbesondere im Hinblick auf die psychosoziale Betreuung durch höhere Personalschlüssel.
· Maßnahmen zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf, wie die Bereitstellung von Kinderbetreuungsmöglichkeiten oder Tagespflegeplätzen für zu pflegende Angehörige.
· Förderung von betrieblichen Maßnahmen zur Gesundheitsförderung und Prävention: Dazu zählt u. a. ein möglichst umfassender Einsatz von Hilfsmitteln zur Reduktion der hohen körperlichen Belastungen und – als Voraussetzung dafür – die Förderung der Akzeptanz technischer Hilfen. Zudem fehlt es an einem flächendeckenden Einsatz von technischen Hilfsmitteln sowohl zur Förderung der Selbstständigkeit der pflegebedürftigen Menschen als auch zur Arbeitsentlastung von Pflegenden. Dabei ist vor allem auch eine entsprechende Refinanzierung technischer Hilfsmittel erforderlich.
· Ein großes und noch nicht erschlossenes Potenzial liegt in der konsequenten Umsetzung der Digitalisierung. So erfolgt z. B. bei der Abrechnung hinsichtlich der Leistungserfassung- und -übermittlung immer noch eine Doppeldokumentation in elektronischer Form und in Papierform, da eine entsprechende Telematikstruktur fehlt.
· In diesem Zusammenhang ist als ein weiterer wichtiger Faktor vor allem die Entlastung von unnötiger Bürokratie zu sehen, wie sie durch das EinSTEP-Projekt zur Entbürokratisierung der Pflegedokumentation geleistet wurde. Der Abbau des immer noch bestehenden unnötigen Bürokratieaufwands, wie bspw. im Abschlussbericht der Ombusfrau für Entbürokratisierung in der Pflege dargelegt, muss konsequent fortgeführt werden.
· Primär im Aufgabenbereich der Einrichtungen und Dienste liegt es, die Arbeitsbedingungen vor Ort weiter zu verbessern durch Maßnahmen wie die Schaffung attraktiver Arbeitszeitmodelle, die die Selbstständigkeit und Handlungsautonomie der Pflegenden erhöhen, eine Verbesserung der Dienst- und Schichtpläne zur Förderung der ausgewogenen Gestaltung von Arbeit und Freizeit sowie die Etablierung einer wertschätzenden Unternehmenskultur und auch die Stärkung von Management- und Führungskompetenzen. Dennoch ist auch hier möglichst umfassende Unterstützung auf Bundes- und Länderebene wünschenswert.
In dieser Legislaturperiode müssen die Weichen unverzüglich gestellt werden, um mittel- und langfristig ausreichend Personal für die Pflege zu gewinnen:
· Die Umsetzung des bis 2020 zu entwickelnden und zu erprobenden Personalbemessungsinstruments ist verbindlich in § 113c SGB XI festzuschreiben. Bis dahin ist im Sinne einer gleichwertigen Versorgungslage in Deutschland wenigstens sicherzustellen, dass der gegenwärtig höchste Personalrichtwert der Bundesländer (Bayern) in allen anderen Bundesländern umgesetzt wird. Für die ambulante Pflege ist eine adäquate Zwischenlösung festzuschreiben.
· Im Koalitionsvertrag ist vorgesehen, dass in der Altenpflege künftig tarifliche Entlohnungen flächendeckend zur Anwendung kommen sollen. Die Sicherstellung einer tariflichen Entlohnung muss auch die Anerkennung der Tarifbindung im SGB V für die häusliche Krankenpflege umfassen. Gehälter in der Langzeitpflege sind flächendeckend an das Niveau in der Krankenhauspflege anzugleichen. Auszubildende dürfen nicht länger auf den Personalschlüssel angerechnet werden.
· Zusätzliche Personalstellen dürfen nicht zu Lasten der pflegebedürftigen Menschen gehen, indem sich deren Eigenanteile erhöhen. Zur Finanzierung eines Sofortprogramms für zusätzliche Pflegestellen soll der Pflegevorsorgefonds, für den derzeit sogar Negativzinsen zu zahlen sind, wie von den GRÜNEN gefordert, aufgelöst oder zumindest in einem ersten Schritt teilweise umgewidmet werden.
· Die medizinische Behandlungspflege in den vollstationären Einrichtungen muss systemkonform vollständig aus dem SGB V finanziert werden. Hier hat der Koalitionsvertrag die richtigen Weichen gestellt, wenngleich das vorgesehene Finanzvolumen von 400 Mio. Euro nur in etwa ein Sechstel des tatsächlichen Aufwands deckt.
· Die Kompetenzen der Pflegekräfte müssen dringend entsprechend den Vorbildern in den anderen europäischen Ländern erweitert und ausgebaut werden. Ziel muss sein, dass Pflegekräfte auf der Grundlage der im Pflegeberufegesetz definierten Vorbehaltsaufgaben Heilkunde eigenverantwortlich und interprofessionell auf Augenhöhe mit den Ärzten ausüben können. Dadurch kann das eigenständige professionelle Handeln der Pflegenden gestärkt und nicht zuletzt auch die Attraktivität der Pflegeberufe erhöht werden.
· Die professionell Pflegenden müssen künftig entsprechend ihrer zentralen Rolle im Gesundheitswesen angemessen im strukturellen Gefüge und Entscheidungsprozedere des Gemeinsamen Bundesausschusses vertreten sein.
Die Ausbildungskapazitäten müssen unverzüglich erhöht werden. Dazu sind folgende Sofortmaßnahmen zu ergreifen:
· Das Schulgeld muss in allen Bundesländern, in denen es noch besteht, sofort und noch vor Inkrafttreten des Pflegeberufegesetzes abgeschafft werden.
· Neben den Pflegefachkräften benötigen wir gut ausgebildete Pflegehelfer(innen), denen eine Weiterqualifizierung zur Pflegefachkraft offen steht. Daher setzen wir uns für die Einführung einer zweijährigen bundeseinheitlichen Pflegeassistentenausbildung ein, die den Anschluss an die dreijährige Fachkraftausbildung und Verwirklichung individueller Karrierechancen ermöglicht. Daneben sollte die Weiterqualifizierung von Pflegehelfer(inne)n zu Pflegefachkräften gefördert werden, z.B. durch Bildungsgutscheine für Teilzeitausbildung.
· Durch die lange Dauer der Regierungsbildung hat sich die Umsetzung des Pflegeberufegesetzes verzögert. Die BAGFW fordert eine umgehende Beratung und Verabschiedung der Ausbildungs- und Prüfungsverordnung sowie der Finanzierungsverordnung, damit das Pflegeberufegesetz fristgemäß zum 1.1.2020 in Kraft treten kann und Auszubildende und Ausbildungsstätten die dringend erforderliche Planungssicherheit erhalten.
· Pflegeschulen benötigen zur Umsetzung des Pflegeberufegesetzes und der neuen Pflegeausbildungen für die Curricularentwicklung und die Qualifizierung ihres Lehrpersonals sowie für den Aufbau der Kooperationsbeziehungen zu den Trägern der praktischen Ausbildung eine einmalige Anschubfinanzierung. In den Ländern ist zudem eine verbindliche gesetzliche Grundlage für die Refinanzierung der Investitionskosten der Pflegeschulen zu schaffen.
· Schaffung eines jährlichen Bildungsbudgets zur Fort- und Weiterbildung, damit Pflegende diese nicht selbst finanzieren müssen.
Zur Finanzierung der Maßnahmen eines Sofortprogramms sollte der Pflegevorsorgefonds aufgelöst bzw. in einen Pflegepersonalfonds umgewidmet werden. Gegenwärtig müssen auf die Einnahmen aus den Beitragsmitteln für den Pflegevorsorgefonds sogar Negativzinsen entrichtet werden, sodass das Ziel des Aufbaus einer Demographiereserve nicht erreicht werden kann. Mit den jährlich zur Verfügung stehenden Mitteln in Höhe von 1,2 Mrd. Euro könnten ca. 20.000 zusätzliche Vollzeitstellen für Pflegefachkräfte finanziert werden, ohne die Leistungsempfänger mit zusätzlichen Kosten zu belasten.
Des Weiteren unterstützt die BAGFW das im Antrag der GRÜNEN genannte Ziel, die pflegenden Angehörigen zu stärken. Seit langem setzt sich die BAGFW u.a. dafür ein, ein sog. Entlastungsbudget zu schaffen, das die Mittel für die Kurzzeitpflege, Verhinderungspflege, Tages- und Nachtpflege sowie den monatlichen Entlastungsbetrag nach § 45b SGB XI zusammenführt, damit pflegende Angehörige und Betroffene ganz flexibel das für ihre jeweilige Situation passende Angebot zusammenstellen und finanzieren können.
Antrag der Bundestagsfraktion DIE LINKE „Sofortprogramm gegen den Pflegenotstand in der Altenpflege“ (BT-Drs. 19/79)
Ebenso wie die GRÜNEN fordert die Fraktion DIE LINKE ein Sofortprogramm gegen den Pflegenotstand in der Altenpflege. Zur Bekämpfung des Pflegekräftemangels soll ein bundeseinheitlicher verbindlicher Personalschlüssel im Tag- und Nachtdienst eingeführt werden. Damit eine Mehrpersonalisierung die Eigenanteile der Pflegebedürftigen nicht erhöht, soll der Pflegevorsorgefonds in einen Pflegepersonalfonds umgewidmet werden. Der Mindestlohn soll bundeseinheitlich auf 14,50 Euro je Stunde angehoben und das Gehaltsniveau von Altenpflegefachkräften an das Niveau im Krankenhaus angehoben werden. Als Gegenfinanzierung fordert die LINKE den Einstieg in die solidarische Pflegeversicherung bei Erweiterung der Beitragsbasis und Einbeziehung der Besserverdienenden. Die Ausbildungs- und Prüfungsverordnung sowie das Finanzierungskonzept auf der Grundlage des Pflegeberufegesetzes sollen umgehend vorgelegt werden. Des Weiteren fordert die LINKE, den Vergütungsanspruch des Unternehmerrisikos aus dem SGB XI zu streichen.
Bewertung:
Die BAGFW teilt die Einschätzung der LINKEN zur Personalsituation in der Altenpflege und unterstützt die Forderung nach der Einführung verbindlicher Personalschlüssel auf der Grundlage eines Personalbemessungsinstruments, wie oben zum Antrag der GRÜNEN bereits ausgeführt. Unterstützt wird auch die Forderung nach Auflösung des Pflegevorsorgefonds zur Finanzierung der zusätzlich dringend erforderlichen Pflegefachkraftstellen (vgl. auch dazu obige Stellungnahme zum Antrag der GRÜNEN). Eine weitere Anhebung des Pflegemindestlohns ist wünschenswert; es ist allerdings Aufgabe der Pflegemindestlohnkommission, die konkrete Höhe zu verhandeln. Die Verbände der BAGFW unterstützen ausdrücklich die Forderung der LINKEN, das Gehaltsniveau in der Altenpflege an das Niveau der Krankenpflege anzugleichen. Dafür setzen wir uns auch im Rahmen des Bündnisses für gute Pflege seit langem ein. Die Forderung der LINKEN, für den Nachtdienst in der Altenpflege einen Schlüssel von 1:20 als vorläufige Mindestbesetzung bis zur Einführung eines verbindlichen Personalbemessungsinstruments festzusetzen, unterstützt die BAGFW nachdrücklich. Dafür sind zusätzliche, aus Mitteln der Pflegeversicherung zu finanzierende Pflegekräfte vorzusehen; eine Verlagerung von Personal aus den Tagesschichten in den Nachtdienst darf nicht erfolgen. Des Weiteren setzen wir uns für die Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung der Fachkraftquote entsprechend der neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse ein. Im Sinne der Gewährleistung einer hochwertigen Versorgung pflegebedürftiger Menschen ist es aus Sicht der Freien Wohlfahrtspflege nicht vertretbar, die Fachkraftquotenregelungen – die ohnehin in den Ländern bereits diverse pragmatische Abweichmöglichkeiten oder sonstige Regelungen zur Vereinfachung (z.B. im Zuge der Umsetzung PSG II) aufweisen – ohne wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse abzuschaffen oder grundlegend zu verändern. Dies begründet sich auch durch die Ergebnisse internationaler Studien, die darauf hinweisen, dass zwischen dem Qualifikationsniveau von Pflegenden und der Versorgungsqualität in stationären Pflegeeinrichtungen ein Zusammenhang besteht.
Zur langfristigen Finanzierung einer angemessenen Personalausstattung in der Altenpflege bedarf es einer nachhaltigen Sicherung der Finanzierungsbasis der Pflegeversicherung. Zur Verbreiterung der Einnahmebasis sollen aus Sicht der BAGFW weitere Einkommensarten auf der Grundlage der steuerlichen Einkommensarten in die Beitragsbemessung einfließen. Des Weiteren soll die Beitragsbemessungsgrenze bis auf das Niveau der Gesetzlichen Rentenversicherung angehoben werden. Diese beiden Maßnahmen entsprechen den Forderungen des Antrags der LINKEN. Des Weiteren setzen sich die Verbände der BAGFW für eine jährliche, an den Kriterien der Kostenentwicklung orientierte Dynamisierung der Leistungen der Pflegeversicherung ein, um einen Realwertverlust dieser Leistungen zu vermeiden. Der Koalitionsvertrag enthält eine Formulierung zur Dynamisierung, die aus Sicht der BAGFW in dieser Weise politisch ausgestaltet werden kann. Nur so ist gewährleistet, dass die Sozialhilfeabhängigkeit pflegebedürftiger Menschen nicht weiter zunimmt.
Auch die Forderungen der LINKEN zur umgehenden Umsetzung der Verordnungen des Pflegeberufegesetzes unterstützen wir (s. auch dazu die obigen Ausführungen zur Stellungnahme zum Antrag der GRÜNEN).
Eine Streichung des Unternehmerrisikos nach § 84 Absatz 2 SGB XI für Einrichtungsbetreiber der vollstationären Pflege wird hingegen von der BAGFW abgelehnt. Hier sei zudem verwiesen, dass das Gesetz auch für den ambulanten Bereich einen Risikozuschlag garantiert (§ 89 Absatz 1 Satz 3 SGB XI). Bei der Neuregelung des Unternehmensrisikos in § 84 Absatz 2 bzw. § 89 Absatz 1 SGB XI geht es nicht darum, „Anreize, den betriebswirtschaftlichen Nutzen für Träger zu maximieren“, wie der Antrag der LINKEN formuliert, sondern um eine Absicherung betriebswirtschaftlicher Unternehmerrisiken. Die im PSG III vorgenommene Neuregelung ist nur eine Klarstellung, welche die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts nachvollzieht. Das BSG hat in seinem Urteil vom 29. Januar 2009 (Az. B 3 P 7/08 R u.a.) klargestellt und in einem weiteren Urteil bestätigt (BSG-Urteil vom 16.05.2013, Az.: B 3 P 2/12 R), dass Pflegesätze und Entgelte im Bereich der sozialen Pflegeversicherung nur dann leistungsgerecht sind, wenn sie die Kosten einer Pflegeeinrichtung hinsichtlich der voraussichtlichen Gestehungskosten unter Zuschlag einer angemessenen Vergütung ihres Unternehmerrisikos und eines etwaigen zusätzlichen persönlichen Arbeitseinsatzes sowie einer angemessenen Verzinsung ihres Eigenkapitals decken.
Chancen zum Risikoausgleich sind die Grundlage einer auskömmlichen Finanzierung. Da § 84 Absatz 2 Satz 7 2. Hs. SGB XI vorsieht, dass Verluste von der Pflegeeinrichtung zu tragen sind, hätte ein Unternehmen ohne die Möglichkeit, Rücklagen aus Überschüssen zu bilden, keine Chance, solche Verluste auszugleichen. Dies gilt für private wie für freigemeinnützige Träger gleichermaßen. Der Unterschied zwischen privaten und freigemeinnützigen Trägern liegt darin, dass eine Gewinnentnahme zur Mehrung des Privatvermögens der Anteilseigner bei freigemeinnützigen Trägern ausgeschlossen ist, denn sie sind durch die Abgabenordnung verpflichtet, Gewinne zeitnah entsprechend ihrer gemeinnützigen Satzungsvorgaben zu verwenden.
Berlin, 12.04.2018
Bundesarbeitsgemeinschaft
der Freien Wohlfahrtspflege e. V.
Dr. Gerhard Timm
Geschäftsführer
Kontakt:
Nora Roßner (nora.rossner@caritas.de)
]]>Die durchschnittliche Krankenhausverweildauer geht seit Jahren kontinuierlich zurück. Dadurch entstehen neue Anforderungen an eine Krankenhausnachsorge, insbesondere für Menschen mit medizinisch-pflegerischem Versorgungsbedarf. Seit 2017 besteht die Möglichkeit, Kurzzeitpflege nach § 39c SGB V auch als Krankenhausnachsorge bei fehlender Pflegebedürftigkeit im Sinne der Pflegeversicherung in Anspruch zu nehmen. Für den pflegerisch-medizinischen Versorgungsbedarf in der Kurzzeitpflegeeinrichtung ist es allerdings ohne Bedeutung, ob nach einer Krankenhausbehandlung bereits ein langfristiger Unterstützungsbedarf im Sinne des SGB XI festgestellt worden ist oder ob der Pflegebedarf nur vorübergehend besteht.
Nach einer Krankenhausbehandlung ist es oft erforderlich, die persönliche Lebenssituation der veränderten gesundheitlichen Situation anzupassen. Dazu bedarf es eines kontinuierlichen Assessmentverfahrens in der Kurzzeitpflege, das neben dem aktuellen Versorgungsbedarf die individuellen Ressourcen und den perspektivischen Hilfebedarf klärt. Dazu gehört auch die Bewertung verfügbarer formeller und informeller Unterstützungspotentiale.
Die Überleitung aus der Kurzzeitpflege in eine tragfähige, längerfristige Versorgungssituation erfordert eine umfassende Beratung unter Einbeziehung der An- und Zugehörigen zur zukünftigen Lebenssituation, um eine Akzeptanz der neuen veränderten gesundheitlichen Lebenssituation zu unterstützen.
1. Die solitäre Kurzzeitpflege übernimmt zunehmend wichtige Aufgaben im pflegerischen Versorgungssystem nach einer akuten Krankenhausbehandlung:
a) Clearing-Funktion zur zukünftigen Lebens- und Versorgungssituation, die den persönlichen Unterstützungsbedarf klärt,
b) Förderung gesundheitlicher Potentiale und Stärkung der individuellen Ressourcen ergänzend oder zur Vorbereitung einer Rehabilitationsmaßnahme,
c) Nachsorge nach einer Akutbehandlung.
2. Die Versorgung in der solitären Kurzzeitpflege erfordert neben der medizinisch-pflegerischen Versorgung eine verstärkte Vernetzung und Kooperation mit anderen Leistungserbringern, z. B. ambulanten Pflegediensten, Logopädinnen[1], Ergotherapeutinnen, Physiotherapeutinnen, Ärztinnen, Apotheken sowie Sanitätshäusern.
3. Die bedarfsgerechte Versorgung in der solitären Kurzzeitpflege im Anschluss an eine Krankenhausbehandlung ist gekennzeichnet durch eine intensive medizinische Behandlungspflege verbunden mit aktivierenden, rehabilitativ-pflegerischen und therapeutischen sowie gesundheitsförderlichen und präventiven Maßnahmen mit dem Ziel, die Rückkehr in die eigene Häuslichkeit zu ermöglichen und eine Wiederaufnahme ins Krankenhaus zu vermeiden. Dazu kann auch eine seelsorgliche Begleitung in einer veränderten Lebenssituation gehören.
4. Die Rekonvaleszenzzeit älterer Menschen übersteigt nicht selten den zeitlich eng befristeten Aufenthalt in einer medizinischen Rehabilitationseinrichtung. Diese Einrichtungen beklagen, dass eine nicht geringe Zahl der Patienten, die aus der akuten Krankenhausbehandlung in die medizinische Rehabilitation wechseln noch nicht rehabilitationsfähig ist. Die solitäre Kurzzeitpflege kann als Übergangslösung zur Herstellung der Rehabilitationsfähigkeit nach dem Krankenhausaufenthalt beitragen.
5. Solitäre Kurzzeitpflegeeinrichtungen müssen entsprechend ihrer erweiterten Versorgungsaufgaben über ausreichende personelle Ressourcen verfügen. Dabei muss auch der erhöhte Organisations- und Verwaltungsaufwand durch die zahlreichen Aufnahmen und Entlassungen kranker und pflegebedürftiger Menschen in der Vergütung berücksichtigt werden.
6. Für die Krankenhausnachsorge eignen sich insbesondere solitäre Kurzzeitpflegeeinrichtungen, weil sie sich bei entsprechender personeller Ausstattung auf die spezifischen Bedarfe nach einer Krankenhausbehandlung einstellen können.
7. Ein pflegegradabhängiges Vergütungssystem eignet sich nicht für solitäre Kurzzeitpflegeeinrichtungen, weder für die Kurzzeitpflege gem. § 42 SGB XI noch für die Kurzzeitpflege gemäß § 39c SGB V.
8. Die Einstufung von Menschen nach Krankenhausaufenthalt in den Pflegegrad 2 als vorläufigem Pflegegrad gemäß § 18 Absatz 3 Satz 6 SGB XI entspricht nicht dem tatsächlichen pflegerischen Mehraufwand nach Krankenhausaufenthalt in einer Kurzzeitpflegeeinrichtung. Als vorläufige Finanzierungsgrundlage der Kurzzeitpflegeeinrichtung nach Krankenhausaufenthalt ist eine Vergütung in Höhe des Pflegegrades 4 festzusetzen. Der Mehraufwand gegenüber der stationären Dauerpflege wird in Fachkreisen auf 30 % geschätzt.[2]
[1] Wegen einer einfacheren Lesbarkeit wurde in diesem Text ausschließlich die weilbliche Form verwendet. Die männliche Form ist darin eingeschlossen.
[2] Beschluss der Landespflegesatzkommission in Bayern (69. Sitzung der LPSK am 24.01.2017 – LEV)
]]>I. Problemabriss
Die Träger und Einrichtungen der Verbände der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) erbringen auf gemeinnütziger Basis in erheblichem Umfang (soziale und gesundheitliche) Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse (DAWI) in Deutschland. Für deren Finanzierung ist neben regulären Entgelten, Eigenmitteln und Spenden in verschiedenen Bereichen der Einsatz staatlicher Mittel – auch vor dem Hintergrund des Sozialstaatsprinzips – notwendig oder gewünscht. So erfordert etwa die Bereitstellung von DAWIs in ländlichen Regionen oder für benachteiligte Zielgruppen häufig die Unterstützung der öffentlichen Hand. Bei der Umsetzung von (EU-)Förderprogrammen wird der Einsatz (mitglieds-)staatlicher Gelder für die Erfüllung neuer Aufgaben gezielt geplant.
Grundsätzlich obliegt den öffentlichen Stellen die Pflicht, bei der Gewährung staatlicher Unterstützung eine etwaige Beihilfenrelevanz zu prüfen und die Beihilferechtskonformität sicherzustellen. Nach der Rechtsprechung des EuGHs kann sich aber aus der Behördenprüfung und -entscheidung (z.B. einem Zuwendungsbescheid) überhaupt nur dann ein Vertrauensschutz – und damit auch der Schutz von späteren, potenziell existenzbedrohenden Rückzahlungen – ergeben, wenn der Empfänger sich vergewissert hat, dass die bewilligende Stelle das in Art. 108 Abs. 3 AEUV vorgesehene Verfahren (v.a. die Notifizierung der Kommission) eingehalten hat. Eine Notifizierung nach dieser Vorschrift ist jedoch nur notwendig, wenn die neuen Maßnahmen sämtliche Tatbestandsvoraussetzungen des Beihilfetatbestands gem. Art. 107 Abs. 1 AEUV erfüllen.[1]
Mangelnde Rechtssicherheit bei Bewertung der tatbestandlichen Beihilfenrelevanz
Sofern die staatlichen Stellen nicht notifizieren, wird dem Begünstigten einer staatlichen Unterstützung faktisch eine materielle Beihilfeprüfung (und nicht nur die formelle Überprüfung der Notifizierung) aufgebürdet. Er muss sich vergewissern, dass die staatliche Stelle auf eine Notifizierung verzichten konnte, weil nach der konkreten Sach- und Rechtslage tatbestandlich keine Beihilfe vorlag. Eine solche Prüfung, die Spezialwissen im Beihilfenrecht erfordert, geht über die Sorgfaltspflichten und – in der Regel auch über die Möglichkeiten – eines Zuwendungsempfängers im Bereich von DAWI hinaus, insbesondere wenn es sich dabei um kleine oder mittlere Unternehmen handelt.
Es scheint volkwirtschaftlich nicht sinnvoll, gemeinnützigen Erbringern von DAWI in diesen Fällen die Kosten einer externen Rechtsberatung aufzubürden, die für die Bewertung der beihilfenrechtlichen Tatbestandlichkeit einer staatlichen Unterstützung notwendig wäre. Die Kosten hierfür dürften bei Zuwendungen für kleinere Förderungen außer Verhältnis zur Zuwendungssumme oder dem Wert der staatlichen Unterstützung stehen. Schließlich ist – auch mit externer Rechtsberatung und der hilfreichen Bekanntmachung der Kommission zum Begriff der staatlichen Beihilfe[2] – keine endgültige Rechtssicherheit erzielbar, da die Tatbestandsmerkmale sehr weit auslegungsfähig und von den europäischen Gerichten vollumfänglich nachprüfbar sind.
DAWI-De-minimis-Verordnung bringt Erleichterungen – und neue Schwierigkeiten
Die Schwierigkeit, die Beihilfenrelevanz von Maßnahmen auf Tatbestandsebene auszuschließen, zeigt sich im verstärkten Rückgriff auf die DAWI-De-minimis-Verordnung durch staatliche Stellen. So wird immer wieder auch dann die Abgabe einer De-minimis-Erklärung gefordert, wenn – auch im Lichte der neueren Entscheidungspraxis von EuGH und Kommission – das tatbestandliche Vorliegen einer Beihilfe sehr fernliegend ist. Bei der Unterstützung der Erbringung vieler sozialer DAWIs ist eine „Beeinträchtigung des grenzüberschreitenden Handels“ (auch potentiell) häufig kaum vorstellbar. Auch das Tatbestandsmerkmal der „wirtschaftlichen Tätigkeit“ dürfte etwa bei Projekten zur Ehrenamtsförderung nicht erfüllt sein.[3]
Die vermehrte Anforderung von De-minimis-Erklärungen führt dazu, dass auch solche Zuwendungen in den Schwellenwert von 500.000 EUR in drei Steuerjahren gezählt werden (müssen), die keine Beihilfe darstellen und deshalb keiner De-minimis-Freistellung bedurft hätten. Dies verringert die Nutzbarkeit der DAWI-De-minimis-Verordnung für tatsächlich beihilfenrelevante Zuwendungen. Darüber hinaus kommt es durch das Erfordernis der Abgabe einer De-minimis-Erklärung auch bei nicht-beihilferelevanten Zuwendungen zu Fällen, in denen Einrichtungen der Wohlfahrtspflege die Erbringung einer staatlich geförderten DAWI nicht anbieten können, weil sie den Schwellenwert überschritten haben, die De-minimis-Erklärung nicht abgeben können und damit formal ausgeschlossen sind. Die Angebotsvielfalt bei der Erbringung von DAWI und das Wunsch- und Wahlrecht der Nutzer(innen) werden so unnötig eingeschränkt. Denn Behörden dürften in diesen Fällen davor zurückschrecken, eine – bürokratisch wesentlich aufwendigere – Betrauung mittels des Freistellungsbeschlusses vorzunehmen.
Beispiele aus der Praxis
Infotag Familienpflege
Zwei Wohlfahrtsverbände in Bayern führten einen Infotag zum Thema „Familienpflege“ durch und beantragten dafür einen Zuschuss von 1.200 EUR. Die Verwaltung forderte die Abgabe einer DAWI-De-minimis-Erklärung an, weil „nicht ausgeschlossen werden [könne], dass es sich bei der Förderung um eine beihilfe-relevante Maßnahme im europarechtlichen Sinn“ handele.
500 Landinitiativen
Das Programm „500 LandInitiativen“ des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft richtet sich an ehrenamtliche Initiativen, die sich für die Integration geflüchteter Menschen im ländlichen Raum einsetzen. Es ermöglicht Förderungen zwischen 1.000 Euro und 10.000 Euro für konkrete Projekte oder Anschaffungen. Laut Förderbekanntmachung sind nur solche Anträge zugelassen, die „in Kommunen (…) mit weniger als 35.000 Einwohnern durchgeführt werden bzw. dort wirken.“ Obwohl durch die Ausgestaltung des Programms eine „Beeinträchtigung des grenzüberschreitenden Handels“ bzw. das Vorliegen einer „wirtschaftlichen Tätigkeit“ durch die geförderten Programmaktivitäten kaum vorstellbar ist, wurden Zuwendungen nur als De-minimis-Beihilfen gewährt. Mindestens eine Untergliederung eines Wohlfahrtsverbandes konnte aufgrund seiner erhaltenen Förderungen in anderen Bereichen die Erklärung nicht abgeben und so in zwei Orten Ehrenamtsinitiativen nicht über das Programm unterstützen.
Auch politisch ist es schädlich, wenn der Eindruck entsteht, jede noch so lokale Förderung benötige eine Ausnahme vom EU-Beihilfenrecht. Es wird weder dem Anspruch der Kommission gerecht, „Kleines im Kleinen, Großes im Großen“ zu regeln noch denjenigen Szenarien des Weißbuchs, die vorschlagen, Beihilfeentscheidungen zu 90 Prozent oder mehr auf die nationale Ebene zu verlagern.
II. Politische Forderungen
Angesichts der beschriebenen Praxisprobleme fordern die Verbände der BAGFW…
1. Im Hinblick auf die Überarbeitung der DAWI-De-minimis-Verordnung, dass…
a) der Schwellenwert erheblich erhöht wird und zwar auf 800.000 EUR pro Steuerjahr.[4]
Die DAWI-De-minimis-Verordnung ermöglicht eine rechtssichere, schnelle und vergleichsweise unbürokratische Gewährung staatlicher Unterstützung. Dem Ausnahmeinstrument sollte wegen seiner Einfachheit und Praxistauglichkeit durch die Erhöhung des Schwellenwerts eine größere Anwendungsmöglichkeit geschaffen werden. Zugleich wird in mehr Fällen die Verlagerung von Beihilfeentscheidungen auf die lokale Ebene ermöglicht.
2. Im Hinblick auf die Weiterentwicklung des Beihilfenrechts, dass…
a) bei Fonds mit nationaler Ko-Finanzierung (Europäische Struktur- und Investitionsfonds) vermehrt generalisierende Freistellungen vorgenommen werden, also wie bei rein EU-verwalteten Programmen keine Beihilferelevanz angenommen wird.[5]
b) staatliche Stellen in bestimmten Fällen in Zukunft rechtsverbindlich – und mit Vertrauensschutz für den Empfänger der staatlichen Zuwendung – anhand bestimmter Kriterien entscheiden können, dass eine Beihilfe tatbestandlich nicht vorliegt. Hier sollte dem rechtsstaatlichen Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung wieder voll Rechnung getragen werden können und nationalen Behörden mehr Entscheidungsspielraum eingeräumt werden. Der Kommission bzw. dem EuGH sollte hier nur eine Missbrauchskontrolle zustehen.
Als Kriterien für die rechtsverbindliche Entscheidung über die tatbestandliche Beihilfe(ir)relevanz könnten etwa die KMU-Eigenschaft des Erbringers oder die Regionalität entsprechend der von der Kommission entschiedenen Fälle dienen. Grundsätzlich sollte hier der Anspruch der Kommission „Kleines im Kleinen, Großes im Großen“ als Vorbild dienen. Anknüpfungspunkte bieten sich auch über diejenigen Szenarien des Weißbuchs, die vorschlagen, Beihilfeentscheidungen zu 90 Prozent oder mehr auf die nationale Ebene zu verlagern. Umgesetzt werden könnten diese Vorschläge auch über die Task Force für Subsidiarität, Proportionalität und Effizienz der EU[6].
[1] Grabitz/Hilf/Nettesheim/von Wallenberg/Schütte EU-Arbeitsweisevertrag Art. 108 Rn. 11, beck-online;
Bartosch/Bartosch VO 2015/1589 Art. 2 Rn. 2, beck-online.
[2] Bekanntmachung der Kommission zum Begriff der staatlichen Beihilfe im Sinne des Artikels 107 Absatz 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (C/2016/2946), 19.7.2016.
[3] In der Kommissionsentscheidung <link http: ec.europa.eu competition state_aid cases>SA.42268 vom 23. November 2017 werden unter Rz. 9 als nichtwirtschaftliche Tätigkeiten auch der Betrieb von Einrichtungen, in denen Obdachlose sich aufwärmen bzw. übernachten können, sowie die Unterstützung von Migranten genannt.
[4] Vgl. auch die entsprechende Forderung der Europabüros der bayerischen, baden-württembergischen und sächsischen Kommunen: <link https: www.europabuero-bw.de sites default files buchanhang>Stellungnahme zum Entwurf für eine Verordnung der Kommission über De-minimis-Beihilfen für die Erbringung von Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse (DAWI), 8. Februar 2012.
[5] Ausschuss der Regionen <link https: webapi.cor.europa.eu documentsanonymous cor-2016-01460-00-00-ac-tra-de.docx content>Staatliche Beihilfen und Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse (CDR 1460/2016), 11. Oktober 2016, Rz. 4: . „Z.B. sollte die Anwendung der beihilferechtlichen Vorschriften weiter vereinfacht werden, etwa durch die Einführung einer an einfache Kriterien wie die Übereinstimmung mit genehmigten operationellen Programmen geknüpfte Regelvermutung der Beihilfekonformität einer Finanzierung aus den ESIF. Denn die Ungleichbehandlung von direkt verwalteten EU- Fonds, wie EFSI und HORIZONT 2020, und den ESIF im beihilferechtlichen Bereich ist nicht gerechtfertigt, erhöht die Verwaltungslast und behindert Synergien zwischen den Fonds, wie sie auch von der Europäischen Kommission selbst angestrebt werden;“
[6] <link https: ec.europa.eu info sites files>ec.europa.eu/info/sites/info/files/2017-c-7810-president-decision_de.pdf.
I. Problemabriss
Die Träger und Einrichtungen der Verbände der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) erbringen auf gemeinnütziger Basis in erheblichem Umfang (soziale und gesundheitliche) Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse (DAWI) in Deutschland. Für deren Finanzierung ist neben regulären Entgelten, Eigenmitteln und Spenden in verschiedenen Bereichen der Einsatz staatlicher Mittel – auch vor dem Hintergrund des Sozialstaatsprinzips – notwendig oder gewünscht. So erfordert etwa die Bereitstellung von DAWIs in ländlichen Regionen oder für benachteiligte Zielgruppen häufig die Unterstützung der öffentlichen Hand. Bei der Umsetzung von (EU-)Förderprogrammen wird der Einsatz (mitglieds-)staatlicher Gelder für die Erfüllung neuer Aufgaben gezielt geplant.
Grundsätzlich obliegt den öffentlichen Stellen die Pflicht, bei der Gewährung staatlicher Unterstützung eine etwaige Beihilfenrelevanz zu prüfen und die Beihilferechtskonformität sicherzustellen. Nach der Rechtsprechung des EuGHs kann sich aber aus der Behördenprüfung und -entscheidung (z.B. einem Zuwendungsbescheid) überhaupt nur dann ein Vertrauensschutz – und damit auch der Schutz von späteren, potenziell existenzbedrohenden Rückzahlungen – ergeben, wenn der Empfänger sich vergewissert hat, dass die bewilligende Stelle das in Art. 108 Abs. 3 AEUV vorgesehene Verfahren (v.a. die Notifizierung der Kommission) eingehalten hat. Eine Notifizierung nach dieser Vorschrift ist jedoch nur notwendig, wenn die neuen Maßnahmen sämtliche Tatbestandsvoraussetzungen des Beihilfetatbestands gem. Art. 107 Abs. 1 AEUV erfüllen.[1]
Mangelnde Rechtssicherheit bei Bewertung der tatbestandlichen Beihilfenrelevanz
Sofern die staatlichen Stellen nicht notifizieren, wird dem Begünstigten einer staatlichen Unterstützung faktisch eine materielle Beihilfeprüfung (und nicht nur die formelle Überprüfung der Notifizierung) aufgebürdet. Er muss sich vergewissern, dass die staatliche Stelle auf eine Notifizierung verzichten konnte, weil nach der konkreten Sach- und Rechtslage tatbestandlich keine Beihilfe vorlag. Eine solche Prüfung, die Spezialwissen im Beihilfenrecht erfordert, geht über die Sorgfaltspflichten und – in der Regel auch über die Möglichkeiten – eines Zuwendungsempfängers im Bereich von DAWI hinaus, insbesondere wenn es sich dabei um kleine oder mittlere Unternehmen handelt.
Es scheint volkwirtschaftlich nicht sinnvoll, gemeinnützigen Erbringern von DAWI in diesen Fällen die Kosten einer externen Rechtsberatung aufzubürden, die für die Bewertung der beihilfenrechtlichen Tatbestandlichkeit einer staatlichen Unterstützung notwendig wäre. Die Kosten hierfür dürften bei Zuwendungen für kleinere Förderungen außer Verhältnis zur Zuwendungssumme oder dem Wert der staatlichen Unterstützung stehen. Schließlich ist – auch mit externer Rechtsberatung und der hilfreichen Bekanntmachung der Kommission zum Begriff der staatlichen Beihilfe[2] – keine endgültige Rechtssicherheit erzielbar, da die Tatbestandsmerkmale sehr weit auslegungsfähig und von den europäischen Gerichten vollumfänglich nachprüfbar sind.
DAWI-De-minimis-Verordnung bringt Erleichterungen – und neue Schwierigkeiten
Die Schwierigkeit, die Beihilfenrelevanz von Maßnahmen auf Tatbestandsebene auszuschließen, zeigt sich im verstärkten Rückgriff auf die DAWI-De-minimis-Verordnung durch staatliche Stellen. So wird immer wieder auch dann die Abgabe einer De-minimis-Erklärung gefordert, wenn – auch im Lichte der neueren Entscheidungspraxis von EuGH und Kommission – das tatbestandliche Vorliegen einer Beihilfe sehr fernliegend ist. Bei der Unterstützung der Erbringung vieler sozialer DAWIs ist eine „Beeinträchtigung des grenzüberschreitenden Handels“ (auch potentiell) häufig kaum vorstellbar. Auch das Tatbestandsmerkmal der „wirtschaftlichen Tätigkeit“ dürfte etwa bei Projekten zur Ehrenamtsförderung nicht erfüllt sein.[3]
Die vermehrte Anforderung von De-minimis-Erklärungen führt dazu, dass auch solche Zuwendungen in den Schwellenwert von 500.000 EUR in drei Steuerjahren gezählt werden (müssen), die keine Beihilfe darstellen und deshalb keiner De-minimis-Freistellung bedurft hätten. Dies verringert die Nutzbarkeit der DAWI-De-minimis-Verordnung für tatsächlich beihilfenrelevante Zuwendungen. Darüber hinaus kommt es durch das Erfordernis der Abgabe einer De-minimis-Erklärung auch bei nicht-beihilferelevanten Zuwendungen zu Fällen, in denen Einrichtungen der Wohlfahrtspflege die Erbringung einer staatlich geförderten DAWI nicht anbieten können, weil sie den Schwellenwert überschritten haben, die De-minimis-Erklärung nicht abgeben können und damit formal ausgeschlossen sind. Die Angebotsvielfalt bei der Erbringung von DAWI und das Wunsch- und Wahlrecht der Nutzer(innen) werden so unnötig eingeschränkt. Denn Behörden dürften in diesen Fällen davor zurückschrecken, eine – bürokratisch wesentlich aufwendigere – Betrauung mittels des Freistellungsbeschlusses vorzunehmen.
Beispiele aus der Praxis
Infotag Familienpflege
Zwei Wohlfahrtsverbände in Bayern führten einen Infotag zum Thema „Familienpflege“ durch und beantragten dafür einen Zuschuss von 1.200 EUR. Die Verwaltung forderte die Abgabe einer DAWI-De-minimis-Erklärung an, weil „nicht ausgeschlossen werden [könne], dass es sich bei der Förderung um eine beihilfe-relevante Maßnahme im europarechtlichen Sinn“ handele.
500 Landinitiativen
Das Programm „500 LandInitiativen“ des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft richtet sich an ehrenamtliche Initiativen, die sich für die Integration geflüchteter Menschen im ländlichen Raum einsetzen. Es ermöglicht Förderungen zwischen 1.000 Euro und 10.000 Euro für konkrete Projekte oder Anschaffungen. Laut Förderbekanntmachung sind nur solche Anträge zugelassen, die „in Kommunen (…) mit weniger als 35.000 Einwohnern durchgeführt werden bzw. dort wirken.“ Obwohl durch die Ausgestaltung des Programms eine „Beeinträchtigung des grenzüberschreitenden Handels“ bzw. das Vorliegen einer „wirtschaftlichen Tätigkeit“ durch die geförderten Programmaktivitäten kaum vorstellbar ist, wurden Zuwendungen nur als De-minimis-Beihilfen gewährt. Mindestens eine Untergliederung eines Wohlfahrtsverbandes konnte aufgrund seiner erhaltenen Förderungen in anderen Bereichen die Erklärung nicht abgeben und so in zwei Orten Ehrenamtsinitiativen nicht über das Programm unterstützen.
Auch politisch ist es schädlich, wenn der Eindruck entsteht, jede noch so lokale Förderung benötige eine Ausnahme vom EU-Beihilfenrecht. Es wird weder dem Anspruch der Kommission gerecht, „Kleines im Kleinen, Großes im Großen“ zu regeln noch denjenigen Szenarien des Weißbuchs, die vorschlagen, Beihilfeentscheidungen zu 90 Prozent oder mehr auf die nationale Ebene zu verlagern.
II. Politische Forderungen
Angesichts der beschriebenen Praxisprobleme fordern die Verbände der BAGFW…
1. Im Hinblick auf die Überarbeitung der DAWI-De-minimis-Verordnung, dass…
a) der Schwellenwert erheblich erhöht wird und zwar auf 800.000 EUR pro Steuerjahr.[4]
Die DAWI-De-minimis-Verordnung ermöglicht eine rechtssichere, schnelle und vergleichsweise unbürokratische Gewährung staatlicher Unterstützung. Dem Ausnahmeinstrument sollte wegen seiner Einfachheit und Praxistauglichkeit durch die Erhöhung des Schwellenwerts eine größere Anwendungsmöglichkeit geschaffen werden. Zugleich wird in mehr Fällen die Verlagerung von Beihilfeentscheidungen auf die lokale Ebene ermöglicht.
2. Im Hinblick auf die Weiterentwicklung des Beihilfenrechts, dass…
a) bei Fonds mit nationaler Ko-Finanzierung (Europäische Struktur- und Investitionsfonds) vermehrt generalisierende Freistellungen vorgenommen werden, also wie bei rein EU-verwalteten Programmen keine Beihilferelevanz angenommen wird.[5]
b) staatliche Stellen in bestimmten Fällen in Zukunft rechtsverbindlich – und mit Vertrauensschutz für den Empfänger der staatlichen Zuwendung – anhand bestimmter Kriterien entscheiden können, dass eine Beihilfe tatbestandlich nicht vorliegt. Hier sollte dem rechtsstaatlichen Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung wieder voll Rechnung getragen werden können und nationalen Behörden mehr Entscheidungsspielraum eingeräumt werden. Der Kommission bzw. dem EuGH sollte hier nur eine Missbrauchskontrolle zustehen.
Als Kriterien für die rechtsverbindliche Entscheidung über die tatbestandliche Beihilfe(ir)relevanz könnten etwa die KMU-Eigenschaft des Erbringers oder die Regionalität entsprechend der von der Kommission entschiedenen Fälle dienen. Grundsätzlich sollte hier der Anspruch der Kommission „Kleines im Kleinen, Großes im Großen“ als Vorbild dienen. Anknüpfungspunkte bieten sich auch über diejenigen Szenarien des Weißbuchs, die vorschlagen, Beihilfeentscheidungen zu 90 Prozent oder mehr auf die nationale Ebene zu verlagern. Umgesetzt werden könnten diese Vorschläge auch über die Task Force für Subsidiarität, Proportionalität und Effizienz der EU[6].
[1] Grabitz/Hilf/Nettesheim/von Wallenberg/Schütte EU-Arbeitsweisevertrag Art. 108 Rn. 11, beck-online;
Bartosch/Bartosch VO 2015/1589 Art. 2 Rn. 2, beck-online.
[2] Bekanntmachung der Kommission zum Begriff der staatlichen Beihilfe im Sinne des Artikels 107 Absatz 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (C/2016/2946), 19.7.2016.
[3] In der Kommissionsentscheidung <link http: ec.europa.eu competition state_aid cases>SA.42268 vom 23. November 2017 werden unter Rz. 9 als nichtwirtschaftliche Tätigkeiten auch der Betrieb von Einrichtungen, in denen Obdachlose sich aufwärmen bzw. übernachten können, sowie die Unterstützung von Migranten genannt.
[4] Vgl. auch die entsprechende Forderung der Europabüros der bayerischen, baden-württembergischen und sächsischen Kommunen: <link https: www.europabuero-bw.de sites default files buchanhang>Stellungnahme zum Entwurf für eine Verordnung der Kommission über De-minimis-Beihilfen für die Erbringung von Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse (DAWI), 8. Februar 2012.
[5] Ausschuss der Regionen <link https: webapi.cor.europa.eu documentsanonymous cor-2016-01460-00-00-ac-tra-de.docx content>Staatliche Beihilfen und Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse (CDR 1460/2016), 11. Oktober 2016, Rz. 4: . „Z.B. sollte die Anwendung der beihilferechtlichen Vorschriften weiter vereinfacht werden, etwa durch die Einführung einer an einfache Kriterien wie die Übereinstimmung mit genehmigten operationellen Programmen geknüpfte Regelvermutung der Beihilfekonformität einer Finanzierung aus den ESIF. Denn die Ungleichbehandlung von direkt verwalteten EU- Fonds, wie EFSI und HORIZONT 2020, und den ESIF im beihilferechtlichen Bereich ist nicht gerechtfertigt, erhöht die Verwaltungslast und behindert Synergien zwischen den Fonds, wie sie auch von der Europäischen Kommission selbst angestrebt werden;“
[6] <link https: ec.europa.eu info sites files>ec.europa.eu/info/sites/info/files/2017-c-7810-president-decision_de.pdf.
Gegenstand der Konsultation sind Programme und Maßnahmen zum Schutz und zur Förderung europäischer Werte sowie zur Förderung der Mobilität, der allgemeinen und beruflichen Bildung, der kulturellen Vielfalt, der Grundrechte, eines europäischen Rechtsraums, digitaler
Kompetenzen, der Kreativität sowie eines europäischen historischen Gedächtnisses. Mit dieser öffentlichen Konsultation sollen die Stärken und Schwächen der bestehenden EU-Programme und Maßnahmen sowie mögliche Optionen für das weitere Vorgehen ermittelt und mögliche Synergien aufgezeigt werden.
]]>Mit dem Dritten Pflegestärkungsgesetz (PSG III) hat der Gesetzgeber den Anspruch der Pflegeeinrichtung auf eine angemessene Vergütung des Unternehmerrisikos zum 01. Januar 2017 ausdrücklich in § 84 Abs. 2 Satz 4 SGB XI aufgenommen. Nach der Gesetzesbegründung erfolgt dies in Anerkennung der Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes, welche somit zur Auslegung des Gesetzes ergänzend heranzuziehen ist.
Wie die Vergütung des Unternehmerrisikos zu bemessen ist, hat der Gesetzgeber bewusst der Aushandlung der Vertragspartner und im Streitfall der Entscheidung der Schiedsstelle im Verfahren nach § 85 Abs. 5 Satz 1 überlassen. In der Praxis sowie in der unterinstanzlichen Rechtsprechung besteht Unsicherheit, wie die angemessene Vergütung des Unternehmerrisikos zu benennen, zu bemessen und auszugestalten ist. Bislang wird die Vergütung des Unternehmerrisikos in den Vergütungsvereinbarungen selten anerkannt. Wird sie anerkannt, so ist in der Regel streitig, ob sie der Höhe nach die zu deckenden allgemeinen Unternehmerrisiken adäquat abbildet.
Es wurden mittlerweile verschiedene Handreichungen und Studien zum Thema veröffentlicht. Im Folgenden möchten die in der BAGFW kooperierenden Verbände zu den offenen Fragen gemeinsame Empfehlungen abgeben. Ziel ist es, einen bundeseinheitlichen Umgang mit der Thematik, insbesondere mit Blick auf gleichartige Regelungen in den Landesrahmenvereinbarungen zu fördern.
A. Abgrenzung zu den betrieblichen Einzelrisiken und Begriffsklärung
Das Bundessozialgericht unterscheidet die allgemeinen Unternehmerrisiken (vgl. B.) von den im Einzelfall möglicherweise drohenden Risiken und Unsicherheiten über die Höhe der künftig tatsächlich anfallenden Kosten der Einrichtungen, welche die Pflegeeinrichtungen im Rahmen der prospektiven Gestehungskosten plausibilisieren müssen (vgl. C. sowie zu den Unterschieden B. I.). Sowohl der Gesetzgeber als auch das Bundessozialgericht verwenden dabei verschiedene Begriffe für die gleichen oder unterschiedlichen Sachverhalte wie z.B. Wagnis(se), Risiko, Gewinnchance, Gewinnzuschlag etc.
Zur Vermeidung von Missverständnissen legt sich die BAGFW auf folgende einheitliche Begrifflichkeiten fest:
- Wagniszuschlag: für die Vergütung des allgemeinen Unternehmerrisikos und
- Betriebliche Einzelrisiken für die drohenden Risiken und Unsicherheiten über die Höhe der künftig tatsächlich anfallenden Kosten der einzelnen Einrichtung, die im Rahmen der prospektiven Gestehungskosten zu berücksichtigen sind.
B. Wagniszuschlag (Vergütung des allgemeinen Unternehmerrisikos)
I. Zielsetzung
Das Bundessozialgericht leitet den Anspruch auf eine angemessene Vergütung des allgemeinen Unternehmerrisikos aus dem Grundsatz der prospektiven Leistungsentgelte aus § 84 Abs. 2 Satz 6 SGB XI in der aktuellen Fassung ab (vgl. BSG, E. v. 16.05.2013, Az. B 3 P 2/12 R, Rn. 26-28) . Danach verbleiben der Pflegeeinrichtung zwar Überschüsse; Verluste sind hingegen von ihr zu tragen. Aus diesem Grundsatz folgert das Bundessozialgericht, dass „der Unternehmergewinn die Kehrseite der unternehmerischen Wagnisse eines Pflegeheimträgers ist“ (vgl. BSG, ebd., Rn. 27). Die Pflegesätze und Entgelte sind dementsprechend so zu bemessen, dass die Pflegeeinrichtung bei ordnungsgemäßer Betriebsführung einen angemessenen Unternehmensgewinn erwirtschaftet, wenn sich die allgemeinen Verlustrisiken nicht realisieren. Zu den allgemeinen Verlustrisiken zählt das Bundessozialgericht beispielhaft und damit nicht abschließend:
· die Folgen einer schlechten gesamtwirtschaftlichen Lage sowie
· die Folgen von unwirtschaftlichem Verhalten und von unternehmerischen Fehlentscheidungen, eines Überangebotes am Markt oder eines unzureichenden Leistungsangebotes, zum Beispiel aufgrund der Nachfrageentwicklung.
Die allgemeinen Verlustrisiken sind nach dem Bundessozialgericht immer dann gegeben, wenn ein Unternehmer am Markt tätig wird. Sie müssen nicht plausibilisiert werden.
Auch unter allgemeinen betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten ist es selbstverständlich, dass Preise für eine Leistung die Möglichkeit eröffnen müssen, Überschüsse bzw. einen Gewinn zu erzielen. Die Gewinnchance ist die Grundlage einer auskömmlichen Finanzierung. Ohne sie hätte ein Unternehmen keine Möglichkeit, Rücklagen zu bilden und würde langfristig Verluste machen. Die wirtschaftliche Handlungsfähigkeit und die Möglichkeit der strategischen Weiterentwicklung wären dem Unternehmen genommen.
Das gilt für privat-gewerbliche ebenso wie für gemeinnützige Träger. Der Unterschied bei gemeinnützigen Trägern liegt lediglich in der Verwendung der erzielten Überschüsse. Eine Gewinnentnahme zur Mehrung des Privatvermögens der Anteilseigner ist bei gemeinnützigen Unternehmen ausgeschlossen. Hingegen sind sie durch die Abgabenordnung dazu verpflichtet, ihre Gewinne zeitnah und ausschließlich entsprechend ihrer gemeinnützigen Satzungsvorgaben und somit zur Förderung des Gemeinwohls zu verwenden.
In Gegensatz zu den allgemeinen Unternehmerrisiken sieht das Bundessozialgericht die im Einzelfall möglicherweise drohenden Risiken und die Unsicherheiten über die Höhe der künftig tatsächlich anfallenden Kosten der Einrichtungen (sog. betriebliche Einzelrisiken wie z. B. Preisschwankungen, systematische Auslastungsbeschränkung durch Bewohnerfluktuation, Forderungsausfall). Diese sind im Rahmen der prospektiven Pflegesatzverhandlung wie sonstige Gestehungskosten zu plausibilisieren und zu berücksichtigen, sofern sie nicht durch Versicherungen gedeckt sind (wie in der Regel Feuergefahr, Diebstahl oder Unfälle). Die Plausibilisierung erfolgt „anhand konkreter Erfahrungswerte in der Vergangenheit oder sonstiger nachvollziehbarer Anhaltspunkte [dafür], dass Kosten in solcher Höhe im Durchschnitt mehrerer Jahre beim Betrieb einer wirtschaftlich operierenden Pflegeeinrichtung voraussichtlich anfallen werden“ (vgl. BSG, ebd., Rn. 28).
Entsprechend der Rechtsprechungsvorgaben sehen die jüngsten Studien den Hauptunterschied zwischen dem allgemeinen Unternehmerrisiko und den betrieblichen Einzelrisiken darin, dass die betrieblichen Einzelrisiken in unmittelbarem Zusammenhang zum betrieblichen Leistungsprozess stehen. Auch sie treten aperiodisch auf, sind aber mit einer erheblich höheren Wahrscheinlichkeit zu erwarten als die Verwirklichung des allgemeinen Unternehmerrisikos.[1]
II. Form
In welcher Form den Pflegeeinrichtungen eine Vergütung ihres allgemeinen Unternehmerrisikos einzuräumen ist, hat das Bundessozialgericht der Aushandlung der Vertragspartner bzw. im Streitfall der Entscheidung der Schiedsstelle (nach billigem Ermessen) überlassen. In Betracht kommt beispielsweise ein fester prozentualer Zuschlag auf den Umsatz (der sog. Wagniszuschlag) oder die Vereinbarung einer hinreichend großzügigen Auslastungsquote.
Die BAGFW spricht sich ausdrücklich für eine Vergütung des allgemeinen Unternehmerrisikos über einen festen prozentualen Zuschlag aus (siehe zur Bemessung Abschnitt IV), da ein fester Prozentsatz mehr Planungssicherheit als eine Steuerung über die Auslastungsquote bietet. |
Eine Verknüpfung der Auslastungsquote mit der Vergütung des allgemeinen Unternehmerrisikos ist nicht zu empfehlen. Zwar können auch allgemeine Unternehmerrisiken, etwa Nachfrageschwankungen, Einfluss auf die Auslastung haben, aber die Auslastungsquote dient in erster Linie dazu, die voraussehbaren Auslastungsrisiken einer Pflegeeinrichtung abzubilden, die sich aperiodisch mehr oder weniger stark verwirklichen, etwa durch Bewohnerfluktuation. Das allgemeine Unternehmerrisiko zusammen mit betrieblichen Einzelrisiken in einer Bezugsgröße abzuhandeln, ist weder praktikabel noch transparent. Die Realisierung von betrieblichen Einzelrisiken hätte dann Auswirkungen auf die Vergütung des allgemeinen Unternehmerrisikos. Die Auslastungskomponente kann jedoch ergänzend herangezogen werden, insbesondere dann, wenn sie historisch bedingt mit der Vergütungssystematik des jeweiligen Bundeslandes besser vereinbar ist und auf mehr Akzeptanz seitens der Kostenträger trifft. Ob die Auslastungsquote grundsätzlich als Instrument für die Vergütung des allgemeinen Unternehmerrisikos geeignet ist, sollte jedoch auf Landesebene zwischen der Fachebene und den Pflegesatzverhandlern diskutiert werden. Es wird empfohlen, im Zuge der Einführung der Vergütung des allgemeinen Unternehmerrisikos die in den Bundesländern vereinbarten Auslastungsquoten zu überprüfen.
III. Bemessungsgrundlage
Wie vom Bundessozialgericht vorgegeben, empfiehlt die BAGFW den Zuschlag auf den über die Pflegevergütung und die Entgelte für Unterkunft und Verpflegung generierten Umsatz der Einrichtungen zu berechnen. |
Die Einnahmen einer Pflegeeinrichtung aus der Investitionskostenumlage haben bei der Berechnung des Wagniszuschlages außer Betracht zu bleiben (vgl. BSG Urteile vom 08.09.2011, Az. B 3 P 2/11 R u. a.). Dementsprechend ist das Überschussinteresse für das anderweitig nicht refinanzierte Einbringen von Vermögensgegenständen im Sinne der Eigenkapitalverzinsung nicht im Rahmen der Investitionskosten (§ 82 Abs. 3 SGB XI), sondern ausschließlich bei der prospektiven Kalkulation der Gestehungskosten der Pflegevergütung sowie der Kosten für Unterkunft und Verpflegung zu berücksichtigen (siehe hierzu C.).
IV. Bemessung / Höhe des Wagniszuschlages
Aus der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts wird klar, dass einrichtungsindividuelle Nachweise für das allgemeine Unternehmerrisiko weder beigebracht werden können noch müssen. Eine einrichtungsindividualisierte Bemessung der Höhe des Wagniszuschlages ist nicht möglich.
Die BAGFW empfiehlt daher, bei der Bemessung auf allgemeingültige bzw. anerkannte Kennzahlen und Methoden zurückzugreifen. Hierbei ist es sinnvoll, neben den für die gesamtdeutsche Wirtschaft geltenden Daten auch die für die Pflegebranche typischen Unternehmerrisiken in den Blick zu nehmen (z. B. Folgen zahlreicher Gesetzesänderungen, erhöhter Krankenstand unter den Pflegekräften etc.). |
Hinsichtlich der Kennzahlen und Methoden wird auf jüngst veröffentlichte Handreichungen und Studien zum Thema verwiesen. So veranschlagt das Diskussionspapier des Deutschen Caritasverbandes e. V. auf der Grundlage einer allgemeinen und brachenübergreifenden Betrachtung den Wagniszuschlag mit 4 Prozent (vgl. Diskussionspapier des Deutschen Caritasverbandes e. V., „Risikozuschlag in den Pflegesatzverhandlungen“, 2017). In der IEGUS Studie wird unter Berücksichtigung einer breiteren Datenbasis und branchenspezifischer Faktoren in der Pflege ein Wagniszuschlag 4,84 bis 5,62 Prozent, als angemessen bewertet, je nach Bundesland und Zugehörigkeit zu „besonderen Regionen“ (vgl. IEGUS Studie, 2018, a. a. O.).
C. Betriebliche Einzelrisiken
Wie unter A. I. dargestellt, sind neben dem Zuschlag für die Vergütung des allgemeinen Unternehmerrisikos die konkreten betrieblichen Einzelrisiken einer Pflegeeinrichtung bei den jeweiligen Kostenpositionen einzupreisen. Zu den betrieblichen Einzelrisiken gehört auch die angemessene Verzinsung von eingesetztem Eigenkapital. Zu verzinsen ist dabei auch das eingebrachte Eigenkapital für investive Anlagegüter, soweit die Verzinsung nicht in die Berechnung der Investitionskostenumlage eingeflossen ist, insbesondere für eingebrachte Grundstücke. Das Bundessozialgericht hat ausdrücklich klargestellt, dass die Tatsache, dass Grundstücke weder über die Pflegesätze noch über die Investitionskostenumlage refinanziert werden können, nichts daran „ändert […], dass die Einrichtung auch insoweit zu Zwecken des Pflegebetriebs Eigenkapital einsetzt und ihr deshalb […] ein schützenswertes Interesse an dessen angemessener Verzinsung zustehen kann“ (vgl. BSG Urteile vom 08.09.2011, Az. B 3 P 2/11 R, Rn. 43 letzter Satz). Dieses hat die Einrichtung im Rahmen des § 82 Abs. 1 SGB XI bei der prospektiven Kalkulation der Gestehungskosten der Pflegevergütung sowie der Entgelte für Unterkunft und Verpflegung zu verfolgen (vgl. BSG, Rn. 45).
Die BAGFW empfiehlt den Einrichtungen, sich in den Vergütungsverhandlungen an den typischerweise bei Pflegeeinrichtungen vorkommenden spezifischen betrieblichen Risiken zu orientieren (vgl. z. B. Aufzählung sowie Umsetzungsempfehlungen der IEGUS-Studie, insbes. Anhang zur „Quantifizierung betrieblich-spezifischer Einzelwagnisse: Ergebnisse der Datenerhebung“). |
Die betrieblichen Einzelrisiken sind nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts grundsätzlich einrichtungsindividuell zu evaluieren und zu plausibilisieren. Das stellt für viele Einrichtungen eine besondere Herausforderung dar. Hierunter fallen zum Beispiel kleinere Einrichtungen sowie Einrichtungen, die neu am Markt tätig sind. Die BAGFW hält es für einen denkbaren Weg, auf Landesebene im Rahmen der Selbstverwaltung einen pauschalen Zuschlag auch für die betrieblichen Einzelrisiken zu vereinbaren. Dies würde gerade den kleineren und neueren Pflegeeinrichtungen, aber auch den Leistungsträgern einen hohen Verwaltungsaufwand ersparen. Es müsste hierbei – wie bei der pauschalen Fortschreibung – jedoch der Vorrang der Einzelvereinbarung sichergestellt werden. Das bedeutet, dass es jeder Einrichtung offen stehen muss, ihre individuell höheren betrieblichen Einzelrisiken zu plausibilisieren und nachzuweisen.
[1] vgl. Studie des Instituts für europäische Gesundheits- und Sozialwirtschaft GmbH (IEGUS) in Zusammenarbeit mit der Gesellschaft für Organisationsentwicklung GmbH (contec) im Auftrag des Bundesverbandes privater Anbieter sozialer Dienste e. V. (bpa), „Unternehmerisches Wagnis in der stationären Pflege: Rechtslage und Quantifizierung der Vergütung unter besonderer Berücksichtigung der Regelungen des dritten Pflegestärkungsgesetzes (PSG III)“, 2018, S. 23 Abb. 3; S. 65 ff.
]]>Da die Diskussion mittlerweile auf der Grundlage der Halbzeitbewertungen einzelner Fonds, verschiedener Positionspapiere und Berichte sowie den haushaltspolitischen Entwicklungen in der EU weiter fortgeschritten ist (im Mai 2018 ist die Vorlage des MFR-Entwurfes für die Zeit 2021-2027 vorgesehen), hat auch die BAGFW ihre Position geschärft. Zusätzlich zu den im Eckpunktepapier dargelegten Grundsätzen setzt sich die BAGFW für folgende inhaltliche und finanzielle Änderungen an den ESI-Fonds ein:
Finanzielle und inhaltliche Anforderungen:
· Angemessene Finanzausstattung: Trotz des Ausscheidens des Nettozahlers Großbritannien und neuen Prioritäten wie der gemeinsame Verteidigungsfonds und die äußere Sicherheit der EU muss die EU-Kohäsionspolitik angemessen finanziert werden, damit die wirtschaftliche Entwicklung der EU mit sozialem Fortschritt für alle Bürgerinnen und Bürger Europas sichtbar verbunden wird. Insbesondere der ESF ist für den sozialen Zusammenhalt Europas und damit die Akzeptanz der EU in der Bevölkerung unerlässlich. ESF-Gelder kommen direkt bei denjenigen an, die Hilfe am nötigsten haben. Es darf daher zu keiner Kürzung von ESF-Geldern kommen. Weiterhin müssen mindestens 25 Prozent der Gelder der Strukturfonds in den ESF und mindestens 20 Prozent innerhalb des ESF für soziale Inklusion und Armutsbekämpfung ausgegeben werden.
· Förderung aller Regionen: Die Gelder der ESI-Fonds bringen Europa zu den Bürgerinnen und Bürgern und tragen zu einer europaweiten Konvergenz nach oben bei. Um den Zusammenhalt Europas zu stärken und Neidgefühle nicht zuzulassen, müssen weiterhin alle Regionen von einer EU-Förderung profitieren. Zur Zuteilung der Mittel auf die Nationalstaaten und Regionen sollte weiterhin das BIP ausschlaggebend sein. Neue Kriterien und soziale Indikatoren aus dem sozialpolitischen Scoreboard, wie z.B. die demografische Entwicklung, Arbeitslosigkeit, Migration und Verbesserung der digitalen Kompetenzen können zusätzlich berücksichtigt werden.
· Planungssicherheit: Die nächste Programmgeneration muss frühzeitig vorbereitet werden, so dass eine Förderlücke für die Träger und Projekte vermieden wird. Insbesondere KMU’s in der Sozialwirtschaft können keine längere Zwischenfinanzierung aus eigenen Mitteln leisten und müssten schlimmstenfalls eingearbeitetes Personal entlassen. Die BAGFW setzt sich deshalb dafür ein, den MFR und die ESI-Fonds parallel zu verhandeln und die Verhandlungen vor den Wahlen des Europaparlamentes 2019 abzuschließen. Um die Planungssicherheit zu erhöhen und gleichzeitig Spielraum für strategische und finanzielle Anpassungen zu erleichtern, spricht sich die BAGFW für eine angemessene MFR-Länge aus (wie bisher 7 Jahre oder 5+5 Jahre, mit einer ausführlichen Halbzeitrevision nach 5 Jahren).
· Strategische Grundlage: Die EU-Fördermittel sollten sich inhaltlich daran ausrichten, die Europäische Säule sozialer Rechte in den Mitgliedstaaten umzusetzen. Das sozialpolitische Scoreboard identifiziert dafür relevante soziale Indikatoren.
· Europäischen Mehrwert: Die BAGFW begrüßt, dass die EU-Förderung noch stärker an ihrem Europäischen Mehrwert ausgerichtet wird. Allerdings muss dieser klar definiert werden: Der Europäische Mehrwert besteht darin, mit neuen Ideen und gezielten Lösungen auf neu auftretende und alte eingesessene Probleme zu reagieren. Es geht um die Schaffung eines Raums für Experimente. Das Prinzip der Zusätzlichkeit spielt dabei eine wichtige Rolle, der ESF darf keine nationalen Pflichtaufgaben substituieren. Erfolgreiche Ideen und Erfolg versprechende Lösungen sollten ausgebaut und verstetigt werden, um auch in anderen Mitgliedstaaten durch transnationale Zusammenarbeit transferiert werden zu können. Der Europäische Mehrwert ist deshalb nicht rein finanziell zu verstehen, sondern erfordert auch eine Ausrichtung der EU-Förderung an gemeinsamen Werten wie Solidarität.
Vereinfachung der ESI-Fonds
· Konsequente Anwendung des Partnerschaftsprinzips: Um die regionalen und sektoralen Interessen bei der Umsetzung der ESI-Fonds besser zur Geltung kommen zu lassen und die Akzeptanz der EU-Förderung zu stärken, hat sich die Beteiligung der Partner in der Förderperiode 2014-2020 bewährt. Deshalb ist das Partnerschaftsprinzip in allen Phasen des Programmzyklus EU-weit zu stärken und umzusetzen. Bei der Genehmigung der Operationellen Programme und deren Evaluation soll die Kommission die Umsetzung des Partnerschaftsprinzips in jedem Mitgliedstaat qualitativ prüfen.
· Anerkennung nationaler Prüfungen: Bei entsprechenden mitgliedstaatlichen Voraussetzungen sollten die Prüfungen der nationalen Behörden von der EU anerkannt werden. Dies verhindert, dass Träger von mehreren Ebenen geprüft werden und erhöht das Vertrauen in die Mitgliedstaaten. Die BAGFW unterstützt die Forderung, für kleinere Beträge De-Minimis-Regeln einzuführen. Im Rahmen der Beihilferelevanz von einzelnen ESF-Programmelementen sollten weiterhin die beihilferechtlichen Regelungen der aktuellen AGVO gelten, die Fördersätze für KMU aber nach oben angepasst und eine verbindliche Einbringung von privaten Eigenmitteln an der Projektfinanzierung gestrichen werden. Einmal designierte Verwaltungs- und Prüfsysteme müssen für die nächste Förderperiode nicht nochmals überprüft werden.
· Deutlich reduzierte und flexible Indikatorik: Die überbordende Datenerfassung in der aktuellen Förderperiode ist insbesondere für kleinere Träger nicht zu leisten und unterhöhlt die Leistungsfähigkeit des ESF. Die Anzahl der zu erhebenden Daten muss dringend verringert werden. Um eine aussagefähige Evaluation der Programme durchführen zu können, schlägt die BAGFW für den ESF ein System flexibler Indikatoren vor: Ein Set an Basis-Output-Indikatoren (Alterskohorte, Geschlecht, Erwerbstätigkeit, Bildungsniveau) wird für alle Teilnehmenden erfasst. Zusätzlich können von den Mitgliedstaaten pro Investitionspriorität in begrenztem Umfang weitere teilnehmerbezogene Indikatoren (weitere Output-Indikatoren und / oder Ergebnisindikatoren) erhoben werden. Diese zusätzlichen Indikatoren müssen zwischen Vertreter/innen der Zielgruppen, den Projektträgern und dem Zuwendungsgeber ausgehandelt werden. Die Projektträger können die erhobenen Daten kumulativ in die IT-Systeme eintragen. Den Zuwendungsgebern steht es frei, zusätzlich eigene qualitative Evaluationen durchzuführen.
· Vereinfachte Kostenoptionen: Vereinfachte Kostenoptionen, die sich bewährt haben, sollen beibehalten werden (z.B. Pauschalierung, Gesamtprojektpauschalen). Bei der Berechnung von Personalkostenpauschalen muss sichergestellt werden, dass auch zukünftige Tarifsteigerungen oder Krankheitstage berücksichtigt werden. Pauschalen, die sich nur auf die Erreichung bestimmter Ergebnisse beziehen, stehen dem Innovations- und Experimentiercharakter des ESF entgegen, können zu Creaming-Out-Effekten führen und bereiten neue Probleme in der Wirkungsmessung. Sie sind deshalb im ESF abzulehnen.
· Fondsübergreifende Ansätze: Aufgrund ihrer Erfahrungen u.a. in den Begleitausschüssen des ESF und des EHAP ist die BAGFW der Meinung, dass insbesondere diese beiden Fonds effektiver genutzt werden könnten, wenn fondsübergreifende Ansätze z.B. bei der Bekämpfung von Armut und sozialer Integration durch den Aufbau von Förderketten ermöglicht werden. Der Vorschlag eines „Humankapitalfonds“ oder „ESF+“, der ESF und EHAP strategisch miteinander verbindet, wird daher von der BAGFW begrüßt. Die bisherigen Inkonsistenzen bei der Förderung von benachteiligten Personengruppen könnten durch einen solchen fondsübergreifenden Ansatz aufgebrochen werden.
Die BAGFW möchte zu dem Vorschlag eines ESF+ folgende zusätzliche Anmerkungen machen:
o Die BAGFW begrüßt, dass sich der ESF+ inhaltlich an der Europäischen Säule sozialer Rechte orientiert und dazu beiträgt, die sozialen Rechte in allen Mitgliedstaaten zu unterstützen.
o Die Aufgabenzuschreibung des ESF+ - Investitionen in Menschen und Unterstützung von (politischen) Experimenten - wird von der BAGFW unterstützt. Eine Ausrichtung der ESI-Fonds auf politische Reformen, wie in dem Verordnungs-Vorschlag der EU-Kommission vom 06.12.2017[2] im Hinblick auf die Unterstützung von Strukturreformen in den Mitgliedstaaten dargelegt, wird von der BAGFW kritisch gesehen. Die dort aufgezählten „Reformen der Produkt- und Arbeitsmärkte, Steuerreformen, der Ausbau von Kapitalmärkten, Reformen zur Verbesserung der Rahmenbedingungen für Unternehmen sowie Investitionen in Humankapital und Reformen der öffentlichen Verwaltung“ sind vorab oder parallel zur Umsetzung der ESI-Fonds von den Mitgliedstaaten zu realisieren und dürfen nicht mit dem Grundanliegen der sozialen Kohäsion vermengt bzw. die dafür vorgesehenen Mittel von den ESI-Fonds abgezogen werden.
- ESF+ sollte unter den Vorgaben der horizontalen Verordnung für alle ESI-Fonds und Teil der Kohäsionspolitik bleiben.
- Die Operationellen Programme sollten verschlankt und auf das Wesentliche begrenzt werden. Die in der Partnerschaftsvereinbarung beschriebenen strategischen Informationen können in das Nationale Reformprogramm übernommen werden, solange die Beteiligung aller Partner sichergestellt ist.
- Die beiden Förderprogramme ESF und EHAP müssen auch innerhalb eines ESF+ ihre eigenen Förderlogiken soweit als möglich beibehalten: keine Erhöhung der Kofinanzierungsrate, Beibehaltung der programmspezifischen Indikatorik, aber auch z.B. Verringerung der Indikatoren im ESF.
- Das Partnerschaftsprinzip muss beibehalten und so ausgestaltet werden, dass sich alle interessierten Partner am Planungs- und Durchführungsprozess des ESF+ beteiligen können. Der Kapazitätsaufbau in den Partnerorganisationen muss angemessen finanziert werden.
- Die Finanzmittel müssen nach einem vorher festgelegten Mindestanteil (Prozentsatz) auf ESF und EHAP verteilt werden.
- Wird durch den ESF+ auch der EHAP Bestandteil der Kohäsionspolitik, dann sollte der Anteil der begleitenden Maßnahmen zur sozialen Inklusion im OP I (Nahrungsmittelhilfe) im EHAP erhöht werden. Fünf Prozent sind im Kontext einer sozialen Aufwärtskonvergenz in der Kohäsionspolitik zu wenig.
Kontakt:
Lisa Schüler
E-Mail: <link>lisa.schueler@caritas.de
Andreas Bartels
E-Mail: <link>andreas.bartels@awo.org
[1] Abrufbar unter www.bagfw.de/europa/veroeffentlichungen/detail/article/eckpunkte-der-bagfw-zur-weiterentwicklung-des-eu-haushaltes-und-der-europaeischen-struktur-und-inv-1/
[2] COM(2017)826 final: <link https: ec.europa.eu info sites files economy-finance com_826_de.pdf>ec.europa.eu/info/sites/info/files/economy-finance/com_826_de.pdf
]]>Da die Diskussion mittlerweile auf der Grundlage der Halbzeitbewertungen einzelner Fonds, verschiedener Positionspapiere und Berichte sowie den haushaltspolitischen Entwicklungen in der EU weiter fortgeschritten ist (im Mai 2018 ist die Vorlage des MFR-Entwurfes für die Zeit 2021-2027 vorgesehen), hat auch die BAGFW ihre Position geschärft. Zusätzlich zu den im Eckpunktepapier dargelegten Grundsätzen setzt sich die BAGFW für folgende inhaltliche und finanzielle Änderungen an den ESI-Fonds ein:
Finanzielle und inhaltliche Anforderungen:
· Angemessene Finanzausstattung: Trotz des Ausscheidens des Nettozahlers Großbritannien und neuen Prioritäten wie der gemeinsame Verteidigungsfonds und die äußere Sicherheit der EU muss die EU-Kohäsionspolitik angemessen finanziert werden, damit die wirtschaftliche Entwicklung der EU mit sozialem Fortschritt für alle Bürgerinnen und Bürger Europas sichtbar verbunden wird. Insbesondere der ESF ist für den sozialen Zusammenhalt Europas und damit die Akzeptanz der EU in der Bevölkerung unerlässlich. ESF-Gelder kommen direkt bei denjenigen an, die Hilfe am nötigsten haben. Es darf daher zu keiner Kürzung von ESF-Geldern kommen. Weiterhin müssen mindestens 25 Prozent der Gelder der Strukturfonds in den ESF und mindestens 20 Prozent innerhalb des ESF für soziale Inklusion und Armutsbekämpfung ausgegeben werden.
· Förderung aller Regionen: Die Gelder der ESI-Fonds bringen Europa zu den Bürgerinnen und Bürgern und tragen zu einer europaweiten Konvergenz nach oben bei. Um den Zusammenhalt Europas zu stärken und Neidgefühle nicht zuzulassen, müssen weiterhin alle Regionen von einer EU-Förderung profitieren. Zur Zuteilung der Mittel auf die Nationalstaaten und Regionen sollte weiterhin das BIP ausschlaggebend sein. Neue Kriterien und soziale Indikatoren aus dem sozialpolitischen Scoreboard, wie z.B. die demografische Entwicklung, Arbeitslosigkeit, Migration und Verbesserung der digitalen Kompetenzen können zusätzlich berücksichtigt werden.
· Planungssicherheit: Die nächste Programmgeneration muss frühzeitig vorbereitet werden, so dass eine Förderlücke für die Träger und Projekte vermieden wird. Insbesondere KMU’s in der Sozialwirtschaft können keine längere Zwischenfinanzierung aus eigenen Mitteln leisten und müssten schlimmstenfalls eingearbeitetes Personal entlassen. Die BAGFW setzt sich deshalb dafür ein, den MFR und die ESI-Fonds parallel zu verhandeln und die Verhandlungen vor den Wahlen des Europaparlamentes 2019 abzuschließen. Um die Planungssicherheit zu erhöhen und gleichzeitig Spielraum für strategische und finanzielle Anpassungen zu erleichtern, spricht sich die BAGFW für eine angemessene MFR-Länge aus (wie bisher 7 Jahre oder 5+5 Jahre, mit einer ausführlichen Halbzeitrevision nach 5 Jahren).
· Strategische Grundlage: Die EU-Fördermittel sollten sich inhaltlich daran ausrichten, die Europäische Säule sozialer Rechte in den Mitgliedstaaten umzusetzen. Das sozialpolitische Scoreboard identifiziert dafür relevante soziale Indikatoren.
· Europäischen Mehrwert: Die BAGFW begrüßt, dass die EU-Förderung noch stärker an ihrem Europäischen Mehrwert ausgerichtet wird. Allerdings muss dieser klar definiert werden: Der Europäische Mehrwert besteht darin, mit neuen Ideen und gezielten Lösungen auf neu auftretende und alte eingesessene Probleme zu reagieren. Es geht um die Schaffung eines Raums für Experimente. Das Prinzip der Zusätzlichkeit spielt dabei eine wichtige Rolle, der ESF darf keine nationalen Pflichtaufgaben substituieren. Erfolgreiche Ideen und Erfolg versprechende Lösungen sollten ausgebaut und verstetigt werden, um auch in anderen Mitgliedstaaten durch transnationale Zusammenarbeit transferiert werden zu können. Der Europäische Mehrwert ist deshalb nicht rein finanziell zu verstehen, sondern erfordert auch eine Ausrichtung der EU-Förderung an gemeinsamen Werten wie Solidarität.
Vereinfachung der ESI-Fonds
· Konsequente Anwendung des Partnerschaftsprinzips: Um die regionalen und sektoralen Interessen bei der Umsetzung der ESI-Fonds besser zur Geltung kommen zu lassen und die Akzeptanz der EU-Förderung zu stärken, hat sich die Beteiligung der Partner in der Förderperiode 2014-2020 bewährt. Deshalb ist das Partnerschaftsprinzip in allen Phasen des Programmzyklus EU-weit zu stärken und umzusetzen. Bei der Genehmigung der Operationellen Programme und deren Evaluation soll die Kommission die Umsetzung des Partnerschaftsprinzips in jedem Mitgliedstaat qualitativ prüfen.
· Anerkennung nationaler Prüfungen: Bei entsprechenden mitgliedstaatlichen Voraussetzungen sollten die Prüfungen der nationalen Behörden von der EU anerkannt werden. Dies verhindert, dass Träger von mehreren Ebenen geprüft werden und erhöht das Vertrauen in die Mitgliedstaaten. Die BAGFW unterstützt die Forderung, für kleinere Beträge De-Minimis-Regeln einzuführen. Im Rahmen der Beihilferelevanz von einzelnen ESF-Programmelementen sollten weiterhin die beihilferechtlichen Regelungen der aktuellen AGVO gelten, die Fördersätze für KMU aber nach oben angepasst und eine verbindliche Einbringung von privaten Eigenmitteln an der Projektfinanzierung gestrichen werden. Einmal designierte Verwaltungs- und Prüfsysteme müssen für die nächste Förderperiode nicht nochmals überprüft werden.
· Deutlich reduzierte und flexible Indikatorik: Die überbordende Datenerfassung in der aktuellen Förderperiode ist insbesondere für kleinere Träger nicht zu leisten und unterhöhlt die Leistungsfähigkeit des ESF. Die Anzahl der zu erhebenden Daten muss dringend verringert werden. Um eine aussagefähige Evaluation der Programme durchführen zu können, schlägt die BAGFW für den ESF ein System flexibler Indikatoren vor: Ein Set an Basis-Output-Indikatoren (Alterskohorte, Geschlecht, Erwerbstätigkeit, Bildungsniveau) wird für alle Teilnehmenden erfasst. Zusätzlich können von den Mitgliedstaaten pro Investitionspriorität in begrenztem Umfang weitere teilnehmerbezogene Indikatoren (weitere Output-Indikatoren und / oder Ergebnisindikatoren) erhoben werden. Diese zusätzlichen Indikatoren müssen zwischen Vertreter/innen der Zielgruppen, den Projektträgern und dem Zuwendungsgeber ausgehandelt werden. Die Projektträger können die erhobenen Daten kumulativ in die IT-Systeme eintragen. Den Zuwendungsgebern steht es frei, zusätzlich eigene qualitative Evaluationen durchzuführen.
· Vereinfachte Kostenoptionen: Vereinfachte Kostenoptionen, die sich bewährt haben, sollen beibehalten werden (z.B. Pauschalierung, Gesamtprojektpauschalen). Bei der Berechnung von Personalkostenpauschalen muss sichergestellt werden, dass auch zukünftige Tarifsteigerungen oder Krankheitstage berücksichtigt werden. Pauschalen, die sich nur auf die Erreichung bestimmter Ergebnisse beziehen, stehen dem Innovations- und Experimentiercharakter des ESF entgegen, können zu Creaming-Out-Effekten führen und bereiten neue Probleme in der Wirkungsmessung. Sie sind deshalb im ESF abzulehnen.
· Fondsübergreifende Ansätze: Aufgrund ihrer Erfahrungen u.a. in den Begleitausschüssen des ESF und des EHAP ist die BAGFW der Meinung, dass insbesondere diese beiden Fonds effektiver genutzt werden könnten, wenn fondsübergreifende Ansätze z.B. bei der Bekämpfung von Armut und sozialer Integration durch den Aufbau von Förderketten ermöglicht werden. Der Vorschlag eines „Humankapitalfonds“ oder „ESF+“, der ESF und EHAP strategisch miteinander verbindet, wird daher von der BAGFW begrüßt. Die bisherigen Inkonsistenzen bei der Förderung von benachteiligten Personengruppen könnten durch einen solchen fondsübergreifenden Ansatz aufgebrochen werden.
Die BAGFW möchte zu dem Vorschlag eines ESF+ folgende zusätzliche Anmerkungen machen:
o Die BAGFW begrüßt, dass sich der ESF+ inhaltlich an der Europäischen Säule sozialer Rechte orientiert und dazu beiträgt, die sozialen Rechte in allen Mitgliedstaaten zu unterstützen.
o Die Aufgabenzuschreibung des ESF+ - Investitionen in Menschen und Unterstützung von (politischen) Experimenten - wird von der BAGFW unterstützt. Eine Ausrichtung der ESI-Fonds auf politische Reformen, wie in dem Verordnungs-Vorschlag der EU-Kommission vom 06.12.2017[2] im Hinblick auf die Unterstützung von Strukturreformen in den Mitgliedstaaten dargelegt, wird von der BAGFW kritisch gesehen. Die dort aufgezählten „Reformen der Produkt- und Arbeitsmärkte, Steuerreformen, der Ausbau von Kapitalmärkten, Reformen zur Verbesserung der Rahmenbedingungen für Unternehmen sowie Investitionen in Humankapital und Reformen der öffentlichen Verwaltung“ sind vorab oder parallel zur Umsetzung der ESI-Fonds von den Mitgliedstaaten zu realisieren und dürfen nicht mit dem Grundanliegen der sozialen Kohäsion vermengt bzw. die dafür vorgesehenen Mittel von den ESI-Fonds abgezogen werden.
- ESF+ sollte unter den Vorgaben der horizontalen Verordnung für alle ESI-Fonds und Teil der Kohäsionspolitik bleiben.
- Die Operationellen Programme sollten verschlankt und auf das Wesentliche begrenzt werden. Die in der Partnerschaftsvereinbarung beschriebenen strategischen Informationen können in das Nationale Reformprogramm übernommen werden, solange die Beteiligung aller Partner sichergestellt ist.
- Die beiden Förderprogramme ESF und EHAP müssen auch innerhalb eines ESF+ ihre eigenen Förderlogiken soweit als möglich beibehalten: keine Erhöhung der Kofinanzierungsrate, Beibehaltung der programmspezifischen Indikatorik, aber auch z.B. Verringerung der Indikatoren im ESF.
- Das Partnerschaftsprinzip muss beibehalten und so ausgestaltet werden, dass sich alle interessierten Partner am Planungs- und Durchführungsprozess des ESF+ beteiligen können. Der Kapazitätsaufbau in den Partnerorganisationen muss angemessen finanziert werden.
- Die Finanzmittel müssen nach einem vorher festgelegten Mindestanteil (Prozentsatz) auf ESF und EHAP verteilt werden.
- Wird durch den ESF+ auch der EHAP Bestandteil der Kohäsionspolitik, dann sollte der Anteil der begleitenden Maßnahmen zur sozialen Inklusion im OP I (Nahrungsmittelhilfe) im EHAP erhöht werden. Fünf Prozent sind im Kontext einer sozialen Aufwärtskonvergenz in der Kohäsionspolitik zu wenig.
Kontakt:
Lisa Schüler
E-Mail: <link>lisa.schueler@caritas.de
Andreas Bartels
E-Mail: <link>andreas.bartels@awo.org
[1] Abrufbar unter <link europa veroeffentlichungen detail article eckpunkte-der-bagfw-zur-weiterentwicklung-des-eu-haushaltes-und-der-europaeischen-struktur-und-inv-1>www.bagfw.de/europa/veroeffentlichungen/detail/article/eckpunkte-der-bagfw-zur-weiterentwicklung-des-eu-haushaltes-und-der-europaeischen-struktur-und-inv-1/
[2] COM(2017)826 final: <link https: ec.europa.eu info sites files economy-finance com_826_de.pdf>ec.europa.eu/info/sites/info/files/economy-finance/com_826_de.pdf
]]>Stellungnahme
der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW)
zum Entwurf der
Richtlinien des GKV-Spitzenverbandes
zur einheitlichen Durchführung der Pflegeberatung
nach § 7a SGB XI vom…
(Pflegeberatungs-Richtlinien)
sowie
zum Entwurf der
Empfehlungen des GKV-Spitzenverbandes
zur erforderlichen Anzahl, Qualifikation und Fortbildung von
Pflegeberaterinnen und Pflegeberatern
vom 29. August 2008 in der Fassung vom xxx
Vorbemerkung
Mit dem zweiten Pflegestärkungsgesetz (PSG II) wurde § 17 SGB XI „Richtlinien der Pflegekassen“ um einen Abschnitt 1 a ergänzt. Durch diese Neuregelung wurde dem Spitzenverband Bund der Pflegekassen (GKV-Spitzenverband) unter Beteiligung des Medizinischen Dienstes des Spitzenverbundes Bund der Krankenkassen (MDS) die Aufgabe übertragen, bis zum 31. Juli 2018 Richtlinien zur einheitlichen Durchführung der Pflegeberatung nach § 7a (Pflegeberatungs-Richtlinien) zu erlassen, die für die Pflegeberater und Pflegeberaterinnen der Pflegekassen, der Beratungsstellen nach
§ 7b Absatz 1 Satz 1 Nummer 2 sowie der Pflegestützpunkte nach § 7c unmittelbar verbindlich sind.
Hierzu liegt der Entwurf einer Richtlinie des GKV-Spitzenverbandes zur einheitlichen Durchführung der Pflegeberatung nach § 7a SGB XI vor.
Weiter wurde mit dem PSG II in § 7a SGB XI „Pflegeberatung“ festgelegt, dass der GKV-Spitzenverband unter Beteiligung der in § 17 Absatz 1a Satz 2 genannten Parteien bis zum 31. Juli 2018 Empfehlungen zur erforderlichen Anzahl, Qualifikation und Fortbildung von Pflegeberaterinnen und Pflegeberatern abgibt.
Hierzu liegt ebenfalls der Entwurf der überarbeiteten und erweiterten Empfehlungen des GKV-Spitzenverbandes zur erforderlichen Anzahl, Qualifikation und Fortbildung von Pflegeberaterinnen und Pflegeberatern nach § 7a Abs. 3 Satz 3 SGB XI vor.
Die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege sind im Rahmen des Beteiligungsverfahrens gemäß § 17 Abs. 1a Satz 2 und Satz 3 SGB XI sowie gemäß § 7a Abs. 3 Satz 3 SGB XI i. V. m. § 17 Abs. 1a Satz 2 SGB XI zu einer Stellungnahme berechtigt und bedanken sich beim GKV-Spitzenverband für die Zusendung der Beteiligungsunterlagen. Von ihrem Stellungnahmerecht machen die Verbände gerne Gebrauch und geben eine gemeinsame Stellungnahme sowohl zum Entwurf der Richtlinien über die einheitliche Durchführung der Pflegeberatung nach § 7a SGB XI als auch zum Entwurf der Empfehlungen zur erforderlichen Anzahl, Qualifikation und Fortbildung von Pflegeberaterinnen und Pflegeberatern ab.
Unsere gemeinsame Stellungnahme ist dementsprechend in zwei Teile untergliedert:
· Teil I: Stellungnahme der BAGFW zu den Richtlinien des GKV-Spitzenverbandes zur einheitlichen Durchführung der Pflegeberatung nach
§ 7a SGB XI (Pflegeberatungs-Richtlinie)
· Teil II: Stellungnahme zu den Empfehlungen des GKV-Spitzenverbandes nach § 7a Abs. 3 Satz 3 SGB XI zur erforderlichen Anzahl, Qualifikation und Fortbildung von Pflegeberaterinnen und Pflegeberatern
Teil I: Stellungnahme der BAGFW zu den Richtlinien des GKV-Spitzenverbandes zur einheitlichen Durchführung der Pflegeberatung nach
§ 7a SGB XI vom…(Pflegeberatungs-Richtlinien)
Kritisch zu vermerken ist, dass an einigen Stellen der Richtlinien in die Rechte und Privatsphäre der Versicherten eingegriffen werden soll und er bzw. seine gesetzlichen Vertreter (Betreuer / Betreuerinnen) oder Bevollmächtigte nicht als steuernde Subjekte gesehen werden, sondern als Objekte, die bestenfalls „einbezogen“ werden. Für diese Regelungen besteht keine gesetzliche Grundlage in § 7a SGB XI.
Im Abgleich mit dem Dokument Qualität in der Pflegeberatung vom ZQP handelt es sich bei der Pflegeberatung nach § 7a Abs. 3 Satz 3 SGB XI eher um eine Informationsvermittlung. Pflegeberatung nach dem Verständnis der GKV ist ein einseitiger funktional ausgerichteter Prozess.
Das Anforderungsprofil an die Pflegeberater/innen ist nicht konsistent. Während einerseits Aufgaben zur Unterstützung und Begleitung der Ratsuchenden beschrieben werden, ist unter Ziffer 2.5. (Richtlinienentwurf S. 12) z.B. von „Überwachung“ der im Versorgungsplan festgelegten Maßnahmen die Rede. Abgesehen davon, dass der Begriff unpassend ist, erscheinen die beschriebenen Wege, wie diese Überwachung erfolgen könnte, wenig zielführend und diffus.
Präambel
Die Beratung nach § 7a wird in den Richtlinien als umfassende individuelle Pflegeberatung im Sinne eines Fallmanagements definiert. Der Gesetzeswortlaut des § 7a enthält zwar zentrale Elemente eines Fallmanagements, es fehlt jedoch in § 7a Absatz 1 Nummer 5 das Element der Evaluation und Dokumentation. Dieses ist nur „bei besonders komplexen Fallgestaltungen“ erforderlich. In der Richtlinie sollte daher klargestellt werden, dass das Element der Evaluation und Dokumentation des Prozesses auch bei einfacheren Fallkonstellationen erforderlich ist, bei Zustimmung des Leistungsberechtigten.
Die Pflegeberatung erstreckt sich nach § 7a Absatz 1 Nummer 2 auch auf soziale Hilfen im breiteren Sinn. Daher ist die in Absatz 2 der Präambel formulierte Zielrichtung der Erschließung des Zugangs zu Leistungen der Sozialversicherung zu stark verengt.
Lösungsvorschlag:
Ersetzung des Begriffs „Leistungen der Sozialversicherung“ durch „Sozialleistungen und soziale Hilfen“.
1.1 Geltungsbereich der Richtlinien
Es ist klarzustellen, dass die Richtlinien auch für von den Pflegekassen beauftragte Pflegeberater/innen gelten.
Lösungsvorschlag:
Ergänzung des Satzes nach den Wörtern „sonstigen Beratungsstellen, die Pflegeberatungen im Sinne von § 7a durchführen“ durch „oder mit der Durchführung beauftragt wurden.“
1.2 Definition der Beratung
Die Definition der Beratung ist auf die Auswahl und Inanspruchnahme von Sozialleistungen oder anderen Hilfsangeboten verengt. Auch die Ermittlung des Hilfebedarfs und die Erschließung des Leistungszugangs sollten im ersten Satz erwähnt werden. Bei der Beschreibung des Prozesses in Satz 2 des Abschnitts ist die Bewertung und Dokumentation des Beratungsprozesses zu ergänzen.
Lösungsvorschlag:
Erweiterung von Satz 1 um „Ermittlung des Hilfebedarfs, Erschließung des Zugangs zu Sozialleistungen oder anderen Hilfeangeboten“.
Erweiterung von Satz 2 um „den Hilfeprozess bewerten und dokumentieren“.
Satz 3 soll wie folgt lauten:
„Die Pflegeberatung ist ein Prozess: Die Pflegeberaterin soll den individuellen Hilfe- und Unterstützungsbedarf ermitteln, bedarfsentsprechend beraten, einen Versorgungsplan erstellen, dessen Durchführung initiieren <s>und überwachen, den Versorgungsplan gegebenenfalls anpassen und Informationen über Leistungen zur Entlastung der Pflegepersonen vermitteln“</s>
<s> </s>
Die folgenden Sätze sollen angefügt werden: „Die Pflegeberaterin initiiert die Durchführung des Versorgungsplans einschließlich deren Genehmigung (Hilfsmittel, Verordnung etc.). Der Versorgungsplan wird an die ratsuchende Person übergeben. Im Versorgungsplan wird festgehalten, ob vom Ratsuchenden anschließend telefonische Kontakte durch die Pflegeberaterin gewünscht sind. Die Versorgung wird anschließend von dem Leistungserbringer erbracht und ggf. angepasst, der die ermittelte Unterstützung anbieten und erbringen kann.“
1.3 Anspruchsberechtigter Personenkreis
Unter 1.3 fehlt der Hinweis, dass nach § 7b Abs. 1 Ziff. 1 SGB XI ein Beratungstermin innerhalb von zwei Wochen angeboten werden muss. Diese kurze Frist gehört wesentlich zum Anspruch der pflegebedürftigen Person.
Leistungsberechtigte haben ein Bestimmungsrecht, auf welche Personen sich die Beratung erstrecken soll. In die Richtlinie sollte aufgenommen werden, dass für die Durchführung der Pflegeberatung die Einwilligung der betroffenen Versicherten bzw. ihrer Angehörigen oder weiterer Personen, denen gegenüber oder mit deren Einbeziehung die Beratung erfolgt, eingeholt werden muss.
1.4 Ziel der Pflegeberatung
Ziel der Erstellung eines Versorgungsplans und seiner Implementierung, Begleitung und Überwachung der Durchführung ist nicht zwingend auch die Bewältigung einer Krisensituation. Vielmehr geht es bei einer Beratung im Sinne des Fallmanagements gezielt darum, die Selbstmanagementkompetenzen der zu Beratenden zu stärken und sie zu befähigen, auf der Grundlage von Wissen um die Möglichkeiten zu informierten Entscheidungen zu befähigen.
Statt des Begriffs „Steigerung“ der Selbstbestimmung und Selbständigkeit sollte der Begriff der „Stärkung“ verwendet werden.
1.5 Beratungsverständnis
Ziel der Pflegeberatung muss die Stärkung des Rechts auf Selbstbestimmung sein (dritter Spiegelstrich). Der einschränkende Zusatz „unter Berücksichtigung“ dieses Rechts widerspricht diesem Ansatz und ist daher ersatzlos zu streichen.
Im zweiten Absatz wird auf die Notwendigkeit einer Anpassung an das jeweilige Sprachverständnis der zu beratenden Person hingewiesen. Dieser sehr wichtige Hinweis darf nicht, wie im nachfolgenden Satz, auf die Muttersprache beschränkt sein. Es geht wesentlich darum, dass auch Menschen, deren Sprachverständnis durch demenzielle Erkrankungen oder geistige oder seelische Beeinträchtigungen eingeschränkt ist, eine ihrer Lebenssituation angemessene Beratung erhalten.
Die Beratung hat lebensweltorientiert zu erfolgen. Dies ist als weiterer Spiegelstrich aufzunehmen.
Lösungsvorschlag:
Satz 2 des zweiten Abschnitts soll daher wie folgt formuliert werden:
„Die Pflegeberaterin oder der Pflegeberater soll bei Personen, die über keine ausreichenden Kenntnisse der deutschen Sprache verfügen, auch auf Informationsmaterialien in unterschiedlichen Sprachen….hinweisen.“
Es sollte zudem ergänzt werden, dass ggf. Gebärdendolmetscher und andere Formen der unterstützten Kommunikation beizuziehen sind.
Im dritten Spiegelstrich sind die Wörter „unter Berücksichtigung“ zu streichen.
Zusätzlich ist ein neuer fünfter Spiegelstrich aufzunehmen
„lebensweltorientiert
Der Beratungsprozess respektiert und orientiert sich am individuellen Lebensalltag der ratsuchenden Person. Die ratsuchende Person gilt als Experte ihrer Lebenswelt und ihres Alltags.“
2.1 Ermitteln des Hilfe- und Pflegebedarfs
Die im ersten Absatz Satz 2 genannte Gruppe von pflegebedürftigen Menschen mit berufstätigen pflegenden Angehörige ist eine Gruppe mit spezifischen Bedarfen; diese beziehen sich jedoch weniger auf die pflegebedürftigen Menschen selbst, sondern auf die Notwendigkeit zur Entlastung dieser durch die Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf mehrfach belastete Gruppe (vgl. § 7a Absatz 1 Satz 1 Nummer 6). Dies ist in der Richtlinie zu verdeutlichen.
Bei der Erfassung der gesundheitlichen Situation des Anspruchsberechtigten sind insbesondere auch die kognitiven und motorischen Fähigkeiten in den Blick zu nehmen und in der Aufzählung zu diesem Spiegelstrich zu ergänzen. Diese Ergänzung ist auch im nachfolgenden Spiegelstrich (alltägliche Lebensführung) vorzunehmen.
Bei der Erfassung der Unterstützungsbedarfe in Bezug auf die Wohnsituation der zu beratenden Person sind die wohnumfeldverbessernden Maßnahmen gezielt in den Blick zu nehmen und in der beispielhaften Aufzählung im Klammerzusatz zu ergänzen.
Bei der Erfassung der Situation der pflegenden Angehörigen oder weiterer Personen sind gezielt Entlastungsmöglichkeiten und Unterstützungsformen zur Selbstsorge in den Blick zu nehmen.
Ein wesentlicher Aspekt der Situationserfassung fehlt in den Richtlinien gänzlich, nämlich die psychosoziale Situation der pflegebedürftigen Menschen und ihrer Angehörigen in der vulnerablen Pflegesituation in den Blick zu nehmen. Ein wesentlicher Aspekt von Pflegeberatung ist das offene Gespräch über die Sorgen und Ängste der Betroffenen.
2.2. Beratung
Satz 1 „….verständigen sich die Pflegeberaterin oder der Pflegeberater und die ratsuchende Person auf die konkreten Maßnahmen und Ziele.“, sollte gestrichen werden. Es geht in der Pflegeberatung nicht darum, dass wie in einem Vertragsverhältnis, die Parteien sich auf bestimmte Ziele einigen. Die ratsuchende Person formuliert oder nennt unter Zuhilfenahme des Pflegeberaters oder der Pflegeberaterin ihre Ziele und die Maßnahmen, die sie verfolgen bzw. in Anspruch nehmen will.
Lösungsvorschlag:
„Die Pflegeberaterin oder der Pflegeberater unterstützt die ratsuchende Person, konkrete Ziele und Maßnahmen zu formulieren und ist auf Wunsch bei der Umsetzung behilflich.“
2.2.1 Pflegerische Hilfen
Die Inanspruchnahme des Entlastungsbetrags ist für die meisten pflegebedürftigen Menschen sehr bedeutsam. Daher sollte es bei der Beratung auch nicht um die Frage des Anspruchs auf diese Leistung, sondern auf die Möglichkeiten der Inanspruchnahme mit Verweis auf die konkreten Angebote vor Ort gehen. Insbesondere die Verhinderungspflege ist eine wirksame Maßnahme zur Entlastung der pflegenden Angehörigen, ebenso die Tagespflege. Daher sollten die Pflegeberater/innen nicht nur abhängig von der individuellen Bedarfskonstellation, sondern bei der häuslichen Pflege regelhaft auf diese Leistung hinweisen. Zahlreiche Studien belegen, dass den pflegenden An- und Zugehörigen diese Entlastungsmöglichkeiten zu wenig bekannt sind.
2.2.2 Rehabilitation
Die BAGFW begrüßt nachdrücklich, dass die Pflegeberaterinnen gehalten sind, auch auf die Angebote der ambulanten und mobilen Rehabilitation hinzuweisen. Ambulante oder mobile Rehabilitation kommt allerdings nicht nur in Frage, wenn die pflegebedürftige Person Bedenken hat, ihre Häuslichkeit zum Zwecke der Rehabilitation zu verlassen. Ein wesentlicher therapeutischer Vorzug ambulanter und insbesondere mobil-zugehender Rehabilitation besteht darin, dass die dabei erworbenen Fähigkeiten unmittelbar in das bestehende Alltagssetting und in die Häuslichkeit, die für viele Pflegebedürftige der Lebensmittelpunkt ist, eingebaut werden kann. Die Pflegeberaterinnen sollten des Weiteren gezielt auch auf wohnortnahe Angebote der geriatrischen Rehabilitation hinweisen.
2.2.3 (Pflege-)Hilfsmittel
Aufgabe der Pflegeberatung nach § 7a sollte es sein, nicht nur über den Zugang zu (Pflege-) Hilfsmitteln zu beraten, sondern auch die Antragsteller/innen im weiteren Verlauf des Genehmigungsverfahrens unterstützend zu begleiten, z.B. wenn ein Antrag nicht zeitnah bei den Kranken- oder Pflegekassen bearbeitet wird oder bei Widerspruchsverfahren. Des Weiteren sollten die Pflegeberater/innen als Fallmanager/innen regelhaft bei notwendigen Anpassungen von Hilfsmitteln und bei der Einweisung in den Umgang mit Hilfsmitteln die notwendigen Kontakte vermitteln. Um diesen Anspruch zu unterstreichen, sollte im Text der Richtlinie statt der „Kann“-Formulierung an dieser Stelle eine „Soll-Formulierung“ verwendet werden.
Lösungsvorschlag:
„Bei der Wahl zwischen verschiedenen (Pflege-)hilfsmitteln, bei der Einweisung in den Umgang mit Hilfsmitteln oder bei einer erforderlichen Anpassung von Hilfsmitteln soll die Pflegeberaterin oder der Pflegeberater Kontakte zu Fachleuten vermitteln“.
2.2.4 Maßnahmen der Prävention und Gesundheitsförderung
Die Maßnahmen fokussieren zu stark auf die verhaltenspräventiven Kurse, welche die Krankenkassen anbieten. Von solchen Maßnahmen können pflegebedürftige Menschen mit erheblichen Einschränkungen wenig profitieren. In Frage kommen vielmehr gezielt ressourcenfördernde Maßnahmen zur Bewegungsförderung wie Muskeltraining, Balanceübungen, aber auch Maßnahmen zum Training der kognitiven und kommunikativen Fähigkeiten, wie Gedächtnistraining, Orientierungs- und Erinnerungshilfen. Dies sollte sich ggf. auch auf die Inanspruchnahme von Maßnahmen zur Prävention, Gesundheitsförderung und Rehabilitation für pflegende Angehörige beziehen.
Die Pflegeberater/innen sollten zu diesen Maßnahmen gezielt geschult werden und dahingehend beraten.
2.3 Erstellen eines individuellen Versorgungsplans
Es ist positiv zu bewerten, dass die Pflegeberater/in bei der Beratung nach § 7a gezielt in jedem Fall einen individuellen Versorgungsplan erstellen soll. Dies ist in der derzeitigen Praxis der Beratung nach § 7a eher die Ausnahme denn die Regel.
Ein Versorgungsplan betrifft die persönliche Sphäre der ratsuchenden Person. Er muss, wie das Gutachten über die Einstufung in einen Pflegegrad, der ratsuchenden Person ausgehändigt oder übermittelt werden. Das sollte keinesfalls davon abhängig gemacht werden, ob die Person es wünscht, da zu befürchten ist, dass viele Betroffene ihre Rechte nicht kennen und den Wunsch nicht formulieren können/wollen.
Lösungsvorschlag:
Zusätzlich ist der Satz: „ Der Versorgungsplan ist der ratsuchenden Person auszuhändigen.“ aufzunehmen.
2.3.1. Definition des Versorgungsplans
Bei der Erstellung des Versorgungsplans ist strikt zwischen den Bedarfen der Pflegebedürftigen und den daraus abzuleitenden Maßnahmen einerseits und der Erschließung des Zugangs zu konkreten Diensten und Einrichtungen, die diese Maßnahmen anbieten, zu unterscheiden. Diese Unterscheidung wird im vorliegenden Abschnitt nicht eingehalten. Bei der Beratung ist der Wahlfreiheit des Versicherten jederzeit Rechnung zu tragen.
Lösungsvorschlag:
Satz 2 lautet: „Des Weiteren soll der Versicherte eine Liste von geeigneten Diensten, Einrichtungen und sonstigen bedarfsgerechten Angeboten, welche die ausgewählten Maßnahmen anbieten, erhalten“.
2.3.2 Wesentliche Inhalte des Versorgungsplans
Bei der Erstellung des Versorgungsplans kommt es wesentlich darauf an, an den Schnittstellen des gegliederten Sozialsystems ein gutes Überleit- und Versorgungsmanagement zu betreiben, z.B. bei der Überleitung aus dem Krankenhaus oder der Reha-Einrichtung in die häusliche Pflege. Eine weitere Schnittstelle, die für Menschen mit Behinderung, die zugleich pflegebedürftig sind, besonders relevant ist, ist die Schnittstelle zwischen der Eingliederungshilfe und der Pflege. Für junge Menschen ist die Schnittstelle zwischen SGB V und SGB VIII relevant. Des Weiteren ist die Auswertung und Evaluation des Fallmanagements zu ergänzen.
Lösungsvorschlag:
Spiegelstrich 8 ist um die Auswertung und Evaluation des Fallmanagements zu ergänzen.
2.4. Hinwirken auf die erforderlichen Maßnahmen
Hier ist von „Vereinbarungen zwischen der ratsuchenden Person und der Pflegeberaterin oder dem Pflegeberater“ die Rede, die „getroffen werden und im Versorgungsplan dokumentiert“ werden. Der Pflegeberater oder die Pflegeberaterin sollen dann auf die „Inanspruchnahme und Durchführung der erforderlichen Maßnahmen hinwirken“. Wenn Pflegeberater bzw. Pflegeberaterin darauf hinwirken sollen, dass die erforderlichen Maßnahmen von den Pflegebedürftigen in Anspruch genommen werden, dann ist das ein Eingriff in die Privatsphäre der Pflegebedürftigen, der durch das Gesetz nicht gedeckt und auch nicht wünschenswert ist. In § 7a Abs. 1 Ziff. 2-4 SGB XI ist geregelt, dass Pflegeberater und Pflegeberaterinnen auf die für die Durchführung des Versorgungsplans erforderlichen Maßnahmen hinwirken und sie überwachen. Diese Regelung ist gesetzeskonform auszulegen. D.h. Pflegeberater bzw. Pflegeberaterinnen sollen im Hinblick auf die Leistungsträger darauf hinwirken, dass die vereinbarten Maßnahmen genehmigt werden und im Hinblick auf die Leistungserbringer, wenn ein entsprechender Auftrag vorliegt, überwachen, ob der Pflegedienst oder sonstige Leistungserbringer die vereinbarten Leistungen zuverlässig erbringen (wobei hier ggf. eine Überschneidung mit der Tätigkeit eines gesetzlichen Betreuers oder Bevollmächtigten möglich ist). Eine Überwachung einer pflegebedürftigen ratsuchenden Person, ob sie die Maßnahmen in Anspruch nimmt, kann nicht gemeint sein, da es dem Pflegebedürftigen/der Pflegebedürftigen immer offen stehen muss, bestimmte Maßnahmen, die im Versorgungsplan vorgesehen sind, spontan oder auf Dauer abzulehnen mit oder ohne Information des Pflegeberaters / der Pflegeberaterin. Die Pflegeberater haben auch keinen Anspruch auf Einsichtnahme in Dokumentationen von Leistungserbringern um die Inanspruchnahme der Leistungen zu überprüfen. Das würde nach unserer Auffassung gegen Datenschutzrecht verstoßen.
Die Beispiele im darauffolgenden Absatz, die darstellen, wie der Pflegeberater /die Pflegeberaterin das Hinwirken auf erforderliche Maßnahmen umsetzen können, sind sachgerecht. Allerdings ist der letzte Spiegelstrich nicht in seiner Reichweite umfassend genug. Wie oben ausgeführt, sollte die Pflegeberater/in bei Leistungsanträgen an die Kranken- oder Pflegekasse diese nicht nur übermitteln, sondern auch die Versicherten während des Prozesses der Bearbeitung unterstützen, z.B. bei zu langer Bearbeitungsdauer und Dringlichkeit der Leistungsinanspruchnahme oder bei Widersprüchen.
2.5. Überwachung der Durchführung/Anpassung des Versorgungsplans
Die Auslegung der gesetzlichen Regelung, dass die Durchführung des Versorgungsplanes überwacht werden soll, kann nur gesetzeskonform erfolgen. Nicht gemeint ist, dass überwacht wird, ob der Anspruchsberechtigte die Maßnahmen wahrnimmt (s. Ausführungen unter 2.4). Es ist nicht zulässig, dass der/die Pflegeberater/in sich von sich aus erkundigt, ob Maßnahmen, die im Versorgungsplan vorgesehen wurden, auch in Anspruch genommen wurden. Es würde sich um ein unzulässiges Eindringen in die Privatsphäre des Versicherten handeln, zumal der Leistungsberechtige sich auch gegen den Versorgungsplan entscheiden kann. Vielmehr geht es hier bei der Begleitung durch die Pflegeberatung nach § 7a SGB XI darum, ob die ausgewählten Maßnahmen auch wirklich der Bedarfslage entsprechen und, wenn nicht, entsprechend angepasst werden müssen. Die Anpassung erfolgt auch nicht, wie in der Richtlinie, wie im dritten Abschnitt formuliert, durch bloße Dokumentation der Änderung, sondern durch Vermittlung von Angeboten, die passgenauer als die ursprünglich vereinbarten Maßnahmen sind.
Lösungsvorschlag:
Satz 2 soll lauten: „Die Pflegeberaterin oder der Pflegeberater soll die Durchführung der in dem Versorgungsplan festgelegten Maßnahmen, sofern vom Anspruchsberechtigten gewünscht, überwachen, in dem sie/ er (1.)…..“
2.6 Informationen über Leistungen zur Entlastung der Pflegepersonen
Die Pflegeberater sollen hier gezielt über die Kombinationsmöglichkeiten, welche die Pflegeversicherung zur Entlastung der Pflegepersonen vorsieht, hinweisen, z.B. die kombinierte Inanspruchnahme von Verhinderung und Kurzzeitpflege oder die Möglichkeiten für Entlastungsangebote. Der letzte Spiegelstrich ist zu präzisieren um Maßnahmen zur Gesundheitsförderung für pflegende Angehörige. Wichtig ist aber insgesamt, dass die Pflegeberatung hier nicht nur über die Leistungen informiert, sondern auch auf den Beantragungsweg der jeweiligen Leistung hinweist.
Lösungsvorschlag:
Der Einleitungssatz ist wie folgt zu formulieren: „Die Pflegeberaterin oder der Pflegeberater hat im Gespräch mit der ratsuchenden Person über Leistungen zur Entlastung der Pflegeperson sowie über den jeweiligen Beantragungsweg zu informieren.
Der letzte Spiegelstrich ist wie folgt zu fassen: „Präventions- und Rehabilitationsmaßnahmen, insbesondere Maßnahmen zur Prävention, Gesundheitsförderung und Rehabilitation für Pflegepersonen“
2.7 Beendigung der Pflegeberatung
Hier wird festgestellt, dass die „Pflegeberatung beendet ist, wenn alle Ziele erreicht sind“. Wer stellt fest, ob alle Ziele erreicht sind? Wer hat hier die Steuerung in der Hand, die Pflegeberaterin oder der Pflegeberater oder die ratsuchende Person bzw. ihre gesetzlichen Vertreter (Betreuer/ in bzw. Bevollmächtigte) oder Bevollmächtigte? Das sollte klarer herausgearbeitet werden. Die gleiche Frage stellt sich nach Ende der Beratung. Hier soll die Pflegeberaterin oder Pflegeberater erneut eine Beratung durchführen, wenn neue Fragestellungen der Ratsuchenden auftreten. Auch hier sollte die Steuerung bei der ratsuchenden Person liegen. Die Pflegeberatung ist keine dauerhafte Begleitung durch die Pflegeberaterin. Wenn der Versorgungsplan ausgehändigt ist, finden ggf. noch – wenn es der Ratsuchende wünscht – telefonische Kontakte durch die Pflegeberaterin statt. Dann endet die Pflegeberatung. Treten zu einem späteren Zeitpunkt neue Fragen auf, so findet erneut eine Pflegeberatung statt.
4. Qualifikationen und Kompetenzen der Pflegeberaterinnen und Pflegeberater
In Absatz 1 werden die Berufe benannt, die geeignet sind, die Pflegeberatung durchzuführen. Für die Pflegeberatung kommen generell Pflegefachkräfte, Sozialarbeiter, Sozialpädagogen, Gesundheitswissenschaftler oder Pflegepädagogen, Pflegewissenschaftler oder gleichwertige Studiengänge uneingeschränkt in Frage. Der Einsatz der Sozialversicherungsangestellten ist unserer Auffassung nach vorrangig auf die leistungsrechtliche Informationsvermittlung und Beratung zu beschränken.
Auch hier wird in Absatz 2 nicht die ratsuchende Person als sich entscheidende und handelnde Person gesehen, vielmehr scheint die Pflegeberaterin oder der Pflegeberater zu entscheiden. Die ratsuchende Person soll hinsichtlich aller zu treffender Entscheidungen „einbezogen“ werden. Unserer Auffassung nach muss aber die ratsuchende Person durch die Pflegeberatung unterstützt werden. Hierbei ist auch erforderlich, dass die Pflegeberaterinnen in einer für die ratsuchenden Personen verständlichen, klaren Sprache beraten.
Lösungsvorschlag:
„Die ratsuchende Person wird bei der Entscheidungsfindung von der Pflegeberaterin/vom Pflegeberater unterstützt.“
Teil II: Stellungnahme der BAGFW zum Entwurf der Empfehlungen des GKV-Spitzenverbandes nach § 7a Abs. 3 Satz 3 SGB XI zur erforderlichen Anzahl, Qualifikation und Fortbildung von Pflegeberaterinnen und Pflegeberater vom 22.11.2017
Vorbemerkung
Bei der Überarbeitung der Empfehlungen wurden insbesondere einschlägige gesetzliche Regelungen des PSG II, der Entwurf der Pflegeberatungs-Richtlinien sowie die Ergebnisse des Berichts des GKV-Spitzenverbandes „Evaluation der Pflegeberatung nach § 7a Abs. 7 Satz 1 SGB XI“ berücksichtigt und lt. GKV-Spitzenverband auch Erfahrungen aus der Praxis einbezogen. Neu aufgenommen wurden zudem Empfehlungen zur Fortbildung von Pflegeberaterinnen und Pflegeberatern.
Grundsätzlich wird eine Überarbeitung und Erweiterung der Empfehlungen von den in der BAGFW kooperierenden Verbänden begrüßt. Wir möchten aber mit Nachdruck darauf hinweisen, dass die vorliegenden Empfehlungen aus unserer Sicht keine Angaben zu einer Pflegeberatungsqualifikation im eigentlichen Sinne enthalten, sondern eher auf eine Informationsvermittlung mit Fallmanagement begrenzt bleiben. Des Weiteren möchten wir darauf verweisen, dass mit den überarbeiteten Empfehlungen nicht die in § 4 der Pflegeberatungs-Richtlinien geforderten Kompetenzen erworben werden können.
Im Folgenden nehmen wir zu einzelnen ausgewählten Punkten Stellung:
Zur Präambel
Der Anspruch des Versicherten bezieht sich unserer Auffassung nach nicht nur auf eine umfassende individuelle Pflegeberatung im Sinne eines Fallmanagements, sondern auf die individuelle Beratung und Hilfestellung durch einen Pflegeberater oder eine Pflegeberaterin bei der Auswahl und Inanspruchnahme von bundes- oder landesrechtlich vorgesehenen Sozialleistungen sowie sonstigen Hilfsangeboten, die auf die Unterstützung von Menschen mit Pflege-, Versorgungs- oder Betreuungsbedarf ausgerichtet sind. Hinzu kommt, dass sich das Case Management / das Fallmanagement an Menschen in komplexen Problemlagen und Versorgungskonstellationen richtet.
Letzteres trifft bei weitem nicht auf alle Versicherten zu, die eine Pflegeberatung nach
§ 7a SGB XI nachfragen.
Lösungsvorschlag:
Wir schlagen deshalb vor, den bisherigen Satz 1 der Präambel wie folgt formulieren:
Versicherte, die Leistungen nach dem Elften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI) beziehen oder diejenigen, die Leistungen beantragt haben und bei denen erkennbar ein Hilfe- und Betreuungsbedarf besteht, haben seit dem 1. Januar 2009 gemäß § 7a SGB XI Anspruch auf individuelle Beratung und Hilfestellung durch einen Pflegeberater oder eine Pflegeberaterin bei der Auswahl und Inanspruchnahme von bundes- oder landesrechtlich vorgesehenen Sozialleistungen sowie sonstigen Hilfsangeboten, die auf die Unterstützung von Menschen mit Pflege-, Versorgungs- oder Betreuungsbedarf ausgerichtet sind. Hierzu können auch die Erstellung eines Versorgungsplans und eine umfassende individuelle Pflegeberatung im Sinne eines Fallmanagements gehören.
Zu § 1 Anzahl der Pflegeberaterinnen und Pflegeberater
Als wesentliche Faktoren bei der Bemessung der Anzahl der Pflegeberaterinnen und Pflegeberater werden die Menge und die Dauer der Pflegeberatungen genannt. Vermutlich soll mit dem Wort „Menge“ auf die Anzahl der Beratungen abgestellt werden. Den Begriff Anzahl halten wir hierfür für geeigneter. Daneben regen wir an hier als einen weiteren Spiegelstrich „die Anzahl der Menschen in komplexen Problemlagen und Versorgungskonstellationen, die ein (intensives) Case Management benötigen“ aufzunehmen.
Zu § 2 Berufliche Grundqualifikation
Für die Pflegeberatung kommen generell Pflegefachkräfte, Sozialarbeiter/innen, Sozialpädagogen/innen, Gesundheitswissenschaftler/innen oder Pflegepädagogen/innen, Pflegewissenschaftler/innen oder Absolventen/innen der Studiengänge Bachelor of Nursing und Pflegemanagement sowie gleichwertige Studiengänge uneingeschränkt in Frage.
Der Einsatz der Sozialversicherungsangestellten ist unserer Auffassung nach vorrangig auf die leistungsrechtliche Informationsvermittlung und Beratung zu beschränken.
Zu § 4 Weiterbildungen
Nach § 4 der Pflegeberatungs-Richtlinien ist die Pflegeberatung von Pflegeberaterinnen und Pflegeberatern mit personaler Kompetenz und Fachkompetenz durchzuführen. Die personale Kompetenz zeichnet sich insbesondere dadurch aus, dass die Pflegeberaterin oder der Pflegeberater eine kooperative, respektvolle, empathische und kommunikative Beratungshaltung einnimmt. Die Fachkompetenz zeigt sich insbesondere dadurch, dass die Pflegeberaterin oder der Pflegeberater den Anspruchsberechtigten seinen Bedürfnissen, Interessen und Werten entsprechend und mit einem umfassenden Wissen der die Beratung betreffenden Themenbereiche berät und die ratsuchende Person hinsichtlich aller zu treffenden Entscheidungen einbezieht. Die Fachkompetenz stützt sich zum einen auf praktische Erfahrungen.
Mit den hier beschriebenen Weiterbildungsinhalten können die geforderten Kompetenzen nicht in ausreichendem Umfang erworben werden können.
Die Weiterbildungen sollen sich in die Module Pflegefachwissen, Case Management und Recht gliedern. Dies halten wir nicht für ausreichend. Unserer Auffassung nach fehlt das Modul Gesprächsführungs- und Beratungskompetenz, das handlungsorientiert ausgerichtet ist und den Teilnehmern Anlässe für situatives und reflexives Lernen ermöglicht. Kenntnisse in der Kommunikation und Gesprächsführung, in der Moderation, insbesondere von Fallkonferenzen sowie Verhandlungstechniken mit anderen Sozialleistungsträgern und Leistungserbringern, die als Zulassungsvoraussetzungen definiert werden, sind hier nicht ausreichend und können deshalb das Modul Gesprächsführungs- und Beratungskompetenz nicht ersetzen. Analoges gilt auch für das hier beschriebene Modell Case Management.
Lösungsvorschlag:
Vorschlag 1 für Modul Gesprächsführungs- und Beratungskompeten
Gesprächsführungskompetenz bedeutet soziale Kontaktfähigkeit, ein Gespür für Sprache, Regeln, Umgangsformen und symbolische Ausdrucksformen sowie die unterschiedliche Gesprächsprozesse situationsgerecht steuern zu können. Verschiedene Methoden der Gesprächsführung, Frage-, Feed-back- und Interventionstechniken stehen der beratenden Person zur Verfügung und können im Hinblick auf die Balance von Empathie und Distanz reflektiert werden. Beratungskompetenz verweist auf die Fähigkeit, Beratungssettings (Zeit, Raum, Umgebung) und Beratungsprozesse zu gestalten. Kompetentes Handeln in der Beratung ist die Stärkung und Förderung von Ressourcen und Potentialen der zu beratenden Person und unterstützt die Suche nach Lösungswegen. Beratungskompetenz schließt die Reflexionsfähigkeit ein.
Dies umfasst folgende Inhalte mit einem Mindestumfang von 60 Stunden
• Unterschiedliche Gesprächsführungsformen situationsspezifisch anwenden
• Gesprächsfördernde und gesprächshemmende Faktoren kennen
• Wirkung persönlicher „mentaler Modelle“ auf den Gesprächsverlauf kennen
• Balance zwischen Nähe und Distanz erreichen
• Konflikte wahrnehmen, erkennen, analysieren, konflikthafte Gespräche lösungsorientiert moderieren
• Beratungsbedarf durch Assessment erheben und erkennen können
• Beratungssettings gestalten und Beratungsprozess steuern
• Didaktisch-methodisches Wissen zur Informationsvermittlung reflektiert einsetzen
· Förderung der Autonomie und der Handlungskompetenzen des Klienten und dessen sozialen Umfeldes
· Unterschiedliche Beratungsformen kennen, Methoden auf der Basis von Beratungstheorien situationsentsprechend anwenden.
Berlin, 12.01.2018
Bundesarbeitsgemeinschaftder Freien Wohlfahrtspflege e. V.
Dr. Gerhard Timm
Geschäftsführer
Kontakt:
Nora Roßner (<link>nora.rossner@caritas.de)
]]>Obwohl der Gesetzgeber klargestellt hat, dass die Reform den Auftragsbegriff nicht verändert und folglich auch den Anwendungsbereich des Vergaberechts nicht ausgeweitet hat, kommt es insbesondere im Bereich des sozialrechtlichen Dreiecksverhältnisses wieder vermehrt zu Ausschreibungen. Vor diesem Hintergrund fasst die Argumentationshilfe die BAGFW-Position zur Anwendbarkeit von Vergabeverfahren bei der Organisation sozialer Dienstleistungen zusammen, die auch Grundlage unserer Positionierungen im nunmehr abgeschlossenen Vergaberechts-Reformprozess gewesen ist. ]]>
Die Einführung einer flächendeckenden, kostenlosen und qualifizierten Asylverfahrensberatung ist eine langjährige Forderung von Wohlfahrtsverbänden und UNHCR. Die Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration regt die Einführung einer frühen Asylverfahrensberatung auch im Lichte entsprechender Regelungen im Vorschlag der EU-Kommission für eine EU-Asylverfahrensverordnung an.[2] Andere EU-Staaten haben bereits gute Erfahrungen mit unabhängiger und unentgeltlicher Asylverfahrensberatung gemacht und gewährleisten zudem unentgeltliche anwaltliche Vertretung.[3]
Mit dem Ziel der Verfahrensbeschleunigung wurden in Deutschland in den letzten Jahren schnelle Verfahren eingeführt, die Mitwirkungspflichten von Asylbewerber*innen erweitert, neue Sanktionsmöglichkeiten geschaffen und Rückkehrinformation bzw. -beratung eingeführt und ausgeweitet. Die bestehenden Qualitätsmängel im Asylverfahren sind ebenso bekannt[4] wie extrem kurze Rechtsbehelfsfristen im Asylverfahren und bei der Abschiebung. Unter den genannten Umständen ist es für Asylsuchende schwer, ihre Rechte und Pflichten zu erkennen und ihre Fluchtgeschichte im Asylverfahren angemessen vorzutragen. Die Gefahr behördlicher Fehlentscheidungen ist groß, die Konsequenzen von Fehlentscheidungen oft existenzbedrohend.
Schutzsuchende brauchen frühzeitige, unentgeltliche und unabhängige Asylverfahrensberatung, damit ihre Rechte auf Schutz, die ihnen nach dem deutschen Grundgesetz, dem deutschen und europäischen Recht, der Genfer Flüchtlingskonvention oder internationalen Menschenrechtsnormen zustehen, auch Realität werden können.[5] Ein solches Beratungsangebot existiert in Deutschland derzeit nur ansatzweise und nur dort, wo Bundesländer, Kirchen, Wohlfahrtsverbände oder NGOs sie finanzieren. Die bestehenden Beratungsangebote der aus Bundesmitteln geförderten Migrationsfachdienste umfassen die Rechtsberatung im Asylverfahren nicht.
Die Verbände der BAGFW fordern,
- dass bundesweit alle Schutzsuchenden Zugang zu unentgeltlicher, unabhängiger Asylverfahrensberatung vor und während des Asylverfahrens bekommen,
- dass für die Asylverfahrensberatung eine stabile Bundesfinanzierung geschaffen wird, die nicht nur ausreichende Beratungskapazitäten, sondern auch Sprachmittlung und juristische Anleitung und Unterstützung nach den Vorschriften des Rechtsdienstleistungsgesetzes umfasst,
- dass die strukturellen, insbesondere zeitlichen Rahmenbedingungen für eine gute Asylverfahrensberatung geschaffen werden. Dafür bedarf es unter anderem ausreichender Zeitfenster für die Asylverfahrensberatung in allen Asylverfahren.
I. Ausgangslage
1. Situation von Schutzsuchenden
Asylsuchende sind auf qualitative Beratung in ganz besonderer Weise angewiesen, da der Ausgang des Asylverfahrens entscheidend dafür ist, ob sie Schutz vor Verfolgung oder anderen existenzbedrohenden Gefahren finden können. Fehlende Kenntnisse der deutschen Sprache und des Rechtssystems sowie psychische und physische Belastung der Flucht sind große Hürden für Schutzsuchende. Die eigenen Rechte und Pflichten im Asylverfahren zu erkennen, die Fluchtgründe in der Anhörung adäquat vorzutragen und sich in der verwirrenden Vielfalt von behördlichen Zuständigkeiten zurecht zu finden ist ohne qualifizierte Beratung kaum möglich. Besonders schwer und oft aussichtslos ist dies für Asylantragsteller*innen, die zum Beispiel wegen Krankheit oder Behinderung besonders schutzbedürftig sind.
2. Perspektiven und Mehrwert der Asylverfahrensberatung für die betroffenen Asylsuchenden und die aufnehmende Gesellschaft
Frühzeitiger Zugang zu unentgeltlicher, unabhängiger Asylverfahrensberatung hat folgende Auswirkungen:
- Das BAMF wird bei seiner Aufgabe (u.a. aus RL 2013/32/EU) unterstützt, Personen, die besondere Verfahrensgarantien benötigen (z. B. Kranke, Behinderte und Traumatisierte) zu identifizieren. Ohne Asylverfahrensberatung gelingt diese Identifizierung oft nicht bzw. zu spät, um wichtige Verfahrensgarantien gewährleisten zu können (z.B. erst während der laufenden Anhörung oder im Klageverfahren);
- Asylantragsteller*innen werden in die Lage versetzt, ihre Fluchtgründe in der Anhörung adäquat und nachvollziehbar vorzutragen. Das strafft Anhörungen und Entscheidungsprozesse innerhalb des BAMF und vermindert die Gefahr behördlicher Fehlentscheidungen.
- Die insgesamt verbesserte Rechtsstaatlichkeit, Fairness und Qualität des Verfahrens durch Asylverfahrensberatung führt – wie die Erfahrungen in der Schweiz und den Niederlanden zeigen – absehbar zu einer höheren Akzeptanz negativer BAMF-Entscheidungen bei den Betroffenen und zu einem Rückgang verwaltungsgerichtlicher Klagen dagegen.
- Die behördlichen Asylverfahren werden dadurch entlastet, dass Schutzsuchende ggfs. bereits vor der Antragstellung über die Aussichtslosigkeit eines Asylantrages informiert werden. Geflüchtete können sich ggfs. für freiwillige Rückkehr entscheiden und an unabhängige Rückkehrberatungsstellen verwiesen werden.
3. Derzeit bestehende Angebote an Asylverfahrensberatung
Die Wohlfahrtsverbände, Kirchen und Nichtregierungsorganisationen halten seit Jahren v.a. aus eigenen Mitteln und – in einigen Bundesländern – kommunalen und Landesmitteln unabhängige Beratungsangebote zum Asylverfahren vor. Dieses Angebot erreicht nur einen Bruchteil der Schutzsuchenden. Dies liegt zum einen an fehlender Finanzierung, zum anderen daran, dass der faktische Zugang der Schutzsuchenden zu Beratungsstellen häufig nicht gegeben ist.
Aufgabe der bisher bundesmittelgeförderten Migrationsdienste (Migrationsberatung für Erwachsene (MBE) und Jugendmigrationsdienste (JMD)) ist eine einzelfallbezogene Sozialberatung und Unterstützung bei der individuellen Integrationsplanung, nicht die Rechtsberatung im Asylverfahren.
Rückkehrberatungsstellen können die Aufgabe der unabhängigen Asylverfahrensberatung nicht übernehmen. Denn für den Aufbau des notwendigen Vertrauensverhältnisses in der Asylverfahrensberatung und die notwendige Unabhängigkeit der Rechtsberatung kommt es auf die Eindeutigkeit des Beratungskontextes an. Die Ratsuchenden müssen wissen, ob Ziel der Beratung Unterstützung im Zusammenhang mit einer möglichen Rückkehr ins Herkunftsland ist oder – mit Rückkehr unvereinbar – Unterstützung bei ihrer Suche nach Schutz in Deutschland; sie müssen sich in der rechtlichen Beratung auch darauf verlassen können, dass die Beratung unabhängig von behördlichem Einfluss allein ihren rechtlichen Interessen dient.
Schließlich ist der Zugang zu finanzieller Beratungshilfe für anwaltliche Beratung im Asylverfahren oft faktisch nicht gegeben[6] und Prozesskostenhilfe setzt erst nach dem Verwaltungsverfahren, im Stadium gerichtlicher Verfahren ein.
4. Rechtliche Aspekte und Grundlagen der Asylverfahrensberatung
Die EU-Kommission geht in ihrem Vorschlag für eine neue EU-Asylverfahrensverord-nung davon aus, dass unentgeltliche Rechtsberatung und Rechtsvertretung angesichts beschleunigter Verfahren erforderlich sind.[7] Frühzeitige Asylverfahrensberatung ist auch aus verfassungsrechtlicher Sicht oft unabdingbar, um durch die Verfassung garantierte Rechte in der Praxis durchzusetzen.[8]
Im deutschen Recht wurde mit dem Rechtsdienstleistungsgesetz (RDG) ausdrücklich die unentgeltliche Rechtsberatung durch nichtanwaltliche Berater*innen erlaubt. Zielsetzung des Gesetzgebers war, uneigennützige Rechtsberatung durch Wohlfahrtsverbände, Kirchen und Nichtregierungsorganisationen für solche Menschen möglich zu machen, die mittel- und hilflos sind und keine anderen Zugänge zu Rechtsberatung, zum Beispiel aus dem Familien- und Bekanntenkreis, haben. Der Gesezesentwurf nennt insoweit ausdrücklich Asylbewerber und Zuwanderer als Zielgruppe einer nichtanwaltlichen Rechtsberatung, die durch nichtkommerzielle Träger erbracht wird[9].
Im Interesse der Ratsuchenden und der Rechtspflege erfordert das RDG eine adäquate Einweisung und Fortbildung der nichtanwaltlichen Berater*innen sowie, soweit dies erforderlich ist, Anleitung durch eine Person mit Befähigung zum Richteramt im Einzelfall (§ 6 Absatz 2 RDG).
II. Die Forderung nach einer Asylverfahrensberatung im Einzelnen
1. Einführung einer flächendeckenden, frühzeitigen, unentgeltlichen, unabhängigen Asylverfahrensberatung für alle Schutzsuchenden vor und während des Asylverfahrens
In jeder Erstaufnahmeeinrichtung und jedem Ankunftszentrum sollte ein Beratungsangebot bestehen, dessen Kapazitäten auf die Beratung aller Schutzsuchenden schon vor der Asylantragstellung, spätestens vor der Anhörung ausgerichtet ist. Da die Asylantragstellung und die Anhörung nicht immer während der Zeit der Unterbringung in der Erstaufnahme bzw. im Ankunftszentrum durchgeführt werden, sollten auch - ggfs. mobile – unabhängige Beratungsangebote in den Kommunen eingerichtet werden.
Die Asylverfahrensberatung beinhaltet eine individuelle, vertrauliche Information und Beratung sowohl zum Dublin- als auch zum Asylverfahren. Gegenstand der individuellen Beratung sind Ziel und Zweck, Ablauf, Zuständigkeiten, Rechte und Pflichten, Handlungsmöglichkeiten sowie Rechtsfolgen des Asylverfahrens. Aufgabe der Asylverfahrensberatung ist es zudem, Asylantragsteller*innen bei der Erfüllung ihrer Mitwirkungspflichten (z. B. Beschaffung von Ausweisdokumenten und Attesten) während des gesamten Asylverfahrens bis zu seinem rechtskräftigen Abschluss zu unterstützen. Zentrale Aufgabe der Asylverfahrensberatung ist die Vorbereitung der Asylantragsteller*innen auf die Anhörung, auf Wunsch auch die Begleitung in die Anhörung.
Asylverfahrensberatung vor der Asylantragstellung kann im Falle fehlender Erfolgs-
aussichten eines Asylantrags alternative Handlungsoptionen aufzeigen und ggfs. an andere Migrationsfachdienste wie die unabhängige Rückkehrberatung verweisen. Staatliche Rückkehrberatung, insbesondere durch das BAMF als der über den Asylantrag entscheidenden Behörde sollte vor der Anhörung in jedem Fall unterbleiben.[10]
2. Rahmenbedingungen und Qualitätsanforderungen guter Asylverfahrensberatung
a. Asylverfahrensberatung als Rechtsdienstleistung im Sinne des Rechtsdienstleistungsgesetzes – Praxis der Wohlfahrtsverbände
Als unabhängige, individuelle Beratung im Asylverfahren ist die Asylverfahrensberatung eine unentgeltliche Rechtsdienstleistung im Sinne des RDG (§ 6 Absatz 2 RDG). Die Wohlfahrtsverbände haben auf der Grundlage jahrzehntelanger Praxis in der Beratung von Migrant*innen Qualitätsstandards entwickelt, die sozialarbeiterische und rechtliche Kompetenzen miteinander verbinden und absichern. Asylverfahrensberater*innen haben danach ein abgeschlossenes Hochschulstudium der Rechtswissenschaft, Sozialwissenschaft, Sozialen Arbeit oder eine vergleichbare Qualifikation. Darüber hinaus verfügen die Asylverfahrensberater*innen über fundierte Fachkenntnis im Asyl- und Aufenthaltsrecht und ausgewiesene Fähigkeiten in der Gesprächsführung, gepaart mit interkulturellen Kompetenzen. Spezielle Einführungs- und Fortbildungsmaßnahmen werden durchgeführt. Ein regelmäßiger kollegialer Austausch zu aktuellen Entwicklungen in der Rechtsprechung und Verwaltungspraxis ist gewährleistet. Darüber hinaus stellt der von den Wohlfahrtsverbänden mitgetragene „Informationsverbund Asyl & Migration“ stets aktuelle Informationen zur Verfügung.[11]
Die Wohlfahrtsverbände gewährleisten die Anleitung durch Asylverfahrensberater*innen durch Volljurist*innen derzeit in unterschiedlichen Modellen, die teilweise auch in Kombination angewandt werden. Eines der bereits in der Gesetzesbegründung zum RDG erwähnten Modelle ist die Rechtsberaterkonferenz, in der selbständige, im Migrationsrecht spezialisierte Rechtsanwält*innen an drei Wohlfahrtsver-bände[12] angebunden sind. Die Rechtsberaterkonferenz arbeitet mit UNHCR Deutschland zusammen. Darüber hinaus gibt es ein Multiplikatorensystem, das auf angestellten Volljurist*innen der Wohlfahrtsverbände fußt sowie Kooperationen mit Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten vor Ort.
Die verbandlichen Asylverfahrensberater*innen der Wohlfahrtsverbände verweisen schwierige Fälle und solche, in denen Rechtsvertretung vor Gericht nötig ist, an Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte.
b. Unabhängigkeit der Asylverfahrensberatung, Eindeutigkeit des Beratungskontextes und klare Trennung von behördlichen Stellen
Aus der Beratungspraxis wissen wir, dass es Schutzsuchenden wichtig ist, Informationen nicht allein von Behörden zu erhalten, da viele Schutzsuchende im Herkunftsstaat negative Erfahrungen mit staatlichen Stellen machen mussten.
Der Asylverfahrensberatung als Rechtsdienstleistung ist die Behördenunabhängigkeit immanent. Denn die Asylverfahrensberatung soll die Ratsuchenden in die Lage versetzen, ihre Rechte und Verfahrensgarantien auf dem Boden des Rechts gegenüber der entscheidenden Behörde geltend zu machen. Das erfordert eine klar erkennbare räumliche, personelle und institutionelle Trennung der unabhängigen Asylverfahrensberatung von behördlichen Stellen. Die Übernahme behördlicher Aufgaben ist nicht möglich.
Die für eine vertrauensbasierte Beratung erforderliche Eindeutigkeit des Beratungskontextes erfordert darüber hinaus eine klar erkennbare räumliche, personelle und institutionelle Trennung der unabhängigen Asylverfahrensberatung von anderen unabhängigen Beratungsangeboten wie der Rückkehrberatung durch Träger der Freien Wohlfahrtspflege.
c. Adäquate Zeitfenster und personelle Kapazitäten
Gute Beratung braucht ausreichend Zeit. Um die Ratsuchenden auch tatsächlich zu erreichen und deren Beratungsfähigkeit nach den Belastungen durch die Flucht sicherzustellen, sollten insbesondere in schnellen Asylverfahren von Beginn an Ruhephasen und ausreichende Zeitfenster für die Beratung eingeplant werden. Gute Asylverfahrensberatung macht das Asylverfahren nicht nur fairer, sondern auch effizienter, weil verfahrensrelevante Fragen frühzeitig geklärt und adäquat vorgetragen werden. Auch wenn Zeitfenster für die Asylverfahrensberatung eingeplant werden, ist eine Verzögerung des Asylverfahrens durch flächendeckende Asylverfahrensberatung deshalb nicht zu erwarten.
Die personellen Kapazitäten der Asylverfahrensberatung müssen so bemessen sein, dass die oben beschriebene Beratung und Unterstützung ebenso wie eine Begleitung in die Anhörung auch tatsächlich möglich sind.
3. Finanzierung
Die Finanzierung einer unabhängigen Asylverfahrensberatung, die die Qualität, Fairness, Rechtsstaatlichkeit und Effizienz des Asylverfahrens verbessern soll, muss den Zugang aller Schutzsuchenden zur Asylverfahrensberatung ebenso ermöglichen wie eine hohe Beratungsqualität.
Eine adäquate Bundesfinanzierung
- orientiert sich an der Zahl der erwarteten neu ankommenden Schutzsuchenden und bezieht mindestens die Asylbewerber*innen in die Planung mit ein, die in ihrem Asylverfahren noch nicht angehört wurden,
- sichert eine permanente Beratungsstruktur in Anbindung an das Asylverfahren durch dauerhafte Finanzierung,
- bemisst den Beratungsschlüssel an der oben beschriebenen Komplexität der Beratung und Unterstützung während des gesamten Asylverfahrens bis zu dessen rechtskräftigem Abschluss,
- berücksichtigt das gesetzliche Erfordernis der besonderen rechtlichen Qualifikation der Berater*innen und der Anleitung durch Personen mit Befähigung zum Richteramt,
- umfasst die Sprachmittlung, ohne die Asylverfahrensberatung und der Zugang zum Recht für die Betroffenen nicht möglich ist,
- umfasst Maßnahmen zur dauerhaften Sicherung der Qualität der Beratungsstellen (bspw. Supervision, Weiterbildung, regionale und überregionale Vernetzung).
[1] Das BAMF-Pilotprojekt Asylverfahrensberatung wurde in Kooperation mit der Diakonie Deutschland, dem Deutschen Caritasverband und dem Deutschen Roten Kreuz im Frühjahr 2017 durchgeführt. Über die Veröffentlichung des Evaluationsberichts entscheidet das Bundesministerium des Innern.
[2] Siehe zuletzt UNHCR Deutschland, Eckpunktepapier zur Bundestagswahl 2017, Ziff. 7, <link http: www.unhcr.org dach de>www.unhcr.org/dach/de/12890-unhcr-legt-eckpunktepapier-zur-bundestagswahl-vor.html
und 11. Bericht der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration (Dezember 2016), S. 580 f. (Online-Fassung), <link http: www.integrationsbeauftragte.de>www.integrationsbeauftragte.de.
[3] Evaluation des Schweizerischen Kompetenzzentrums für Menschenrechte (SKMR), <link https: goo.gl jphiaq>goo.gl/JPHIAq, zum niederländischen Modell Thränhardt, Asylverfahren in den Niederlanden (2016), <link http: www.bertelsmann-stiftung.de>www.bertelsmann-stiftung.de.
[4] Dazu u.a. Memorandum für faire und sorgfältige Asylverfahren in Deutschland – Standards zur Gewährung der asylrechtlichen Verfahrensgarantien, November 2016, <link https: www.proasyl.de>www.proasyl.de.
[5] Dazu aus verfassungsrechtlicher Sicht RiBVerfG Maidowski/Hanschmidt, in: Beilage zum Asylmagazin 7-8/2017 „Beratung und Rechtsschutz im Asylverfahren“, S. 27 ff. <link http: www.asyl.net>www.asyl.net.
[6] So bereits zutreffend die Gesetzesbegründung der Bundesregierung zur Neuregelung des Rechtsberatungsrechts, BT-Drs. 16/3655. S. 39.
[7] „Der Zugang zu Rechtsberatung und -vertretung wird in diesem Vorschlag angesichts der knappen Fristen in allen Verfahrensstufen als erforderlich angesehen, damit die Antragsteller ihre Rechte in vollem Umfang ausüben können. Daher beinhaltet der Vorschlag das Recht der Antragsteller auf Beantragung unentgeltlicher Rechtsberatung und -vertretung in allen Verfahrensstufen bis auf wenige, festgelegte Ausnahmen“. KOM (2016)467, S. 15.
[8] Dazu aus verfassungsrechtlicher Sicht RiBVerfG Maidowski/Hanschmidt, Fn. 5.
[9] BT-Drs. 16/3655, S. 39, 58 f.
[10] Dazu auch Schreiben der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege BAGFW zur aktuellen Praxis der Rückkehrinformation und -beratung an Bundesinnenminister de Maizière vom 12.9.2017.
[11] <link http: www.asyl.net>www.asyl.net
[12] Deutscher Caritasverband (DCV), Diakonie Deutschland und Deutsches Rotes Kreuz (DRK).
]]>
Wir sehen in der ambulanten geriatrischen Rehabilitation ein wichtiges Modul in der gesundheitlichen Versorgung entsprechend multimorbid erkrankter Menschen, das zudem angesichts der demographischen Entwicklung an weiterer Bedeutung gewinnen wird.
Wir begrüßen deshalb die fachliche Weiterentwicklung zu der aus dem Jahr 2004 stammenden Rahmenempfehlung.
Der vorgelegte Entwurf gibt aufgrund einer konsequenten ICF Orientierung eine umfangreichere Individualisierung und Teilhabeorientierung für die Rehabilitation selbst sowie die vorgelagerte Indikationsprüfung vor, was wir im Sinne der Rehabilitanden sehr begrüßen.
Des Weiteren werden gesetzliche Veränderungen der letzten Jahre im Zusammenhang Rehabilitation/ Pflege nachvollzogen, was zu wichtigen Klarstellungen führt und das Leistungsangebot richtigerweise auch zugänglich für pflegebedürftige Menschen definiert.
Verschiedene Regelungen zu Personal sollten überprüft und vor Beschlussfassung auch mit den Verbänden der Leistungserbringer näher inhaltlich diskutiert werden, zumal für uns keine Begründung transparent ist. Angesichts des Fachkräftemangels sowie dem gewünschten Ausbau entsprechender ambulanter geriatrischer Rehabilitationsangebote sollten keine unnötigen Hürden aufgebaut werden.
Zu verschiedenen Passagen im Einzelnen:
- Ziffer 3.1.1 Beeinträchtigungen der Aktivitäten und Teilhabe (Seite 10):
Hier heißt es im letzten Abschnitt, Beeinträchtigungen finden sich „selten auch in den Bereichen interpersonelle Interaktionen und Beziehungen, Gemeinschafts-, soziales und staatsbürgerliches Leben“.
Diese Beeinträchtigungen finden sich nicht selten, sondern häufig. Dies sollte korrigiert werden.
Typischerweise sind bei dem Kreis der geriatrischen Patienten auch Schwierigkeiten beim Aufsuchen von Ärzten und therapeutischen Einrichtungen gegeben. Dies sollte ebenfalls ergänzt werden
- Ziffer 5 Leistungsbewilligung (Seite 14):
Hier ist noch ein Kommentar vermerkt. Der Satz „Dabei sollen auch Möglichkeiten einer ambulanten Leistungsbewilligung abgewogen werden“ sollte auf jeden Fall gestrichen werden, denn die vorliegende Rahmenempfehlung zielt ja genau schon auf die Rehabilitanden, für die die ambulante Maßnahme als die geeignete Form gewählt wurde.
- Ziffer 6 Behandlungsfrequenz und Rehabilitationsdauer (Seite 15):
Die Verteilung der vorgesehenen Behandlungstage über einen längeren Zeitraum muss in dem vorliegenden Entwurf in Abstimmung mit der Krankenkasse geschehen. Dies ist neu und es sollte geregelt sein, dass dies nicht zu einem erhöhten Verwaltungsaufwand führt.
- Ziffer 7.6.2 Aktivierende therapeutische Pflege (Seite 20):
Im letzten Abschnitt ist der Begriff der „Grundpflege“ verwandt. Es sollte die zwischenzeitlich im SGB XI verwandte Begrifflichkeit „körperbezogene Pflegemaßnahmen“ benutzt werden.
- Ziffer 7.6.7 Sozialarbeit (Seite 25):
Bei den Aufgaben könnte ergänzt werden: Beratung über Unterstützungsangebote im Alltag (z.B. niedrigeschwellige Betreuungsleistungen).
- Ziffer 7.8.1 Rehabilitationsteam und Qualifikation (Seite 24):
Hier findet sich im 2. Abs. ein Verweis auf Ziffer 9.2. Dies dürfte ein redaktioneller Fehler sein. Der Verweis müsste auf Ziffer 7.2 (Ärztliche Leitung und Verantwortung) lauten.
Bei den fachlichen Leitungen im Bereich Pflege, Physiotherapie, Ergotherapie, Logopädie wird eine „mindestens zweijährige vollzeitige Berufserfahrung in einer geriatrischen Einrichtung oder eine vollzeitige Berufserfahrung von mindestens 12 Monaten in einer geriatrischen Einrichtung und 12 Monaten in einer neurologischen Rehabilitationseinrichtung“ gefordert. Dies entspricht den Regelungen in der Rahmenempfehlung-alt, wo dies zusammenfassend für die hauptverantwortlichen bzw. leitenden Therapeuten gefordert war.
Vergleicht man diese zeitliche Anforderung an die spezifische Berufserfahrung jedoch mit der für die leitenden Ärzte (Ziffer 7.2), so wird hier nur eine 12 monatige Berufserfahrung im Bereich der Geriatrie verlangt.
Zu diesen unterschiedlichen Vorgaben besteht für uns Erläuterungsbedarf.
- Zu Ziffer 7.8.1 Rehabilitationsteam und Qualifikation (Seite 26):
Bei den fachlichen Anforderungen an den (Neuro-) Psychologen werden im Gegensatz zu den mit den Leistungserbringerverbänden im Rahmen von QS Reha® konsentierten Strukturvorgaben deutlich höhere Anforderungen gestellt.
In QS-Reha® heißt es:
(Neuro-) Psychologie wird erbracht durch:
- Diplompsychologe/in / MA, MS Psychologie oder
- Arzt/Ärztin, der/die über einen gleichwertigen Abschluss mit mindestens 2-jähriger vollzeitiger Berufserfahrung in klinischer Neuropsychologie verfügt.
Im vorliegenden Entwurf der Rahmenempfehlung ist diese Berufserfahrung auch auf Psychologen ausgeweitet.
Wir sehen dies fachlich nicht begründet, zumal der Psychologe keine leitende Funktion ausübt und auch berufsbegleitend fachliche Weiterbildung erlangen kann.
- Ziffer 7.8.2 Personalbemessung (Seite 27):
Bei den Berufsgruppen ist im Bereich der Pflegekräfte der Personalschlüssel im Vergleich zur bisherigen Empfehlung von bisher 1:40 auf 1:20 verdoppelt worden.
Darüber hinaus ist ein Klammerzusatz eingefügt, nach dem der Anteil der Altenpflegekräfte 50% nicht übersteigen soll.
Da diese Anpassungen im Vorfeld in keiner Weise mit dem Kreis der Leistungserbringer-Verbände diskutiert oder ein fachlicher Austausch insgesamt zu den Personalschlüsseln geführt wurde, erschließen sie sich für uns nicht. Wir bitten zur Personalbemessung um Erläuterung der Gründe.
- Ziffer 7.9 Räumliche Ausstattung (Seite 27):
Wir halten die Festschreibung eines Personalumkleideraumes für nicht sachgerecht. Hierbei handelt es sich nicht um eine medizinisch-therapeutisch-rehabilitative Vorgabe. Vielmehr ist dieser Bereich (und Weiteres) durch die Arbeitsstättenverordnung bzw. arbeitsrechtliche Vorschriften geregelt
]]>Organisationsentwicklung der Freien Wohlfahrtspflege unter den Vorzeichen der Digitalisierung
Die Digitalisierung verändert unsere Gesellschaft mit hoher Entwicklungsdynamik. Durch ihre alltägliche Präsenz prägen die digitalen Technologien zunehmend alle Lebensbereiche: die Art der Kommunikation und die Gestaltung sozialer Beziehungen, das Lernen und Arbeiten ebenso wie das Konsum- und Freizeitverhalten.
Die Digitalisierung führt zur Entgrenzung vertrauter Kategorien und Sozialräume und zu einer neuen Verteilung von Chancen und Risiken. „Es gilt …, die Chancen der Digitalisierung für eine vielfältige Gesellschaft aktiv zu nutzen.“ Dabei ist entscheidend, „jene gesellschaftlichen Kräfte zu aktivieren und zu stärken, die sich in der digitalisierten Welt für gesellschaftlichen Zusammenhalt einsetzen und den digitalen Wandel entsprechend mitgestalten.“ (so das Impulspapier des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend „Digitale Agenda für eine lebenswerte Gesellschaft“ aus Juni 2017)
Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) und die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) sind sich einig, dass die Innovationskraft der Verbände und die Gestaltung einer „sozialen Infrastruktur 4.0“ von herausragender Bedeutung sind für die Ausrichtung der digitalen Transformation am Gemeinwohl und für die Stärkung des sozialen Zusammenhalts durch die Digitalisierung.
Im Rahmen der digitalen Agenda der Bundesregierung wollen die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege und das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ihre Zusammenarbeit verstärken und legen eine gemeinsame Absichtserklärung vor:
1. Die Digitalisierung führt in allen Lebensbereichen zu tiefgreifenden Veränderungen; den großen – ungleich verteilten – Chancen der Digitalisierung stehen Risiken sozialer Spaltung gegenüber, die frühzeitig erkannt und begrenzt werden müssen. Digitale Teilhabe wird elementare Voraussetzung gesellschaftlicher Teilhabe. Die digitale Transformation erfordert Anpassungsleistungen in allen Lebensbereichen; sie kann nur gelingen, wenn die Richtung der Entwicklungsdynamik als gestaltbar erlebt und unterschiedliche Geschwindigkeiten nicht zu uneinholbaren Vorsprüngen kleiner digitaler Eliten führen.
2. Die Freie Wohlfahrtspflege hat sich als das gemeinwohlorientierte „Gerüst der sozialen Infrastruktur“ in Deutschland bewährt. Sie stellt ihre Leistungsfähigkeit und Bedeutung gerade auch dann unter Beweis, wenn größere gesellschaftliche Transformationen anstehen und die Regeln und Gewichtungen des gesellschaftlichen Miteinanders neu ausgehandelt werden müssen.
3. Um den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Zeiten der Digitalisierung zu stärken, sind die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege vielfältig gefordert. Sie müssen mit ihrer seismographischen Kompetenz gesellschaftliche Wirkungen der digitalen Transformation früh erkennen. Zugleich sind sie Akteure, die die digitale Transformation aktiv und am sozialen Ausgleich orientiert mitgestalten. Sie können die teilhabeorientierte Nutzung der digitalen Chancen fördern, gesellschaftliche Randgruppen einbinden und helfen, neue soziale Problemlagen, die durch „digital gaps“ entstehen, zu bewältigen. Dazu müssen sie in ihrer Arbeitsweise, ihren Angeboten und in ihren Strukturen die digitalen Möglichkeiten kompetent, dienstleistungsorientiert und sicher nutzen. Sie sind Initiatoren von zivilgesellschaftlichen Dialogen und für gesellschaftlichen Zusammenhalt in hybriden Sozialräumen.
4. Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege sind daher in den kommenden Jahren gefordert, einen dynamischen Organisationsentwicklungsprozess zu gestalten, der angesichts der großen Veränderungsdynamiken schnell angestoßen und geformt werden muss. Effizient, nachhaltig und ressourcensparend wird er nur dann gelingen, wenn – ähnlich wie im Bereich von eHealth –öffentliche Anschubfinanzierung die vielfältigen Innovationsinitiativen bündelt und verbreitet.
5. Gesellschaftliche Gewinne aus der digitalen Transformation für die Bundesrepublik als demokratischer Sozialstaat lassen sich verlässlich dann erzielen, wenn wesentliche Leistungssegmente sozialer Infrastruktur auch in der digitalen Gesellschaft nachhaltig gemeinwohlorientiert gewährleistet werden.
Konkretisierung und Erläuterung
Die Digitalisierung der Gesellschaft eröffnet neue Möglichkeiten des Arbeitens, neue Chancen für eine barrierefreie Gestaltung sozialer Beziehungen und des Alltags, für den Ausgleich von Teilhabe-Einschränkungen und für die Steigerung der Lebensqualität. Deutlich wird aber auch das Risiko, dass neue Formen der Ausgrenzung und des Ausschlusses von gesellschaftlicher Teilhabe und Selbstverwirklichung entstehen. Mit der Vielfalt digital vernetzter Produkte und neuartiger Kontroll- und Überwachungsmöglichkeiten ist die Gefahr verbunden, Persönlichkeitsrechte und die Privatsphäre, insbesondere von vulnerablen Bevölkerungsgruppen zu verletzen. Nicht zuletzt müssen der mögliche Verlust persönlicher, physischer Kontakte und sinnlicher Erfahrungen und die damit verbundenen psychosozialen Auswirkungen als Risiko beachtet werden.
Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege werden durch die Digitalisierung in all ihren Aufgaben und Funktionen tangiert. Anforderungen ergeben sich dadurch in den Bereichen der verbandlichen Kommunikation und der Zugangswege zu Unterstützungsbedürftigen und Engagierten, der lebensbegleitenden Bildung und Qualifizierung, der Kooperation und Vernetzung mit neuen Partnern, der Implementierung neuer technologischer Lösungen und der verbandlichen Infrastruktur, des Wissensmanagements und des Wissenstransfers. Dies erfordert auch eine grundsätzliche Überprüfung der gegebenen Aufbaustrukturen und Arbeitsweisen auf der Bundesebene. Die Verbände müssen ihre Kommunikationswege, Angebotsformen und Arbeitsweisen überprüfen und sie konsequent aus der Nutzer/innenperspektive einer hybriden analog/digitalen sozialen Welt entwickeln.
Diese breitgefächerten und zugleich tiefgreifenden zusätzlichen Aufgaben können nur in einem umfassenden Prozess der verbandlichen Organisationsentwicklung zur Erarbeitung und Umsetzung jeweiliger verbandlicher digitaler Agenden chancenorientiert umgesetzt werden. Dieser Prozess kann nur mittelfristig und mit zusätzlichen Ressourcen realisiert werden. Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege können dies in Kooperation mit dem BMFSFJ und im Rahmen eines großangelegten Förderprogramms umsetzen, das hohe Flexibilität in der Ausgestaltung („lernende Projekte“) und verwaltungstechnischen Umsetzung, eine mehrjährige Förderperspektive und Maßnahmen zur Übertragung und Verbreitung von erfolgreichen Projektansätzen und -ergebnissen (Disseminierung) ermöglicht.
Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege verfügen mit ihrem flächendeckenden Netz an Diensten und Einrichtungen in allen Feldern der sozialen Arbeit und mit ihren föderalen Strukturen über die notwendigen Voraussetzungen dafür, mit ihren Projekten einen wichtigen Beitrag zur Umsetzung der Digitalen Agenda des BMFSFJ zu leisten:
Sie haben langjährige Erfahrungen darin, mit Projekten der Bundesebene Entwicklungsimpulse für die Gliederungen und Mitgliedsverbände – bis auf die Ortsebene – zu vermitteln. Sie können die in allen Verbänden bereits vorhandenen innovativen digitalen Einzelinitiativen bündeln und den jeweiligen Gegebenheiten gerecht werdend weiterentwickeln. Über den Transfer erfolgreicher Praxis in die verbandlichen Strukturen sichern sie die Nachhaltigkeit zukunftsorientierter Ansätze und Ergebnisse. Sie bieten attraktive Kooperationsmöglichkeiten für neue Partner in der Erprobung neuer Geschäftsmodelle und verbinden auf diese Weise digitale Innovationen mit ihrer wertegebundenen sozialen Arbeit.
Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege wollen die Digitalisierung der Gesellschaft mitgestalten und mit eigenen Impulsen ihren Beitrag zu einer teilhabeorientierten Umsetzung leisten. Das Gelingen des digitalen Wandels wird wesentlich davon abhängen, dass seine Chancen für möglichst alle Bevölkerungsgruppen zu mehr Teilhabe und Selbstverwirklichung führen und die Risiken einer digitalen Ausgrenzung aufgefangen werden können. Der Freien Wohlfahrtspflege und der Einbindung zivilgesellschaftlicher Kräfte kommt hierbei eine unverzichtbare Rolle zu.
Im Rahmen eines Förderprogramms „Digitale Transformation und gesellschaftlicher Zusammenhalt“ wollen die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege – gefördert durch das BMFSFJ – eine digitale Agenda des gesellschaftlichen Zusammenlebens durch Projekte in verschiedenen Themenbereichen umsetzen.
Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege haben die wesentlichen Handlungsfelder der digitalen Transformation im Rahmen der strategischen Partnerschaft mit dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend abgesteckt:
1. Sozialraumorientierte soziale Arbeit: Ziel ist es, analoge Angebote durch digitale zu ergänzen und weiterzuentwickeln, um Beteiligung zu stärken und neue Formen des Engagements einzubeziehen. Virtuelle sozialräumliche Erfahrungsräume müssen für eigene verbandliche und weitere Angebote (über Portale oder Plattformen) erschlossen und integrativ so nutzbar gemacht werden, dass Zugangsbarrieren für Zielgruppen aus allen Generationen, Milieus und Lebenslagen abgesenkt werden.
2. Freiwilliges Engagement und Selbsthilfe: Ziel ist es, Engagierten ein Forum für den Austausch im Netz und für digitale Formen der Mitwirkung zu bieten und sie zugleich in fach- und verbandspolitische Diskurse einzubinden. Dafür ist der digitale Aus- und Umbau der Engagementinfrastruktur (Wissensmanagement, Vernetzung und Koordination, Möglichkeiten des Online-Volunteerings, digitale Angebote von Moderation, Fortbildung und Begleitung) notwendig. Hierbei kommt z.B. der Selbstorganisation von Migrant/innen und dem Empowerment von Selbsthilfegruppen eine große Bedeutung zu.
3. Beratung und Therapie: Ziel ist es, die erfolgreichen Angebote der online-Beratung auszubauen und konzeptionell weiterzuentwickeln. Grund sind die hohe Nachfrage und die sich verändernden Anforderungen an digitale Beratungsformate. Ihre strukturelle Vernetzung erfordert neue Formen der Zusammenarbeit unter Einbindung von Peer-to-Peer-Beratung. Hierzu gehört auch die Entwicklung neuer, digital basierter und begleiteter Betreuungs- und Begleitungskonzepte.
4. Qualifikation und Bildung: Ziel ist es, dass sich haupt- und ehrenamtliche Mitarbeitende auf allen Ebenen der Verbände qualifizieren müssen im Umgang mit neuen Anforderungen, die sich in der Digitalisierung für die soziale Arbeit ergeben. Es geht dabei um das Verstehen der Erfordernisse digitaler Produkte, Prozesse und Organisation, um methodische Kenntnisse des vernetzten, kollaborativen Arbeitens sowie um die Fähigkeit zur Gestaltung von Veränderung. Es gilt nicht nur, die Qualität der sozialen Arbeit zu sichern, sondern damit gleichzeitig die Attraktivität der SAGE-Berufe zu erhöhen. Es wird zunehmend neue digitale und technikunterstützte Angebote in allen Bereichen der sozialen Arbeit geben. Hierfür gilt es neue Weiterbildungsformate zu entwickeln sowie in der Erstausbildung modulare IT-Qualifikationskonzepte zu integrieren. Die Zusammenarbeit mit Weiterbildungsinstitutionen und -akademien, Fachschulen und Fachhochschulen ist entsprechend dieser Anforderungen anzupassen und ein Theorie-Praxistransfer zu organisieren. Die Kompetenzaneignung der Beschäftigten ist die grundlegende Voraussetzung dafür, dass bspw. in der Arbeit mit Kindern und Älteren Kompetenz vermittelt werden kann, um so eine digitale Spaltung zu bekämpfen.
5. Management und Innovation: Ziel der Freien Wohlfahrtspflege bleibt es, sozial innovative Dienstleistungsmodelle sowie neue Struktureinheiten zu entwickeln, die für zukünftige Herausforderungen adäquate Lösungsansätze ermöglichen und neuartige Kooperationen fördern. Methoden des Design Thinking und innovative IT-Lösungen von Querdenkern können technische und organisatorische Entwicklungsprozesse synchron befördern.
6. Potentiale digitaler Innovation nutzen und durch Personal- und Organisationsentwicklung implementieren: Ziel ist die organisatorische Anpassung von verbandlichen Prozessen, die durch digitale Innovationen erforderlich wird. Dabei sind strukturelle Agilität und neue Formen des Wissensmanagements zu entwickeln und zu fördern. Aufgabe der Freien Wohlfahrtspflege ist es, im Rahmen der Personal- und Organisationsentwicklung auf diese Entwicklung so zu reagieren, dass Lösungsansätze rasch erprobt und erfolgreich umgesetzt werden können.
]]>Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege hat sich bereits am 16.03.2017 mit einer Stellungnahme zu den Plänen und ersten Schritten eines Europäischen Solidaritätskorps (ESK) zu Wort gemeldet. Darin unterstützt die BAGFW grundsätzlich die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit und begrüßt die Stärkung der Solidarität in der EU. Allerdings ist bei der Einrichtung des ESK eine differenzierte Betrachtung der Situationen in den Mitgliedsstaaten erforderlich. Es gibt ein etabliertes Angebot von gesetzlich geregelten Freiwilligendiensten, die durch EU-Programme ergänzt werden. Als besondere Form des Bürgerschaftlichen Engagements, Bildungs- und Orientierungszeit sowie Sozialisationsinstanz sind Freiwilligendienste von Maßnahmen der Arbeits- bzw. Beschäftigungsförderung klar abzugrenzen. Die BAGFW kritisiert, dass mit dem ESK diese wichtige Abgrenzung aufgehoben wird. Weiterhin sieht sie die Gefahr, dass dabei Mittel bewährter Programme abgezogen werden. Diese vorgebrachten Bedenken haben sich durch die vorgelegte Verordnung bestätigt.
Im Einzelnen macht die BAGFW auf Folgendes aufmerksam:
In der Verordnung sollte ganz klar erkennbar zwischen den Bereichen „Praktika/Arbeitsplätze“ und „Freiwilligentätigkeit“ unterschieden und diese in unterschiedlichen Kapiteln der Verordnung behandelt werden.
Begründung: Diese Differenzierung ist nicht zuletzt wegen der damit verbundenen unterschiedlichen Qualitätsanforderungen erforderlich.
Das der Verordnung zugrunde liegende Verständnis von „Freiwilligentätigkeit“ widerspricht unserem Verständnis von „Freiwilligendienst“. Im Freiwilligendienst engagieren sich Frauen und Männer für das Allgemeinwohl. Die Freiwilligendienste werden pädagogisch mit dem Ziel begleitet, einen sozialen, ökologischen, kulturellen und interkulturellen Kompetenzerwerb zu ermöglichen und das Verantwortungsbewusstsein für das Gemeinwohl zu stärken. Die Freiwilligendienste fördern damit das lebenslange Lernen. Sie sind ganz ausdrücklich kein arbeitsmarktpolitisches Instrument und in jedem Fall arbeitsmarktneutral auszugestalten.
Im Verständnis der vorgeschlagenen Verordnung ist eine „Freiwilligentätigkeit“ eng mit den Bereichen „Arbeit“ und „Beschäftigung“ verknüpft. So soll beispielweise eine „Freiwilligentätigkeit“ zur Verbesserung der Beschäftigungsfähigkeit beitragen (vgl. Artikel 2 Abs. 6). Durch eine Differenzierung bliebe das Prinzip der Arbeitsmarktneutralität im Bereich der Freiwilligendienste weiter gewährleistet und die unterschiedlichen Zielsetzungen und Profile der beiden Stränge würden deutlicher.
Damit der kleinere Teil des Programms „Praktika/Arbeitsstellen“ zügig umgesetzt werden kann, bedarf es kompetenter Stellen, zu denen auch Arbeitgeber, Sozialpartner und zivilgesellschaftliche Organisationen bereits Kontakt und Vertrauen aufgebaut haben. Die alleinige Umsetzung durch die für JUGEND IN AKTION zuständigen Nationalagenturen ist unserer Auffassung nach nicht ausreichend. Die Kompetenz sowie Eingebundenheit in das Netzwerk der Arbeitgeber und Sozialpartner sehen wir eher bei den EURES-Agenturen und den EURES-Partnern als bei den Nationalagenturen.
Mit einer klaren Trennung wird ebenso der Gefahr begegnet, dass Arbeitgeber Freiwillige im ESK beschäftigen, statt Arbeitsplätze zu schaffen. Zudem sollte sichergestellt sein, dass mit dem ESK keine prekären Arbeitsverhältnisse subventioniert werden.
Das Kapitel „Praktika/Arbeitsplätze“ innerhalb der Verordnung braucht einen Bezug zur EU-Jugendgarantie und der Jugendbeschäftigungsinitiative, um mit Maßnahmen gegen die Jugendarbeitslosigkeit Kohärenz herzustellen.
Menschen in Freiwilligendiensten, Arbeitsstellen oder Praktika bewegen sich in sehr unterschiedlichen Kontexten. Dies sollte sich auch in den begleitenden Seminaren und Maßnahmen wiederspiegeln. Eine gemeinsame Teilnahme aller ESK-Teilnehmenden würde den unterschiedlichen Kontexten und Bedürfnissen der Teilnehmenden kaum gerecht.
Organisationen, Träger und Einrichtungen sowie Entsendeorganisationen müssen eine aktive Rolle im ESK einnehmen. Eine entsprechende gesetzliche Verankerung in der Verordnung ist unabdingbar.
Begründung: Entsende- und Aufnahmeorganisationen, Träger und Einsatzstellen haben bei der Organisation und Umsetzung von Freiwilligendiensten eine entscheidende Bedeutung. Es bedarf einer gesetzlichen Verankerung in der Verordnung, damit sie im ESK ihre entscheidende Rolle beim Zugang zu Freiwilligendiensten, in der Administration, in der Sicherung der Qualität und Weiterentwicklung solcher Dienste wahrnehmen können. Freiwillige entscheiden sich in vielen Fällen auf Grund ihrer Verbundenheit/ ihres Kontaktes zu einem spezifischen Träger für eine bestimmte Entsendeorganisation und finden hierüber ihren Weg in einen Freiwilligendienst. Zudem ist die Begleitung der Teilnehmenden von der Erstinformation über den Vermittlungsprozess, der Vor- und Nachbereitung unabdingbar, um einen qualitativ hochwertigen Freiwilligendienst anzubieten. Entsprechend sollten auch Vorbereitungs-, Begleit- und Nachbereitungsseminare in der Verantwortung zivilgesellschaftlicher Organisationen, Träger und Einrichtungen ermöglicht und über den ESK finanziert werden.
Die Inklusion benachteiligter Menschen am ESK muss sichergestellt und deren Betreuung ausreichend finanziert werden
Begründung: Insbesondere für benachteiligte Jugendliche ist eine enge Begleitung und ein „an die Hand nehmen“ nötig, damit diese Zielgruppe an der Erfahrung eines Auslandsaufenthaltes oder eines Praktikums/einer Beschäftigung partizipieren kann. Die Entsende- und Aufnahmeorganisationen spielen bei der Inklusion benachteiligter Menschen daher eine besonders wichtige Rolle. Parallel zu den Regelungen in Erasmus+ sollte daher auch im ESK der Mehraufwand für die Beteiligung benachteiligter Menschen zu 100 Prozent zusätzlich gefördert werden. Das gleiche gilt auch für die Inklusion von Menschen mit Behinderung. Die Einführung von Kurzzeit-Einsätzen ab zwei Wochen, beispielsweise in Form von workcamps, begrüßen wir, da diese eine Einstiegsmöglichkeit für benachteiligte Menschen sein können. Um die Reichweite des Solidaritätskorps voll auszuschöpfen fordern wir einen altersoffenen Zugang für alle Menschen ab 18 Jahren.
Das ESK muss auskömmlich finanziert werden. Dafür müssen neue Mittel zur Verfügung gestellt werden und es dürfen keine Mittel aus Erfolgsprogrammen wie Erasmus+ abgezogen werden.
Ein Großteil des ESK soll über Mittel aus dem Programm Erasmus+ finanziert werden. Dafür wird vorgeschlagen, dass 197,7 Millionen Euro aus Erasmus+ in den ESK fließen. Zwar wird ein Teil des Europäischen Freiwilligendienstes aus Erasmus+ in die neue Struktur des ESK integriert, es wird jedoch nicht berücksichtigt, dass die aktuellen Mittel für den Jugendprogrammteil in Erasmus+ z.B. beim Jugendaustausch bereits heute bei weitem nicht ausreichend sind. Die Aufstockung des Programmes Erasmus+ im Rahmen der Halbzeitrevision des EU-Haushaltes von 200 Millionen Euro wird quasi vollständig für den ESK wieder aus Erasmus+ herausgenommen.
Die im Verordnungsentwurf vorgesehene Absenkung der finanziellen Förderung des Programmteils JUGEND IN AKTION innerhalb von Erasmus+ auf 8,8 Prozent lehnen wir ab. Der Anteil des Jugendprogrammteils in Erasmus+ muss weiterhin mindestens 10 Prozent betragen; für die nächste Förderperiode sollte der Jugendbereich 15 Prozent des Erasmus+ Gesamtbudgets betragen.
Bei der Ausgestaltung des ESK sollten stets die Auswirkungen, die diese auf das Programm Erasmus+ haben, insbesondere auf den Programmteil Erasmus+ JUGEND IN AKTION, und auf die europäische Zusammenarbeit im Jugendbereich (EU-Jugendstrategie ab 2018), geachtet werden. Hier ist auf eine Kohärenz hinzuarbeiten und sicher zu stellen, dass der ESK langfristig nicht die bewährte Zusammenarbeit im Jugendbereich gefährdet oder sogar konterkariert.
Begründung: Durch den ESK entstehen u. a. neue Formate, die eine hohe Ähnlichkeit mit Programmteilen in Erasmus+ JUGEND IN AKTION aufweisen. Dadurch entstehende Doppelstrukturen sollten weitestgehend vermieden werden. Sie produzieren bei Organisationen, die in Erasmus+ und im ESK aktiv sind, personal- und kostenintensiven Mehraufwand und tragen nicht zur Nutzerfreundlichkeit bei. Sowohl die Förderung des ESK als auch des Programmteils Erasmus+ JUGEND IN AKTION sind bzw. werden wichtige Instrumente zur Umsetzung der EU-Jugendstrategie – insbesondere in einer neuen Strategie nach 2018. Auch der ESK sollte ein Instrument der zukünftigen EU-Jugendstrategie bleiben. Eine kohärente Entwicklung der Zusammenarbeit im Jugendbereich in der neuen Programmgeneration ab 2021 würde eine Zusammenführung aller Jugendformate im ESK oder in Erasmus+ entsprechen.
Der bisherige Europäische Freiwilligendienst (EFD) sollte nicht in zwei Teile – Programm ESK und Programm Erasmus+ JUGEND IN AKTION - zergliedert werden, sondern die in Erasmus+ und JUGEND IN AKTION definierten Partnerländer bereits ab 2018 in den ESK integriert werden.
Begründung: Im Hinblick auf eine positive Ausstrahlungskraft eines „Solidaritätsprogramms“ wäre dies ein wichtiges Signal an die Partnerländer im bisherigen EFD. Zudem würde dies in einer Linie mit der Nachbarschaftspolitik stehen, die zu den Prioritäten der EU gehört. Die Ansiedlung beider Freiwilligendienste im ESK würde den Mehraufwand durch eine Doppelstruktur vermeiden und Trägern, Verbänden, Organisationen und Einrichtungen, die sich bisher im EFD engagiert haben, gewohnte Zugangswege erhalten.
]]>Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege hat sich bereits am 16.03.2017 mit einer Stellungnahme zu den Plänen und ersten Schritten eines Europäischen Solidaritätskorps (ESK) zu Wort gemeldet. Darin unterstützt die BAGFW grundsätzlich die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit und begrüßt die Stärkung der Solidarität in der EU. Allerdings ist bei der Einrichtung des ESK eine differenzierte Betrachtung der Situationen in den Mitgliedsstaaten erforderlich. Es gibt ein etabliertes Angebot von gesetzlich geregelten Freiwilligendiensten, die durch EU-Programme ergänzt werden. Als besondere Form des Bürgerschaftlichen Engagements, Bildungs- und Orientierungszeit sowie Sozialisationsinstanz sind Freiwilligendienste von Maßnahmen der Arbeits- bzw. Beschäftigungsförderung klar abzugrenzen. Die BAGFW kritisiert, dass mit dem ESK diese wichtige Abgrenzung aufgehoben wird. Weiterhin sieht sie die Gefahr, dass dabei Mittel bewährter Programme abgezogen werden. Diese vorgebrachten Bedenken haben sich durch die vorgelegte Verordnung bestätigt.
Im Einzelnen macht die BAGFW auf Folgendes aufmerksam:
In der Verordnung sollte ganz klar erkennbar zwischen den Bereichen „Praktika/Arbeitsplätze“ und „Freiwilligentätigkeit“ unterschieden und diese in unterschiedlichen Kapiteln der Verordnung behandelt werden.
Begründung: Diese Differenzierung ist nicht zuletzt wegen der damit verbundenen unterschiedlichen Qualitätsanforderungen erforderlich.
Das der Verordnung zugrunde liegende Verständnis von „Freiwilligentätigkeit“ widerspricht unserem Verständnis von „Freiwilligendienst“. Im Freiwilligendienst engagieren sich Frauen und Männer für das Allgemeinwohl. Die Freiwilligendienste werden pädagogisch mit dem Ziel begleitet, einen sozialen, ökologischen, kulturellen und interkulturellen Kompetenzerwerb zu ermöglichen und das Verantwortungsbewusstsein für das Gemeinwohl zu stärken. Die Freiwilligendienste fördern damit das lebenslange Lernen. Sie sind ganz ausdrücklich kein arbeitsmarktpolitisches Instrument und in jedem Fall arbeitsmarktneutral auszugestalten.
Im Verständnis der vorgeschlagenen Verordnung ist eine „Freiwilligentätigkeit“ eng mit den Bereichen „Arbeit“ und „Beschäftigung“ verknüpft. So soll beispielweise eine „Freiwilligentätigkeit“ zur Verbesserung der Beschäftigungsfähigkeit beitragen (vgl. Artikel 2 Abs. 6). Durch eine Differenzierung bliebe das Prinzip der Arbeitsmarktneutralität im Bereich der Freiwilligendienste weiter gewährleistet und die unterschiedlichen Zielsetzungen und Profile der beiden Stränge würden deutlicher.
Damit der kleinere Teil des Programms „Praktika/Arbeitsstellen“ zügig umgesetzt werden kann, bedarf es kompetenter Stellen, zu denen auch Arbeitgeber, Sozialpartner und zivilgesellschaftliche Organisationen bereits Kontakt und Vertrauen aufgebaut haben. Die alleinige Umsetzung durch die für JUGEND IN AKTION zuständigen Nationalagenturen ist unserer Auffassung nach nicht ausreichend. Die Kompetenz sowie Eingebundenheit in das Netzwerk der Arbeitgeber und Sozialpartner sehen wir eher bei den EURES-Agenturen und den EURES-Partnern als bei den Nationalagenturen.
Mit einer klaren Trennung wird ebenso der Gefahr begegnet, dass Arbeitgeber Freiwillige im ESK beschäftigen, statt Arbeitsplätze zu schaffen. Zudem sollte sichergestellt sein, dass mit dem ESK keine prekären Arbeitsverhältnisse subventioniert werden.
Das Kapitel „Praktika/Arbeitsplätze“ innerhalb der Verordnung braucht einen Bezug zur EU-Jugendgarantie und der Jugendbeschäftigungsinitiative, um mit Maßnahmen gegen die Jugendarbeitslosigkeit Kohärenz herzustellen.
Menschen in Freiwilligendiensten, Arbeitsstellen oder Praktika bewegen sich in sehr unterschiedlichen Kontexten. Dies sollte sich auch in den begleitenden Seminaren und Maßnahmen wiederspiegeln. Eine gemeinsame Teilnahme aller ESK-Teilnehmenden würde den unterschiedlichen Kontexten und Bedürfnissen der Teilnehmenden kaum gerecht.
Organisationen, Träger und Einrichtungen sowie Entsendeorganisationen müssen eine aktive Rolle im ESK einnehmen. Eine entsprechende gesetzliche Verankerung in der Verordnung ist unabdingbar.
Begründung: Entsende- und Aufnahmeorganisationen, Träger und Einsatzstellen haben bei der Organisation und Umsetzung von Freiwilligendiensten eine entscheidende Bedeutung. Es bedarf einer gesetzlichen Verankerung in der Verordnung, damit sie im ESK ihre entscheidende Rolle beim Zugang zu Freiwilligendiensten, in der Administration, in der Sicherung der Qualität und Weiterentwicklung solcher Dienste wahrnehmen können. Freiwillige entscheiden sich in vielen Fällen auf Grund ihrer Verbundenheit/ ihres Kontaktes zu einem spezifischen Träger für eine bestimmte Entsendeorganisation und finden hierüber ihren Weg in einen Freiwilligendienst. Zudem ist die Begleitung der Teilnehmenden von der Erstinformation über den Vermittlungsprozess, der Vor- und Nachbereitung unabdingbar, um einen qualitativ hochwertigen Freiwilligendienst anzubieten. Entsprechend sollten auch Vorbereitungs-, Begleit- und Nachbereitungsseminare in der Verantwortung zivilgesellschaftlicher Organisationen, Träger und Einrichtungen ermöglicht und über den ESK finanziert werden.
Die Inklusion benachteiligter Menschen am ESK muss sichergestellt und deren Betreuung ausreichend finanziert werden
Begründung: Insbesondere für benachteiligte Jugendliche ist eine enge Begleitung und ein „an die Hand nehmen“ nötig, damit diese Zielgruppe an der Erfahrung eines Auslandsaufenthaltes oder eines Praktikums/einer Beschäftigung partizipieren kann. Die Entsende- und Aufnahmeorganisationen spielen bei der Inklusion benachteiligter Menschen daher eine besonders wichtige Rolle. Parallel zu den Regelungen in Erasmus+ sollte daher auch im ESK der Mehraufwand für die Beteiligung benachteiligter Menschen zu 100 Prozent zusätzlich gefördert werden. Das gleiche gilt auch für die Inklusion von Menschen mit Behinderung. Die Einführung von Kurzzeit-Einsätzen ab zwei Wochen, beispielsweise in Form von workcamps, begrüßen wir, da diese eine Einstiegsmöglichkeit für benachteiligte Menschen sein können. Um die Reichweite des Solidaritätskorps voll auszuschöpfen fordern wir einen altersoffenen Zugang für alle Menschen ab 18 Jahren.
Das ESK muss auskömmlich finanziert werden. Dafür müssen neue Mittel zur Verfügung gestellt werden und es dürfen keine Mittel aus Erfolgsprogrammen wie Erasmus+ abgezogen werden.
Ein Großteil des ESK soll über Mittel aus dem Programm Erasmus+ finanziert werden. Dafür wird vorgeschlagen, dass 197,7 Millionen Euro aus Erasmus+ in den ESK fließen. Zwar wird ein Teil des Europäischen Freiwilligendienstes aus Erasmus+ in die neue Struktur des ESK integriert, es wird jedoch nicht berücksichtigt, dass die aktuellen Mittel für den Jugendprogrammteil in Erasmus+ z.B. beim Jugendaustausch bereits heute bei weitem nicht ausreichend sind. Die Aufstockung des Programmes Erasmus+ im Rahmen der Halbzeitrevision des EU-Haushaltes von 200 Millionen Euro wird quasi vollständig für den ESK wieder aus Erasmus+ herausgenommen.
Die im Verordnungsentwurf vorgesehene Absenkung der finanziellen Förderung des Programmteils JUGEND IN AKTION innerhalb von Erasmus+ auf 8,8 Prozent lehnen wir ab. Der Anteil des Jugendprogrammteils in Erasmus+ muss weiterhin mindestens 10 Prozent betragen; für die nächste Förderperiode sollte der Jugendbereich 15 Prozent des Erasmus+ Gesamtbudgets betragen.
Bei der Ausgestaltung des ESK sollten stets die Auswirkungen, die diese auf das Programm Erasmus+ haben, insbesondere auf den Programmteil Erasmus+ JUGEND IN AKTION, und auf die europäische Zusammenarbeit im Jugendbereich (EU-Jugendstrategie ab 2018), geachtet werden. Hier ist auf eine Kohärenz hinzuarbeiten und sicher zu stellen, dass der ESK langfristig nicht die bewährte Zusammenarbeit im Jugendbereich gefährdet oder sogar konterkariert.
Begründung: Durch den ESK entstehen u. a. neue Formate, die eine hohe Ähnlichkeit mit Programmteilen in Erasmus+ JUGEND IN AKTION aufweisen. Dadurch entstehende Doppelstrukturen sollten weitestgehend vermieden werden. Sie produzieren bei Organisationen, die in Erasmus+ und im ESK aktiv sind, personal- und kostenintensiven Mehraufwand und tragen nicht zur Nutzerfreundlichkeit bei. Sowohl die Förderung des ESK als auch des Programmteils Erasmus+ JUGEND IN AKTION sind bzw. werden wichtige Instrumente zur Umsetzung der EU-Jugendstrategie – insbesondere in einer neuen Strategie nach 2018. Auch der ESK sollte ein Instrument der zukünftigen EU-Jugendstrategie bleiben. Eine kohärente Entwicklung der Zusammenarbeit im Jugendbereich in der neuen Programmgeneration ab 2021 würde eine Zusammenführung aller Jugendformate im ESK oder in Erasmus+ entsprechen.
Der bisherige Europäische Freiwilligendienst (EFD) sollte nicht in zwei Teile – Programm ESK und Programm Erasmus+ JUGEND IN AKTION - zergliedert werden, sondern die in Erasmus+ und JUGEND IN AKTION definierten Partnerländer bereits ab 2018 in den ESK integriert werden.
Begründung: Im Hinblick auf eine positive Ausstrahlungskraft eines „Solidaritätsprogramms“ wäre dies ein wichtiges Signal an die Partnerländer im bisherigen EFD. Zudem würde dies in einer Linie mit der Nachbarschaftspolitik stehen, die zu den Prioritäten der EU gehört. Die Ansiedlung beider Freiwilligendienste im ESK würde den Mehraufwand durch eine Doppelstruktur vermeiden und Trägern, Verbänden, Organisationen und Einrichtungen, die sich bisher im EFD engagiert haben, gewohnte Zugangswege erhalten.
]]>Mit der Migrationsberatung für erwachsene Zuwanderer unterstützt die Freie Wohlfahrtspflege insbesondere rechtmäßig und voraussichtlich auf Dauer in Deutschland lebende bzw. in Deutschland geborene Menschen mit Migrationshintergrund und ihre Angehörigen im Sinne der Förderrichtlinien des Bundes dabei, ihre Teilhabechancen in rechtlicher, sozialer, ökonomischer, politischer und kultureller Hinsicht wahrzunehmen und die Gesellschaft gemeinsam zu gestalten. Die Freie Wohlfahrtspflege versteht sich als Akteur im Gemeinwesen und Sozialraum, in Quartieren, Städten und Regionen.
Hierfür gibt sich die Freie Wohlfahrtspflege folgende Leitsätze:
- Die Migrationsarbeit der Freien Wohlfahrtspflege ist den berufsethischen Grundsätzen der Sozialen Arbeit verpflichtet. Sie betreibt Soziale Arbeit als eine Menschenrechtsprofession. In diesem Sinne unterstützt sie staatliches Handeln, Menschenrechte zu schützen und „unter Ausschöpfung aller seiner Möglichkeiten“, wie es im Sozialpakt der Vereinten Nationen heißt, „die volle Verwirklichung der Rechte zu erreichen“.
- Der interkulturelle Austausch ist Teil des Angebots der MBE für eine demokratische, werteorientierte und weltoffene Gesellschaft. Er dient einem dialogorientierten, respektvollen Aushandlungsprozess zwischen den Menschen auf gleicher Augenhöhe. Alle Menschen werden in ihrer Vielfältigkeit wahrgenommen und geschätzt.Die MBE wirkt auf eine Teilhabe an unserer Gesellschaft auf der Basis der Wertvorstellungen des Grundgesetzes hin.
- Die Arbeit mit den Ratsuchenden wird vom Gedanken des Empowerment und der Teilhabe an der Gesellschaft geleitet. In diesem Sinne versteht sie sich als grundsätzlich solidarisch mit den Nutzenden.
- Beratung ist immer freiwillig. Sie wird für die Ratsuchenden unentgeltlich, unabhängig und ergebnisoffen angeboten. In der Beratung erhobene Daten unterliegen dem Datenschutzgesetz. Die Beratung ist für die Ratsuchenden immer transparent.
- Form und Intensität der Beratung orientieren sich an den Bedürfnissen der Ratsuchenden. Für die Beratung wird nach Möglichkeit das Instrument des Case Managements verwendet, in dessen Rahmen freiwillige Fördervereinbarungen abgeschlossen werden können.
- Die Arbeit mit den Ratsuchenden und den Regeldiensten und Behörden sind gleichrangige und aufeinander bezogene Aufgaben. Das in der Beratung angewandte Case Management hat auch den Anspruch, einzelfallübergreifend Einfluss auf die strategische und politische Ebene des Sozialraums zu nehmen.
- Ziel der Netzwerkarbeit im Sozialraum ist auch die Stärkung der Kapazitäten der Kommunen in der Einwanderungsgesellschaft und dabei besonders der Förderung der Anerkennungs- und Willkommenskultur. Voraussetzung für gelingende Teilhabe ist die Akzeptanz von Einwanderung sowie von gesellschaftlicher und kultureller Vielfalt in den Institutionen und den gesellschaftlichen Haltungen.
- Die Arbeit der MBE wird von sozialpädagogisch bzw. sozialarbeiterisch ausgebildeten Fachkräften durchgeführt.
Die Verbände sind bestrebt, das Angebot der bestehenden Beratungsstandorte bedarfsgerecht und flächendeckend auszubauen, in Ballungsräumen wie im ländlichen Raum.
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Die SPD-Bundestagsfraktion hat am 7.11.2016, die Fraktion Bündnis90/Die Grünen hat am 4.4.2017 einen Entwurf für ein Einwanderungsgesetz vorgelegt. Beide Parteien schlagen ein Punktesystem vor, das sich an das kanadische Vorbild anlehnt. Verknüpft wird die Debatte über ein Einwanderungsrecht immer auch mit Fragen nach dem Umgang mit illegaler Einreise oder der Integration.
Die Verbände der BAGFW stellen in diesem Papier grundlegende Eckpunkte auf, die im Rahmen einer neuen Einwanderungsgesetzgebung zu berücksichtigen sind.
Grundsätzliche Überlegungen
Auch Flüchtlingsschutz und humanitäre Aufnahme werden im Kontext der Schaffung eines Einwanderungsgesetzes angesprochen. Sie dürfen nach Auffassung der Verbände der BAGFW aber rechtlich und tatsächlich nicht mit Fragen der Arbeitsmigration vermischt werden. Flüchtlingsschutz ist nicht disponibel. Das Grundgesetz und internationale Verpflichtungen setzen Standards im Flüchtlingsschutz, die Deutschland in seiner Migrationspolitik binden. Es gilt, das Refoulement-Verbot zu achten und Flüchtlingen ein angemessenes Verfahren und Schutz zu garantieren. Die Aufnahme von schutzbedürftigen Menschen über Ressettlement oder im Rahmen anderer Aufnahmeprogramme ist humanitär begründet. Verbesserungen im Flüchtlingsschutz müssen im Detail durchdacht und durch Änderung der geltenden deutschen und europäischen Regelungen verwirklicht werden. Diese Aufgabe stellt sich unabhängig davon, ob die Regelungen zur Arbeitsmigration weiterentwickelt werden.
Die Verbände der BAGFW begrüßen es, wenn es zu einem Austausch darüber kommt, wie Arbeitsmigration besser gestaltet und das deutsche Ausländerrecht entsprechend angepasst werden kann. Aus ihrer Sicht ist Deutschland ein Einwanderungsland und profitiert auf vielfältige Weise von der Einwanderung. Mittels Einwanderung können nicht nur die Auswirkungen des demographischen Wandels abgeschwächt werden, sie kann auch unsere Kultur und unsere Gesellschaft bereichern. Die Einwanderungspolitik darf dabei nicht allein an den (wirtschaftlichen) Interessen Deutschlands orientiert sein. Sie muss darüber hinaus Migrant(inn)en die Möglichkeit eines selbstbestimmten Lebens und der Verwirklichung ihres individuellen Potentials geben.
Die Verbände der BAGFW bringen sich mit den folgenden Eckpunkten in die Debatte ein:
1. Das Recht kann zur Entwicklung einer Einwanderungsgesellschaft beitragen.
Ein „Einwanderungsgesetz“ sollte zum Ausdruck bringen, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Damit dies auch gelingt, ist es entscheidend, den konkreten Änderungsbedarf zu benennen und entsprechende Lösungsvorschläge zu machen. Als Einwanderungsland benötigt Deutschland nicht nur Regelungen, die Einwanderung gestalten. Es benötigt auch einen Rechtsrahmen, der ein Leben in Vielfalt fördert. Eine sachliche und verlässliche Migrationspolitik kann auch dazu beitragen, die Integrationsbereitschaft der einheimischen Bevölkerung und die Einwanderungsbereitschaft von Migrant(inn)en zu fördern.
Arbeitskräftezuwanderung muss mit Regelungen zur Förderung begleitender Maßnahmen der Integration verschränkt werden, um das Ziel, zusätzliche Arbeitskräfte zu gewinnen, tatsächlich zu erreichen. Es bedarf komplementär erfolgender Regelungen für bedarfsgerechte Investitionen in den berufsorientierten Deutschunterricht, Nachqualifikationen bei Teilanerkennung ausländischer Abschlüsse, Diversity Management bei den einstellenden Betrieben oder Stärkung der Angebote begleitender Migrationssozialarbeit usw.
2. Einwanderung liegt im Interesse Deutschlands.
Aktuelle Prognosen gehen davon aus, dass der demographische Wandel weitreichende Folgen für den Arbeitsmarkt haben wird. Wesentliche Leistungen und die Daseinssorge könnten aufgrund eines Mangels an Arbeitskräften nicht mehr sichergestellt sein, so beispielsweise in der Pflege. Darüber hinaus wird davon ausgegangen, dass sich die Alterung der Gesellschaft negativ auf die Finanzstruktur der sozialen Sicherungssysteme auswirken wird. Es ist nicht auszuschließen, dass dies zu sozialen Verwerfungen führt, die den sozialen Frieden und ein Leben in Würde aller Menschen in Deutschland gefährden.
Die positiven Effekte von Einwanderung überwiegen. Renten- und Sozialversicherung sind darauf ausgelegt, dass es eine höhere Zahl an Einzahlern als an Beziehern gibt. Einwanderung hat erfahrungsgemäß keine negativen, sondern positive Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt.[1] Einwanderung kann einen Beitrag dazu leisten, den demographischen Wandel und seine Folgen abzuschwächen. Bereits heute profitieren wir gesellschaftlich, kulturell und wirtschaftlich von Einwanderung, hauptsächlich von EU-Bürger(inne)n. Sie allein kann den Bedarf an Arbeitskräften aber nicht decken zumal absehbar ist, dass sie zurückgehen wird. Das ist auch der Tatsache geschuldet, dass die mittel- und südosteuropäischen EU-Mitgliedstaaten zunehmend vor vergleichbaren demographischen Problemen stehen wie Deutschland. Auch deshalb sollte die Einwanderung aus Nicht-EU-Staaten zunehmend in den Blick genommen werden.[2]
Arbeitsmigration kann auch im Hinblick auf entwicklungspolitische Effekte wie Rücküberweisungen und Vertiefung der internationalen Beziehungen im globalpolitischen Interesse Deutschlands liegen.
3. Einwanderung ersetzt nicht die Förderung der Erwerbschancen von Menschen in Deutschland und darf nicht auf deren Kosten gehen.
Eine verstärkte Einwanderung darf nicht dazu führen, dass Versäumnisse in der Arbeitsmarktpolitik nicht behoben werden. Nach wie vor gibt es strukturelle Benachteiligungen beispielsweise von Menschen mit Behinderung, älteren Menschen oder Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland. Die Steigerung der Erwerbsbeteiligung von benachteiligten Gruppen dient dazu, die Folgen des demographischen Wandels aufzufangen, ist aber vor allem eine Frage der Teilhabegerechtigkeit.[3] Der Staat muss Maßnahmen ergreifen, die ermöglichen, dass alle Menschen in Deutschland ihr individuelles Potential ausschöpfen können.
Dies trifft insbesondere auch auf bereits in Deutschland lebende Migrant(inn)en zu. Der Zugang zu Arbeit und Ausbildung von Asylsuchenden und Geduldeten sollte noch weiter geöffnet werden. Das gilt auch für Personen, die nicht über eine sogenannte gute Bleibeperspektive verfügen. Potentiale sollten unabhängig von Staatsangehörigkeit und Aufenthaltsstatus gefördert werden.[4] Die Verbände der BAGFW fordern seit langem eine Aufenthaltserlaubnis zum Zweck der Ausbildung für bislang Geduldete. Bis dies verwirklicht wird, fordern sie, dass wenigstens die Regelungen zur Ausbildungsduldung so nachjustiert werden, dass sie in der Praxis verstärkt Anwendung finden und nach erfolgreichem Abschluss einer Ausbildung generell ein dauerhaftes Bleiberecht in Aussicht steht.[5] Ebenfalls erwogen werden sollte, ob das im Jahr 2015 neu geschaffene Bleiberecht für gut integrierte Ausländer mit einer Duldung gesetzlich nachjustiert werden muss, um der ursprünglichen integrationspolitischen Intention des Gesetzgebers gerecht zu werden.
Aus Sicht der BAGFW sind weitere Anstrengungen zum Abbau von in der Gesellschaft verbreiteten Vorbehalten sowie für einen erleichterten Zugang Eingewanderter einschließlich Geduldeter zum Arbeitsmarkt notwendig.[6]
Es müssen Anstrengungen unternommen werden, um klarzustellen, dass die Förderung von Einwanderung und Förderung der Erwerbschancen von Menschen in Deutschland weder im Widerspruch noch in Konkurrenz zueinander stehen.
4. Die Einwanderung nach einem Punktesystem kann zusätzliche Chancen bieten.
Es besteht eine große Hürde für Einwanderungswillige, vom Ausland aus einen Arbeitsplatz in Deutschland zu finden. Ebenso stellt es einen Unsicherheitsfaktor für Arbeitgeber(innen) dar, bereits eine feste Arbeitsplatzzusage zu geben, ohne dass der/die Arbeitnehmer(in) bereits eine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis hat.
Im Zentrum der aktuellen Vorschläge steht das Punktesystem als kriteriengesteuertes Instrument, welches Einwanderung ohne konkreten Arbeitsplatz ermöglicht. Ein solches Punktesystem existiert z.B. bereits in Kanada, bei dem für Kriterien wie Sprache, Ausbildung oder Alter Punkte vergeben werden und bei Erreichen einer bestimmten Punktzahl die dauerhafte Einwanderung möglich ist.
Für die Einführung eines Punktesystems spricht, dass es ein Signal für einen Paradigmenwechsel in der arbeitsmarktbezogenen Migrationspolitik wäre. Bei der Einführung eines solchen kriteriengesteuerten Instrumentes sollten die Erkenntnisse aus Staaten, die bereits Erfahrungen mit einem solchen Instrument haben, in Betracht gezogen werden. Bei der Festlegung der Kriterien ist zu beachten, dass diese nicht-diskriminierend sind und die Einwandernden eine tatsächliche Chance auf Verwirklichung ihres Potentials erhalten. Dazu kann es notwendig sein, vor und nach der Einreise Unterstützung zur Verfügung zu stellen.
Ein Risiko des Punktesystems besteht darin, dass bei wider Erwarten nicht erfolgreicher Arbeitsplatzsuche oder bei Wegfall der Aufenthaltsvoraussetzungen, wie Verlust des Arbeitsplatzes, Konflikte in Bezug auf Unterhaltsverpflichtungen oder die Aufenthaltsbeendigung für die Betroffenen erzeugt werden können.
Ein Punktesystem kann und darf dabei die arbeitsplatzbezogene Einwanderung, wie es sie bisher gibt, nicht ersetzen. Um das Arbeitsmigrationsrecht durch dieses neue Instrument nicht noch komplizierter zu machen, sollten die Rechtsfolgen wie etwa Familiennachzug, Aufenthaltsverfestigung oder Zugang zu sozialen Leistungen in beiden Systemen so weit wie möglich gleich laufen.
5. Arbeitskräftemigration darf nicht auf Fachkräfte und Hochqualifizierte reduziert werden.
Deutschland würde auch von der Einwanderung gering- oder niedrig-qualifizierter Erwerbspersonen profitieren. Zur Bewältigung des demographischen Wandels bedarf es nicht lediglich einer Zuwanderung in Berufe mit einem Arbeitskräftemangel, sondern einer Einwanderung in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung insgesamt. Daher sollten unter Beachtung der allgemeinen arbeitsrechtlichen Standards auch Wege der legalen, gegebenenfalls nur temporären Migration, für gering- oder unqualifizierte Personen entwickelt werden.
6. Arbeitsmigration außerhalb eines Punktesystems sollte durch rechtliche Vorgaben gesteuert, nicht erschwert werden.
Die gesetzlichen Regelungen zur Einreise und zum Aufenthalt von Ausländer(inne)n, die nicht aus EU-Staaten stammen, sind derzeit im Aufenthaltsgesetz gebündelt. Das Problem ist, dass die Regelungen zur Arbeitsmigration in sich sehr ausdifferenziert und folglich sehr komplex sind. Die Einwanderungsregeln müssen daher einfacher und transparenter werden. Bei einer Neufassung sollten die folgenden Punkte berücksichtigt werden:
· Bei der Weiterentwicklung des Arbeitsmigrationsrechts ist darauf zu achten, dass es fair, ohne Diskriminierung und unter Berücksichtigung der menschenrechtlichen Verpflichtungen sowohl im Anwerbeland als auch in Deutschland ausgestaltet sein muss. Wesentliche Akteure, wie die Freie Wohlfahrtspflege, Gewerkschaften und die Zivilgesellschaft sind hinzuziehen, um die Einhaltung sicherzustellen.
· Die Einwanderung zum Zweck der Ausbildung sollte regelmäßig zugelassen werden. Denn für einen Einstieg in den deutschen Arbeitsmarkt ist das Vorhandensein von Qualifikationen erforderlich, die in der benötigten Form im Ausland vielfach nicht erwerbbar sind.
· Um jungen Erwerbssuchenden die Einwanderung zum Zweck der Ausbildung in Deutschland zu ermöglichen, sollte die Lebensunterhaltssicherungspflicht für die Zeit der Ausbildung entfallen und der Zugang zu Ausbildungsförderung eröffnet werden.
· Es muss ein Recht auf Familienzusammenführung für alle Inhaber(innen) einer Aufenthaltserlaubnis zum Zweck der Erwerbstätigkeit geben. Dies ist zum einen zum Schutz der Familie notwendig. Darüber hinaus gilt es die Fehler der „Gastarbeiteranwerbung“ nicht zu wiederholen. Ziel ist es regelmäßig, für Migrant(inn)en eine langfristige Perspektive in Deutschland zu schaffen. Auch aus diesem Aspekt bedarf es einer Einwanderungspolitik, bei der Deutschland Familien gewinnt, nicht nur allein individuelle Arbeitskräfte.
· Um Bildungsaufenthalte als Sprungbrett nutzen zu können, sollte ein Wechsel des Aufenthaltszwecks ohne vorhergehende Ausreise erlaubt werden.
· Ein mehrfacher Wechsel des Aufenthalts zwischen Herkunfts- und Zielstaat oder dritten Staaten sollte möglich sein. Durch die Vereinfachung von sog. Zirkulärer Migration kann auch einem Brain Drain entgegengewirkt werden.
· Eine weitere Vereinheitlichung und Vereinfachung von Berufsanerkennungsverfahren ist ebenso wie der Ausbau von Maßnahmen zu Anpassungs- und Nachqualifizierung wünschenswert.
· Die Möglichkeiten der befristeten Einreise zur Arbeitssuche für Drittstaatsangehörige sollten verbessert werden. Die bestehende diesbezügliche Regelung nach §18c Aufenthaltsgesetz (AufenthG) gilt nur für Hochqualifizierte und läuft faktisch weitgehend ins Leere. Damit die Regelung zukünftig greifen kann, sollte sie auch für Personen mit beruflichem Abschluss geöffnet werden.
· Den größten Bedarf sehen wir bezüglich der Einwanderung von Fachkräften mit beruflicher Ausbildung. Die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für Fachkräfte mit beruflicher Ausbildung scheitert oft daran, dass für einen großen Teil der Berufe noch immer die Vorrangregelung gilt. Diese muss auf jeden Fall modifiziert werden, da sie den tatsächlichen Bedarf nicht realistisch widerspiegelt. Die bestehenden Kriterien für die Erstellung der Liste der Mangelberufe sollten angepasst und somit die Vorrangprüfung auf einige wenige Bereiche beschränkt werden.
· Migrant(inn)en müssen vor Ausbeutung geschützt werden. Der Staat sollte effektive Kontroll- und Schutzmechanismen für Arbeitnehmer(innen) installieren, die sicherstellen, dass arbeitsrechtliche- und sozialrechtliche Verpflichtungen eingehalten werden.
[1] Zuwanderungsbedarf aus Drittstaaten in Deutschland bis 2050 Szenarien für ein konstantes Erwerbspersonenpotenzial – unter Berücksichtigung der zukünftigen inländischen Erwerbsbeteiligung und der EU-Binnenmobilität, 2015 Bertelsmann Stiftung, abrufbar unter: <link https: www.bertelsmann-stiftung.de fileadmin files bst publikationen grauepublikationen studie_ib_zuwanderungsbedarf_>www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/BSt/Publikationen/GrauePublikationen/Studie_IB_Zuwanderungsbedarf_
aus_Drittstaaten_in_Deutschland_bis_2050_2015.pdf
[2] Stellungnahme der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) zum Entwurf des Nationalen Reformprogramms (NRP) 2017, Berlin/Brüssel, 17.03.2017, S. 7; BAGFW, Altenpflege in Deutschland, Ethisch vertretbare Anwerbung von ausländischen Arbeits- und Fachkräften in der Pflege, Berlin, 16.07.2014
[3] Stellungnahme der BAGFW zum Entwurf des NRP 2017 (Fn. 1), S. 5
[4] vgl. BAGFW, Aktuelle Standortbestimmung der BAGFW zu den Herausforderungen der Aufnahme und Integration von Geflüchteten (Stand: Dezember 2015), S. 6 ff.; BAGFW, Kernforderungen für einen Koalitionsvertrag und das Regierungsprogramm zu Migration und Integration, Berlin 2013
[5] Stellungnahme der BAGFW zum Entwurf des NRP 2017 (Fn. 1), S. 3
[6] Stellungnahme der BAGFW zum Entwurf des NRP 2017 (Fn. 1), S. 3
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Für die Mobilität von EU-Bürger(inne)n spielt das Koordinierungsrecht eine erhebliche Rolle. Unter Wahrung der mitgliedstaatlichen Kompetenzen im Bereich der sozialen Sicherung soll es verhindern, dass EU- Bürger(innen) bei der Ausübung der Freizügigkeit benachteiligt werden. Es gehört zum Auftrag der Migrationsberatungsstellen der Verbände der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW)[1], zugewanderte EU-Bürger(innen) zum Bestehen und zur Durchsetzung ihrer sozialen Rechte zu beraten. Vor diesem Hintergrund geben die Verbände der BAGFW folgende Empfehlungen zum Reformvorschlag der Europäischen Kommission vom 13. Dezember 2016 zur Verordnung 883/2004.
· Zugang zum Krankenversicherungsschutz für nicht-erwerbstätige Unionsbürger erleichtern
Unionsbürger(innen), die sich nicht auf die Arbeitnehmer- oder Niederlassungsfreiheit berufen können, sind freizügigkeitsberechtigt, wenn sie über ausreichende Existenzmittel und Krankenversicherungsschutz verfügen. Der Zugang zu Krankenversicherungen im Zielland wird ihnen jedoch häufig mit dem Argument verwehrt, sie müssten für ihr Freizügigkeitsrecht eine Versicherung im Herkunftsland haben. Die Verbände der BAGFW setzen sich dafür ein, dass die Mitgliedstaaten ihr Krankenversicherungssystem für nicht erwerbstätige mobile EU-Bürger(innen) öffnen.
· Gleichbehandlungsgrundsatz und Grundrechtecharta achten
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hatte in mehreren Entscheidungen verdeutlicht, dass es zulässig sei, den Zugang zu Leistungen der sozialen Sicherheit von der Rechtmäßigkeit des Aufenthalts abhängig zu machen. Die Verbände der BAGFW begrüßen, dass im neuen Erwägungsgrund (5c) klargestellt wird, dass die Beschränkung des Gleichbehandlungsgrundsatzes für nicht erwerbstätige Personen nicht dazu führen darf, dass deren Grundrechte eingeschränkt werden. Auch bei Personen mit Freizügigkeitsrecht zur Arbeitssuche besteht das Risiko, dass sie durch einen Ausschluss von Leistungen der sozialen Sicherheit in ihren Grundrechten betroffen sein könnten. Die Verbände der BAGFW schlagen daher vor, den Erwägungsgrund (5c) um Arbeitssuchende zu ergänzen und auch im Haupttext der Verordnung einen Verweis auf die Grundrechtcharta zu schaffen.
· Grund- und Menschenrechte aus der EMRK und ESC gewährleisten
Der neu eingefügte Erwägungsgrund (48) gibt vor, dass die Verordnung auch die Rechte und Pflichten aus der der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) wahren muss. In den Erwägungsgründen fehlt jedoch ein Verweis auf die (revidierte) Europäische Sozialcharta (ESC), an die alle EU-Mitgliedstaaten gebunden sind. Die ESC enthält unter anderem das Recht auf Soziale Sicherheit (Art. 12), das Recht auf Fürsorge (Art. 13) und das Recht der Wanderarbeitnehmer und ihrer Familien auf Schutz und Beistand (Art. 19). Die Verbände der BAGFW sprechen sich dafür aus, einen Verweis auf die (revidierte) Sozialcharta als Erwägungsgrund aufzunehmen.
· Export von Pflegeleistungen verbessern
Für EU-Bürger(innen) ist es grundsätzlich möglich, Leistungen bei Pflegebedürftigkeit auch in einem anderen EU-Land als ihrem Herkunftsland zu beziehen. Um eine Vereinfachung der Koordinierungsregelungen zu erreichen, setzen sich die Verbände der BAGFW dafür ein, die Differenzierung zwischen Renten auf Grund von Erwerbstätigkeit und Renten aus anderen Gründen entfallen zu lassen. Sie setzen sich außerdem dafür ein, die Lücke bei der Exportierbarkeit von Pflegeleistungen aus einem Sachleistungsland in ein Geldleistungsland durch Ergänzung des Art. 35 b zu schließen.
· Export von Leistungen bei Arbeitslosigkeit erleichtern
Die Verbände der BAGFW empfehlen, die Regelungen der Art. 61, 64a und 65 klarer zu fassen und bei den Formulierungen deutlich zu machen, ob eine materielle Regelung oder eine oder Regelung der Zuständigkeit beabsichtigt ist. Die Verbände der BAGFW sprechen sich gegen die Drei-Monats-Frist bei der Zusammenrechnung von Versicherungszeiten (Art. 61) aus. Sie fordern beim Export von Arbeitslosenleistungen (Art. 64) eine weitere Vereinfachung, indem die Zuständigkeit beim Zielland liegen und das Meldeerfordernis im bisherigen EU-Staat entfallen soll. Bei der Gewährung von Arbeitslosenleistungen an Grenzgänger (Art. 65) sprechen sie sich gegen eine Differenzierung bei Grenzgängern mit kürzeren Versicherungszeiten als 12 Monaten aus, da diese ohne sachliche Grundlage zu Nachteilen im Vergleich zu anderen mobilen Erwerbstätigen führt.
· Familienleistungen: Interessen der Unterhaltsberechtigen schützen
Der neu eingefügte Art. 68b koordiniert Familienleistungen, die als Einkommensersatz während Zeiten der Kindererziehung dienen sollen. Derartige Leistungen werden dadurch als persönlicher Anspruch der Person behandelt, für die die einschlägigen Vorschriften des zuständigen Staates gelten, und nicht als Leistung für die Familie. Leben die Kinder in einem anderen Mitgliedstaat als der Anspruchsberechtigte und kommt dieser seinen Unterhaltsverpflichtungen nicht nach, können die Träger diese Leistungen nicht mehr direkt an die Kinder und den anderen Elternteil erbringen. Diese Folge der geplanten Änderung lehnen die Verbände der BAGFW ab. Sie setzten sich dafür ein, dass Ansprüche auf Familienleistungen, die als Einkommensersatz während Zeiten der Kindererziehung dienen sollen, auf den Elternteil übertragen werden können, der seinen Erziehungs- und Unterhaltspflichten nachkommt.
B. Änderungsvorschläge im Einzelnen
I. Zugang zum Krankenversicherungsschutz für nicht-erwerbstätige Unionsbürger erleichtern
1. Vorschrift / Situation
Unionsbürger(innen), die sich nicht auf die Arbeitnehmer- oder Niederlassungsfreiheit berufen können, sind freizügigkeitsberechtigt, wenn sie über ausreichende Existenzmittel und Krankenversicherungsschutz verfügen. Als Erwägungsgrund (5b) soll geregelt werden, dass die Mitgliedstaaten sicherstellen sollten, dass nicht-erwerbstätige mobile EU-Bürger nicht davon abgehalten werden, die Bedingung des umfassenden Krankenversicherungsschutzes im Aufnahmemitgliedstaat gemäß der Richtlinie 2004/38/EG zu erfüllen. Dazu könne es notwendig sein, den betreffenden Bürgern zu erlauben, in einem verhältnismäßigen Umfang Beiträge zu einem Krankenversicherungssystem in dem Wohnsitzstaat zu leisten.
2. Bewertung
Bislang wird nicht erwerbstätigen mobilen EU-Bürger mit Wohnsitz in Deutschland der Zugang zu den Krankenversicherungen mit dem Argument verwehrt, sie müssten für ihr Freizügigkeitsrecht eine Versicherung im Herkunftsland haben. Mit der geplanten Ergänzung der Erwägungsgründe wird deutlich, dass diese Rechtsauslegung unzutreffend ist. Die fragliche Bedingung für das Freizügigkeitsrecht kann auch durch eine Krankenversicherung im Wohnsitzland erfüllt werden.
Derzeit haben in Deutschland wirtschaftlich nicht aktive Personen keinen Zugang zur Gesetzlichen Krankenversicherung als Pflichtversicherung oder als freiwillige Versicherung. Begründet wird dies damit, dass sie als Voraussetzung für ihr Freizügigkeitsrecht über eine Krankenversicherung im Herkunftsland verfügen müssten.[2] Art. 7 Abs. 1 lit. b Richtlinie 2004/38/EG verlangt aber nicht, dass der Krankenversicherungsschutz im Herkunftsland besteht, sondern dass er im Aufnahmestaat gegeben sein muss. Die Verbände der BAGFW begrüßen diese Klarstellung. Allerdings sieht der Erwägungsgrund keine verbindliche Vorgabe an die Mitgliedstaaten vor, ihr Krankenversicherungssystem für nicht erwerbstätige mobile EU-Bürger(innen) zu öffnen. Es ist auch keine entsprechende Regelung in der Verordnung 883/2004 vorgesehen.
3. Lösung / Änderungsvorschlag
Die Verbände der BAGFW schlagen vor, den Erwägungsgrund (5b) wie folgt zu ändern:
„Die Mitgliedstaaten <s>sollten sicherstellen</s> stellen sicher, dass ….“
Die Verbände der BAGFW schlagen weiter vor, in Artikel 12 (Sonderregelung) der Verordnung einen neuen Abs. 3 aufzunehmen:
„Eine nicht erwerbstätige Person, für deren Krankenversicherung ein anderer als der Wohnsitzmitgliedstaat zuständig ist, darf nicht am Zugang zum Krankenversicherungssystem des Wohnsitzstaats gehindert werden.“
II. Gleichbehandlungsgrundsatz und Grundrechtecharta achten
1. Vorschrift / Situation
In Artikel 4 wird als Abs. 2 eingefügt, dass der Zugang zu Leistungen der sozialen Sicherheit bei nicht-erwerbstätigen Person von der Rechtmäßigkeit des Aufenthalts gemäß der Richtlinie 2004/38/EG abhängig gemacht werden darf.
2. Bewertung
Mit der Neuregelung wird die einschlägige Rechtsprechung des EuGH in die Verordnung integriert. Der EuGH hatte in mehreren Entscheidungen verdeutlicht, dass es zulässig sei den Zugang zu Leistungen der sozialen Sicherheit von der Rechtmäßigkeit des Aufenthalts im Sinne der Richtlinie 2004/38/EG abhängig zu machen. Dies wird entsprechend auch im Erwägungsgrund (5a) formuliert.
Die Verbände der BAGFW begrüßen die Klarstellung, dass – wie im Erwägungsgrund (5a) deutlich wird – zwischen EU-Bürger(innen) mit Freizügigkeitsrecht zur Arbeitssuche und nicht-erwerbstätigen EU-Bürger(innen)[3] zu unterscheiden ist. Der neue Art. 4 Abs. 2 bezieht sich mithin nur auf letztere.
Die Verbände der BAGFW begrüßen, dass in Erwägungsrund (5c) klargestellt wird, dass die Beschränkung des Gleichbehandlungsgrundsatzes für nicht erwerbstätige Personen nicht dazu führen darf, dass deren Grundrechte eingeschränkt werden.
In den Erwägungsgründen und der Änderung des Art. 4 der Verordnung 883/2004 wird nicht darauf Bezug genommen, dass nach den Entscheidungen Alimanovic (C-67/14) und Dano (C-333/13) auch die Ausnahmen vom Gleichbehandlungsgrundsatz nach Art. 24 Abs. 2 Richtlinie 2004/38/EG das Gleichbehandlungsrecht der Verordnung 883/2004 beschränken. Die Erläuterung Nr. 14 einzelner Bestimmungen des Vorschlags macht deutlich, dass mobile Arbeitssuchende außer beim Zugang zu Sozialhilfe von der Beschränkung des Gleichbehandlungsgrundsatzes nicht betroffen sind.[4] Wohl deshalb wird in Erwägungsrund (5c) nicht darauf verwiesen, dass auch für Personen mit Freizügigkeitsrecht zur Arbeitssuche die Grundrechte nicht eingeschränkt werden dürfen. Tatsächlich besteht aber bei beiden Gruppen gleichermaßen das Risiko, dass sie durch einen Ausschluss von Leistungen der sozialen Sicherheit in ihren Grundrechten betroffen sein könnten.
Art. 34 (soziale Sicherheit) und Art. 35 (Gesundheitsschutz) der Grundrechtecharta, auf die auch der neu eingefügte Erwägungsgrund (47) verweist, stehen zwar unter der Maßgabe der jeweiligen nationalen Vorschriften und enthalten folglich keine Garantie, diese Leistungen ohne weiteres in jedem Mitgliedstaat zu erhalten. In Kombination mit dem Schutz der Menschenwürde nach Art. 1 Grundrechtecharta kann es im Einzelfall aber unabhängig vom Gleichbehandlungsgebot nötig sein, entsprechende Leistungen zu gewähren.
3. Lösung / Änderungsvorschlag
Die Verbände der BAGFW schlagen vor, Erwägungsrund (5c) wie folgt zu ergänzen:
(5c) Ungeachtet der Beschränkung des Rechts auf Gleichbehandlung für nicht erwerbstätige Personen und Personen mit Freizügigkeitsrecht zur Arbeitssuche, die sich aus der Richtlinie 2004/38/EG oder aus dem einschlägigen Unionsrecht ergibt, sollte keine Bestimmung in dieser Verordnung die in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union anerkannten Grundrechte einschränken, insbesondere das Recht auf Achtung der Würde des Menschen (Artikel 1), das Recht auf Leben (Artikel 2), das Recht auf Soziale Sicherheit und soziale Unterstützung (Art. 34) und das Recht auf Gesundheitsschutz (Artikel 35).
Die Verbände der BAGFW schlagen vor, es nicht bei einem Verweis auf die Grundrechtcharta in den Erwägungsgründen zu belassen. Es sollte vielmehr folgender Art. 4 Abs. 3 geschaffen werden:
„Ungeachtet der Beschränkung des Rechts auf Gleichbehandlung, die sich aus Art. 4 Abs. 2 oder aus einschlägigem Unionsrecht ergeben, soll keine Bestimmung in dieser Verordnung die in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union anerkannten Grundrechte einschränken.“
III. Grund- und Menschenrechte aus EMRK und ESC gewährleisten
1. Vorschrift / Situation
Während der neu eingefügte Erwägungsgrund (47) den Einklang der Verordnung 883/2004 mit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sicherstellen soll, verfügt der ebenfalls neu eingefügte Erwägungsgrund (48), dass die Verordnung auch die Rechte und Pflichten aus der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) wahren muss. Dazu wird insbesondere auf das Recht auf Leben (Artikel 2 EMRK), das Recht auf Schutz vor unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung (Artikel 3 EMRK), das Recht auf Achtung des Eigentums (Artikel 1 des Zusatzprotokolls der EMRK) und das Verbot der Diskriminierung (Artikel 14 EMRK) verwiesen.
2. Bewertung
Der Verweis auf die EMRK ist wichtig, da zum einen die Mitgliedstaaten selbst direkt daran gebunden sind und es zum anderen auch politisch und rechtlich gewollt ist, dass die Europäische Union der EMRK beitritt (Art. 6 Abs. 2 EU-Vertrag). Damit muss sich das EU-Recht mittelfristig selbst und seine mitgliedstaatliche Umsetzung bereits jetzt an der EMRK messen lassen. Dies bedeutet, dass die in der Verordnung 883/2004 (als Koordinierungsregelungen) vorgesehenen Ausschlüsse von z.B. Sozialhilfeleistungen keinen Rechtfertigungsgrund für Staaten darstellen können, Menschenrechte aus der EMRK zu verletzen.
In den Erwägungsgründen fehlt jedoch ein Verweis auf die (revidierte) Europäische Sozialcharta (ESC). Alle EU-Mitgliedstaaten sind rechtlich entweder an die Europäische Sozialcharta von 1961 oder an ihre revidierte Version von 1996 gebunden. Sie enthalten unter anderem das Recht auf Soziale Sicherheit (Art. 12), das Recht auf Fürsorge (Art. 13), das Recht der Wanderarbeitnehmer und ihrer Familien auf Schutz und Beistand (Art. 19) und in der revidierten Version auch das Recht auf Schutz gegen Armut und soziale Ausgrenzung (Art. 30). Ein Verweis auf die (revidierte) Sozialcharta würde klarstellen, dass die Verordnung 883/2004 die Mitgliedstaaten nicht von ihren Verpflichtungen befreit, diese Rechte zu achten und die Ausübung zu gewährleisten.
3. Lösung / Änderungsvorschlag
Die Verbände der BAGFW setzen sich dafür ein, dass Erwägungsgrund (48) erhalten bleibt. Zudem schlagen sie vor, einen neuen Erwägungsgrund (49) einzufügen:
„(49) Nichts in dieser Verordnung beschränkt die in der Europäischen Sozialcharta und in der revidierten Europäischen Sozialcharta anerkannten eigenständigen Rechte und Pflichten, insbesondere das Recht auf Soziale Sicherheit (Art. 12), das Recht auf Fürsorge (Art. 13), das Recht der Wanderarbeitnehmer und ihrer Familien auf Schutz und Beistand (Art. 19) und das Recht auf Schutz gegen Armut und soziale Ausgrenzung (Art. 30 der revidierten Europäischen Sozialcharta); die Verordnung muss unter Wahrung dieser Rechte und Pflichten umgesetzt werden.“
IV. Export von Pflegeleistungen verbessern
1. Vorschrift / Situation
Für EU-Bürger(innen) ist es grundsätzlich möglich, Leistungen bei Pflegebedürftigkeit auch in einem anderen EU-Land als ihrem Herkunftsland zu beziehen. Bislang gibt es jedoch kein umfassendes und kohärent kodifiziertes Koordinierungsrecht für diese Leistungen. Der EuGH hat daher in einer Reihe von Urteilen entschieden, dass Leistungen bei Pflegebedürftigkeit entsprechend den Leistungen bei Krankheiten koordiniert werden sollten. Als problematisch hat sich dabei in der Vergangenheit erwiesen, dass es eine große Bandbreite von Pflegeleistungen in den Mitgliedstaaten gibt und diese sehr unterschiedliche Anknüpfungspunkte haben können, z.B. Pflegebedürftigkeit, Erwerbsunfähigkeit oder Alter. Mangels einer gemeinsames Definition bzw. eines gemeinsamen Kriterienkatalogs für die Bestimmung des Begriffs Pflegeleistung wird das Koordinierungsrecht in diesem Bereich als unklar, bürokratisch und instabil wahrgenommen[5] und es kommt sowohl zu Nichtinanspruchnahme von Leistungen als auch zu Doppelzahlungen.[6]
Die Überarbeitung der Verordnung 883/2004 in diesem Bereich hat das Ziel, ein kohärentes System für die Koordinierung der Leistungen bei Pflegebedürftigkeit zu schaffen, indem ein eigenes Kapitel betreffend ihre Koordinierung in die Verordnung 883/2004 aufgenommen, eine Begriffsbestimmung eingeführt und eine Liste dieser Leistungen erstellt wird. Insgesamt haben schätzungsweise 80.000 mobile EU-Bürger(innen) Anspruch auf Leistungen bei Pflegebedürftigkeit, wovon ca. 45.000 diese als Sachleistungen und ca. 35.000 diese als Geldleistungen beziehen.[7]
2. Bewertung
Es wird ein eigenes Kapitel 1a „Leistungen bei Pflegebedürftigkeit“ in die Verordnung eingefügt. Das ist für die Abgrenzung zu Leistungen bei Krankheit grundsätzlich zu begrüßen.
Der Art. 35a Abs. 1 (neu) verweist auf die entsprechende Anwendung der Regelungen bei Krankheit nach den Art. 17 bis 32, soweit Art. 35a bis 35c (neu) nichts abweichendes regeln. Das bedeutet, dass bei entsprechender Anwendung von Art. 31 VO 883/2004 die Koordinierungsregelungen zwischen Rentner(inne)n, die Rentenleistungen aus Erwerbstätigkeit beziehen, und ihren Angehörigen einerseits und anderen Bezieher(innen) von Pflegeleistungen differenzieren. Für erstere gelten die Regelungen nach Art. 17 bis 21, für sogenannte „Nur-Rentner“ hingegen Art. 23 bis 30. Gemäß Art. 35 a Abs. 3 (neu) können Mitgliedstaaten davon abweichen, wenn die betroffenen Leistungen in Anhang 5 aufgeführt werden. Dass die Koordinierungsregeln für Pflegeleistungen künftig derselben Logik folgen sollen wie im Bereich von Krankenleistungen, führt im Grundsatz dazu, dass die Koordinierungssysteme angeglichen werden. Die oft schwierige Differenzierung zwischen Renten auf Grund von Erwerbstätigkeit und Renten aus anderen Gründen bleibt aber erhalten.
Art. 35b (neu) regelt für zusammentreffende Leistungen, dass der zuständige Mitgliedstaat die Geldleistungen bei Pflegebedürftigkeit erbringt und die vom Wohnsitzstaat ggf. bereitgestellten Sachleistungen erstattet.
Bislang besteht ein Problem, wenn im zuständigen Land nach den für dieses Land geltenden Rechtsvorschriften keine Geld-, sondern ausschließlich Sachleistungen vorgesehen sind, im Wohnsitzstaat aber keine Sachleistungen erbracht werden. Dem Pflegebedürftigen stehen dann nicht die notwendigen Mittel zur Verfügung, um die notwendigen Pflegeleistungen zu finanzieren. Diese Lücke hatten die Verbände der BAGFW bereits im Rahmen der Konsultation zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit in der EU im Jahr 2015 angesprochen. Sie wird mit den geplanten Änderungen nicht geschlossen.
Artikel 35c zur Erstattung zwischen Trägern legt fest, dass der Krankenversicherungsträger nachrangig tätig wird, wenn in Staaten Rechtsvorschriften über Sachleistungen bei Pflegebedürftigkeit fehlen. Diese Regelung erscheint sachgerecht.
3. Lösung / Änderungsvorschlag
Um die gewünschte Vereinfachung der Koordinierungsregelungen zu erreichen, sollte die Differenzierung zwischen Renten auf Grund von Erwerbstätigkeit und Renten aus anderen Gründen entfallen.
Art. 35b sollte dahingehend ergänzt werden, dass Geldleistungen bei Pflegebedürftigkeit durch den Träger im Wohnsitzstaat nach den für diesen Mitgliedstaat geltenden Regeln erbracht werden, wenn nach den jeweils geltenden Regeln im Wohnsitzstaat ausschließlich Geldleistungen und im zuständigen Mitgliedstaat ausschließlich Sachleistungen vorgesehen sind. Art. 35c Abs. 2 (neu) zur Erstattung zwischen Trägern gilt entsprechend.
V. Export von Leistungen bei Arbeitslosigkeit erleichtern
1. Vorschrift / Situation
Art. 61 regelt die Zusammenrechnung von Versicherungszeiten, Beschäftigungszeiten oder Zeiten einer selbstständigen Erwerbstätigkeit. Die Mitgliedstaaten können künftig verfügen, dass eine Person, bevor sie arbeitslos wurde, mindestens drei Monate in ihrem Hoheitsgebiet gearbeitet haben muss, damit sie sich zur Beantragung von Arbeitslosenleistungen auf davor in einem anderen Mitgliedstaat zurückgelegte Erwerbszeiten berufen kann.
Art. 64 bezieht sich auf den Export von Arbeitslosenleistungen. Die Mindestdauer für den Export von Leistungen bei Arbeitslosigkeit soll von drei auf sechs Monaten verlängert werden, damit Arbeitslose, die sich zur Arbeitsuche in einen anderen Mitgliedstaat begeben, unter besseren Bedingungen nach einer Arbeit suchen können und bessere Chancen auf eine Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt haben.
In Art. 65 wird die Gewährung von Arbeitslosenleistungen an Grenzgänger(innen) geregelt Für Grenzgänger(innen) – Personen, die in einem Land leben, in einem anderen Land arbeiten und mindestens einmal pro Woche nach Hause fahren – wird der Mitgliedstaat, in dem sie in den letzten 12 Monaten gearbeitet haben, für die Erbringung der Arbeitslosenleistungen zuständig. Dies spiegelt den Grundsatz wider, dass der Mitgliedstaat, der die Beiträge erhalten hat, auch die Leistungen zahlen soll. Mangels anderer Regelungen gilt im Grundsatz die Kumulierungsregelung nach Art. 6. Grenzgänger(innen), die nicht mindestens eine 12-monatige Versicherungszeit zurückgelegt haben, erhalten nach dem neuen Art. 65 Abs. 2 Leistungen nach den Regeln des Wohnsitzmitgliedstaates und müssen dessen Arbeitsverwaltung zur Verfügung stehen. Sie können sich zusätzlich in dem anderen Mitgliedstaat der Arbeitsverwaltung zur Verfügung stellen (Art. 65 Abs. 4 neu). Sieht in solchen Fällen der Wohnsitzstaat Leistungen nur in Anknüpfung an den Wohnsitz vor, kann der Arbeitslose sich dafür entscheiden, sich nur der Arbeitsverwaltung des Staates der letzten Erwerbstätigkeit zur Verfügung zu stellen und Leistungen nach dessen Rechtsvorschriften zu erhalten.
2. Bewertung
Nach seiner Überschrift regelt Art. 61 die Zusammenrechnung von Versicherungszeiten und Zeiten der Erwerbstätigkeit. Nach dem Wortlaut des neuen Art. 61 Abs. 1 und 2 werden jedoch lediglich die Zuständigkeiten geregelt. Für die Zusammenrechnung an sich gilt dagegen die allgemeine Regelung nach Art. 6. Die Verbände der BAGFW empfehlen, klare Formulierungen zu wählen, so dass eindeutig erkennbar ist, ob eine sachliche Regelung (Zusammenrechnung) oder eine formelle (Zuständigkeit) getroffen wird.
Für Personen, die mindestens drei Monate auf dem Hoheitsgebiet des zuständigen Mitgliedstaates gearbeitet haben, ist dieser (neue) Staat zuständig. Diese neu eingeführte Frist bedeutet einen Nachteil für die Mobilität von Erwerbstätigen. Sie werden bei Verlust des Arbeitsplatzes nach weniger als drei Monaten auf das Land der vorhergehenden Erwerbstätigkeit verwiesen (Art. 64a neu). Das ist wegen der neu aufgenommenen Tätigkeit im anderen EU-Staat und dem damit einhergehenden Umzug problematisch. Die Zuständigkeit des alten Trägers führt auch dazu, dass Arbeitsförderung unterbleibt. Diese kann sinnvoll nur im neuen Mitgliedstaat erfolgen. Unklar ist zudem, ob diese Personengruppe Versicherungszeiten etc. nach Art. 6 zusammenrechnen kann oder ob sie davon ausgeschlossen ist. Art. 61 Abs. 2 neu spricht insofern von Ansprüchen „unter den Bedingungen und Grenzen des Art. 64a“ – dort werden aber weder Bedingungen noch Grenzen, sondern nur die Zuständigkeit geregelt. Das ermöglicht eine dahingehende Deutung, dass es für diesen Personenkreis keine Kumulierungsregelung gibt. Dieses Ergebnis kann nach Auffassung der Verbände der BAGFW nicht gewollt sein. Es ist keine Begründung dafür ersichtlich, dass die letzten Versicherungszeiten und Zeiten einer Erwerbstätigkeit bei diesem Personenkreis gar nicht berücksichtigt bzw. zusammengerechnet werden sollen. Die Verbände der BAGFW fordern zumindest eine Klarstellung, dass auch für diesen Personenkreis Art. 6 gilt, die Zuständigkeit sich jedoch nach Art. 64a richtet.
Die Verlängerung der Exportmöglichkeiten nach Art. 64 (Export von Arbeitslosenleistungen) ist von den Verbänden der BAGFW gefordert worden und positiv zu bewerten.
Weitergehende Vorschläge zur Vereinfachung des Exports von Arbeitslosenleistungen wurden leider nicht aufgegriffen. Art. 64 Abs. 1 lit. a und lit. b der VO 883/2004 bleiben unverändert. Im Rahmen der Konsultation zur Verordnung im Jahr 2015 hatten die Verbände der BAGFW darauf aufmerksam gemacht, dass diese Regelungen an der Lebenswirklichkeit der Betroffenen vorbeigehen (vgl. LSG Bayern, Urt. v. 27.01.2015 – L 10 AL 188/14). Nach Auffassung der Verbände der BAGFW muss der Export von Leistungen vereinfacht werden. Die Zuständigkeit sollte beim Zielland liegen, weil die Menschen dort nach Arbeit suchen und sinnvollerweise nur vor Ort dabei unterstützt werden können. Die Pflicht, sich im Land, in dem der Anspruch besteht, abzumelden, sollte entfallen bzw. sich durch die Meldung im Zielland erledigen. Nur so kann die Freizügigkeit gesichert und die Arbeitsuche im anderen EU-Staat ohne bürokratische Hürden erfolgen. Die Höhe der exportierten Arbeitslosenleistungen ist unabhängig von der Frage der Zuständigkeit für die Arbeitsförderung und richtet sich unverändert nach den Regeln des bisherigen Staats.
Es ist nicht ersichtlich, warum in Art. 65 (Gewährung von Arbeitslosenleistungen an Grenzgänger) bei Grenzgänger(innen) mit kürzeren Versicherungszeiten als 12 Monaten eine andere Regelung als bei längerfristigen Grenzgänger(inne)n getroffen wird. Um die komplexen Regelungen bei Grenzgänger(inne)n zu vereinfachen, sollte die Differenzierung unterbleiben.
Auch im Hinblick auf die Zusammenrechnung ergeben sich Zweifel, welche Regelungen für Grenzgänger mit weniger als 12 Monaten Beschäftigung gelten. Die Ausnahme von Art. 65 Abs. 2, die in Art. 61 Abs. 1 neu geregelt ist, ist missverständlich: Soll Art. 6 für die Personengruppe des Art. 65 Abs. 2 nicht gelten oder soll die Drei-Monats-Frist nicht gelten? Ausweislich Nr. 25 der Erläuterungen zu einzelnen Bestimmungen gilt Art. 6 hier tatsächlich nicht oder zumindest nicht bei Grenzgänger(innen), die ein Wahlrecht haben und sich gegen den Wohnsitzstaat entscheiden. Art. 65 Abs. 2 in Kombination mit Art. 61 Abs. 1 führt also je nach Lesart zu einer nicht begründbaren Schlechterstellung bei der Zusammenrechnung von Versicherungszeiten für Grenzgänger(innen), die nicht mindestens 12 Monate in einem Mitgliedstaat erwerbstätig waren. Hier bedarf es einer Klarstellung, dass auch für diese Gruppe die Kumulierungsregeln gelten. Ziel der Koordinierungsregeln ist, dass mobile Erwerbstätige keinen Nachteil durch die unterschiedlichen Regelungen in den Mitgliedstaaten erleiden. Dies muss auch für Grenzgänger gelten, für die nach Auffassung der Verbände der BAGFW keine Sonderregelungen für die Kumulierung notwendig sind.
3. Lösung / Änderungsvorschlag
Grundsätzlich sind die Regelungen der Art. 61, 64a und 65 neu kaum verständlich und ihr Regelungsgehalt ist deshalb unklar bzw. missverständlich. Die Verbände der BAGFW empfehlen insofern zumindest eine Überarbeitung der Formulierungen, die auch eine klare Trennung von sachlichen und Zuständigkeitsregelungen berücksichtigt.
In Bezug auf Art. 61 sprechen sich die Verbände der BAGFW gegen die Drei-Monats-Frist aus. Wie bisher sollte eine Zusammenrechnung unabhängig von Vorbeschäftigungszeiten möglich sein. Auch für den Fall, dass die Frist lediglich eine Zuständigkeitsregelung bedeutet, sehen die Verbände der BAGFW insofern einen Nachteil, als eine Arbeitsmarktförderung im bisherigen Staat nicht zielführend ist.
In Bezug auf Art. 64 (Export von Arbeitslosenleistungen) wiederholen die Verbände der BAGFW ihr Anliegen aus der Konsultation zur Verordnung 883/2004 im Jahr 2015 und fordern eine weitere Vereinfachung des Exports von Arbeitslosenleistungen, indem die Zuständigkeit beim Zielland liegt und das Meldeerfordernis im bisherigen EU-Staat entfällt.
In Art. 65 (Gewährung von Arbeitslosenleistungen an Grenzgänger) entbehrt eine Differenzierung bei Grenzgänger(inne)n mit kürzeren Versicherungszeiten als 12 Monaten einer sachlichen Grundlage und muss gestrichen werden. In Bezug auf die Kumulierung von Versicherungszeiten müssen für Grenzgänger(innen) die gleichen Regelungen gelten wie für andere mobile Erwerbstätige.
VI. Familienleistungen: Interessen der Unterhaltsberechtigen schützen
1. Vorschrift / Situation
Es wird ein neuer Art. 68b zur Koordinierung von Familienleistungen eingefügt, die als Einkommensersatz während Zeiten der Kindererziehung dienen sollen. Derartige Leistungen werden nicht als Leistung für die Familie, sondern als persönlicher Anspruch der Person behandelt, für die die einschlägigen Vorschriften des zuständigen Staates gelten. Die Anwendung von Art. 68a VO 883/2004 wird ausgeschlossen.
Mitgliedstaaten können bei einem Zusammentreffen von Ansprüchen beschließen, ob sie auf diese Leistungen die Antikumulierungsregeln nach Art. 68 Abs. 2 anwenden, oder ob sie – auch dann, wenn sie nur nachrangig zuständig sind – einem Leistungsberechtigten diese Familienleistung in voller Höhe gewähren.
2. Bewertung
Es sollen die Vorschriften zu Leistungen aktualisiert und entbürokratisiert werden, die Eltern einen Ausgleich für Einkommenseinbußen während der Zeit erhalten, in der sie ein Kind betreuen.
Der nachrangig zuständige Mitgliedstaat kann, sofern er die entsprechende Ausnahmeregelung in den Anhang der Verordnung hat aufnehmen lassen, die entsprechende Familienleistung in voller Höhe erbringen. Es muss in solchen Fällen also nicht mehr zunächst der Anspruch im vorrangig zuständigen Mitgliedstaat festgestellt und gegebenenfalls durch einen Unterschiedsbetrag ausgeglichen werden. Dadurch wird die Koordinierung dieser Leistungen vereinfacht.
In der erläuternden Pressemeldung zum Änderungsentwurf heißt es, dass durch das Wahlrecht die Mitgliedstaaten die Möglichkeit erhalten, diese Leistung jeweils in voller Höhe an beide erwerbstätigen Elternteile zu zahlen, indem sie von den Kumulierungsregelungen abweichen und so eine faire Aufteilung der elterlichen Pflichten fördern könnten.[8] Voraussetzung dafür wäre aber, dass die Elternteile überhaupt nach widerstreitenden Vorschriften einen Anspruch jeweils in einem anderen EU-Staat haben und sich die jeweiligen Wohnsitzstaaten gegen die Antikumulierungsregeln entschieden haben. In der Praxis dürfte sich eine positive Wirkung dieser Änderung auf nur wenige Fallzahlen beschränken. Denn eine Förderung der Inanspruchnahme gemeinsamer Elternzeit ließe sich durch nationale Maßnahmen des Wohnsitzstaates vermutlich schneller erreichen.
Anders als bisher werden diese Leistungen nicht mehr als Leistungen für die gesamte Familie behandelt. Unter diesem Gesichtspunkt ist es folgerichtig, sie aus dem Anwendungsbereich von Art. 68a VO 883/2004 herauszunehmen. Leben die Kinder in einem anderen Mitgliedstaat als der Anspruchsberechtigte und nutzt dieser die Leistungen nicht zum Unterhalt der Familienangehörigen, können die Träger diese Leistungen nicht mehr direkt an die Kinder und den anderen Elternteil erbringen. Diese Folge der geplanten Änderung lehnen die Verbände der BAGFW ab, da dadurch das individuelle Recht der Anspruchsinhaber(innen) über die Interessen der Kinder gestellt wird. Eltern sind ihren Kindern gegenüber unterhaltspflichtig. Leistungen, die als Einkommensersatz während Zeiten der Kindererziehung dienen, sollten daher in den Fällen, in denen der Anspruchsberechtigte sich seinen elterlichen Pflichten entzieht, dazu herangezogen werden können, den Unterhalt zu sichern.
3. Lösung / Änderungsvorschlag
Art. 68a VO 883/2004 bleibt in Fällen anwendbar, in denen der individuell Leistungsberechtigte von Familienleistungen, die als Einkommensersatz während Zeiten der Kindererziehung dienen sollen, seinen Unterhaltspflichten nicht nachkommt. Der Anspruch wird dann auf den Elternteil übertragen, der seinen Erziehungs- und Unterhaltspflichten nachkommt.
[1] Arbeiterwohlfahrt Bundesverband, Deutscher Caritasverband, Der Paritätische Gesamtverband, Deutsches Rotes Kreuz, Diakonie Deutschland, Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland.
[2] Vgl. Rundschreiben 2014/279 des GKV-Spitzenverbandes zum Krankenversicherungsschutz von EU-Bürgern in Deutschland
[3] in Deutschland wird für diese Gruppe auch der Begriff wirtschaftlich nicht aktive EU-Bürger(innen) benützt.
[4] CO=M(2016) 815 final, S. 12
[5] Folgenabschätzung der Europäischen Kommission zur partiellen Reform der VO 883/2004 (SWD/2016/0460 final), Kapitel 4.2., S. 22.
[6] Ebenda, S. 22f.
[7] Ebenda, Kapitel 4.3., S. 24.
[8] europa.eu/rapid/press-release_MEMO-16-4302_de.htm
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Für die Mobilität von EU-Bürger(inne)n spielt das Koordinierungsrecht eine erhebliche Rolle. Unter Wahrung der mitgliedstaatlichen Kompetenzen im Bereich der sozialen Sicherung soll es verhindern, dass EU- Bürger(innen) bei der Ausübung der Freizügigkeit benachteiligt werden. Es gehört zum Auftrag der Migrationsberatungsstellen der Verbände der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW)[1], zugewanderte EU-Bürger(innen) zum Bestehen und zur Durchsetzung ihrer sozialen Rechte zu beraten. Vor diesem Hintergrund geben die Verbände der BAGFW folgende Empfehlungen zum Reformvorschlag der Europäischen Kommission vom 13. Dezember 2016 zur Verordnung 883/2004.
· Zugang zum Krankenversicherungsschutz für nicht-erwerbstätige Unionsbürger erleichtern
Unionsbürger(innen), die sich nicht auf die Arbeitnehmer- oder Niederlassungsfreiheit berufen können, sind freizügigkeitsberechtigt, wenn sie über ausreichende Existenzmittel und Krankenversicherungsschutz verfügen. Der Zugang zu Krankenversicherungen im Zielland wird ihnen jedoch häufig mit dem Argument verwehrt, sie müssten für ihr Freizügigkeitsrecht eine Versicherung im Herkunftsland haben. Die Verbände der BAGFW setzen sich dafür ein, dass die Mitgliedstaaten ihr Krankenversicherungssystem für nicht erwerbstätige mobile EU-Bürger(innen) öffnen.
· Gleichbehandlungsgrundsatz und Grundrechtecharta achten
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hatte in mehreren Entscheidungen verdeutlicht, dass es zulässig sei, den Zugang zu Leistungen der sozialen Sicherheit von der Rechtmäßigkeit des Aufenthalts abhängig zu machen. Die Verbände der BAGFW begrüßen, dass im neuen Erwägungsgrund (5c) klargestellt wird, dass die Beschränkung des Gleichbehandlungsgrundsatzes für nicht erwerbstätige Personen nicht dazu führen darf, dass deren Grundrechte eingeschränkt werden. Auch bei Personen mit Freizügigkeitsrecht zur Arbeitssuche besteht das Risiko, dass sie durch einen Ausschluss von Leistungen der sozialen Sicherheit in ihren Grundrechten betroffen sein könnten. Die Verbände der BAGFW schlagen daher vor, den Erwägungsgrund (5c) um Arbeitssuchende zu ergänzen und auch im Haupttext der Verordnung einen Verweis auf die Grundrechtcharta zu schaffen.
· Grund- und Menschenrechte aus der EMRK und ESC gewährleisten
Der neu eingefügte Erwägungsgrund (48) gibt vor, dass die Verordnung auch die Rechte und Pflichten aus der der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) wahren muss. In den Erwägungsgründen fehlt jedoch ein Verweis auf die (revidierte) Europäische Sozialcharta (ESC), an die alle EU-Mitgliedstaaten gebunden sind. Die ESC enthält unter anderem das Recht auf Soziale Sicherheit (Art. 12), das Recht auf Fürsorge (Art. 13) und das Recht der Wanderarbeitnehmer und ihrer Familien auf Schutz und Beistand (Art. 19). Die Verbände der BAGFW sprechen sich dafür aus, einen Verweis auf die (revidierte) Sozialcharta als Erwägungsgrund aufzunehmen.
· Export von Pflegeleistungen verbessern
Für EU-Bürger(innen) ist es grundsätzlich möglich, Leistungen bei Pflegebedürftigkeit auch in einem anderen EU-Land als ihrem Herkunftsland zu beziehen. Um eine Vereinfachung der Koordinierungsregelungen zu erreichen, setzen sich die Verbände der BAGFW dafür ein, die Differenzierung zwischen Renten auf Grund von Erwerbstätigkeit und Renten aus anderen Gründen entfallen zu lassen. Sie setzen sich außerdem dafür ein, die Lücke bei der Exportierbarkeit von Pflegeleistungen aus einem Sachleistungsland in ein Geldleistungsland durch Ergänzung des Art. 35 b zu schließen.
· Export von Leistungen bei Arbeitslosigkeit erleichtern
Die Verbände der BAGFW empfehlen, die Regelungen der Art. 61, 64a und 65 klarer zu fassen und bei den Formulierungen deutlich zu machen, ob eine materielle Regelung oder eine oder Regelung der Zuständigkeit beabsichtigt ist. Die Verbände der BAGFW sprechen sich gegen die Drei-Monats-Frist bei der Zusammenrechnung von Versicherungszeiten (Art. 61) aus. Sie fordern beim Export von Arbeitslosenleistungen (Art. 64) eine weitere Vereinfachung, indem die Zuständigkeit beim Zielland liegen und das Meldeerfordernis im bisherigen EU-Staat entfallen soll. Bei der Gewährung von Arbeitslosenleistungen an Grenzgänger (Art. 65) sprechen sie sich gegen eine Differenzierung bei Grenzgängern mit kürzeren Versicherungszeiten als 12 Monaten aus, da diese ohne sachliche Grundlage zu Nachteilen im Vergleich zu anderen mobilen Erwerbstätigen führt.
· Familienleistungen: Interessen der Unterhaltsberechtigen schützen
Der neu eingefügte Art. 68b koordiniert Familienleistungen, die als Einkommensersatz während Zeiten der Kindererziehung dienen sollen. Derartige Leistungen werden dadurch als persönlicher Anspruch der Person behandelt, für die die einschlägigen Vorschriften des zuständigen Staates gelten, und nicht als Leistung für die Familie. Leben die Kinder in einem anderen Mitgliedstaat als der Anspruchsberechtigte und kommt dieser seinen Unterhaltsverpflichtungen nicht nach, können die Träger diese Leistungen nicht mehr direkt an die Kinder und den anderen Elternteil erbringen. Diese Folge der geplanten Änderung lehnen die Verbände der BAGFW ab. Sie setzten sich dafür ein, dass Ansprüche auf Familienleistungen, die als Einkommensersatz während Zeiten der Kindererziehung dienen sollen, auf den Elternteil übertragen werden können, der seinen Erziehungs- und Unterhaltspflichten nachkommt.
B. Änderungsvorschläge im Einzelnen
I. Zugang zum Krankenversicherungsschutz für nicht-erwerbstätige Unionsbürger erleichtern
1. Vorschrift / Situation
Unionsbürger(innen), die sich nicht auf die Arbeitnehmer- oder Niederlassungsfreiheit berufen können, sind freizügigkeitsberechtigt, wenn sie über ausreichende Existenzmittel und Krankenversicherungsschutz verfügen. Als Erwägungsgrund (5b) soll geregelt werden, dass die Mitgliedstaaten sicherstellen sollten, dass nicht-erwerbstätige mobile EU-Bürger nicht davon abgehalten werden, die Bedingung des umfassenden Krankenversicherungsschutzes im Aufnahmemitgliedstaat gemäß der Richtlinie 2004/38/EG zu erfüllen. Dazu könne es notwendig sein, den betreffenden Bürgern zu erlauben, in einem verhältnismäßigen Umfang Beiträge zu einem Krankenversicherungssystem in dem Wohnsitzstaat zu leisten.
2. Bewertung
Bislang wird nicht erwerbstätigen mobilen EU-Bürger mit Wohnsitz in Deutschland der Zugang zu den Krankenversicherungen mit dem Argument verwehrt, sie müssten für ihr Freizügigkeitsrecht eine Versicherung im Herkunftsland haben. Mit der geplanten Ergänzung der Erwägungsgründe wird deutlich, dass diese Rechtsauslegung unzutreffend ist. Die fragliche Bedingung für das Freizügigkeitsrecht kann auch durch eine Krankenversicherung im Wohnsitzland erfüllt werden.
Derzeit haben in Deutschland wirtschaftlich nicht aktive Personen keinen Zugang zur Gesetzlichen Krankenversicherung als Pflichtversicherung oder als freiwillige Versicherung. Begründet wird dies damit, dass sie als Voraussetzung für ihr Freizügigkeitsrecht über eine Krankenversicherung im Herkunftsland verfügen müssten.[2] Art. 7 Abs. 1 lit. b Richtlinie 2004/38/EG verlangt aber nicht, dass der Krankenversicherungsschutz im Herkunftsland besteht, sondern dass er im Aufnahmestaat gegeben sein muss. Die Verbände der BAGFW begrüßen diese Klarstellung. Allerdings sieht der Erwägungsgrund keine verbindliche Vorgabe an die Mitgliedstaaten vor, ihr Krankenversicherungssystem für nicht erwerbstätige mobile EU-Bürger(innen) zu öffnen. Es ist auch keine entsprechende Regelung in der Verordnung 883/2004 vorgesehen.
3. Lösung / Änderungsvorschlag
Die Verbände der BAGFW schlagen vor, den Erwägungsgrund (5b) wie folgt zu ändern:
„Die Mitgliedstaaten <s>sollten sicherstellen</s> stellen sicher, dass ….“
Die Verbände der BAGFW schlagen weiter vor, in Artikel 12 (Sonderregelung) der Verordnung einen neuen Abs. 3 aufzunehmen:
„Eine nicht erwerbstätige Person, für deren Krankenversicherung ein anderer als der Wohnsitzmitgliedstaat zuständig ist, darf nicht am Zugang zum Krankenversicherungssystem des Wohnsitzstaats gehindert werden.“
II. Gleichbehandlungsgrundsatz und Grundrechtecharta achten
1. Vorschrift / Situation
In Artikel 4 wird als Abs. 2 eingefügt, dass der Zugang zu Leistungen der sozialen Sicherheit bei nicht-erwerbstätigen Person von der Rechtmäßigkeit des Aufenthalts gemäß der Richtlinie 2004/38/EG abhängig gemacht werden darf.
2. Bewertung
Mit der Neuregelung wird die einschlägige Rechtsprechung des EuGH in die Verordnung integriert. Der EuGH hatte in mehreren Entscheidungen verdeutlicht, dass es zulässig sei den Zugang zu Leistungen der sozialen Sicherheit von der Rechtmäßigkeit des Aufenthalts im Sinne der Richtlinie 2004/38/EG abhängig zu machen. Dies wird entsprechend auch im Erwägungsgrund (5a) formuliert.
Die Verbände der BAGFW begrüßen die Klarstellung, dass – wie im Erwägungsgrund (5a) deutlich wird – zwischen EU-Bürger(innen) mit Freizügigkeitsrecht zur Arbeitssuche und nicht-erwerbstätigen EU-Bürger(innen)[3] zu unterscheiden ist. Der neue Art. 4 Abs. 2 bezieht sich mithin nur auf letztere.
Die Verbände der BAGFW begrüßen, dass in Erwägungsrund (5c) klargestellt wird, dass die Beschränkung des Gleichbehandlungsgrundsatzes für nicht erwerbstätige Personen nicht dazu führen darf, dass deren Grundrechte eingeschränkt werden.
In den Erwägungsgründen und der Änderung des Art. 4 der Verordnung 883/2004 wird nicht darauf Bezug genommen, dass nach den Entscheidungen Alimanovic (C-67/14) und Dano (C-333/13) auch die Ausnahmen vom Gleichbehandlungsgrundsatz nach Art. 24 Abs. 2 Richtlinie 2004/38/EG das Gleichbehandlungsrecht der Verordnung 883/2004 beschränken. Die Erläuterung Nr. 14 einzelner Bestimmungen des Vorschlags macht deutlich, dass mobile Arbeitssuchende außer beim Zugang zu Sozialhilfe von der Beschränkung des Gleichbehandlungsgrundsatzes nicht betroffen sind.[4] Wohl deshalb wird in Erwägungsrund (5c) nicht darauf verwiesen, dass auch für Personen mit Freizügigkeitsrecht zur Arbeitssuche die Grundrechte nicht eingeschränkt werden dürfen. Tatsächlich besteht aber bei beiden Gruppen gleichermaßen das Risiko, dass sie durch einen Ausschluss von Leistungen der sozialen Sicherheit in ihren Grundrechten betroffen sein könnten.
Art. 34 (soziale Sicherheit) und Art. 35 (Gesundheitsschutz) der Grundrechtecharta, auf die auch der neu eingefügte Erwägungsgrund (47) verweist, stehen zwar unter der Maßgabe der jeweiligen nationalen Vorschriften und enthalten folglich keine Garantie, diese Leistungen ohne weiteres in jedem Mitgliedstaat zu erhalten. In Kombination mit dem Schutz der Menschenwürde nach Art. 1 Grundrechtecharta kann es im Einzelfall aber unabhängig vom Gleichbehandlungsgebot nötig sein, entsprechende Leistungen zu gewähren.
3. Lösung / Änderungsvorschlag
Die Verbände der BAGFW schlagen vor, Erwägungsrund (5c) wie folgt zu ergänzen:
(5c) Ungeachtet der Beschränkung des Rechts auf Gleichbehandlung für nicht erwerbstätige Personen und Personen mit Freizügigkeitsrecht zur Arbeitssuche, die sich aus der Richtlinie 2004/38/EG oder aus dem einschlägigen Unionsrecht ergibt, sollte keine Bestimmung in dieser Verordnung die in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union anerkannten Grundrechte einschränken, insbesondere das Recht auf Achtung der Würde des Menschen (Artikel 1), das Recht auf Leben (Artikel 2), das Recht auf Soziale Sicherheit und soziale Unterstützung (Art. 34) und das Recht auf Gesundheitsschutz (Artikel 35).
Die Verbände der BAGFW schlagen vor, es nicht bei einem Verweis auf die Grundrechtcharta in den Erwägungsgründen zu belassen. Es sollte vielmehr folgender Art. 4 Abs. 3 geschaffen werden:
„Ungeachtet der Beschränkung des Rechts auf Gleichbehandlung, die sich aus Art. 4 Abs. 2 oder aus einschlägigem Unionsrecht ergeben, soll keine Bestimmung in dieser Verordnung die in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union anerkannten Grundrechte einschränken.“
III. Grund- und Menschenrechte aus EMRK und ESC gewährleisten
1. Vorschrift / Situation
Während der neu eingefügte Erwägungsgrund (47) den Einklang der Verordnung 883/2004 mit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sicherstellen soll, verfügt der ebenfalls neu eingefügte Erwägungsgrund (48), dass die Verordnung auch die Rechte und Pflichten aus der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) wahren muss. Dazu wird insbesondere auf das Recht auf Leben (Artikel 2 EMRK), das Recht auf Schutz vor unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung (Artikel 3 EMRK), das Recht auf Achtung des Eigentums (Artikel 1 des Zusatzprotokolls der EMRK) und das Verbot der Diskriminierung (Artikel 14 EMRK) verwiesen.
2. Bewertung
Der Verweis auf die EMRK ist wichtig, da zum einen die Mitgliedstaaten selbst direkt daran gebunden sind und es zum anderen auch politisch und rechtlich gewollt ist, dass die Europäische Union der EMRK beitritt (Art. 6 Abs. 2 EU-Vertrag). Damit muss sich das EU-Recht mittelfristig selbst und seine mitgliedstaatliche Umsetzung bereits jetzt an der EMRK messen lassen. Dies bedeutet, dass die in der Verordnung 883/2004 (als Koordinierungsregelungen) vorgesehenen Ausschlüsse von z.B. Sozialhilfeleistungen keinen Rechtfertigungsgrund für Staaten darstellen können, Menschenrechte aus der EMRK zu verletzen.
In den Erwägungsgründen fehlt jedoch ein Verweis auf die (revidierte) Europäische Sozialcharta (ESC). Alle EU-Mitgliedstaaten sind rechtlich entweder an die Europäische Sozialcharta von 1961 oder an ihre revidierte Version von 1996 gebunden. Sie enthalten unter anderem das Recht auf Soziale Sicherheit (Art. 12), das Recht auf Fürsorge (Art. 13), das Recht der Wanderarbeitnehmer und ihrer Familien auf Schutz und Beistand (Art. 19) und in der revidierten Version auch das Recht auf Schutz gegen Armut und soziale Ausgrenzung (Art. 30). Ein Verweis auf die (revidierte) Sozialcharta würde klarstellen, dass die Verordnung 883/2004 die Mitgliedstaaten nicht von ihren Verpflichtungen befreit, diese Rechte zu achten und die Ausübung zu gewährleisten.
3. Lösung / Änderungsvorschlag
Die Verbände der BAGFW setzen sich dafür ein, dass Erwägungsgrund (48) erhalten bleibt. Zudem schlagen sie vor, einen neuen Erwägungsgrund (49) einzufügen:
„(49) Nichts in dieser Verordnung beschränkt die in der Europäischen Sozialcharta und in der revidierten Europäischen Sozialcharta anerkannten eigenständigen Rechte und Pflichten, insbesondere das Recht auf Soziale Sicherheit (Art. 12), das Recht auf Fürsorge (Art. 13), das Recht der Wanderarbeitnehmer und ihrer Familien auf Schutz und Beistand (Art. 19) und das Recht auf Schutz gegen Armut und soziale Ausgrenzung (Art. 30 der revidierten Europäischen Sozialcharta); die Verordnung muss unter Wahrung dieser Rechte und Pflichten umgesetzt werden.“
IV. Export von Pflegeleistungen verbessern
1. Vorschrift / Situation
Für EU-Bürger(innen) ist es grundsätzlich möglich, Leistungen bei Pflegebedürftigkeit auch in einem anderen EU-Land als ihrem Herkunftsland zu beziehen. Bislang gibt es jedoch kein umfassendes und kohärent kodifiziertes Koordinierungsrecht für diese Leistungen. Der EuGH hat daher in einer Reihe von Urteilen entschieden, dass Leistungen bei Pflegebedürftigkeit entsprechend den Leistungen bei Krankheiten koordiniert werden sollten. Als problematisch hat sich dabei in der Vergangenheit erwiesen, dass es eine große Bandbreite von Pflegeleistungen in den Mitgliedstaaten gibt und diese sehr unterschiedliche Anknüpfungspunkte haben können, z.B. Pflegebedürftigkeit, Erwerbsunfähigkeit oder Alter. Mangels einer gemeinsames Definition bzw. eines gemeinsamen Kriterienkatalogs für die Bestimmung des Begriffs Pflegeleistung wird das Koordinierungsrecht in diesem Bereich als unklar, bürokratisch und instabil wahrgenommen[5] und es kommt sowohl zu Nichtinanspruchnahme von Leistungen als auch zu Doppelzahlungen.[6]
Die Überarbeitung der Verordnung 883/2004 in diesem Bereich hat das Ziel, ein kohärentes System für die Koordinierung der Leistungen bei Pflegebedürftigkeit zu schaffen, indem ein eigenes Kapitel betreffend ihre Koordinierung in die Verordnung 883/2004 aufgenommen, eine Begriffsbestimmung eingeführt und eine Liste dieser Leistungen erstellt wird. Insgesamt haben schätzungsweise 80.000 mobile EU-Bürger(innen) Anspruch auf Leistungen bei Pflegebedürftigkeit, wovon ca. 45.000 diese als Sachleistungen und ca. 35.000 diese als Geldleistungen beziehen.[7]
2. Bewertung
Es wird ein eigenes Kapitel 1a „Leistungen bei Pflegebedürftigkeit“ in die Verordnung eingefügt. Das ist für die Abgrenzung zu Leistungen bei Krankheit grundsätzlich zu begrüßen.
Der Art. 35a Abs. 1 (neu) verweist auf die entsprechende Anwendung der Regelungen bei Krankheit nach den Art. 17 bis 32, soweit Art. 35a bis 35c (neu) nichts abweichendes regeln. Das bedeutet, dass bei entsprechender Anwendung von Art. 31 VO 883/2004 die Koordinierungsregelungen zwischen Rentner(inne)n, die Rentenleistungen aus Erwerbstätigkeit beziehen, und ihren Angehörigen einerseits und anderen Bezieher(innen) von Pflegeleistungen differenzieren. Für erstere gelten die Regelungen nach Art. 17 bis 21, für sogenannte „Nur-Rentner“ hingegen Art. 23 bis 30. Gemäß Art. 35 a Abs. 3 (neu) können Mitgliedstaaten davon abweichen, wenn die betroffenen Leistungen in Anhang 5 aufgeführt werden. Dass die Koordinierungsregeln für Pflegeleistungen künftig derselben Logik folgen sollen wie im Bereich von Krankenleistungen, führt im Grundsatz dazu, dass die Koordinierungssysteme angeglichen werden. Die oft schwierige Differenzierung zwischen Renten auf Grund von Erwerbstätigkeit und Renten aus anderen Gründen bleibt aber erhalten.
Art. 35b (neu) regelt für zusammentreffende Leistungen, dass der zuständige Mitgliedstaat die Geldleistungen bei Pflegebedürftigkeit erbringt und die vom Wohnsitzstaat ggf. bereitgestellten Sachleistungen erstattet.
Bislang besteht ein Problem, wenn im zuständigen Land nach den für dieses Land geltenden Rechtsvorschriften keine Geld-, sondern ausschließlich Sachleistungen vorgesehen sind, im Wohnsitzstaat aber keine Sachleistungen erbracht werden. Dem Pflegebedürftigen stehen dann nicht die notwendigen Mittel zur Verfügung, um die notwendigen Pflegeleistungen zu finanzieren. Diese Lücke hatten die Verbände der BAGFW bereits im Rahmen der Konsultation zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit in der EU im Jahr 2015 angesprochen. Sie wird mit den geplanten Änderungen nicht geschlossen.
Artikel 35c zur Erstattung zwischen Trägern legt fest, dass der Krankenversicherungsträger nachrangig tätig wird, wenn in Staaten Rechtsvorschriften über Sachleistungen bei Pflegebedürftigkeit fehlen. Diese Regelung erscheint sachgerecht.
3. Lösung / Änderungsvorschlag
Um die gewünschte Vereinfachung der Koordinierungsregelungen zu erreichen, sollte die Differenzierung zwischen Renten auf Grund von Erwerbstätigkeit und Renten aus anderen Gründen entfallen.
Art. 35b sollte dahingehend ergänzt werden, dass Geldleistungen bei Pflegebedürftigkeit durch den Träger im Wohnsitzstaat nach den für diesen Mitgliedstaat geltenden Regeln erbracht werden, wenn nach den jeweils geltenden Regeln im Wohnsitzstaat ausschließlich Geldleistungen und im zuständigen Mitgliedstaat ausschließlich Sachleistungen vorgesehen sind. Art. 35c Abs. 2 (neu) zur Erstattung zwischen Trägern gilt entsprechend.
V. Export von Leistungen bei Arbeitslosigkeit erleichtern
1. Vorschrift / Situation
Art. 61 regelt die Zusammenrechnung von Versicherungszeiten, Beschäftigungszeiten oder Zeiten einer selbstständigen Erwerbstätigkeit. Die Mitgliedstaaten können künftig verfügen, dass eine Person, bevor sie arbeitslos wurde, mindestens drei Monate in ihrem Hoheitsgebiet gearbeitet haben muss, damit sie sich zur Beantragung von Arbeitslosenleistungen auf davor in einem anderen Mitgliedstaat zurückgelegte Erwerbszeiten berufen kann.
Art. 64 bezieht sich auf den Export von Arbeitslosenleistungen. Die Mindestdauer für den Export von Leistungen bei Arbeitslosigkeit soll von drei auf sechs Monaten verlängert werden, damit Arbeitslose, die sich zur Arbeitsuche in einen anderen Mitgliedstaat begeben, unter besseren Bedingungen nach einer Arbeit suchen können und bessere Chancen auf eine Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt haben.
In Art. 65 wird die Gewährung von Arbeitslosenleistungen an Grenzgänger(innen) geregelt Für Grenzgänger(innen) – Personen, die in einem Land leben, in einem anderen Land arbeiten und mindestens einmal pro Woche nach Hause fahren – wird der Mitgliedstaat, in dem sie in den letzten 12 Monaten gearbeitet haben, für die Erbringung der Arbeitslosenleistungen zuständig. Dies spiegelt den Grundsatz wider, dass der Mitgliedstaat, der die Beiträge erhalten hat, auch die Leistungen zahlen soll. Mangels anderer Regelungen gilt im Grundsatz die Kumulierungsregelung nach Art. 6. Grenzgänger(innen), die nicht mindestens eine 12-monatige Versicherungszeit zurückgelegt haben, erhalten nach dem neuen Art. 65 Abs. 2 Leistungen nach den Regeln des Wohnsitzmitgliedstaates und müssen dessen Arbeitsverwaltung zur Verfügung stehen. Sie können sich zusätzlich in dem anderen Mitgliedstaat der Arbeitsverwaltung zur Verfügung stellen (Art. 65 Abs. 4 neu). Sieht in solchen Fällen der Wohnsitzstaat Leistungen nur in Anknüpfung an den Wohnsitz vor, kann der Arbeitslose sich dafür entscheiden, sich nur der Arbeitsverwaltung des Staates der letzten Erwerbstätigkeit zur Verfügung zu stellen und Leistungen nach dessen Rechtsvorschriften zu erhalten.
2. Bewertung
Nach seiner Überschrift regelt Art. 61 die Zusammenrechnung von Versicherungszeiten und Zeiten der Erwerbstätigkeit. Nach dem Wortlaut des neuen Art. 61 Abs. 1 und 2 werden jedoch lediglich die Zuständigkeiten geregelt. Für die Zusammenrechnung an sich gilt dagegen die allgemeine Regelung nach Art. 6. Die Verbände der BAGFW empfehlen, klare Formulierungen zu wählen, so dass eindeutig erkennbar ist, ob eine sachliche Regelung (Zusammenrechnung) oder eine formelle (Zuständigkeit) getroffen wird.
Für Personen, die mindestens drei Monate auf dem Hoheitsgebiet des zuständigen Mitgliedstaates gearbeitet haben, ist dieser (neue) Staat zuständig. Diese neu eingeführte Frist bedeutet einen Nachteil für die Mobilität von Erwerbstätigen. Sie werden bei Verlust des Arbeitsplatzes nach weniger als drei Monaten auf das Land der vorhergehenden Erwerbstätigkeit verwiesen (Art. 64a neu). Das ist wegen der neu aufgenommenen Tätigkeit im anderen EU-Staat und dem damit einhergehenden Umzug problematisch. Die Zuständigkeit des alten Trägers führt auch dazu, dass Arbeitsförderung unterbleibt. Diese kann sinnvoll nur im neuen Mitgliedstaat erfolgen. Unklar ist zudem, ob diese Personengruppe Versicherungszeiten etc. nach Art. 6 zusammenrechnen kann oder ob sie davon ausgeschlossen ist. Art. 61 Abs. 2 neu spricht insofern von Ansprüchen „unter den Bedingungen und Grenzen des Art. 64a“ – dort werden aber weder Bedingungen noch Grenzen, sondern nur die Zuständigkeit geregelt. Das ermöglicht eine dahingehende Deutung, dass es für diesen Personenkreis keine Kumulierungsregelung gibt. Dieses Ergebnis kann nach Auffassung der Verbände der BAGFW nicht gewollt sein. Es ist keine Begründung dafür ersichtlich, dass die letzten Versicherungszeiten und Zeiten einer Erwerbstätigkeit bei diesem Personenkreis gar nicht berücksichtigt bzw. zusammengerechnet werden sollen. Die Verbände der BAGFW fordern zumindest eine Klarstellung, dass auch für diesen Personenkreis Art. 6 gilt, die Zuständigkeit sich jedoch nach Art. 64a richtet.
Die Verlängerung der Exportmöglichkeiten nach Art. 64 (Export von Arbeitslosenleistungen) ist von den Verbänden der BAGFW gefordert worden und positiv zu bewerten.
Weitergehende Vorschläge zur Vereinfachung des Exports von Arbeitslosenleistungen wurden leider nicht aufgegriffen. Art. 64 Abs. 1 lit. a und lit. b der VO 883/2004 bleiben unverändert. Im Rahmen der Konsultation zur Verordnung im Jahr 2015 hatten die Verbände der BAGFW darauf aufmerksam gemacht, dass diese Regelungen an der Lebenswirklichkeit der Betroffenen vorbeigehen (vgl. LSG Bayern, Urt. v. 27.01.2015 – L 10 AL 188/14). Nach Auffassung der Verbände der BAGFW muss der Export von Leistungen vereinfacht werden. Die Zuständigkeit sollte beim Zielland liegen, weil die Menschen dort nach Arbeit suchen und sinnvollerweise nur vor Ort dabei unterstützt werden können. Die Pflicht, sich im Land, in dem der Anspruch besteht, abzumelden, sollte entfallen bzw. sich durch die Meldung im Zielland erledigen. Nur so kann die Freizügigkeit gesichert und die Arbeitsuche im anderen EU-Staat ohne bürokratische Hürden erfolgen. Die Höhe der exportierten Arbeitslosenleistungen ist unabhängig von der Frage der Zuständigkeit für die Arbeitsförderung und richtet sich unverändert nach den Regeln des bisherigen Staats.
Es ist nicht ersichtlich, warum in Art. 65 (Gewährung von Arbeitslosenleistungen an Grenzgänger) bei Grenzgänger(innen) mit kürzeren Versicherungszeiten als 12 Monaten eine andere Regelung als bei längerfristigen Grenzgänger(inne)n getroffen wird. Um die komplexen Regelungen bei Grenzgänger(inne)n zu vereinfachen, sollte die Differenzierung unterbleiben.
Auch im Hinblick auf die Zusammenrechnung ergeben sich Zweifel, welche Regelungen für Grenzgänger mit weniger als 12 Monaten Beschäftigung gelten. Die Ausnahme von Art. 65 Abs. 2, die in Art. 61 Abs. 1 neu geregelt ist, ist missverständlich: Soll Art. 6 für die Personengruppe des Art. 65 Abs. 2 nicht gelten oder soll die Drei-Monats-Frist nicht gelten? Ausweislich Nr. 25 der Erläuterungen zu einzelnen Bestimmungen gilt Art. 6 hier tatsächlich nicht oder zumindest nicht bei Grenzgänger(innen), die ein Wahlrecht haben und sich gegen den Wohnsitzstaat entscheiden. Art. 65 Abs. 2 in Kombination mit Art. 61 Abs. 1 führt also je nach Lesart zu einer nicht begründbaren Schlechterstellung bei der Zusammenrechnung von Versicherungszeiten für Grenzgänger(innen), die nicht mindestens 12 Monate in einem Mitgliedstaat erwerbstätig waren. Hier bedarf es einer Klarstellung, dass auch für diese Gruppe die Kumulierungsregeln gelten. Ziel der Koordinierungsregeln ist, dass mobile Erwerbstätige keinen Nachteil durch die unterschiedlichen Regelungen in den Mitgliedstaaten erleiden. Dies muss auch für Grenzgänger gelten, für die nach Auffassung der Verbände der BAGFW keine Sonderregelungen für die Kumulierung notwendig sind.
3. Lösung / Änderungsvorschlag
Grundsätzlich sind die Regelungen der Art. 61, 64a und 65 neu kaum verständlich und ihr Regelungsgehalt ist deshalb unklar bzw. missverständlich. Die Verbände der BAGFW empfehlen insofern zumindest eine Überarbeitung der Formulierungen, die auch eine klare Trennung von sachlichen und Zuständigkeitsregelungen berücksichtigt.
In Bezug auf Art. 61 sprechen sich die Verbände der BAGFW gegen die Drei-Monats-Frist aus. Wie bisher sollte eine Zusammenrechnung unabhängig von Vorbeschäftigungszeiten möglich sein. Auch für den Fall, dass die Frist lediglich eine Zuständigkeitsregelung bedeutet, sehen die Verbände der BAGFW insofern einen Nachteil, als eine Arbeitsmarktförderung im bisherigen Staat nicht zielführend ist.
In Bezug auf Art. 64 (Export von Arbeitslosenleistungen) wiederholen die Verbände der BAGFW ihr Anliegen aus der Konsultation zur Verordnung 883/2004 im Jahr 2015 und fordern eine weitere Vereinfachung des Exports von Arbeitslosenleistungen, indem die Zuständigkeit beim Zielland liegt und das Meldeerfordernis im bisherigen EU-Staat entfällt.
In Art. 65 (Gewährung von Arbeitslosenleistungen an Grenzgänger) entbehrt eine Differenzierung bei Grenzgänger(inne)n mit kürzeren Versicherungszeiten als 12 Monaten einer sachlichen Grundlage und muss gestrichen werden. In Bezug auf die Kumulierung von Versicherungszeiten müssen für Grenzgänger(innen) die gleichen Regelungen gelten wie für andere mobile Erwerbstätige.
VI. Familienleistungen: Interessen der Unterhaltsberechtigen schützen
1. Vorschrift / Situation
Es wird ein neuer Art. 68b zur Koordinierung von Familienleistungen eingefügt, die als Einkommensersatz während Zeiten der Kindererziehung dienen sollen. Derartige Leistungen werden nicht als Leistung für die Familie, sondern als persönlicher Anspruch der Person behandelt, für die die einschlägigen Vorschriften des zuständigen Staates gelten. Die Anwendung von Art. 68a VO 883/2004 wird ausgeschlossen.
Mitgliedstaaten können bei einem Zusammentreffen von Ansprüchen beschließen, ob sie auf diese Leistungen die Antikumulierungsregeln nach Art. 68 Abs. 2 anwenden, oder ob sie – auch dann, wenn sie nur nachrangig zuständig sind – einem Leistungsberechtigten diese Familienleistung in voller Höhe gewähren.
2. Bewertung
Es sollen die Vorschriften zu Leistungen aktualisiert und entbürokratisiert werden, die Eltern einen Ausgleich für Einkommenseinbußen während der Zeit erhalten, in der sie ein Kind betreuen.
Der nachrangig zuständige Mitgliedstaat kann, sofern er die entsprechende Ausnahmeregelung in den Anhang der Verordnung hat aufnehmen lassen, die entsprechende Familienleistung in voller Höhe erbringen. Es muss in solchen Fällen also nicht mehr zunächst der Anspruch im vorrangig zuständigen Mitgliedstaat festgestellt und gegebenenfalls durch einen Unterschiedsbetrag ausgeglichen werden. Dadurch wird die Koordinierung dieser Leistungen vereinfacht.
In der erläuternden Pressemeldung zum Änderungsentwurf heißt es, dass durch das Wahlrecht die Mitgliedstaaten die Möglichkeit erhalten, diese Leistung jeweils in voller Höhe an beide erwerbstätigen Elternteile zu zahlen, indem sie von den Kumulierungsregelungen abweichen und so eine faire Aufteilung der elterlichen Pflichten fördern könnten.[8] Voraussetzung dafür wäre aber, dass die Elternteile überhaupt nach widerstreitenden Vorschriften einen Anspruch jeweils in einem anderen EU-Staat haben und sich die jeweiligen Wohnsitzstaaten gegen die Antikumulierungsregeln entschieden haben. In der Praxis dürfte sich eine positive Wirkung dieser Änderung auf nur wenige Fallzahlen beschränken. Denn eine Förderung der Inanspruchnahme gemeinsamer Elternzeit ließe sich durch nationale Maßnahmen des Wohnsitzstaates vermutlich schneller erreichen.
Anders als bisher werden diese Leistungen nicht mehr als Leistungen für die gesamte Familie behandelt. Unter diesem Gesichtspunkt ist es folgerichtig, sie aus dem Anwendungsbereich von Art. 68a VO 883/2004 herauszunehmen. Leben die Kinder in einem anderen Mitgliedstaat als der Anspruchsberechtigte und nutzt dieser die Leistungen nicht zum Unterhalt der Familienangehörigen, können die Träger diese Leistungen nicht mehr direkt an die Kinder und den anderen Elternteil erbringen. Diese Folge der geplanten Änderung lehnen die Verbände der BAGFW ab, da dadurch das individuelle Recht der Anspruchsinhaber(innen) über die Interessen der Kinder gestellt wird. Eltern sind ihren Kindern gegenüber unterhaltspflichtig. Leistungen, die als Einkommensersatz während Zeiten der Kindererziehung dienen, sollten daher in den Fällen, in denen der Anspruchsberechtigte sich seinen elterlichen Pflichten entzieht, dazu herangezogen werden können, den Unterhalt zu sichern.
3. Lösung / Änderungsvorschlag
Art. 68a VO 883/2004 bleibt in Fällen anwendbar, in denen der individuell Leistungsberechtigte von Familienleistungen, die als Einkommensersatz während Zeiten der Kindererziehung dienen sollen, seinen Unterhaltspflichten nicht nachkommt. Der Anspruch wird dann auf den Elternteil übertragen, der seinen Erziehungs- und Unterhaltspflichten nachkommt.
[1] Arbeiterwohlfahrt Bundesverband, Deutscher Caritasverband, Der Paritätische Gesamtverband, Deutsches Rotes Kreuz, Diakonie Deutschland, Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland.
[2] Vgl. Rundschreiben 2014/279 des GKV-Spitzenverbandes zum Krankenversicherungsschutz von EU-Bürgern in Deutschland
[3] in Deutschland wird für diese Gruppe auch der Begriff wirtschaftlich nicht aktive EU-Bürger(innen) benützt.
[4] CO=M(2016) 815 final, S. 12
[5] Folgenabschätzung der Europäischen Kommission zur partiellen Reform der VO 883/2004 (SWD/2016/0460 final), Kapitel 4.2., S. 22.
[6] Ebenda, S. 22f.
[7] Ebenda, Kapitel 4.3., S. 24.
[8] europa.eu/rapid/press-release_MEMO-16-4302_de.htm
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Bewertung
Im Einzelnen bewertet die BAGFW die Positionen und Forderungen der GRÜNEN wie folgt:
Ad.1. Bundesweit verbindliche Personalbemessungsregelungen für den Krankenhausbereich und die ambulante und stationäre Pflege
Aufgrund der demographischen Entwicklung steigt die Anzahl pflegebedürftiger und multimorbider hochaltriger Menschen an. Sowohl der Bedarf an Grundpflege als auch an medizinischer Behandlungspflege hat sich in den letzten Jahren erhöht. Sterbende Menschen zuhause, in den stationären Pflegeeinrichtungen und im Krankenhaus brauchen eine gute palliative Versorgung, Betreuung und Begleitung, die zeit- und personalintensiv ist und Tag und Nacht zur Verfügung stehen muss. Trotz dieser gestiegenen quantitativen und qualitativen Anforderungen sind die Personalschlüssel in der Altenpflege seit den 1990er Jahren nahezu unverändert geblieben. Sie schwanken zwischen den einzelnen Bundesländern stark und diese historisch gewachsenen Bandbreiten der Personalrichtwerte haben sich in den letzten 20 Jahren fortgeschrieben, was zu deutlichen regionalen Unterschieden in den Personalschlüsseln führt. Zwar ist durch die Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs, der seit dem 1.1.2017 gilt, erstmals seit vielen Jahren Bewegung in die Personalausstattung gekommen. Die im Zuge der Überleitung von Pflegestufen in Pflegegrade erfolgte Anpassung der Personalschlüssel durch Mehrpersonalisierung ist jedoch nur ein Schritt in die richtige Richtung. Aus Sicht der BAGFW sind mindestens 30.000 zusätzliche Pflegekräfte erforderlich, damit allein der Mehrbedarf, der durch die Überleitung der Personen mit eingeschränkter Alltagskompetenz (PEA) in das neue System entsteht, gedeckt werden kann. Durch die Umstellung auf Pflegegrade fällt in den vollstationären Einrichtungen ein durchschnittlicher Mehrbedarf von ca. 2,7 Vollzeitkräften auf 100 Bewohner/innen an. In diesen Mehrbedarf, der allein aufgrund der Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs entsteht, sind jedoch die oben genannten Faktoren eines Mehrbedarfs an Personal aufgrund der gestiegenen Anforderungen z.B. der Behandlungspflege und palliativen Pflege noch nicht eingerechnet. Die Umsetzung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs und der damit verbundenen neuen Leistungsinhalte sowie die Elemente der Anleitung, Motivation, Aktivierung und Edukation sowie der mit dem Paradigmenwechsel einhergehende und stärker als bisher herausgearbeitete partizipative Ansatz des individuellen Aushandelns des Pflegeprozesses erfordern künftig ebenfalls deutlich mehr Zeit- und Personalressourcen.
Dringend erforderlich ist somit die Einführung eines Personalbemessungssystems. Der Gesetzgeber hat die Entwicklung und Erprobung eines solchen Personalbemessungssystems mit der Einführung des § 113c im Rahmen des Zweiten Pflegestärkungsgesetzes vorgesehen. Diesen Schritt hat die BAGFW ausdrücklich begrüßt. Die Erprobung soll bis zum 30. Juni 2020 abgeschlossen sein. Das Verfahren läuft und die Zuschlagserteilung ist im März 2017 erfolgt, sodass der Zeitplan eingehalten werden kann. Zu kritisieren ist, dass der Gesetzgeber bisher keine Vorstellung entwickelt hat, welche Schritte nach der Erprobung der Instrumente erfolgen.
Von zentraler Bedeutung für die BAGFW ist, dass ein in der Erprobung bewährtes Personalbemessungssystem verbindlich umgesetzt und auf der Grundlage gesetzlicher Maßgaben bundesweit verbindlich eingeführt wird. Dabei können länderspezifische Besonderheiten durchaus Berücksichtigung finden. Dazu bedarf es einer gesetzlichen Verpflichtung der Anerkennung des Bedarfs bei den Verhandlungen auf Landesebene. Das Personalbemessungssystem muss insgesamt Grundlage einer Finanzierung der Pflegevergütungen sein. Die BAGFW spricht sich dafür aus, die Fragen der Finanzierung mit der Konstituierung eines Beirats unter Moderation der federführenden Ministerien des BMG und BMFSFJ zu verknüpfen. Der Beirat soll auf der Grundlage der wissenschaftlichen Ergebnisse des § 113c-Projektes Empfehlungen zur Umsetzung und Finanzierung erarbeiten, die dann durch den Gesetzgeber im SGB XI zu verankern sind.
Die Entwicklung eines Personalbemessungssystems erfordert sicherlich den vorgesehenen Zeitraum bis 2020. Bis dahin muss aus Sicht der BAGFW jedoch zwingend jede Möglichkeit genutzt werden, um Personal in den Pflegeeinrichtungen aufzustocken. Bis neue Personalschlüssel ab 2020 in die Umsetzung gelangen, sind weitere Zwischenschritte zur Verbesserung der Personalsituation in der Altenpflege notwendig. Als Maßstab sollten hier die bundesweit höchsten Personalschlüssel als genereller Mindestmaßstab gelten.
Die GRÜNEN fordern in ihrem Antrag, dass Auszubildende künftig nicht mehr auf den Stellenschlüssel angerechnet werden sollen. Die Verbände der BAGFW setzen sich perspektivisch für eine Absenkung der Anrechnung von Auszubildenden auf den Stellenschlüssel ein. Die dadurch zusätzlich entstehenden Mehrkosten dürfen jedoch nicht zu Lasten der pflegebedürftigen Menschen in den Einrichtungen und Diensten gehen, sondern müssen aus dem Ausbildungsfonds refinanziert werden.
Zu den Entwicklungen der Personalbemessung im Krankenhausbereich nimmt die BAGFW nicht Stellung, da sie für diesen Bereich kein Mandat hat.
Ad 2. Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Pflege
Die BAGFW teilt die Analyse der GRÜNEN, dass der Pflegeberuf im Vergleich zu anderen Ausbildungsberufen bei der Bewertung der Arbeitsbedingungen und der Arbeitsqualität vergleichsweise schlecht abschneidet. Angesichts des Wettbewerbs mit anderen Ausbildungsberufen und des bereits eingetretenen und sich in der Zukunft dramatisch verschlechternden Fachkräftemangels ist es dringend erforderlich, alle Maßnahmen zu ergreifen, um die Arbeitsbedingungen zu verbessern und damit die Attraktivität des Arbeitsfelds zu erhöhen. So ist eine angemessene, tarifliche Bezahlung aller Beschäftigten in der Pflege sicherzustellen bzw. anzustreben und die
Gehälter in der Langzeitpflege sind an die Gehälter der Pflegekräfte im Krankenhaus anzugleichen. Wesentlich sind auch Maßnahmen zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf, wie z.B. bessere Kinderbetreuungsmöglichkeiten, aber auch arbeitsplatzinterne Maßnahmen wie z.B. die Verbesserung der Dienst- und Schichtpläne. Nach Angaben der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrts-pflege (BGW) besteht für die Beschäftigten in der Pflege ein erhöhtes Risiko physischer und psychischer Beeinträchtigungen. Muskel- und Skeletterkrankungen sowie psychische Belastungen wie Schlafstörungen, Depression bis hin zu Burn-out-Syndromen sind dabei die am häufigsten auftretenden Gesundheitsrisiken. Verbesserungen sind somit auch im Bereich der betrieblichen Maßnahmen zur Gesundheitsförderung und Prävention erforderlich, wie z.B. der Einsatz und die Akzeptanz von Hilfsmitteln zur körperlichen Entlastung, die Einhaltung von Ruhepausen oder Coachings zur Konfliktlösung.
Ein wesentlicher Faktor für die Arbeitszufriedenheit ist Anerkennung. Insbesondere den Mitarbeiter/innen in den Einrichtungen und Diensten der Altenpflege kommt nicht die gesellschaftliche Wertschätzung zu, die ihrem hohen Beitrag und ihrer Leistung für die Gesellschaft entspricht. Das Image dieses Tätigkeitsfelds zu steigern ist eine gesamtgesellschaftliche, nicht zuletzt auch kommunikative Aufgabe.
Von hoher Bedeutung ist die Reduzierung unnötiger Bürokratielasten. Hier hat das EinSTEP-Projekt zur Entbürokratisierung der Pflegedokumentation durch das „Strukturmodell“, das die Freie Wohlfahrtspflege stark unterstützt hat, gezeigt, wie durch ein effizientes Verfahren der datensparsamen Dokumentation, das zugleich den individuellen Pflegeplanungsprozess und den Aushandlungsprozess zwischen Pflegekraft und dem pflegebedürftigen Menschen über die zu erbringenden Leistungen stärkt, Bürokratieaufwand wirksam gesenkt werden kann. Diese Senkung des Aufwands darf jedoch von den Kostenträgern nicht zu Forderungen nach Personalabbau in Vergütungsverhandlungen genutzt werden, sondern muss gezielt zur Reduzierung von Arbeitsverdichtung eingesetzt werden. Die BAGFW hat daher eine entsprechende gesetzliche Klarstellung in § 113 Absatz 1 Satz 6 SGB XI nachdrücklich begrüßt.
Ad 3. Anerkennung der Tarifbindung für die häusliche Krankenpflege im SGB V
Die BAGFW setzt sich seit vielen Jahren für die Anerkennung der Tarifbindung im SGB XI und SGB V ein. Im SGB XI wurde dieses Ziel durch Einführung entsprechender Regelungen in § 84 und § 89 SGB XI bereits erreicht, indem die Bezahlung von Gehältern bis zur Höhe tarifvertraglich vereinbarter Vergütungen sowie entsprechender Vergütungen nach kirchlichen Arbeitsrechtsregelungen nicht als unwirtschaftlich abgelehnt werden darf. Die BAGFW fordert seit langem eine vergleichbare Regelung für die häusliche Krankenpflege in § 132a SGB V. Auch sie unterstützt, wie die GRÜNEN, die Petition 55560 „Gesundheitsfachberufe – Angemessene Vergütung für Pflegekräfte vom 27.10.2014“.
Seit Jahren klafft eine erhebliche Differenz zwischen den von den Krankenkassen angebotenen Vergütungen und den Personalkosten, die die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege und andere Leistungserbringer der Häuslichen Krankenpflege aufgrund der tatsächlichen tariflichen Steigerungen refinanzieren müssen. Die Krankenkassen verweisen dabei immer wieder auf den Grundsatz der Beitragssatzstabilität und die Notwendigkeit der Anbindung der Vergütungsentwicklung an die Grundlohnsumme. So wurde beispielsweise die Orientierung an der Grundlohnsumme für den Bereich der Heilmittel im Heil- und Hilfsmittelversorgungsgesetz jüngst ausgesetzt. Die Leistungsvergütung muss grundsätzlich angemessen sein. Das mit dem Grundsatz der Beitragsstabilität (§ 71 Absatz 1 SGB V) verbundene Ziel, Beitragssatzerhöhungen möglichst zu vermeiden, trägt die BAGFW grundsätzlich mit.
Wenn tarifliche Vergütungen in einem Sozialversicherungssystem anerkannt werden sollen, müssen sie auch nachgewiesen werden. Vor diesem Hintergrund haben die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege die mit dem Gesetz für sichere digitale Kommunikation und Anwendungen im Gesundheitswesen verbundene Neuregelung begrüßt, dass Tariflöhne oder entsprechende Arbeitsvergütungen nicht tarifgebundener Leistungserbringer nachzuweisen sind. Die Nachweispflicht stellt jedoch keinen Selbstzweck dar, sondern macht nur Sinn, wenn gleichzeitig bei Vergütungsverhandlungen anerkannt ist, dass die Zahlung von Tariflöhnen und Arbeitsentgelten stets als Kriterium wirtschaftlichen Handelns gilt. Dies ist im Gesetzestext expressis verbis zu verankern und § 132a Absatz 4 neu ist entsprechend zu ergänzen.
In § 132a Absatz 2 alt bzw. Absatz 4 SGB V neu ist unseres Erachtens des Weiteren dringend zu streichen, dass die Leistungen „preisgünstig“ zu erbringen sind. Die Formulierung „preisgünstig“ findet sich im SGB V nur in Bezug auf die Bereiche der Haushaltshilfe nach § 132 und in Bezug auf die Häusliche Krankenpflege nach § 132a. Die pflegerische Tätigkeit setzt ebenso wie die ärztliche Tätigkeit hohe Qualitätsstandards voraus, an welche die Berufsausübung gebunden ist. Das Wort „preisgünstig“ ist daher ersatzlos aus § 132a Absatz 4 Satz 5 zu streichen.
Lösungsvorschlag
Absatz 4 neu wird wie folgt gefasst:
„(4) Über die Einzelheiten der Versorgung mit häuslicher Krankenpflege, über die Preise und deren Abrechnung und die Verpflichtung der Leistungserbringer zur Fortbildung schließen die Krankenkassen Verträge mit den Leistungserbringern. Wird die Fortbildung nicht nachgewiesen, sind Vergütungsabschläge vorzusehen. Dem Leistungserbringer ist eine Frist zu setzen, innerhalb derer er die Fortbildung nachholen kann. Erbringt der Leistungserbringer in diesem Zeitraum die Fortbildung nicht, ist der Vertrag zu kündigen. Die Krankenkassen haben darauf zu achten, dass die Leistungen wirtschaftlich <s>und preisgünstig</s> erbracht werden. Verträge dürfen nur mit Leistungserbringern abgeschlossen werden, die die Gewähr für eine leistungsgerechte und wirtschaftliche Versorgung bieten. Die Vergütung muss dem Leistungserbringer bei wirtschaftlicher Betriebsführung ermöglichen, seine Aufwendungen zu finanzieren. Die Bezahlung tarifvertraglich vereinbarter Vergütungen sowie entsprechender Vergütungen nach kirchlichen Arbeitsrechtsregelungen kann dabei nicht als unwirtschaftlich abgelehnt werden. Der Grundsatz der Beitragsstabilität ist zu beachten.…….“
Ad 4. Vertretung professionell Pflegender in gesetzlichen Gremien stärken
Die GRÜNEN monieren zu Recht, dass die Pflege im Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) nicht vertreten ist, obwohl sie von zentralen rechtlichen Vorschriften wie z.B. die häusliche Krankenpflege nach § 92 SGB V oder die Richtlinien zu den Modellvorhaben zur selbständigen Ausübung von Heilkunde in § 63 SGB V unmittelbar betroffen ist. Die Legitimation und Struktur des Gemeinsamen Bundesausschusses ist derzeit Gegenstand eines Gutachtens. Die Verbände der BAGFW fordern, dass die Pflege bei einer Strukturreform des G-BA künftig einen ihren Aufgaben und ihrer wichtigen Rolle im Gesundheitswesen entsprechenden Platz im strukturellen Gefüge und Entscheidungsprozedere des G-BA erhält.
Es ist aus Sicht der BAGFW nicht nötig, gesetzliche Änderungen an § 8a SGB XI, betreffend die Zusammensetzung der Landespflegeausschüsse herbeizuführen, denn nach § 8a Absatz 1 Satz 3 können die Länder schon heute bestimmen, welche Organisationen unter Berücksichtigung der Interessen aller an der Pflege im Land Beteiligten Mitglied der Landespflegeausschüsse sein können. Wir wiederholen an dieser Stelle unsere Position aus dem PSG III, dass der sektorenübergreifende Landespflegeausschuss nach § 8a Absatz 2 als Unterausschuss des Landespflegeausschusses auszugestalten ist. Aus Sicht der BAGFW müssen die Wohlfahrtsverbände als sozialräumliche Akteure sowohl in den sektorenübergreifenden Landespflegeausschuss nach § 8a Absatz 3 als auch in die regionalen Pflegeausschüsse nach § 8a Absatz 3 eingebunden werden, denn in diesen Gremien geht es um die sozialräumliche Koordinierung, Abstimmung und Weiterentwicklung der örtlichen pflegerischen Infrastruktur. Insgesamt unterstützt die BAGFW die Forderung der GRÜNEN, dass in allen Gremien, die sich auf Landesebene mit Gesundheitsfragen beschäftigen, wie z.B. die Landesgesundheitskonferenzen, Vertreter/innen der Pflege eingebunden sein müssen. Dies ist jedoch auf der Landesebene zu regeln.
Der Antrag der GRÜNEN führt in seinem begründenden Teil auch zur Rolle des Qualitätsausschusses aus, dass in der sozialen Pflegeversicherung im Unterschied zum SGB V die gemeinsame Selbstverwaltung nicht systematisch angelegt sei, sondern sich allenfalls gestückelt und von Fall zu Fall divers geregelt. Diese Kritik teilt die BAGFW. Sie hatte sich im Rahmen ihrer Stellungnahme zum PSG II für die Entwicklung neuer Strukturen der Selbstverwaltung analog zum Modell des im SGB V bestehenden G-BA, wenngleich auch in deutlich schlankerer Form, ausgesprochen und dazu auch einen Gesetzesvorschlag ausgearbeitet. So hat die BAGFW gefordert, Kriterien zu benennen, aus denen sich klar ableiten lässt, wer zu einer Vereinigung der Träger der Pflegeeinrichtungen auf Bundesebene berechtigt ist. Aus unserer Sicht gehören die Vertreter der Pflegeberufe nicht zu diesem Kreis, denn als Berufsverbände sind sie keine Vertreter/innen der Leistungserbringer. Aus Sicht der BAGFW soll der Qualitätsausschuss zudem permanent und nicht nur zum Zwecke der Konfliktlösung um eine Bank der unparteiischen Vertreter/innen ergänzt werden. Auf diese Weise könnten Patt-Situationen grundsätzlich vermieden werden, indem immer eine Mehrheitsentscheidung herbeigeführt werden kann. Der Vorsitzende des Gremiums soll, wie im G-BA des SGB V, gemeinsam durch die Bänke des G-BA bestimmt und nicht durch das BMG berufen werden. Wie im G-BA des SGB V sieht der Vorschlag der BAGFW eine dritte Bank vor, bestehend aus Vertreterinnen und Vertretern der auf Bundesebene maßgeblichen Organisationen für die Wahrnehmung der Interessen und der Selbsthilfe pflegebedürftiger Menschen und von Menschen mit Behinderung, die ein Mitberatungs- und Antragsrecht erhalten sollen. Schließlich sollten die Beschlüsse und Entscheidungen des Qualitätsausschusses aus Sicht der BAGFW Richtlinien-Charakter erhalten, um die Rechtsverbindlichkeit der Entscheidungen auch für die Einrichtungen und Dienste der Pflegevereinigungen, die nicht Mitglied im Qualitätsausschuss sind, durch eine Allgemeinverbindlichkeitserklärung eindeutig zu regeln. Ein solcher Ausschuss würde demnach Richtlinien zu den Maßstäben und Grundsätzen (MuG) zur Sicherung und Weiterentwicklung der Pflegequalität sowie zu den Ergebnissen von Qualitätsprüfungen einschließlich der Qualitätsberichterstattung erlassen. Auch die Expertenstandards wären Gegenstand seiner Richtlinienkompetenz.
Der Antrag der GRÜNEN greift auch das Thema Pflegekammern auf. Da die BAGFW kein berufsständischer Verband ist, äußert sie sich an dieser Stelle nicht dezidiert zu diesem Themenkomplex, zumal die Pflegekammern ohnedies in Länderkompetenz geregelt sind.
Ad 5. und 6. Pflegeausbildung
Die Verbände der BAGFW unterstützen das Gesetzesvorhaben zur Reform der Pflegeberufe. Aus Sicht der BAGFW ist eine Differenzierung der Ausbildung nach Versorgungsbereichen nicht mehr zeitgemäß, denn in den Krankenhäusern werden immer mehr pflegebedürftige und demenzkranke Menschen medizinisch versorgt und gepflegt, aber das medizinische und pflegerische Personal ist zu wenig auf die Anforderungen dieser spezifischen Personengruppe geschult. In der Altenpflege nimmt der Bedarf an medizinisch-pflegerischer Versorgung aufgrund der eingangs geschilderten Zunahme der Morbiditäten hochbetagter pflegebedürftiger Menschen immer mehr zu. Statt einer an Altersstufen und Tätigkeitsfeldern orientierter Ausbildung benötigen wir eine an Kompetenzen und Lebenssituationen ausgerichtete, modular aufgebaute Pflegeausbildung, die auch die hochschulische Ausbildung mit umfasst.
Die GRÜNEN setzen sich für Schulgeldfreiheit der Ausbildung und eine bundesweite Einführung der Ausbildungsumlage ein. Beides sieht der Gesetzentwurf zur Reform der Pflegeberufe vor. Auch die BAGFW lehnt eine vollständige Akademisierung der Pflegefachberufe ab, sieht jedoch den Bedarf an akademisch ausgebildeten Pflegefachkräften, ebenso wie der Wissenschaftsrat, bei einer Quote von 10 bis 20 Prozent.
Ad 7. Dauerhafte Lösung zur Finanzierung von Umschulungen
Die Fristen für die Sonderregelung zur dreijährigen Vollfinanzierung von Altenpflegeumschulungen durch die Bundesagentur für Arbeit wurden in den letzten Jahren immer wieder verlängert, zuletzt durch das 2016 in Kraft getretene „Gesetz zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor den Gefahren des Konsums von elektronischen Zigaretten und E-Shishas“ in § 131b Satz 1 SGB III. Dort wurde die Frist zur Förderung der Umschulungen bis zum 31. Dezember 2017 verlängert. Die Finanzierung der Altenpflegeumschulungen ist ein Erfolgsmodell. Jede Fristverlängerung führte zu einer erheblichen Steigerung der Zahl der Umschülerinnen und Umschüler. Solange die Altenpflegeausbildung als gesonderter Ausbildungszweig besteht, bedarf es aus Sicht der BAGFW einer weiteren Fristverlängerung der Altenpflegeumschulung. Gleichzeitig muss auch die Umschulung in den neuen Pflegeberuf der Pflegefachfrau bzw. des Pflegefachmanns gefördert werden. Zu diesem Zweck sollen die Jobcenter bei unverkürzten Umschulungen in den neuen Pflegeberuf nicht nur Förderleistungen zur beruflichen Weiterbildung während zwei Dritteln der Maßnahme, sondern vollfinanziert während des gesamten Umschulungszeitraums erbringen können. Umschulungen stellen aus Sicht der BAGFW weiterhin eine wesentliche Maßnahme zur Reduzierung des Fachkräftemangels in der Pflege dar. Daher sollen diese Fördermaßnahmen in Zukunft nicht befristet werden.
Ad 8. Gesundheitsberufegipfel
Die BAGFW begrüßt nachdrücklich, dass der Antrag der GRÜNEN die selbständige Ausübung von Heilkunde durch die Pflegeberufe unterstützt. Dies ist ein zentrales Anliegen der Verbände der BAGFW. Nicht nur die demographische Entwicklung fordert eine Zusammenarbeit der medizinischen und pflegerischen Berufe auf Augenhöhe. In anderen europäischen Ländern ist die Delegation und Substitution ärztlicher Tätigkeiten durch Angehörige von anderen Gesundheitsberufen längst stärker in die Praxis umgesetzt. Die BAGFW begrüßt nachdrücklich, dass der Gesetzentwurf zu einem Pflegeberufegesetz die pflegerischen Aufgaben als den Pflegekräften eigenständig vorbehaltene Tätigkeiten regelt. Die Übertragung von heilkundlichen Tätigkeiten auf Angehörige der Pflegeberufe,- verbunden mit einer entsprechenden Qualifikation – zur eigenständigen Ausübung von Heilkunde in einem eigenständigen Verantwortungsbereich führt aus Sicht der BAGFW zu einer besseren gesundheitlichen Versorgung. Die Ärzte können sich dann auf ihre Kernaufgaben konzentrieren. So kann beispielsweise die Verordnung von Pflegehilfsmitteln oder Verbandsmittel sowie die Wundversorgung zu einem eigenständigen Aufgabenbereich der Pflegekräfte werden.
Eine bessere gesundheitliche Versorgung kann nur durch ein Zusammenwirken aller Gesundheitsberufe und durch eine Neuverteilung der Aufgaben zwischen den Berufen gelingen. Dabei muss der Pflege eine eigenständige Rolle jenseits von Delegation und Substitution zukommen. Dies gilt auch für andere Gesundheitsberufe, wie die Physiotherapeuten, Logopäden oder Ergotherapeuten. Die Kompetenzen, Vorbehaltsaufgaben und Anforderungsprofile der diversen Gesundheitsberufe außerhalb der ärztlichen Professionen sind aus Sicht der BAGFW allerdings sehr heterogen. Daher wird aus Sicht der BAGFW ein Gesundheitsberufegipfel sicher nicht mehr Wirkung entfalten kann als eine gemeinsame Plattform der nicht-ärztlichen Gesundheitsberufe. Die BAGFW ist skeptisch, ob eine Neuordnung der Gesundheitsberufe in einem „Allgemeinen Heilberufegesetz“ tatsächlich realisiert werden kann.
Ad 9. Bürgerversicherung
Leistungsverbesserungen und eine bessere Personalausstattung in der Pflege erfordern eine nachhaltige Sicherung der Finanzierungsbasis der Pflegeversicherung. Zur Verbreiterung der Einnahmebasis sollen aus Sicht der BAGFW weitere Einkommensarten auf der Grundlage der steuerlichen Einkommensarten in die Beitragsbemessung einfließen. Des Weiteren soll die Beitragsbemessungsgrenze perspektivisch bis auf das Niveau der gesetzlichen Rentenversicherung angehoben werden. Ebenso wie die GRÜNEN setzen sich die BAGFW-Verbände für eine jährliche, an Kriterien der Kostenentwicklung orientierte Dynamisierung der Leistungen ein, um einen Realwertverlust der Leistungen zu vermeiden. Nur auf diese Art und Weise ist gewährleistet, dass die Sozialhilfeabhängigkeit pflegebedürftiger Menschen nicht weiter zunimmt.
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Nr. 19: § 34 Absatz 10a Satz 3 IfSG
Gesetzentwurf
Der Entwurf sieht vor, dass die Leitung einer Kindertageseinrichtung das Gesundheitsamt in ihrem Bezirk benachrichtigt, wenn der Nachweis über eine Impfberatung (§ 34 Abs. 10a S.1) durch die Eltern eines in die Einrichtung aufzunehmenden Kindes nicht erbracht wurde. Des Weiteren wird die Leitung verpflichtet, personenbezogene Daten, wie etwa die Adressen der betreffenden Personensorgeberechtigten zu übermitteln.
Bewertung
Die Benachrichtigung des Gesundheitsamtes und die Übermittlung der personenbezogenen Daten durch die Kindertagesstätte lehnt die BAGFW aus Gründen des Datenschutzes ab. Die Meldepflicht greift in das Grundrecht der Eltern auf informationelle Selbstbestimmung ein. Laut Gesetzesbegründung[1] bestand die Benachrichtigungspflicht bisher schon[2], es mangelte aber an einer ausdrücklichen gesetzlichen Grundlage. Das Gesundheitsamt soll durch die Übermittlung der personenbezogenen Daten Kenntnis darüber erlangen, wer seiner Pflicht zum Nachweis einer Impfberatung nicht nachgekommen ist.
Die in der BAGFW zusammengeschlossenen Verbände teilen ausdrücklich das Ziel, die Teilnahme der Eltern an der Impfberatung zu verbessern, um die Impfquoten zu erhöhen. Die Zielrichtung der Benachrichtigungspflicht indes ist jedoch nicht eindeutig ersichtlich. Wenn auf diese Weise in Datenschutzrechte eingegriffen wird, muss dies durch einen legitimen Zweck gerechtfertigt sein.
Die Meldepflicht könnte dem Zweck dienen, dass das Gesundheitsamt in die Lage versetzt wird, sich direkt an die betreffende Familie zu wenden, um ihr gemäß Satz 4 eine Impfberatung anbieten zu können. Über dieses Angebot des Gesundheitsamtes könnte die Kita die Eltern aber selbst informieren. Eltern dürften geneigter sind, einer direkten Einladung der Gesundheitsbehörde zu einem Gespräch zu folgen, wenn die Kita über dieses Angebot im direkten Gespräch oder mittels eines Flyers informiert. Insofern ist eine Benachrichtigungspflicht der Kindertagesstätte aus diesem Grund nicht gerechtfertigt. Es ist nicht Aufgabe einer Kindertageseinrichtung, die hoheitliche Aufgabe zu übernehmen, einer Behörde personenbezogene gesundheitsrelevante Daten zu übermitteln. Dies kann auch das Vertrauensverhältnis zwischen der Einrichtung und den Eltern nachhaltig stören. Die Meldepflicht könnte des Weiteren dem Zweck der Erleichterung der Verfolgung der Ordnungswidrigkeit nach § 73 IfSG dienen. Dies wird im Gesetzesentwurf so an keiner Stelle genannt. Es ist aber nicht ausgeschlossen, dass die für die Verfolgung der Ordnungswidrigkeit zuständige örtliche Polizeibehörde[3] erleichterten Zugriff auf die Daten hat, wenn sie dem Gesundheitsamt vorliegen. Denn die Nichtvorlage einer Beratungsbescheinigung durch das Präventionsgesetz ist als sanktionierbarer Tatbestand ausgestaltet worden, der mit einer Geldbuße von bis zu 2500 Euro geahndet werden kann.
Sanktionen für die Nichtbefolgung einer Ladung des Gesundheitsamtes sind dagegen ebenso wenig vorgesehen wie für den Fall, dass die Personensorgeberechtigten sich von den Argumenten des Gesundheitsamtes nicht überzeugen lassen[4].
Wenn die Kita aus dem genannten Zweck in die Pflicht genommen wird, Personendaten zu übermitteln, erhält sie als (teilweise auch privater) Träger polizeiliche Ermittlungsbefugnisse, die unverhältnismäßig und unzulässig sind. Erst wenn ein akuter Fall von Erkrankung iSd Infektionsschutzgesetzes auftritt, ist unseres Erachtens die (gesetzlich bereits so vorgesehene) Übermittlung von Personendaten aus Gründen der Gefahrenabwehr und des Gesundheitsschutzes gerechtfertigt; denn dies zieht weitere Pflichten der Behörde zur Sicherstellung des Infektionsschutzes nach sich.
Auch der Bundesrat vertritt diese Sichtweise (Drs. 18/11187).
Bezüglich der Form des schriftlichen Nachweises der Impfberatung weisen wir darauf hin, dass in den Früherkennungen, den sog. U-Untersuchungen, regelhaft eine ärztliche Beratung zu einem altersgemäßen Impfschutz erfolgt. Daher schlägt die BAGFW vor, den Nachweis über die Inanspruchnahme der U-Untersuchungen als Nachweis über die Beratung zum Impfschutz heranzuziehen.
Lösung
Der vorgeschlagene § 34 Abs. 10a Satz 3 wird gestrichen.
In § 10a ist nach Satz 1 folgender Satz zu ergänzen:
„Dieser Nachweis soll durch den Nachweis der Inanspruchnahme der altersentsprechenden Früherkennungsuntersuchungen erfolgen.“
[1] S. 79
[2] amtliche Begründung zum Präventionsgesetz, BT-Drs. 18/5261, Seite 64.
[3] Z.B. § 1 Abs. 6 der badenwürttembergischen Verordnung des Sozialministeriums über Zuständigkeiten nach dem Infektionsschutzgesetz, vom 19. Juli 2007; in Rheinland-Pfalz sind es die Kreisverwaltungen bzw. Stadtverwaltungen: § 9 der Landesverordnung zur Durchführung des Infektionsschutzgesetzes vom 10. März 2010.
[4] Das ist auch nur konsequent, da kaum vorstellbar ist, dass eine zwangsweise Vorführung die für ein Beratungsgespräch erforderliche vertrauensvolle Atmosphäre schafft, so E. Schneider, Das Gesetz zur Stärkung der Gesundheitsförderung und der Prävention, in <link https: www.juris.de jportal portal t x8o page>SGb 2015, 599-606, Fundstelle in Iuris.
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Nach § 22 BGB-E wird einem wirtschaftlichen Verein die Rechtsfähigkeit nur dann verliehen, wenn „dies durch Gesetz bestimmt ist oder wenn es für den Verein unzumutbar ist, seinen Zweck in der Rechtsform einer Kapitalgesellschaft oder Genossenschaft zu verfolgen“. Es besteht für den antragenden Verein damit eine Darlegungspflicht, warum eine Kapitalgesellschaft oder eine Genossenschaft nicht geeignet erscheint. Hier sehen wir für die Zukunft eine fast unüberwindbare Hürde, weil theoretisch immer zumindest die Rechtsform der Unternehmergesellschaft nach § 5a GmbHG gewählt werden könnte. Nach Abs. 2 soll zur Förderung bürgerschaftlichen Engagements durch Rechtsverordnung für wirtschaftliche Vereine geregelt werden, unter welchen Voraussetzungen regelmäßig davon auszugehen ist, dass die Verfolgung des Vereinszwecks in einer anderen Rechtsform unzumutbar ist. Diese Abwägung findet sich allerdings so nicht im Verordnungstext. Lediglich im Begründungstext zur RVV-E kann man einen Hinweis finden, dass, wenn ein Verein die Anforderungen der §§ 2 bis 4 RVV-E erfüllt, man davon ausgehen könne, dass die Erlangung der Rechtsfähigkeit in der Rechtsform einer Kapitalgesellschaft oder einer Genossenschaft unzumutbar sei und deshalb dem wirtschaftlichen Verein Rechtsfähigkeit auf Antrag zu verleihen sei.
Für Vereine macht es einen Unterschied, ob sie sich als Verein selbständig gründen können und sich beim Vereinsregister lediglich eintragen lassen müssen oder ob sie einen formalen Antrag auf Verleihung der Rechtsfähigkeit stellen müssen. Entgegen der Ausführungen des RVV-E E.2 kann nicht von einem geringen zusätzlichen Erfüllungsaufwand für die Erfüllung der satzungsmäßigen Verleihungsvoraussetzungen ausgegangen werden. Es sind in den Ländern zunächst neue Richtlinien für die Verleihung der Rechtsfähigkeit an wirtschaftliche Vereine nach § 22 BGB an Vereine zu erlassen und Behördenstrukturen zu schaffen, die für die Verleihung der Rechtsform wirtschaftlicher Verein zuständig sind. Letztlich sind Amtshandlungen der Verleihungsbehörden immer auch kostenpflichtig, was auf die neu zu gründenden wirtschaftlichen Vereine „umgelegt“ werden müsste. Des Weiteren müssen die Verleihungsbehörden Verzeichnisse führen, in denen alle Vereine aufgeführt sind, denen Rechtsfähigkeit nach § 22 BGB i.V.m. der RVV und den jeweiligen Verordnungen des Landes verliehen wurde. Durch eine Reform des Vereinsrechts, wie sie die BAGFW vorschlägt, würden diese Kosten geradezu auf Null reduziert werden, da es bestehende und gut funktionierende Vereinsregister mit Jahrzehnte langer Erfahrung bei den Gerichten gibt.
Zu § 2 RVV-E
Nr. 1 : In der beispielhaften Aufzählung des Entwurfs fehlt die Benennung des Betriebs einer Kita ebenso wie Vereinigungen, die aus bürgerschaftlichem Engagement betrieben werden, obwohl in der Begründung ausdrücklich darauf eingegangen wird, wenn sie von den zuständigen Registergerichten nicht als Idealverein ins Vereinsregister eingetragen werden. Ausdrücklich wird in der RVV-E gefordert, dass der Verein eine vorwiegend unternehmerische Tätigkeit entfaltet, weil ein entsprechendes erwerbswirtschaftliches Angebot in ausreichendem Umfang nicht besteht. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass ein Engagement beispielsweise im Verein zum Betrieb einer Kindertagesstätte mit besonderer pädagogischer Ausrichtung nicht möglich ist, wenn bereits ein ähnliches Angebot vor Ort vorhanden ist. Damit wird in das Recht, sich in Vereinen zu organisieren, in erheblichem Umfang eingegriffen. Viele kleinere Kitaformen, die ja mit diesem Entwurf erfasst werden sollen, sollen gerade als (Elterninitiativ-) Kitas mit einem besonderen Profil neben bereits bestehenden Angeboten betrieben werden (z.B. Waldorf- oder Montessori Kindergärten). Zudem stellt der Entwurf nur auf dörfliche und ländliche Strukturen ab. In einer Stadt wie Berlin, in der die Rechtsprechung des Kammergerichts besonders für den Bereich der Kitas Auswirkungen auf die Rechtsformwahl hat, wird es immer auch bestehende Strukturen geben, in denen es ein entsprechendes erwerbswirtschaftliches oder kommunales Angebot geben wird.
Nr. 2: Dass der Name des Vereins mit seiner Rechtsbezeichnung geführt werden muss, ist selbstverständlich. Jedoch wird es in den meisten Fällen dem Selbstverständnis vieler Vereine widerstreben, dass sie sich als wirtschaftlichen Verein bezeichnen müssen, obwohl sie sich als Idealverein sehen, einen ideellen Zweck verfolgen, aber ihre unternehmerische Tätigkeit nicht als Nebentätigkeit im Verhältnis zu ihrer nichtwirtschaftlichen Zweckverfolgung anzusehen ist und sie deshalb in diese Rechtsform gezwungen werden. Auch gibt es derzeit keine allgemein verständliche Abkürzung dieser Bezeichnung. Eine Abkürzung w.V. wäre jedenfalls derzeit nicht allgemein verständlich.
Nr. 8: Die Regelungen über die Verwendung des Gewinns des wirtschaftlichen Vereins sind positiv zu werten. Jedoch ist unklar, ob die wirtschaftlichen Vereine auch gemeinnützig im Sinne der Abgabenordnung sein können. Dies ist aber zwingende Voraussetzung, um Mitglied in einem Wohlfahrtsverband sein zu können. Hier sehen wir ganz deutlichen Klarstellungbedarf.
Zu § 4 RVV-E
Abs. 1 des Entwurfs sieht als Umsatzhöhe 600 000 € und als jährlichen Gewinn höchstens 60 000 € vor. Allein von der Umsatzgröße werden damit nur sehr kleine Vereine erfasst. Für alle anderen, größeren Vereine, die bislang von der Löschung aus dem Vereinsregister bedroht sind, stellt dieser Entwurf keine Lösung dar. Es bedarf damit nach wie vor einer entsprechenden Regelung im § 21 BGB.
Zu § 5 RVV-E
Nr. 2: Den wirtschaftlichen Verein trifft eine unverzügliche Verpflichtung, auch Änderungen in der Vergütung von Organmitgliedern der zuständigen Behörde mitzuteilen. Dies führt zu einem sehr hohen Verwaltungsaufwand für die zuständige Behörde, wenn sie neben Satzungs- und Vorstandsänderungen auch die Höhe der Vergütung nachhalten muss.
Zusammenfassung:
Besonders für den Bereich der Kitas halten wir die RVV-E für nicht geeignet, eine Alternative zur Rechtsform des Idealvereins darzustellen. § 2 Nr. 1 des Entwurfs macht zudem deutlich, dass der wirtschaftliche Verein vor allem unternehmerische Angebote mit einem wirtschaftlichen Zweck (Dorfladen, Personenbeförderung usw.) abdecken soll – die Vereine innerhalb der Freien Wohlfahrtspflege verfolgen diesen gerade nicht, sondern haben ideelle Zwecke, welchen ihre unternehmerischen Aktivitäten untergeordnet sind. Deshalb hilft der Entwurf den Idealvereinen in der Sozialwirtschaft nicht weiter.
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Der Europäische Hilfsfonds für die am stärksten benachteiligten Personen (englisch: FEAD; deutsch: EHAP) ist erstmals für die Förderperiode 2014 bis 2020 eingerichtet worden.
Deutschland fokussiert bei der Umsetzung des EHAP, genauso wie die Niederlande, Schweden und Dänemark, auf die „soziale Inklusion der am stärksten benachteiligten Personen“ (Operationelles Programm II; OP II). In Deutschland sind dies die folgenden Zielgruppen: EU-Zugewanderte und ihre Kinder und Wohnungslose und von Wohnungslosigkeit bedrohte Personen.
Erklärtes Ziel des EHAP in Deutschland ist die Förderung des sozialen Zusammenhalts und der sozialen Eingliederung von armutsgefährdeten und von sozialer Ausgrenzung bedrohten Personen. Der EHAP leistet somit einen Beitrag zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung als ein Kernziel der Europa-2020-Strategie. Diese Ausrichtung wurde im Operationellen Programm (OP) des Bundes zur sozialen Inklusion der am stärksten benachteiligten Personen formuliert und von der Europäischen Kommission für die Umsetzung des EHAP in Deutschland genehmigt.
Auf dieser Grundlage hat das federführende Ministerium in Deutschland (BMAS) in partnerschaftlicher Zusammenarbeit mit Vertreter*innen der Städte, Kommunen, Wohlfahrtsverbänden und weiteren Migrantenorganisationen die Richtlinie zur Umsetzung des EHAP entwickelt und den 1. Aufruf in 2015 erfolgreich umgesetzt.
Gefördert werden nunmehr Kooperationsverbünde aus Stadt/Kommune und Wohlfahrtsverbänden/gemeinnützigen Migrantenorganisationen (aktuell befinden sich 84 Projekte in der Förderung).
Ein Problem ergab sich zu Beginn der Umsetzung bezüglich der Ergebnissicherung in den Projekten, dem Nachweis darüber, wann eine Beratung der Zielgruppen als erfolgreich zu bewerten ist.
In gemeinsamer Absprache der Wohlfahrtsverbände mit der EHAP-Verwaltungsbehörde konnte eine für die Träger und Zielgruppen angemessene Lösung über einen anonymisierten Fragebogen gefunden werden.
Für die Begleitung und das Monitoring des EHAP wurde ein Begleitausschuss eingerichtet, an dem u.a. auch zwei Vertreter*innen der Freien Wohlfahrtspflege teilnehmen.
Rückmeldungen
Nach einem Jahr Laufzeit können erste Rückmeldungen zu den EHAP-Projekten eingebracht werden (basierend auf diversen Rückmeldungen aus den Projekten).
Positiv
· Die Zielgruppen des Programms werden gut erreicht.
· Die Kooperation und Vernetzung vor Ort konnte durch die Projekte verbessert und sollte verstetigt werden.
· Das Programm ist ein wichtiger Beitrag zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung: durch die zusätzlichen Ressourcen stehen den Betroffenen professionelle und kompetente Beratung und Unterstützung zur Verfügung und sie sind nicht allein auf das Halbwissen und Informationen „vom Hörensagen“ von Bekannten, schlimmstenfalls auch durch kriminelle Strukturen angewiesen.
· Durch die EHAP-Projekte können niedrigschwellig professionelle, kontinuierliche und mobile Angebote gemacht werden, die bisher fehlten. Die zusätzlichen Ressourcen ermöglichen auch eine Begleitung zu den Behörden, die in vielen Fällen essentiell ist, um Angebote und Leistungen des Hilfesystems zu erhalten.
· Für die Migrantenorganisationen ist die Kooperation eine wichtige Möglichkeit, ihre bislang überwiegend ehrenamtlich organisierten Angebote zu professionalisieren.
· In der administrativen Umsetzung wurde der EHAP als deutlich weniger aufwendig als der ESF bewertet. ZUWES 2 sei ein praktikables Tool, die Ansprechpartner beim Bundesverwaltungsamt überwiegend kompetent und kooperativ.
Probleme und Herausforderungen
· Die Zielgruppen weisen hohe psychische Belastungen auf, was bei der Projektkonzeption und der Weiterentwicklung des EHAP mit entsprechenden sozialpädagogischen Interventionen berücksichtigt werden sollte.
· Ein Teil der Zielgruppe benötigt aufgrund von Überschuldungen schnelle rechtliche Hilfe. Die Weiterleitung an die Schuldnerberatung ist oftmals zu spät, so dass dafür zusätzliche Kosten zur Rechtsberatung bei den Beratungsstellen eingestellt werden sollten. Dies gilt auch für andere direkte Sachkosten, wie Dolmetscherkosten, niedrigschwellige Sprachkurse, Fahrten als Begleitung für Behördengänge. Deshalb sollten die direkten Kosten (aktuell 2 %) erhöht werden.
· Zugenommen hat in einigen Projekten die Zielgruppe der zugewanderten Unionsbürger*innen aus den südeuropäischen Mitgliedsstaaten, die ursprünglich aus deren ehemaligen Kolonien stammen und aufgrund der Wirtschafts- und Finanzkrise in Südeuropa im Zuge einer zweiten Migration nach Deutschland kommen (z. B. aus Bolivien, Venezuela, Angola, Mosambik).
· Insgesamt wird eine Zunahme der Zahl von Unionsbürger*innen in prekären Lebenssituationen aufgrund der aktuellen Ausweitung des Ausschlusses aus sozialen Leistungen erwartet.
· Eine strikte Abgrenzung der drei Einzel-Zielgruppen des EHAP in den Projekten (z. B. zwischen deutschen Wohnungslosen und Unionsbürgern) ist nicht praktikabel. Dies zeigt sich auch in den unterschiedlichen Fallzahlen bei den Outputindikatoren des Entwurfs des Durchführungsberichts für 2016, indem die Fallzahlen beim Einzelziel 2 nicht ausreichend erreicht werden und zwischen Einzelziel 1 und 3 große Schnittmengen bestehen. Die Ausweisung mehrerer Zielgruppen des Projekts im Antrag zieht wiederum aufwendigere Dokumentationspflichten nach sich. Praktikabler wäre es, eine Schwerpunkt-Zielgruppe zu wählen, die aber eine gelegentliche Beratung oder Vermittlung darüber hinaus (im Rahmen der anderen EHAP-Zielgruppen) zulässt.
· Als sehr problematisch erweist sich der Ausschluss der Beratung zum Arbeitsmarktzugang und der teilweise nicht vorhandenen Anschlussfähigkeit an den ESF (Bund und/oder Länder) oder andere nationale Fördermöglichkeiten. Dabei hat sich aber auch gezeigt, dass die ESF-geförderten Angebote für die Zielgruppen des EHAP oft zu hochschwellig sind. Eine bessere Verzahnung von ESF und EHAP sollte von daher bereits in der Programmentwicklungsphase angestrebt werden.
· Ebenso sollte auch in den Einzelzielen 1 und 2 in alle Hilfesysteme vermittelt werden können, also neben den in dem Fragebogen für Beraterinnen und Berater genannten Einrichtungen auch in das Sozialamt und die JobCenter. Gerade hier sind oft begleitende Hilfen nötig.
· Die Projekte kritisieren, dass Koordination und Leitung sowie Vernetzungsarbeit unverzichtbar sind, aber im Rahmen des EHAP nicht angemessen gefördert werden. Auch sollten Honorare für Sprachmittlung enthalten sein, da nicht überall mehrsprachige Sozialarbeit angeboten werden kann.
· Die Praxis der Teilnehmer*innendatenerfassung wird als nicht vertretbar angesehen. Die 6-seitige Teilnehmer*innendatenerfassung bindet überdurchschnittliche Zeitressourcen der Zielgruppen und deren Berater, die die gemeinsame Beratungszeit mindern. Insofern sollte für eine verbindliche Dokumentation eine andere (einfachere) Lösung gefunden werden.
Fazit
· Schon jetzt zeichnet sich ab, dass ein Programm wie der EHAP auch über 2020 hinaus notwendig sein wird, um Unionsbürger*innen und anderen stark benachteiligten Personengruppen in prekären Situationen und ohne Zugang zu den bestehenden Hilfesystemen, geeignete und menschenwürdige Unterstützung, Vermittlung und Orientierung zukommen zu lassen.
· Bewährt hat sich bei der Umsetzung des EHAP die Anwendung des Partnerschaftsprinzips, d.h. das federführende Ministerium (BMAS) hat in Frage kommende Partner an der Entwicklung des OP’s, der Richtlinie, der Umsetzung und der Evaluierung des Programms beteiligt und einen dafür vorgesehenen Begleitausschuss eingerichtet. Diese bewährte Praxis sollte unbedingt beibehalten werden.
· Der hohe Interventionssatz (= 85 %) und die Verwaltungserleichterungen
(= Pauschalen) sollten beibehalten und ggf. ausgebaut werden.
· Die Ergebnisindikatoren (= Outcomes) im EHAP sollten für die Zielgruppen qualitativ ausgebaut werden, um z.B. durch eine externe Evaluierung die Projektergebnisse (z.B. Vermittlung in reguläre Hilfsangebote und damit den Ausbau der gesellschaftlichen Teilhabe) gegenüber den rein quantitativen Outputindikatoren konkreter abbilden zu können.
· Aufgrund der erwähnten Probleme bei der Anschlussfähigkeit FEAD / ESF sollte für die nächste Förderperiode 2021-2027 ein fondsübergreifender Ansatz zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung verfolgt werden (z.B. durch die Einrichtung eines gemeinsamen Begleitausschusses), der aufsuchende und beratende Elemente (gefördert aus dem FEAD / EHAP) und eine niedrigschwellige Heranführung an den Arbeitsmarkt für besonders benachteiligte Personen (gefördert aus dem ESF) strategisch miteinander verbindet.
· Dabei ist zu empfehlen, dass dieser übergreifende Fonds angesichts der besonderen Anforderungen: stark benachteiligte Zielgruppen, aufsuchende Beratungsarbeit und Heranführen an den Arbeitsmarkt über niedrigschwellige Angebote weder ausschließlich in die FEAD- noch in die allgemeine Förderlogik der Strukturfonds eingegliedert wird, sondern eigene Vorgaben entwickelt, die der Besonderheit eines übergreifenden Fonds Rechnung tragen (z.B. höhere Interventionssätze, einfachere TN-Datenerfassung, quantitative und qualitative Ergebnisindikatoren).
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Der Europäische Hilfsfonds für die am stärksten benachteiligten Personen (englisch: FEAD; deutsch: EHAP) ist erstmals für die Förderperiode 2014 bis 2020 eingerichtet worden.
Deutschland fokussiert bei der Umsetzung des EHAP, genauso wie die Niederlande, Schweden und Dänemark, auf die „soziale Inklusion der am stärksten benachteiligten Personen“ (Operationelles Programm II; OP II). In Deutschland sind dies die folgenden Zielgruppen: EU-Zugewanderte und ihre Kinder und Wohnungslose und von Wohnungslosigkeit bedrohte Personen.
Erklärtes Ziel des EHAP in Deutschland ist die Förderung des sozialen Zusammenhalts und der sozialen Eingliederung von armutsgefährdeten und von sozialer Ausgrenzung bedrohten Personen. Der EHAP leistet somit einen Beitrag zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung als ein Kernziel der Europa-2020-Strategie. Diese Ausrichtung wurde im Operationellen Programm (OP) des Bundes zur sozialen Inklusion der am stärksten benachteiligten Personen formuliert und von der Europäischen Kommission für die Umsetzung des EHAP in Deutschland genehmigt.
Auf dieser Grundlage hat das federführende Ministerium in Deutschland (BMAS) in partnerschaftlicher Zusammenarbeit mit Vertreter*innen der Städte, Kommunen, Wohlfahrtsverbänden und weiteren Migrantenorganisationen die Richtlinie zur Umsetzung des EHAP entwickelt und den 1. Aufruf in 2015 erfolgreich umgesetzt.
Gefördert werden nunmehr Kooperationsverbünde aus Stadt/Kommune und Wohlfahrtsverbänden/gemeinnützigen Migrantenorganisationen (aktuell befinden sich 84 Projekte in der Förderung).
Ein Problem ergab sich zu Beginn der Umsetzung bezüglich der Ergebnissicherung in den Projekten, dem Nachweis darüber, wann eine Beratung der Zielgruppen als erfolgreich zu bewerten ist.
In gemeinsamer Absprache der Wohlfahrtsverbände mit der EHAP-Verwaltungsbehörde konnte eine für die Träger und Zielgruppen angemessene Lösung über einen anonymisierten Fragebogen gefunden werden.
Für die Begleitung und das Monitoring des EHAP wurde ein Begleitausschuss eingerichtet, an dem u.a. auch zwei Vertreter*innen der Freien Wohlfahrtspflege teilnehmen.
Rückmeldungen
Nach einem Jahr Laufzeit können erste Rückmeldungen zu den EHAP-Projekten eingebracht werden (basierend auf diversen Rückmeldungen aus den Projekten).
Positiv
· Die Zielgruppen des Programms werden gut erreicht.
· Die Kooperation und Vernetzung vor Ort konnte durch die Projekte verbessert und sollte verstetigt werden.
· Das Programm ist ein wichtiger Beitrag zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung: durch die zusätzlichen Ressourcen stehen den Betroffenen professionelle und kompetente Beratung und Unterstützung zur Verfügung und sie sind nicht allein auf das Halbwissen und Informationen „vom Hörensagen“ von Bekannten, schlimmstenfalls auch durch kriminelle Strukturen angewiesen.
· Durch die EHAP-Projekte können niedrigschwellig professionelle, kontinuierliche und mobile Angebote gemacht werden, die bisher fehlten. Die zusätzlichen Ressourcen ermöglichen auch eine Begleitung zu den Behörden, die in vielen Fällen essentiell ist, um Angebote und Leistungen des Hilfesystems zu erhalten.
· Für die Migrantenorganisationen ist die Kooperation eine wichtige Möglichkeit, ihre bislang überwiegend ehrenamtlich organisierten Angebote zu professionalisieren.
· In der administrativen Umsetzung wurde der EHAP als deutlich weniger aufwendig als der ESF bewertet. ZUWES 2 sei ein praktikables Tool, die Ansprechpartner beim Bundesverwaltungsamt überwiegend kompetent und kooperativ.
Probleme und Herausforderungen
· Die Zielgruppen weisen hohe psychische Belastungen auf, was bei der Projektkonzeption und der Weiterentwicklung des EHAP mit entsprechenden sozialpädagogischen Interventionen berücksichtigt werden sollte.
· Ein Teil der Zielgruppe benötigt aufgrund von Überschuldungen schnelle rechtliche Hilfe. Die Weiterleitung an die Schuldnerberatung ist oftmals zu spät, so dass dafür zusätzliche Kosten zur Rechtsberatung bei den Beratungsstellen eingestellt werden sollten. Dies gilt auch für andere direkte Sachkosten, wie Dolmetscherkosten, niedrigschwellige Sprachkurse, Fahrten als Begleitung für Behördengänge. Deshalb sollten die direkten Kosten (aktuell 2 %) erhöht werden.
· Zugenommen hat in einigen Projekten die Zielgruppe der zugewanderten Unionsbürger*innen aus den südeuropäischen Mitgliedsstaaten, die ursprünglich aus deren ehemaligen Kolonien stammen und aufgrund der Wirtschafts- und Finanzkrise in Südeuropa im Zuge einer zweiten Migration nach Deutschland kommen (z. B. aus Bolivien, Venezuela, Angola, Mosambik).
· Insgesamt wird eine Zunahme der Zahl von Unionsbürger*innen in prekären Lebenssituationen aufgrund der aktuellen Ausweitung des Ausschlusses aus sozialen Leistungen erwartet.
· Eine strikte Abgrenzung der drei Einzel-Zielgruppen des EHAP in den Projekten (z. B. zwischen deutschen Wohnungslosen und Unionsbürgern) ist nicht praktikabel. Dies zeigt sich auch in den unterschiedlichen Fallzahlen bei den Outputindikatoren des Entwurfs des Durchführungsberichts für 2016, indem die Fallzahlen beim Einzelziel 2 nicht ausreichend erreicht werden und zwischen Einzelziel 1 und 3 große Schnittmengen bestehen. Die Ausweisung mehrerer Zielgruppen des Projekts im Antrag zieht wiederum aufwendigere Dokumentationspflichten nach sich. Praktikabler wäre es, eine Schwerpunkt-Zielgruppe zu wählen, die aber eine gelegentliche Beratung oder Vermittlung darüber hinaus (im Rahmen der anderen EHAP-Zielgruppen) zulässt.
· Als sehr problematisch erweist sich der Ausschluss der Beratung zum Arbeitsmarktzugang und der teilweise nicht vorhandenen Anschlussfähigkeit an den ESF (Bund und/oder Länder) oder andere nationale Fördermöglichkeiten. Dabei hat sich aber auch gezeigt, dass die ESF-geförderten Angebote für die Zielgruppen des EHAP oft zu hochschwellig sind. Eine bessere Verzahnung von ESF und EHAP sollte von daher bereits in der Programmentwicklungsphase angestrebt werden.
· Ebenso sollte auch in den Einzelzielen 1 und 2 in alle Hilfesysteme vermittelt werden können, also neben den in dem Fragebogen für Beraterinnen und Berater genannten Einrichtungen auch in das Sozialamt und die JobCenter. Gerade hier sind oft begleitende Hilfen nötig.
· Die Projekte kritisieren, dass Koordination und Leitung sowie Vernetzungsarbeit unverzichtbar sind, aber im Rahmen des EHAP nicht angemessen gefördert werden. Auch sollten Honorare für Sprachmittlung enthalten sein, da nicht überall mehrsprachige Sozialarbeit angeboten werden kann.
· Die Praxis der Teilnehmer*innendatenerfassung wird als nicht vertretbar angesehen. Die 6-seitige Teilnehmer*innendatenerfassung bindet überdurchschnittliche Zeitressourcen der Zielgruppen und deren Berater, die die gemeinsame Beratungszeit mindern. Insofern sollte für eine verbindliche Dokumentation eine andere (einfachere) Lösung gefunden werden.
Fazit
· Schon jetzt zeichnet sich ab, dass ein Programm wie der EHAP auch über 2020 hinaus notwendig sein wird, um Unionsbürger*innen und anderen stark benachteiligten Personengruppen in prekären Situationen und ohne Zugang zu den bestehenden Hilfesystemen, geeignete und menschenwürdige Unterstützung, Vermittlung und Orientierung zukommen zu lassen.
· Bewährt hat sich bei der Umsetzung des EHAP die Anwendung des Partnerschaftsprinzips, d.h. das federführende Ministerium (BMAS) hat in Frage kommende Partner an der Entwicklung des OP’s, der Richtlinie, der Umsetzung und der Evaluierung des Programms beteiligt und einen dafür vorgesehenen Begleitausschuss eingerichtet. Diese bewährte Praxis sollte unbedingt beibehalten werden.
· Der hohe Interventionssatz (= 85 %) und die Verwaltungserleichterungen
(= Pauschalen) sollten beibehalten und ggf. ausgebaut werden.
· Die Ergebnisindikatoren (= Outcomes) im EHAP sollten für die Zielgruppen qualitativ ausgebaut werden, um z.B. durch eine externe Evaluierung die Projektergebnisse (z.B. Vermittlung in reguläre Hilfsangebote und damit den Ausbau der gesellschaftlichen Teilhabe) gegenüber den rein quantitativen Outputindikatoren konkreter abbilden zu können.
· Aufgrund der erwähnten Probleme bei der Anschlussfähigkeit FEAD / ESF sollte für die nächste Förderperiode 2021-2027 ein fondsübergreifender Ansatz zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung verfolgt werden (z.B. durch die Einrichtung eines gemeinsamen Begleitausschusses), der aufsuchende und beratende Elemente (gefördert aus dem FEAD / EHAP) und eine niedrigschwellige Heranführung an den Arbeitsmarkt für besonders benachteiligte Personen (gefördert aus dem ESF) strategisch miteinander verbindet.
· Dabei ist zu empfehlen, dass dieser übergreifende Fonds angesichts der besonderen Anforderungen: stark benachteiligte Zielgruppen, aufsuchende Beratungsarbeit und Heranführen an den Arbeitsmarkt über niedrigschwellige Angebote weder ausschließlich in die FEAD- noch in die allgemeine Förderlogik der Strukturfonds eingegliedert wird, sondern eigene Vorgaben entwickelt, die der Besonderheit eines übergreifenden Fonds Rechnung tragen (z.B. höhere Interventionssätze, einfachere TN-Datenerfassung, quantitative und qualitative Ergebnisindikatoren).
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Als besonders positiv bewertet die BAGFW, dass das Programm „Europa für Bürgerinnen und Bürger“ sich durch Möglichkeiten wie Städtepartnerschaften oder zivilgesellschaftliche Projekte mit Partner aus anderen EU-Ländern direkt auf die Bürgerinnen und Bürger Europas abzielt und diese grenzüberschreitend miteinander in Kontakt bringt. Durch solche direkten Kontakte können Vorurteile abgebaut und Europa erlebbar gemacht werden.
Den hohen politischen Anforderung und Erwartungen wird das Programm in der Förderperiode 2014-2020 jedoch nicht gerecht.
Die starke Kürzung des Programmes auf 185 468 000 Euro für die gesamte EU für sieben Jahre steht im krassen Gegensatz zu den hohen Ansprüchen und wichtigen Themen des Programmes. Die Unterfinanzierung führt dazu, dass europaweit die Förderquote in den Jahren 2014-2016 bei 12 - 18 Prozent liegt, in den zivilgesellschaftlichen Projekten sogar bei nur 4 - 5 Prozent[3]. Mit Blick auf den hohen Aufwand für Projektentwicklung und Beratung und die geringen Erfolgschancen werden wichtige Projektideen insbesondere von kleineren Gemeinden und Organisationen nicht weiterverfolgt.
Dass aus dem ohnehin zu geringen Budget des Programmes nun zusätzlich Teile des Europäischen Solidaritätskorps finanziert werden, ist abzulehnen.
Hinzu kommt die sehr geringe maximale Fördersumme pro Projekt (zwischen 25.000 Euro maximal für Bürgerbegegnungen und 150.000 Euro maximal für die Vernetzung von Partnerkommunen und für zivilgesellschaftliche Projekte). Verbunden mit den hohen politischen Ansprüchen an Projekte innerhalb des Programmes „Europa für Bürgerinnen und Bürger“ führt dies zu einer sehr hohen Eigenbeteiligung der Projektträger. Obwohl das Programm ausdrücklich für niedrigschwellige Vernetzungsprojekte angelegt ist, ist die hohe Selbstbeteiligung insbesondere für kleine Träger nicht zu leisten.
Die Kontaktstellen in den Mitgliedstaaten sind eine wichtige Hilfestellung für Antragsteller(innen), indem sie qualitativ hochwertige Informationen in der Landessprache bereitstellen. Aus den Erfahrungen mit anderen Förderprogrammen wie Erasmus+ empfiehlt die BAGFW eine Ausweitung der Kompetenz der Kontaktstellen hin zu Nationalen Agenturen, die über ein Teil-Budget des Programmes verfügen und Projektanträge genehmigen können. Durch eine engere Verzahnung von Beratung und Projektauswahl kann eine Qualitätssteigerung erzielt werden.
Die BAGFW empfiehlt daher, das Programm wirklich für Bürgerinnen und Bürger der EU auszurichten. Die EU sollte daher
- das Budget des Programmes Europa für Bürgerinnen und Bürger signifikant aufstocken,
- die maximalen Fördersätze pro Projekt erhöhen und
- die Nationalen Kontaktstellen zu Nationalen Agenturen ausbauen.
[1] Arbeiterwohlfahrt Bundesverband, Deutscher Caritasverband, Der Paritätische Gesamtverband, Deutsches Rotes Kreuz, Diakonie Deutschland, Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland.
[2] Vgl. Forderungspapier der BAGFW zur Bundestagswahl: <link file:7189>www.bagfw.de/fileadmin/user_upload/Veroeffentlichungen/Forderungspapiere_2017/pdf_BAGFW-Forderungspapier_BuergerschaftlichesEngagement_201216.pdf
[3] Vgl. Förderstatistik 2014-2020 der KS EfBB: <link http: www.kontaktstelle-efbb.de fileadmin user_upload statistiken foerderstatistik_2014-2016_gesamt.pdf>www.kontaktstelle-efbb.de/fileadmin/user_upload/2_...hat_bisher_gef%C3%B6rdert/gef%C3%B6rderte-projekte/statistiken/Foerderstatistik_2014-2016_Gesamt.pdf
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Als besonders positiv bewertet die BAGFW, dass das Programm „Europa für Bürgerinnen und Bürger“ sich durch Möglichkeiten wie Städtepartnerschaften oder zivilgesellschaftliche Projekte mit Partner aus anderen EU-Ländern direkt auf die Bürgerinnen und Bürger Europas abzielt und diese grenzüberschreitend miteinander in Kontakt bringt. Durch solche direkten Kontakte können Vorurteile abgebaut und Europa erlebbar gemacht werden.
Den hohen politischen Anforderung und Erwartungen wird das Programm in der Förderperiode 2014-2020 jedoch nicht gerecht.
Die starke Kürzung des Programmes auf 185 468 000 Euro für die gesamte EU für sieben Jahre steht im krassen Gegensatz zu den hohen Ansprüchen und wichtigen Themen des Programmes. Die Unterfinanzierung führt dazu, dass europaweit die Förderquote in den Jahren 2014-2016 bei 12 - 18 Prozent liegt, in den zivilgesellschaftlichen Projekten sogar bei nur 4 - 5 Prozent[3]. Mit Blick auf den hohen Aufwand für Projektentwicklung und Beratung und die geringen Erfolgschancen werden wichtige Projektideen insbesondere von kleineren Gemeinden und Organisationen nicht weiterverfolgt.
Dass aus dem ohnehin zu geringen Budget des Programmes nun zusätzlich Teile des Europäischen Solidaritätskorps finanziert werden, ist abzulehnen.
Hinzu kommt die sehr geringe maximale Fördersumme pro Projekt (zwischen 25.000 Euro maximal für Bürgerbegegnungen und 150.000 Euro maximal für die Vernetzung von Partnerkommunen und für zivilgesellschaftliche Projekte). Verbunden mit den hohen politischen Ansprüchen an Projekte innerhalb des Programmes „Europa für Bürgerinnen und Bürger“ führt dies zu einer sehr hohen Eigenbeteiligung der Projektträger. Obwohl das Programm ausdrücklich für niedrigschwellige Vernetzungsprojekte angelegt ist, ist die hohe Selbstbeteiligung insbesondere für kleine Träger nicht zu leisten.
Die Kontaktstellen in den Mitgliedstaaten sind eine wichtige Hilfestellung für Antragsteller(innen), indem sie qualitativ hochwertige Informationen in der Landessprache bereitstellen. Aus den Erfahrungen mit anderen Förderprogrammen wie Erasmus+ empfiehlt die BAGFW eine Ausweitung der Kompetenz der Kontaktstellen hin zu Nationalen Agenturen, die über ein Teil-Budget des Programmes verfügen und Projektanträge genehmigen können. Durch eine engere Verzahnung von Beratung und Projektauswahl kann eine Qualitätssteigerung erzielt werden.
Die BAGFW empfiehlt daher, das Programm wirklich für Bürgerinnen und Bürger der EU auszurichten. Die EU sollte daher
- das Budget des Programmes Europa für Bürgerinnen und Bürger signifikant aufstocken,
- die maximalen Fördersätze pro Projekt erhöhen und
- die Nationalen Kontaktstellen zu Nationalen Agenturen ausbauen.
[1] Arbeiterwohlfahrt Bundesverband, Deutscher Caritasverband, Der Paritätische Gesamtverband, Deutsches Rotes Kreuz, Diakonie Deutschland, Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland.
[2] Vgl. Forderungspapier der BAGFW zur Bundestagswahl: <link file:7189>www.bagfw.de/fileadmin/user_upload/Veroeffentlichungen/Forderungspapiere_2017/pdf_BAGFW-Forderungspapier_BuergerschaftlichesEngagement_201216.pdf
[3] Vgl. Förderstatistik 2014-2020 der KS EfBB: <link http: www.kontaktstelle-efbb.de fileadmin user_upload statistiken foerderstatistik_2014-2016_gesamt.pdf>www.kontaktstelle-efbb.de/fileadmin/user_upload/2_...hat_bisher_gef%C3%B6rdert/gef%C3%B6rderte-projekte/statistiken/Foerderstatistik_2014-2016_Gesamt.pdf
]]>Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) nimmt zu dem Entwurf wie folgt Stellung:
I. Vorbemerkung
Die Begrifflichkeiten „behinderte Menschen“, „psychisch kranke Menschen“ und „behindertengerecht“ sind zu ersetzen durch die Begriffe „Menschen mit Behinderung“, „Menschen mit psychischen Erkrankungen“ und „barrierefrei“. Die in den Richtlinien genannten Bezeichnungen in Bezug auf Menschen mit Behinderung spiegeln eine defizitorientierte Sichtweise wider und stellen damit nicht den Menschen, sondern die Behinderung in den Vordergrund der Betrachtung. Dies ist im Hinblick auf eine teilhabeorientierte Sichtweise, die durch das Bundesteilhabe-Gesetz und die UN-Behindertenrechtskonvention (in welcher der Begriff „Menschen mit Behinderungen“ festgelegt und definiert ist) explizit hervorgehoben wird, nicht weiter vertretbar.
II. Änderung 4.9.1 F 4.1 und 5.5.1 KF 4.1 Modul 1: Mobilität
Es ist bei der Vereinheitlichung der Beschreibungen darauf zu achten (hier: Streichung des Wortes „lediglich“ und Einfügung der Begriffe „ausschließlich motorisch“), dass sensorische Beeinträchtigungen ebenfalls abgebildet sind, d. h. motorische Aspekte diese umfassen. Dies gilt entsprechend auch für Punkt 5.5.1 KF 4.1.
III. 4.9. 1 F 4.1.4 und 5.5.1 KF 4.1.4 Kriterium: Fortbewegen innerhalb des Wohnbereichs
Die Anpassung lautet: „Auch wenn sich die Person darüber hinaus aus eigenem Willen in ihrer Wohnung krabbelnd oder robbend fortbewegen kann, ändert dies nichts an der Bewertung als „überwiegend unselbständig“.“
In der sprachlichen Anpassung von 4.9.1 (F4.1) und 5.5.1 (KF 4.1) sehen wir keine deutlichere Aussage gegenüber dem bisherigen Text. Aus unserer Sicht wäre wünschenswert – insbesondere im Erwachsenenbereich – wenn die Formulierung Krabbeln und Robben ganz entfallen könnte, da diese nicht der physiologischen Fortbewegung entspricht und daher nicht extra erwähnt werden muss.
IV. 4.9.3 F 4.3.8 Kriterium: Abwehr pflegerischer und anderer unterstützender Maßnahmen
„Die Überschrift dieses Kriteriums ist an den Gesetzeswortlaut in § 14 Abs. 2 Nr. 4 SGB XI anzupassen („und“ statt „oder“)“
Der Gesetzeswortlaut, auf den sich die Änderung bezieht, findet sich unter § 14 Abs. 2 Nr.3 SGB XI. Die Änderung ist sachdienlich.
Die Änderung in der Überschrift muss auch im Text selbst übernommen werden. Hier müsste somit ebenfalls das „oder“ durch „und“ ersetzt werden.
V. 4.10.1 F 4.5.8 bis 4.5.11 Bewertungsregeln zu Modul 5
„Die angegebenen Häufigkeiten sind entsprechend der gesetzlichen Klarstellung in der Anlage 1 zu § 15 SGB XI (PSG III) von „bis zweimal“ in „unter dreimal“ zu ändern.“
Diese Klarstellung ist zu begrüßen, da so sichergestellt ist, dass bei einer Summe von entsprechenden Maßnahmen der Module 5.8-5.11, die zwischen 2 und 3 liegt, 2 Einzelpunkte gegeben werden.
VI. 4.14 F 9 Prognose/Wiederholungsbegutachtung
Der Halbsatz „oder durch eine Verbesserung des Wohnumfeldes“ ist zu streichen. Es kommt gem. der Begründung zu § 14 Abs. 1 SGB XI bei der Einschätzung der Selbständigkeit nicht (mehr) auf das jeweilige (Wohn-)Umfeld an.
Die Streichung ist zu begrüßen, da es in der Gesetzesbegründung heißt: „Die Beeinträchtigung der Selbständigkeit und Fähigkeitsstörungen werden personenbezogen und unabhängig vom jeweiligen (Wohn-) Umfeld ermittelt.“ (Ref.entw. PSG II S.89 Definition Abs.1) Somit sind Wohnumfeld verbessernde Maßnahmen nicht aussagefähig in Bezug auf Prognose oder Wiederholungsbegutachtung.
VII. F 4.4.13 Ernährung parenteral oder über Sonde, Kriterium: Nicht täglich, nicht auf Dauer:
„Die Person erhält zusätzlich zur oralen Nahrungsaufnahme Nahrung oder Flüssigkeit parenteral oder über Sonde, aber nur gelegentlich oder vorübergehend.“
Hier passen Systematik und Bewertung nicht zusammen. Beispiel: Ein Pflegebedürftiger erhält zusätzlich zur oralen Ernährung, aber nicht täglich, Sondenkost. Dadurch soll im Rahmen der aktivierenden Pflege erreicht werden, dass er allmählich wieder vollständig Nahrung und Flüssigkeit oral aufnehmen kann. Dieser Konstellation werden die vorgegebenen Kategorien jedoch nicht gerecht. Denn wählt man hier die Variante B für „nicht täglich“, wird der Pflegebedürftige quasi für die Förderung seiner Fähigkeiten „bestraft“.
]]>Vorbemerkungen
Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege e. V. (BAGFW) begrüßt, dass das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) die partnerschaftliche Einbeziehung der Wohlfahrtsverbände im Rahmen des Europäischen Semesters kontinuierlich fortsetzt. Gerne nutzt die BAGFW die Gelegenheit für eine gemeinsame Stellungnahme zum vorgelegten Entwurf des Nationalen Reformprogramms 2017 (NRP).
Beteiligungsverfahren
Die BAGFW weist erneut und nachdrücklich darauf hin, dass die Fristsetzung im Hinblick auf eine ausreichende Beteiligung der Zivilgesellschaft (siehe Ziff. 156) – zumindest der freien Wohlfahrtspflege – an der Erstellung des NRP zu knapp bemessen ist. Der Entwurf des NRP wurde vom BMAS am 8. März 2017 mit Rückmeldefrist bis zum 15. März 2017 versandt. Diese Rückmeldefrist wurde um zwei Tage verlängert auf den 17. März 2017.
Kommentierte Kapitel
Die Kommentierung konzentriert sich auf die nachfolgenden Bereiche des NRP 2017:
Abschnitt II (Bewältigung gesamtwirtschaftlicher Herausforderungen)
- B. Private Investitionen stärken, Wettbewerb weiter beleben (Vergaberecht)
- C. Anreize für Erwerbsbeteiligung erhöhen, Flüchtlinge bestmöglich integrieren
Abschnitt III (EU-2020 Kernziele)
- A. Beschäftigung fördern
- D. Bildungsniveau verbessern
- E. Soziale Eingliederung vor allem durch die Verringerung von Armut fördern
1. „II.B. Private Investitionen stärken, Wettbewerb weiter beleben Vergaberecht umfassend modernisieren“ (Ziff. 59f.)
Die Bundesregierung plant, den Wettbewerb weiter zu beleben. Dies will sie insbesondere durch das im April 2016 modernisierte Vergaberecht erreichen. Oberhalb des Schwellenwerts von 750.000 € sollen insbesondere geänderte Anforderungen die Vergabe sozialer Dienstleistungen erleichtern. Auftraggeber haben in Zukunft stärker die Möglichkeit, bei der Auftragsvergabe soziale, ökologische und innovative Kriterien zu berücksichtigen.
Die zentralen Neuerungen des Oberschwellenbereichs im Hinblick auf Verfahren und Struktur sollen überwiegend auch für Vergaben unterhalb der Schwellenwerte gelten.
Die BAGFW begrüßt grundsätzlich, dass dann, wenn zwingend nach Vergaberecht ausgeschrieben werden muss, wie etwa im Bereich der Arbeitsmarktdienstleistungen, die Verfahrensarten flexibler gewählt werden können und auch Qualitätskriterien in Zukunft eine stärkere Rolle spielen sollen. Eine Vereinheitlichung der Verfahren im Ober- und Unterschwellenbereich ist ebenfalls sinnvoll.
Allerdings fehlt das Bekenntnis der Bundesregierung, dass der Markt der sozialen Dienstleistungen überwiegend nicht durch eine Finanzierung über Vergabe reguliert werden darf. Das sozialrechtliche Dreiecksverhältnis ist das bewährte und dominierende Modell zur Ordnung des Marktes der sozialen Dienstleistungen. Es garantiert das Wunsch- und Wahlrecht hilfesuchender Bürgerinnen und Bürger, wodurch wiederum der Wettbewerb gesteuert wird. Das sozialrechtliche Dreieckverhältnis ist Ausdruck des in den Sozialgesetzbüchern verankerten Subsidiaritätsprinzips und sichert die Vielfalt der Leistungsangebote.
Wie die Bundesregierung ausführt, erleichtert das neue Vergaberecht die Einrichtung zentraler Beschaffungsstellen. Im Markt sozialer Dienstleistungen ist aber gerade eine stärkere Dezentralisierung notwendig, damit die jeweils vor Ort bestehenden sozialen Bedarfe durch ein Zusammenwirken zwischen Kostenträgern (Kommunen, Sozialversicherungen) und Leistungserbringern bestmöglich ermittelt und Leistungsangebote flexibel gestaltet werden können.
Die BAGFW fordert die Bundesregierung daher auf, zu verdeutlichen, dass der Wettbewerb im Bereich sozialer Dienstleistungen primär durch das Wunsch- und Wahlrecht der Leistungsberechtigten garantiert wird. Eine Weiterbelebung des sozialrechtlichen Dreiecksverhältnisses zielt auf sozialen Ausgleich, sichert Handlungs- und Wahlfreiheit, setzt Anreize für eine gute Dienstleistungserbringung, kann eine effiziente Ressourcennutzung befördern, Machtkonzentrationen und Abhängigkeiten entgegenwirken und Innovationen ermöglichen.
2. „II.C. Anreize für Erwerbsbeteiligung erhöhen, Flüchtlinge bestmöglich integrieren“
Anreize für einen späteren Renteneintritt setzen (Ziff. 73)
Die Einführung der Flexirente soll den Umfang der Erwerbstätigkeit der Menschen über 60 erhöhen. Die grundsätzlich höhere Flexibilität bei der Kombination von Rentenbezug und Erwerbstätigkeit sowie der freiwilligen Zahlungen in die Rentenversicherung ist begrüßenswert.
Arbeitsmarktintegration von Flüchtlingen zügig voranbringen (Ziff. 81f.)
Der Bericht widmet sich in einem gesonderten Teil der Arbeitsmarktintegration von Asylbewerber(inne)n, anerkannten Flüchtlingen und Geduldeten. In den Blick genommen werden dabei die von der Bundesregierung ergriffenen Maßnahmen im Bereich der rechtlichen Zugangsvoraussetzungen des Deutsch-Spracherwerbs sowie der Ausbildung und aktiven Arbeitsmarktpolitik für die Zielgruppe (Ziff. 82ff.). Die BAGFW kritisiert die einseitige Betrachtung, welche die Verantwortung der Unternehmen bei der Integration von Geflüchteten in Ausbildung und Arbeit außer Acht lässt. Aus Sicht der BAGFW sind weitere Anstrengungen zum Abbau von Vorbehalten und Diskriminierung von Migrantinnen und Migranten für einen erleichterten Zugang zum Arbeitsmarkt notwendig.
Die BAGFW begrüßt, dass die Bundesregierung die Bedeutung von Ausbildung und Arbeit für Geflüchtete und Geduldete, aber auch für die Gesellschaft hervorhebt (Ziff. 81). Die arbeitsmarktrelevanten Änderungen, die im Rahmen des Integrationsgesetztes beschlossen wurden (u.a. Aussetzen der Vorrangprüfung, die Ausbildungsduldung für die gesamte Dauer der Ausbildung), sind positiv hervorzuheben (Ziff. 82). Vor dem Hintergrund des demografisch bedingten Fachkräftemangels erscheint es jedoch paradox, weiterhin an der sogenannten „guten Bleibeperspektive“ festzuhalten. Die Wohlfahrtsverbände kritisieren in diesem Zusammenhang auch, dass die Ausbildungsduldung in den einzelnen Bundesländern unterschiedlich angewendet wird. Behördliche Hürden und Rechtsunsicherheiten hindern die Aufnahme einer Ausbildung. Hier ist eine Gesetzesänderung erforderlich, welche die Aufnahme einer Ausbildung für Asylsuchende, unabhängig von ihrem Herkunftsstaat, ermöglicht. Die BAGFW fordert die Bundesregierung daher auf, auch im eigenen Interesse, Potentiale unabhängig von Staatsangehörigkeit und Aufenthaltsstatus zu fördern. Die BAGFW erneuert ihre Forderung, dass nach erfolgreichem Abschluss einer Ausbildung, ein dauerhaftes Bleiberecht in Aussicht gestellt werden soll.
Die BAGFW stimmt der Bundesregierung zu, dass zunächst Fähigkeiten und Kompetenzen, die im Herkunftsland erworben wurden, festgestellt werden müssen, damit eine zielgerichtete Vermittlung in Ausbildung und Arbeit erfolgen kann. Die Bundesregierung hebt diesbezüglich das Engagement der Länder hervor. Wir möchten auch darauf hinweisen, dass die Kommunen, zivilgesellschaftliche Initiativen und Projekte und die zahlreichen ehrenamtlich Engagierten bei der Ausbildungs- und Arbeitsplatzsuche einen wesentlichen Anteil haben. Von den derzeit nach Deutschland kommenden Asylsuchenden sind über 50 Prozent junge Menschen unter 25 Jahren, die größtenteils noch einen Schul- und Berufsabschluss erwerben müssen. Die Bundesregierung weist zu Recht darauf hin, dass Qualifizierung immer Vorrang vor geringqualifizierter Arbeit haben soll. Monatlich gelangen ca. 10.000 Menschen nach ihrer Anerkennung in den Rechtskreis des SGBII. Eine Orientierungsberatung findet häufig erst in dieser Phase des Aufenthaltes statt. Die Jobcenter sind jedoch aufgrund mangelnder personeller und finanzieller Ausstattung kaum in der Lage, die vielen Menschen in eine qualifizierte Berufsausbildung bzw. in einen Beruf zu vermitteln. Eine gute Beratung ist für alle Menschen im Leistungsbezug des SGB II wichtig. Durch die zusätzlichen Förderbedarfe im Rahmen der Arbeitsmarktintegration von Geflüchteten müssen die finanziellen Mittel der Jobcenter aufgestockt und Personal für den spezifischen Beratungsbedarf qualifiziert werden.
Im Rahmen des Arbeitsmarktprogramms Flüchtlingsintegrationsmaßnahmen wurde durch den Gesetzgeber ermöglicht, dass die Maßnahme auch bei der Anerkennung und dem damit verbundenen Rechtskreiswechsel weitergeführt werden kann. Diese Entwicklung begrüßt die BAGFW. Aufgrund der Ausgestaltung des Programms sind FIM hauptsächlich als tagesstrukturierende Maßnahme zu betrachten und weniger als Heranführung an den Arbeitsmarkt, wie von der Bundesregierung dargelegt. Die Wohlfahrtsverbände setzten sich dafür ein, in Regelinstrumente der Arbeitsförderung für alle Asylsuchenden und Geduldeten zu investieren und nicht in Sonderprogramme. Ziel muss es sein, passgenau, individuell und sinnvoll zu fördern, insbesondere bei der Vermittlung von jungen Menschen. Gute Instrumente der Arbeitsförderung im SGB III (S.44) liegen bereits vor. Die BAGFW begrüßt den erleichterten Zugang zu diesen Maßnahmen.
3. „EU-2020 Kernziele: Erzielte Fortschritte und Maßnahmen“
Zielsetzungen (Ziff. 83f. sowie Tabelle vor Ziff. 85)
Die nationalen EU-2020 Kernziele in den Bereichen „Beschäftigung fördern“, „Bildungsniveau verbessern“ und „Soziale Eingliederung vor allem durch die Verringerung von Armut fördern“ sind erreicht. Diese Entwicklung ist erfreulich und wird von der BAGFW begrüßt.
Die BAGFW begrüßt auch die Aussage der Bundesregierung, dass trotz einer positiven Zwischenbilanz hinsichtlich der EU-2020 Kernziele in allen Bereichen weitere Anstrengungen notwendig und sinnvoll seien (Ziff. 83). Dies entspricht der Auffassung der BAGFW. Die BAGFW würde allerdings begrüßen, wenn das Bekenntnis zu weiteren Anstrengungen mit einer Anpassung der quantitativen Ziele hinterlegt würde.
Eine Anpassung der Zielsetzung ist gerade im Bereich „Soziale Eingliederung vor allem durch Verringerung von Armut fördern“ notwendig. Der nationale Indikator „Anzahl der Langzeitarbeitslosen reduzieren“ bildet nämlich nur einen Teil der Armutsrisiken in Deutschland ab. (siehe hierzu auch Kapitel „Soziale Eingliederung vor allem durch Verringerung von Armut fördern“). Die verschiedenen Dimensionen von Armutsrisiken und Mangellagen müssen besser abgebildet werden. Die Reduzierung der Langzeitarbeitslosigkeit ist deshalb ein wichtiges Element der Armutsbekämpfung, reicht aber allein nicht aus. Auch Armutsrisiken von Menschen, die nicht mehr oder noch nicht am Erwerbsleben teilnehmen, müssen stärker in den Fokus gerückt werden. Die Einbeziehung weiterer Indikatoren, wie z.B. der relativen Einkommensarmut, der materiellen Deprivation oder der Verweildauer im Bezug existenzsichernder Sozialleistungen ist erforderlich. Die Bundesregierung selbst verwendet in ihrem Armuts- und Reichtumsbericht den Indikator relative Einkommensarmut, und hat in der deutschen Nachhaltigkeitsstrategie zur Agenda 2030 bei der Armutsbekämpfung den Indikator materielle Deprivation verwendet. Multikausale Armut muss durch unterschiedliche Indikatoren abgebildet und durch kohärente Indikatoren einheitlich von der Bundesregierung gemessen werden.
„A. Beschäftigung fördern“
- Rahmenbedingungen für Erwerbsbeteiligung verbessern (Ziff. 86 bis 89)
In diesem Kapitel werden die Maßnahmen der Bundesregierung zur Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf – und damit zur Erhöhung der Erwerbsbeteiligung von Frauen – dargestellt. Darüber hinaus wird die Erwerbsbeteiligung von Menschen mit Behinderung thematisiert. Beide Ziele werden exklusiv in den Kontext der demographischen Entwicklung und eines schon festgestellten oder für die Zukunft erwarteten Mangels qualifizierter Kräfte auf dem Arbeitsmarkt gestellt. Die BAGFW hält diese einseitige Kontextualisierung für problematisch. Die Steigerung der Erwerbsbeteiligung von strukturell benachteiligten Gruppen steht zwar im Kontext volkswirtschaftlicher Zusammenhänge, ist aber auch eine Frage der Teilhabegerechtigkeit.
Die Arbeitsförderung muss grundsätzlich stärker an den Bedürfnissen von Frauen und ihren häufig unterbrochenen Erwerbsbiographien ausgerichtet werden. Trotz der bisher unternommenen Anstrengung, öffentliche Kinderbetreuungsmöglichkeiten auszubauen, besteht hier weiter ein erheblicher Handlungsbedarf, insbesondere bei der Qualität sowie bei Betreuungsangeboten auch zu Randzeiten.
Die Maßnahmen zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf, insbesondere die Weiterentwicklung der Pflegezeit- und Familienpflegezeit, werden von der BAGFW begrüßt. Sie hatte sich für die Einführung eines Rechtsanspruchs auf Familienpflegezeit und die Verknüpfung der Familienpflegezeit mit der Pflegezeit ausgesprochen. Allerdings sollten für den Rechtsanspruch auf die Freistellungsmöglichkeiten jeweils die gleichen Betriebsgrößen gelten. Des Weiteren setzt sich die BAGFW für eine stärkere Flexibilisierung der kombinierten Inanspruchnahme der Freistellungen nach der Familienpflegezeit und der Pflegezeit ein, um den Arbeitnehmern die maximale Ausschöpfung beider Freistellungen für die Höchstdauer von 24 Monaten zu ermöglichen.
Die Situation Alleinerziehender wird jedoch bei den Maßnahmen zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf nicht ausreichend berücksichtigt. Dazu wäre neben einer Verbesserung der Kinderbetreuungssituation eine bessere wirtschaftliche Absicherung der Kinder – etwa über ein eigenständiges System der Kindergrundsicherung – erforderlich. Außerdem ist die unzureichende Alterssicherung des Elternteils, das sich für die Erziehung der Kinder besonders engagiert, immer noch ein ungelöstes Problem. Dies betrifft Alleinerziehende in besonderer Weise.
In Bezug auf Menschen mit Behinderung ist darauf hinzuweisen, dass das Bundesteilhabegesetz zwar substantielle Fortschritte mit sich bringt, in Bezug auf die Verbesserung der Erwerbsbeteiligung von Menschen mit Behinderung noch weiterentwickelt werden sollte. So wird zwar bei Leistungen zur beruflichen Weiterbildung, die zu einem Abschluss in einem allgemein anerkannten Ausbildungsberuf führen und für die eine allgemeine Ausbildungsdauer von mehr als zwei Jahren vorgeschrieben ist, die mögliche Dauer von Weiterbildung durch die Neuregelung auf zwei Drittel der üblichen Ausbildungszeiten verlängert. Die Schlechterstellung der Auszubildenden mit Behinderungen bleibt jedoch bestehen.
- Fachkräftepotenzial stärken: Bildung und Ausbildung sowie qualifizierte Zuwanderung (Ziff. 90 bis 96)
Fachkräftemangel in der Pflege: Pflegeberufereformgesetz verabschieden (Ziff. 90)
Der Fachkräftemangel in der Pflege ist eine große Herausforderung des deutschen Gesundheitssystems. Die Weiterentwicklung der bisher getrennten Ausbildungen der Alten-, Kranken- und Kinderkrankenpflege hin zu einer einheitlichen Pflegeberufsausbildung ist darauf die richtige Antwort. Denn bereits heute sind in Pflegeeinrichtungen vertiefte medizinisch-pflegerische Kenntnisse für eine komplexe Behandlungspflege erforderlich. Zugleich steigt in den Krankenhäusern der Anteil pflegebedürftiger und demenziell erkrankter Menschen. Nur eine breit ausgerichtete Ausbildung qualifiziert zur Pflege von Menschen in allen Lebenssituationen und Altersphasen. Die BAGFW hofft daher, dass das Pflegeberufereformgesetz noch in der verbleibenden Zeit dieser Legislaturperiode verabschiedet wird.
Situation von Ausländern und qualifizierte Zuwanderung (Ziff. 94f.)
Insgesamt sind Ausländer(innen) am deutschen Arbeitsmarkt immer noch benachteiligt. Sie haben schlechtere Bildungschancen und sind trotz der positiven Entwicklungsdynamik des Arbeitsmarktes überdurchschnittlich oft von Erwerbslosigkeit betroffen (11. Bericht der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration über die Lage der Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland, Dezember 2016; Länderbericht Deutschland 2017, SWD(2017) 71 final, S. 4.) Die Bundesregierung ist daher aufgefordert, Anstrengungen bei der Beseitigung migrationsspezifischer Benachteiligung am Arbeitsmarkt und im (Aus-)Bildungssystem zu unternehmen.
Deutschland benötigt Zuwanderung von Arbeitskräften. Bisher wird der Bedarf vorrangig durch die starke Zuwanderung von EU-Bürger(innen) gestillt. Es ist aber absehbar, dass diese zurückgehen wird. Zum einen, weil sich die Lebensbedingungen in den EU-Mitgliedstaaten mittel- und langfristig angleichen, und zum anderen, weil auch die mittel- und südosteuropäischen EU-Mitgliedstaaten zunehmend vor vergleichbaren demographischen Problemen stehen wie Deutschland. Daher muss auch die Zuwanderung aus Nicht-EU-Staaten zunehmend in den Blick genommen werden. Gleichzeitig sollte die weitere Zuwanderung aus anderen EU-Mitgliedstaaten gefördert und die Qualifizierungsbedarfe zugewanderter EU-Ausländer(innen) besonders berücksichtigt werden.
Die BAGFW zählt die Mobilität der EU-Bürger(innen) zu den großen Errungenschaften der EU. Dieses Recht wird mit Blick auf Staatsangehörige ärmerer Mitgliedstaaten oder von gering Qualifizierten zunehmend in Frage gestellt. Für Menschen, die nicht oder kaum Deutsch sprechen, die keine Berufsausbildung haben oder deren Ausbildung in Deutschland nicht anerkannt wird, ist es schwer eine existenzsichernde Erwerbstätigkeit aufzunehmen. Hier müsste mehr gefördert werden – auch um zu verhindern, dass die Notlage der Betroffenen in ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen ausgenutzt werden. Auch mit Blick auf EU-Ausländer(innen) muss die Beratung und die Existenzsicherung von Opfern von Arbeitsausbeutung und Menschenhandel sichergestellt werden.
Die Maßnahmen, die wie im NRP beschrieben die Zuwanderung von Fachkräften fördern sollen, sind noch nicht ausreichend. Um das Ziel zu erreichen, „die Zuwanderung und dauerhafte Integration von Personen mit abgeschlossener Berufsausbildung nach Deutschland systematisch weiter zu erleichtern“ (Ziff. 94) müsste unbedingt das komplexe Zuwanderungsrecht vereinfacht werden. Stattdessen wird es durch immer neue Aufenthaltstitel und Regelungen immer unübersichtlicher. Die Maßnahmen, die die gesellschaftliche und soziale Integration fördern, reichen nicht aus. Und wenn sich Deutschland im Wettbewerb um die besten Köpfe als attraktives Land positionieren will (Ziff. 95), muss es auch dafür Sorge tragen, dass ausreichend Wohnraum zur Verfügung steht (vgl. Länderbericht Deutschland 2017, SWD(2017) 71 final, S. 31) und der Diskriminierung von Migrant(inn)en auf dem Wohnungsmarkt entgegengewirkt wird. Diese Fragen werden jedoch im Abschnitt zum Wohnungsmarkt (Ziff. 150 ff.) nicht behandelt.
Die Verbände der BAGFW begrüßen, dass bei so genannten Engpassberufen die Zuwanderung vereinfacht wurde. Es wäre aber zu wünschen, dass die Positivliste schneller an die Realität angepasst wird.
„D. Bildungsniveau verbessern“ (Ziff. 133 bis 141)
Deutschland erreicht die Bildungsziele, die es sich im Rahmen der EU-2020 Strategie gesetzt hat. Dabei muss aber betont werden, dass es innerhalb Deutschlands große regionale Unterschiede gibt. Dies gilt auch für den Schulabgang ohne Hauptschulabschluss (siehe etwa <link http: www.caritas.de bildungschancen>www.caritas.de/bildungschancen). Diese großen regionalen Unterschiede weisen darauf hin, dass es sowohl in den (Schul-)Systemen als auch auf örtlicher Ebene Potenzial für weitere Verbesserungen gibt.
Die starke Kopplung von sozioökonomischer Herkunft und Bildungschancen in Deutschland wird auch im Entwurf des Nationalen Reformprogramms beschrieben und als Handlungsfeld identifiziert. Die Abhängigkeit des Bildungserfolgs von der sozialen Herkunft bleibt die zentrale Herausforderung unseres Bildungssystems. Kinder und Jugendliche brauchen eine gezielte Förderung in einer chancengerechten Schule, die flexibel, individuell, inklusiv und ganzheitlich Kinder begleitet und die Kooperation mit Eltern und Bezugspersonen pflegt. Kinder und Jugendliche mit multiplen Problemlagen brauchen eine niedrigschwellige Förderung, in deren Rahmen Angebote zur Förderung von Lern- und Leistungskompetenzen mit Maßnahmen zur Überwindung persönlicher und sozialer Problemlagen kombiniert werden. Hier haben sich Angebote der Schulsozialarbeit als besonders wirksam erwiesen, um insbesondere junge Menschen in sozial benachteiligten Lebenslagen frühzeitig zu erreichen. Auch in diesem Zusammenhang betont die BAGFW die Notwendigkeit des weiteren Ausbaus einer qualitativ hochwertigen Ganztagsbetreuung für Kinder mit multiprofessionellen Teams und mit integrierten Jugendhilfeangeboten. Eine ausreichende Finanzierung von Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen muss gewährleistet sein. Unfreiwillige Warteschleifen im Übergang von der Schule in die Ausbildung müssen abgebaut sowie das Nachholen von Schul- und Berufsabschlüssen müssen gefördert werden.
„E. Soziale Eingliederung vor allem durch die Verringerung von Armut fördern“ (Ziff. 142 bis 159)
Die Armutsrisikoquote in Deutschland hat sich trotz der guten Arbeitsmarktsituation in den vergangenen Jahren nicht verbessert, sondern ist sogar leicht angestiegen. Diese Entwicklung weisen alle verfügbaren Datenquellen aus. Insofern ist die Begründung im NRP, das angestiegene Armutsrisiko sei zum Teil durch eine Änderung der Stichprobenkonzentration in der herangezogenen Datenquelle (SOEP) bedingt nicht nachvollziehbar. Besorgniserregend ist die Erhöhung des Armutsrisikos trotz Erwerbstätigkeit („Armut trotz Arbeit“) in Deutschland, insbesondere durch prekäre Beschäftigung. Vor dem Hintergrund eines gestiegenen Armutsrisikos bei sinkender Arbeitslosigkeit wird deutlich, dass sich die Bundesregierung weitaus mehr armutspolitischen Herausforderungen stellen muss, als beim bloßen Blick auf den nationalen Indikator ersichtlich ist (zur Eignung des Indikators siehe das Kapitel Zielsetzungen auf Seite 5). Die Reduzierung von Arbeitslosigkeit und Langzeitarbeitslosigkeit ist wichtig, um Armut und soziale Ausgrenzung zu verringern, sie reicht aber nicht aus. Ausreichend ausgestattete Grundsicherungssysteme, die Verringerung sogenannter verdeckter Armut, die Prävention vor Altersarmut, der Abbau von Armutsrisiken trotz Erwerbstätigkeit, chancengerechte Bildungssysteme und Hilfen für benachteiligte Kinder, Jugendliche, Familien und Erwachsene sind notwendig um Armutsrisiken zu reduzieren.
Vor diesem Hintergrund sind die politischen Schwerpunkte im Europäischen Semester und in anderen europäischen und nationalen Politikprozessen neu zu justieren, um eine umfassende Bekämpfung der Armutsgefährdung zu gewährleisten und damit auch die zurzeit fast vergessene Europa 2020-Strategie wieder sichtbar zu machen.
Armutsbekämpfung ist mehr als Arbeitsmarktpolitik, so dass die BAGFW die Bundesregierung dazu ermuntert, das Indikatorenset zur Erfassung von Armut so zu erweitern, dass eine umfassende Bekämpfung der Armutsgefährdung gewährleistet wird.
- Integration in Arbeitsmarkt und Gesellschaft fördern (Ziff. 143 bis 146)
In dem Kapitel werden verschiedene Maßnahmen aufgeführt, wie die Integration von (Langzeit-)Arbeitslosen in den Arbeitsmarkt und die Gesellschaft gefördert werden kann. Bestimmte Personengruppen wie Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen (z.B. Suchtkranke oder psychisch Kranke) werden mit den bereits existierenden Förderprogrammen zur Reduzierung der Arbeitslosigkeit nicht oder nur selten erreicht. Um langfristig und nachhaltig Arbeitslosigkeit und Armut zu überwinden, müssen Instrumente zur Verfügung stehen, die für die Förderung arbeitsmarktferner Personengruppen wirksam genutzt werden können. Aus Sicht der BAGFW fehlt es aber weiterhin an einem umfassenden Arbeitsmarktkonzept, welches eine passgenaue und langfristige Förderstrategie beinhaltet. Auch die Problematik des Ausmaßes des verfestigten Langzeitleistungsbezugs in der Grundsicherung für Arbeitsuchende bleibt im NRP weitgehend unerwähnt, obwohl sie zum Beispiel im Arbeitsdokument der Europäischen Kommission zum Länderbericht Deutschland 2016 beschrieben wird.
Langzeitarbeitslose sind vom rückläufigen Einsatz arbeitsmarktpolitischer Instrumente besonders betroffen. Nach Angaben aus dem Eingliederungsbericht 2014 der Bundesagentur für Arbeit waren sie nur mit einem Anteil von 19 % an Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik beteiligt. Die BAGFW spricht sich dafür aus, die schwerpunktmäßige Ausrichtung der Arbeitsmarktförderung auf Personen und Förderleistungen mit großer Arbeitsmarktnähe aufzugeben und Langzeitleistungsbeziehenden und ihren Familien deutlich mehr Förderung anzubieten.
Für einen Teil derjenigen Menschen, die trotz intensiver Förderung ohne Chance auf Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt sind, sollen über öffentlich geförderte sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsangebote Möglichkeiten der sozialen Teilhabe eröffnet werden. Vor dem Hintergrund der verfestigten und hohen Langzeitarbeitslosigkeit sieht die BAGFW das im NRP aufgeführte Konzept „Chancen eröffnen – soziale Teilhabe sichern“ positiv. Die Verbände loben ausdrücklich das Vorhaben, ein Angebot zur sozialen Teilhabe durch Erwerbsarbeit für ansonsten vom Arbeitsmarkt ausgeschlossene Personen mit öffentlich geförderter sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung zu unterbreiten. Das Programm kann dazu ein erster wichtiger Schritt sein. Da die tatsächlichen Unterstützungsbedarfe weit über die angedachte Förderung von 20.000 Personen hinausgehen, fordert die BAGFW zusätzliche Mittel bereitzustellen und das Programm mit einer Erprobung des sog. Passiv-Aktiv-Transfers (PAT) zu verknüpfen.
- Soziale Teilhabe im Alter (Ziff. 147-149)
Die Altersarmut bestimmter Menschen ist bereits heute ein ernstzunehmendes Problem, das sich in den nächsten Jahren noch erheblich verschärfen wird. Immer mehr Menschen sind auf Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung angewiesen. Frauen sind dabei deutlich mehr von Altersarmut betroffen als Männer. Trotz der Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes drohen prekäre Arbeitsverhältnisse, der Ausbau des Niedriglohnsektors und unterbrochene Erwerbsbiographien das Problem der Altersarmut zu verschärfen.
- Knappheit auf Wohnungsmärkten entgegenwirken (Ziff. 150-154)
Die BAGFW begrüßt die von der Bundesregierung in die Wege geleiteten Maßnahmen zur Ankurbelung des Wohnungsbaus. Die Zahl der 2016 erteilten Baugenehmigungen ist in 2016 deutlich gestiegen[1]. Auch die Zahl der fertig gestellten Wohnungen[2] wird höher liegen als im Vorjahr. Wohnungen im unteren Preissegment sind dennoch weiterhin Mangelware. Die Zahl der Sozialwohnungen sinkt weiterhin. Daher ist die bedarfsgerechte und zweckgebundene Aufstockung der Kompensationsmittel des Bundes an die Länder für den Sozialen Wohnungsbau dringend geboten und muss auch nach 2019 rechtlich ermöglicht werden.
Die Aufstockung der Fördermittel im Städtebauprogramm „Soziale Stadt“ begrüßt die BAGFW. Die Einrichtung von Quartiersmanagements in Stadtteilen erweist sich als effiziente Methode, um unterschiedliche Aufgabenbereiche auf Quartiersebene miteinander zu verzahnen, Begegnungen der Menschen untereinander zu ermöglichen und den sozialen Zusammenhalt zu stärken. Probleme verursachen weiterhin die Befristung des Quartiersmanagements und die damit verbundene fehlende Perspektive.
Bei der von der Bundesregierung 2016 vorgenommenen Wohngelderhöhung wurde versäumt, einen Dynamisierungsfaktor einzubauen, der eine regelmäßige Anpassung des Wohngelds gesetzlich normiert. Damit besteht die Gefahr, dass zahlreiche Haushalte bald wieder ins SGB II fallen werden und bei den Jobcentern Grundsicherungsleistungen beantragen müssen. Die BAGFW verweist in diesem Zusammenhang auch auf ihre Forderung der Wiedereinführung einer Heizkostenpauschale.
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Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege e. V. (BAGFW) begrüßt, dass das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) die partnerschaftliche Einbeziehung der Wohlfahrtsverbände im Rahmen des Europäischen Semesters kontinuierlich fortsetzt. Gerne nutzt die BAGFW die Gelegenheit für eine gemeinsame Stellungnahme zum vorgelegten Entwurf des Nationalen Reformprogramms 2017 (NRP).
Beteiligungsverfahren
Die BAGFW weist erneut und nachdrücklich darauf hin, dass die Fristsetzung im Hinblick auf eine ausreichende Beteiligung der Zivilgesellschaft (siehe Ziff. 156) – zumindest der freien Wohlfahrtspflege – an der Erstellung des NRP zu knapp bemessen ist. Der Entwurf des NRP wurde vom BMAS am 8. März 2017 mit Rückmeldefrist bis zum 15. März 2017 versandt. Diese Rückmeldefrist wurde um zwei Tage verlängert auf den 17. März 2017.
Kommentierte Kapitel
Die Kommentierung konzentriert sich auf die nachfolgenden Bereiche des NRP 2017:
· Abschnitt II (Bewältigung gesamtwirtschaftlicher Herausforderungen)
o B. Private Investitionen stärken, Wettbewerb weiter beleben (Vergaberecht)
o C. Anreize für Erwerbsbeteiligung erhöhen, Flüchtlinge bestmöglich integrieren
· Abschnitt III (EU-2020 Kernziele)
o A. Beschäftigung fördern
o D. Bildungsniveau verbessern
o E. Soziale Eingliederung vor allem durch die Verringerung von Armut fördern
1. „II.B. Private Investitionen stärken, Wettbewerb weiter beleben
Vergaberecht umfassend modernisieren“ (Ziff. 59f.)
Die Bundesregierung plant, den Wettbewerb weiter zu beleben. Dies will sie insbesondere durch das im April 2016 modernisierte Vergaberecht erreichen. Oberhalb des Schwellenwerts von 750.000 € sollen insbesondere geänderte Anforderungen die Vergabe sozialer Dienstleistungen erleichtern. Auftraggeber haben in Zukunft stärker die Möglichkeit, bei der Auftragsvergabe soziale, ökologische und innovative Kriterien zu berücksichtigen.
Die zentralen Neuerungen des Oberschwellenbereichs im Hinblick auf Verfahren und Struktur sollen überwiegend auch für Vergaben unterhalb der Schwellenwerte gelten.
Die BAGFW begrüßt grundsätzlich, dass dann, wenn zwingend nach Vergaberecht ausgeschrieben werden muss, wie etwa im Bereich der Arbeitsmarktdienstleistungen, die Verfahrensarten flexibler gewählt werden können und auch Qualitätskriterien in Zukunft eine stärkere Rolle spielen sollen. Eine Vereinheitlichung der Verfahren im Ober- und Unterschwellenbereich ist ebenfalls sinnvoll.
Allerdings fehlt das Bekenntnis der Bundesregierung, dass der Markt der sozialen Dienstleistungen überwiegend nicht durch eine Finanzierung über Vergabe reguliert werden darf. Das sozialrechtliche Dreiecksverhältnis ist das bewährte und dominierende Modell zur Ordnung des Marktes der sozialen Dienstleistungen. Es garantiert das Wunsch- und Wahlrecht hilfesuchender Bürgerinnen und Bürger, wodurch wiederum der Wettbewerb gesteuert wird. Das sozialrechtliche Dreieckverhältnis ist Ausdruck des in den Sozialgesetzbüchern verankerten Subsidiaritätsprinzips und sichert die Vielfalt der Leistungsangebote.
Wie die Bundesregierung ausführt, erleichtert das neue Vergaberecht die Einrichtung zentraler Beschaffungsstellen. Im Markt sozialer Dienstleistungen ist aber gerade eine stärkere Dezentralisierung notwendig, damit die jeweils vor Ort bestehenden sozialen Bedarfe durch ein Zusammenwirken zwischen Kostenträgern (Kommunen, Sozialversicherungen) und Leistungserbringern bestmöglich ermittelt und Leistungsangebote flexibel gestaltet werden können.
Die BAGFW fordert die Bundesregierung daher auf, zu verdeutlichen, dass der Wettbewerb im Bereich sozialer Dienstleistungen primär durch das Wunsch- und Wahlrecht der Leistungsberechtigten garantiert wird. Eine Weiterbelebung des sozialrechtlichen Dreiecksverhältnisses zielt auf sozialen Ausgleich, sichert Handlungs- und Wahlfreiheit, setzt Anreize für eine gute Dienstleistungserbringung, kann eine effiziente Ressourcennutzung befördern, Machtkonzentrationen und Abhängigkeiten entgegenwirken und Innovationen ermöglichen.
2. „II.C. Anreize für Erwerbsbeteiligung erhöhen, Flüchtlinge bestmöglich integrieren“
· Anreize für einen späteren Renteneintritt setzen (Ziff. 73)
Die Einführung der Flexirente soll den Umfang der Erwerbstätigkeit der Menschen über 60 erhöhen. Die grundsätzlich höhere Flexibilität bei der Kombination von Rentenbezug und Erwerbstätigkeit sowie der freiwilligen Zahlungen in die Rentenversicherung ist begrüßenswert.
· Arbeitsmarktintegration von Flüchtlingen zügig voranbringen (Ziff. 81f.)
Der Bericht widmet sich in einem gesonderten Teil der Arbeitsmarktintegration von Asylbewerber(inne)n, anerkannten Flüchtlingen und Geduldeten. In den Blick genommen werden dabei die von der Bundesregierung ergriffenen Maßnahmen im Bereich der rechtlichen Zugangsvoraussetzungen des Deutsch-Spracherwerbs sowie der Ausbildung und aktiven Arbeitsmarktpolitik für die Zielgruppe (Ziff. 82ff.). Die BAGFW kritisiert die einseitige Betrachtung, welche die Verantwortung der Unternehmen bei der Integration von Geflüchteten in Ausbildung und Arbeit außer Acht lässt. Aus Sicht der BAGFW sind weitere Anstrengungen zum Abbau von Vorbehalten und Diskriminierung von Migrantinnen und Migranten für einen erleichterten Zugang zum Arbeitsmarkt notwendig.
Die BAGFW begrüßt, dass die Bundesregierung die Bedeutung von Ausbildung und Arbeit für Geflüchtete und Geduldete, aber auch für die Gesellschaft hervorhebt (Ziff. 81). Die arbeitsmarktrelevanten Änderungen, die im Rahmen des Integrationsgesetztes beschlossen wurden (u.a. Aussetzen der Vorrangprüfung, die Ausbildungsduldung für die gesamte Dauer der Ausbildung), sind positiv hervorzuheben (Ziff. 82). Vor dem Hintergrund des demografisch bedingten Fachkräftemangels erscheint es jedoch paradox, weiterhin an der sogenannten „guten Bleibeperspektive“ festzuhalten. Die Wohlfahrtsverbände kritisieren in diesem Zusammenhang auch, dass die Ausbildungsduldung in den einzelnen Bundesländern unterschiedlich angewendet wird. Behördliche Hürden und Rechtsunsicherheiten hindern die Aufnahme einer Ausbildung. Hier ist eine Gesetzesänderung erforderlich, welche die Aufnahme einer Ausbildung für Asylsuchende, unabhängig von ihrem Herkunftsstaat, ermöglicht. Die BAGFW fordert die Bundesregierung daher auf, auch im eigenen Interesse, Potentiale unabhängig von Staatsangehörigkeit und Aufenthaltsstatus zu fördern. Die BAGFW erneuert ihre Forderung, dass nach erfolgreichem Abschluss einer Ausbildung, ein dauerhaftes Bleiberecht in Aussicht gestellt werden soll.
Die BAGFW stimmt der Bundesregierung zu, dass zunächst Fähigkeiten und Kompetenzen, die im Herkunftsland erworben wurden, festgestellt werden müssen, damit eine zielgerichtete Vermittlung in Ausbildung und Arbeit erfolgen kann. Die Bundesregierung hebt diesbezüglich das Engagement der Länder hervor. Wir möchten auch darauf hinweisen, dass die Kommunen, zivilgesellschaftliche Initiativen und Projekte und die zahlreichen ehrenamtlich Engagierten bei der Ausbildungs- und Arbeitsplatzsuche einen wesentlichen Anteil haben. Von den derzeit nach Deutschland kommenden Asylsuchenden sind über 50 Prozent junge Menschen unter 25 Jahren, die größtenteils noch einen Schul- und Berufsabschluss erwerben müssen. Die Bundesregierung weist zu Recht darauf hin, dass Qualifizierung immer Vorrang vor geringqualifizierter Arbeit haben soll. Monatlich gelangen ca. 10.000 Menschen nach ihrer Anerkennung in den Rechtskreis des SGBII. Eine Orientierungsberatung findet häufig erst in dieser Phase des Aufenthaltes statt. Die Jobcenter sind jedoch aufgrund mangelnder personeller und finanzieller Ausstattung kaum in der Lage, die vielen Menschen in eine qualifizierte Berufsausbildung bzw. in einen Beruf zu vermitteln. Eine gute Beratung ist für alle Menschen im Leistungsbezug des SGB II wichtig. Durch die zusätzlichen Förderbedarfe im Rahmen der Arbeitsmarktintegration von Geflüchteten müssen die finanziellen Mittel der Jobcenter aufgestockt und Personal für den spezifischen Beratungsbedarf qualifiziert werden.
Im Rahmen des Arbeitsmarktprogramms Flüchtlingsintegrationsmaßnahmen wurde durch den Gesetzgeber ermöglicht, dass die Maßnahme auch bei der Anerkennung und dem damit verbundenen Rechtskreiswechsel weitergeführt werden kann. Diese Entwicklung begrüßt die BAGFW. Aufgrund der Ausgestaltung des Programms sind FIM hauptsächlich als tagesstrukturierende Maßnahme zu betrachten und weniger als Heranführung an den Arbeitsmarkt, wie von der Bundesregierung dargelegt. Die Wohlfahrtsverbände setzten sich dafür ein, in Regelinstrumente der Arbeitsförderung für alle Asylsuchenden und Geduldeten zu investieren und nicht in Sonderprogramme. Ziel muss es sein, passgenau, individuell und sinnvoll zu fördern, insbesondere bei der Vermittlung von jungen Menschen. Gute Instrumente der Arbeitsförderung im SGB III (S.44) liegen bereits vor. Die BAGFW begrüßt den erleichterten Zugang zu diesen Maßnahmen.
3. „EU-2020 Kernziele: Erzielte Fortschritte und Maßnahmen“
· Zielsetzungen (Ziff. 83f. sowie Tabelle vor Ziff. 85)
Die nationalen EU-2020 Kernziele in den Bereichen „Beschäftigung fördern“, „Bildungsniveau verbessern“ und „Soziale Eingliederung vor allem durch die Verringerung von Armut fördern“ sind erreicht. Diese Entwicklung ist erfreulich und wird von der BAGFW begrüßt.
Die BAGFW begrüßt auch die Aussage der Bundesregierung, dass trotz einer positiven Zwischenbilanz hinsichtlich der EU-2020 Kernziele in allen Bereichen weitere Anstrengungen notwendig und sinnvoll seien (Ziff. 83). Dies entspricht der Auffassung der BAGFW. Die BAGFW würde allerdings begrüßen, wenn das Bekenntnis zu weiteren Anstrengungen mit einer Anpassung der quantitativen Ziele hinterlegt würde.
Eine Anpassung der Zielsetzung ist gerade im Bereich „Soziale Eingliederung vor allem durch Verringerung von Armut fördern“ notwendig. Der nationale Indikator „Anzahl der Langzeitarbeitslosen reduzieren“ bildet nämlich nur einen Teil der Armutsrisiken in Deutschland ab. (siehe hierzu auch Kapitel „Soziale Eingliederung vor allem durch Verringerung von Armut fördern“). Die verschiedenen Dimensionen von Armutsrisiken und Mangellagen müssen besser abgebildet werden. Die Reduzierung der Langzeitarbeitslosigkeit ist deshalb ein wichtiges Element der Armutsbekämpfung, reicht aber allein nicht aus. Auch Armutsrisiken von Menschen, die nicht mehr oder noch nicht am Erwerbsleben teilnehmen, müssen stärker in den Fokus gerückt werden. Die Einbeziehung weiterer Indikatoren, wie z.B. der relativen Einkommensarmut, der materiellen Deprivation oder der Verweildauer im Bezug existenzsichernder Sozialleistungen ist erforderlich. Die Bundesregierung selbst verwendet in ihrem Armuts- und Reichtumsbericht den Indikator relative Einkommensarmut, und hat in der deutschen Nachhaltigkeitsstrategie zur Agenda 2030 bei der Armutsbekämpfung den Indikator materielle Deprivation verwendet. Multikausale Armut muss durch unterschiedliche Indikatoren abgebildet und durch kohärente Indikatoren einheitlich von der Bundesregierung gemessen werden.
· „A. Beschäftigung fördern“
o Rahmenbedingungen für Erwerbsbeteiligung verbessern (Ziff. 86 bis 89)
In diesem Kapitel werden die Maßnahmen der Bundesregierung zur Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf – und damit zur Erhöhung der Erwerbsbeteiligung von Frauen – dargestellt. Darüber hinaus wird die Erwerbsbeteiligung von Menschen mit Behinderung thematisiert. Beide Ziele werden exklusiv in den Kontext der demographischen Entwicklung und eines schon festgestellten oder für die Zukunft erwarteten Mangels qualifizierter Kräfte auf dem Arbeitsmarkt gestellt. Die BAGFW hält diese einseitige Kontextualisierung für problematisch. Die Steigerung der Erwerbsbeteiligung von strukturell benachteiligten Gruppen steht zwar im Kontext volkswirtschaftlicher Zusammenhänge, ist aber auch eine Frage der Teilhabegerechtigkeit.
Die Arbeitsförderung muss grundsätzlich stärker an den Bedürfnissen von Frauen und ihren häufig unterbrochenen Erwerbsbiographien ausgerichtet werden. Trotz der bisher unternommenen Anstrengung, öffentliche Kinderbetreuungsmöglichkeiten auszubauen, besteht hier weiter ein erheblicher Handlungsbedarf, insbesondere bei der Qualität sowie bei Betreuungsangeboten auch zu Randzeiten.
Die Maßnahmen zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf, insbesondere die Weiterentwicklung der Pflegezeit- und Familienpflegezeit, werden von der BAGFW begrüßt. Sie hatte sich für die Einführung eines Rechtsanspruchs auf Familienpflegezeit und die Verknüpfung der Familienpflegezeit mit der Pflegezeit ausgesprochen. Allerdings sollten für den Rechtsanspruch auf die Freistellungsmöglichkeiten jeweils die gleichen Betriebsgrößen gelten. Des Weiteren setzt sich die BAGFW für eine stärkere Flexibilisierung der kombinierten Inanspruchnahme der Freistellungen nach der Familienpflegezeit und der Pflegezeit ein, um den Arbeitnehmern die maximale Ausschöpfung beider Freistellungen für die Höchstdauer von 24 Monaten zu ermöglichen.
Die Situation Alleinerziehender wird jedoch bei den Maßnahmen zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf nicht ausreichend berücksichtigt. Dazu wäre neben einer Verbesserung der Kinderbetreuungssituation eine bessere wirtschaftliche Absicherung der Kinder – etwa über ein eigenständiges System der Kindergrundsicherung – erforderlich. Außerdem ist die unzureichende Alterssicherung des Elternteils, das sich für die Erziehung der Kinder besonders engagiert, immer noch ein ungelöstes Problem. Dies betrifft Alleinerziehende in besonderer Weise.
In Bezug auf Menschen mit Behinderung ist darauf hinzuweisen, dass das Bundesteilhabegesetz zwar substantielle Fortschritte mit sich bringt, in Bezug auf die Verbesserung der Erwerbsbeteiligung von Menschen mit Behinderung noch weiterentwickelt werden sollte. So wird zwar bei Leistungen zur beruflichen Weiterbildung, die zu einem Abschluss in einem allgemein anerkannten Ausbildungsberuf führen und für die eine allgemeine Ausbildungsdauer von mehr als zwei Jahren vorgeschrieben ist, die mögliche Dauer von Weiterbildung durch die Neuregelung auf zwei Drittel der üblichen Ausbildungszeiten verlängert. Die Schlechterstellung der Auszubildenden mit Behinderungen bleibt jedoch bestehen.
o Fachkräftepotenzial stärken: Bildung und Ausbildung sowie qualifizierte Zuwanderung (Ziff. 90 bis 96)
Fachkräftemangel in der Pflege: Pflegeberufereformgesetz verabschieden (Ziff. 90)
Der Fachkräftemangel in der Pflege ist eine große Herausforderung des deutschen Gesundheitssystems. Die Weiterentwicklung der bisher getrennten Ausbildungen der Alten-, Kranken- und Kinderkrankenpflege hin zu einer einheitlichen Pflegeberufsausbildung ist darauf die richtige Antwort. Denn bereits heute sind in Pflegeeinrichtungen vertiefte medizinisch-pflegerische Kenntnisse für eine komplexe Behandlungspflege erforderlich. Zugleich steigt in den Krankenhäusern der Anteil pflegebedürftiger und demenziell erkrankter Menschen. Nur eine breit ausgerichtete Ausbildung qualifiziert zur Pflege von Menschen in allen Lebenssituationen und Altersphasen. Die BAGFW hofft daher, dass das Pflegeberufereformgesetz noch in der verbleibenden Zeit dieser Legislaturperiode verabschiedet wird.
Situation von Ausländern und qualifizierte Zuwanderung (Ziff. 94f.)
Insgesamt sind Ausländer(innen) am deutschen Arbeitsmarkt immer noch benachteiligt. Sie haben schlechtere Bildungschancen und sind trotz der positiven Entwicklungsdynamik des Arbeitsmarktes überdurchschnittlich oft von Erwerbslosigkeit betroffen (11. Bericht der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration über die Lage der Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland, Dezember 2016; Länderbericht Deutschland 2017, SWD(2017) 71 final, S. 4.) Die Bundesregierung ist daher aufgefordert, Anstrengungen bei der Beseitigung migrationsspezifischer Benachteiligung am Arbeitsmarkt und im (Aus-)Bildungssystem zu unternehmen.
Deutschland benötigt Zuwanderung von Arbeitskräften. Bisher wird der Bedarf vorrangig durch die starke Zuwanderung von EU-Bürger(innen) gestillt. Es ist aber absehbar, dass diese zurückgehen wird. Zum einen, weil sich die Lebensbedingungen in den EU-Mitgliedstaaten mittel- und langfristig angleichen, und zum anderen, weil auch die mittel- und südosteuropäischen EU-Mitgliedstaaten zunehmend vor vergleichbaren demographischen Problemen stehen wie Deutschland. Daher muss auch die Zuwanderung aus Nicht-EU-Staaten zunehmend in den Blick genommen werden. Gleichzeitig sollte die weitere Zuwanderung aus anderen EU-Mitgliedstaaten gefördert und die Qualifizierungsbedarfe zugewanderter EU-Ausländer(innen) besonders berücksichtigt werden.
Die BAGFW zählt die Mobilität der EU-Bürger(innen) zu den großen Errungenschaften der EU. Dieses Recht wird mit Blick auf Staatsangehörige ärmerer Mitgliedstaaten oder von gering Qualifizierten zunehmend in Frage gestellt. Für Menschen, die nicht oder kaum Deutsch sprechen, die keine Berufsausbildung haben oder deren Ausbildung in Deutschland nicht anerkannt wird, ist es schwer eine existenzsichernde Erwerbstätigkeit aufzunehmen. Hier müsste mehr gefördert werden – auch um zu verhindern, dass die Notlage der Betroffenen in ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen ausgenutzt werden. Auch mit Blick auf EU-Ausländer(innen) muss die Beratung und die Existenzsicherung von Opfern von Arbeitsausbeutung und Menschenhandel sichergestellt werden.
Die Maßnahmen, die wie im NRP beschrieben die Zuwanderung von Fachkräften fördern sollen, sind noch nicht ausreichend. Um das Ziel zu erreichen, „die Zuwanderung und dauerhafte Integration von Personen mit abgeschlossener Berufsausbildung nach Deutschland systematisch weiter zu erleichtern“ (Ziff. 94) müsste unbedingt das komplexe Zuwanderungsrecht vereinfacht werden. Stattdessen wird es durch immer neue Aufenthaltstitel und Regelungen immer unübersichtlicher. Die Maßnahmen, die die gesellschaftliche und soziale Integration fördern, reichen nicht aus. Und wenn sich Deutschland im Wettbewerb um die besten Köpfe als attraktives Land positionieren will (Ziff. 95), muss es auch dafür Sorge tragen, dass ausreichend Wohnraum zur Verfügung steht (vgl. Länderbericht Deutschland 2017, SWD(2017) 71 final, S. 31) und der Diskriminierung von Migrant(inn)en auf dem Wohnungsmarkt entgegengewirkt wird. Diese Fragen werden jedoch im Abschnitt zum Wohnungsmarkt (Ziff. 150 ff.) nicht behandelt.
Die Verbände der BAGFW begrüßen, dass bei so genannten Engpassberufen die Zuwanderung vereinfacht wurde. Es wäre aber zu wünschen, dass die Positivliste schneller an die Realität angepasst wird.
· „D. Bildungsniveau verbessern“ (Ziff. 133 bis 141)
Deutschland erreicht die Bildungsziele, die es sich im Rahmen der EU-2020 Strategie gesetzt hat. Dabei muss aber betont werden, dass es innerhalb Deutschlands große regionale Unterschiede gibt. Dies gilt auch für den Schulabgang ohne Hauptschulabschluss (siehe etwa <link http: www.caritas.de bildungschancen>www.caritas.de/bildungschancen). Diese großen regionalen Unterschiede weisen darauf hin, dass es sowohl in den (Schul-)Systemen als auch auf örtlicher Ebene Potenzial für weitere Verbesserungen gibt.
Die starke Kopplung von sozioökonomischer Herkunft und Bildungschancen in Deutschland wird auch im Entwurf des Nationalen Reformprogramms beschrieben und als Handlungsfeld identifiziert. Die Abhängigkeit des Bildungserfolgs von der sozialen Herkunft bleibt die zentrale Herausforderung unseres Bildungssystems. Kinder und Jugendliche brauchen eine gezielte Förderung in einer chancengerechten Schule, die flexibel, individuell, inklusiv und ganzheitlich Kinder begleitet und die Kooperation mit Eltern und Bezugspersonen pflegt. Kinder und Jugendliche mit multiplen Problemlagen brauchen eine niedrigschwellige Förderung, in deren Rahmen Angebote zur Förderung von Lern- und Leistungskompetenzen mit Maßnahmen zur Überwindung persönlicher und sozialer Problemlagen kombiniert werden. Hier haben sich Angebote der Schulsozialarbeit als besonders wirksam erwiesen, um insbesondere junge Menschen in sozial benachteiligten Lebenslagen frühzeitig zu erreichen. Auch in diesem Zusammenhang betont die BAGFW die Notwendigkeit des weiteren Ausbaus einer qualitativ hochwertigen Ganztagsbetreuung für Kinder mit multiprofessionellen Teams und mit integrierten Jugendhilfeangeboten. Eine ausreichende Finanzierung von Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen muss gewährleistet sein. Unfreiwillige Warteschleifen im Übergang von der Schule in die Ausbildung müssen abgebaut sowie das Nachholen von Schul- und Berufsabschlüssen müssen gefördert werden.
· „E. Soziale Eingliederung vor allem durch die Verringerung von Armut fördern“ (Ziff. 142 bis 159)
Die Armutsrisikoquote in Deutschland hat sich trotz der guten Arbeitsmarktsituation in den vergangenen Jahren nicht verbessert, sondern ist sogar leicht angestiegen. Diese Entwicklung weisen alle verfügbaren Datenquellen aus. Insofern ist die Begründung im NRP, das angestiegene Armutsrisiko sei zum Teil durch eine Änderung der Stichprobenkonzentration in der herangezogenen Datenquelle (SOEP) bedingt nicht nachvollziehbar. Besorgniserregend ist die Erhöhung des Armutsrisikos trotz Erwerbstätigkeit („Armut trotz Arbeit“) in Deutschland, insbesondere durch prekäre Beschäftigung. Vor dem Hintergrund eines gestiegenen Armutsrisikos bei sinkender Arbeitslosigkeit wird deutlich, dass sich die Bundesregierung weitaus mehr armutspolitischen Herausforderungen stellen muss, als beim bloßen Blick auf den nationalen Indikator ersichtlich ist (zur Eignung des Indikators siehe das Kapitel Zielsetzungen auf Seite 5). Die Reduzierung von Arbeitslosigkeit und Langzeitarbeitslosigkeit ist wichtig, um Armut und soziale Ausgrenzung zu verringern, sie reicht aber nicht aus. Ausreichend ausgestattete Grundsicherungssysteme, die Verringerung sogenannter verdeckter Armut, die Prävention vor Altersarmut, der Abbau von Armutsrisiken trotz Erwerbstätigkeit, chancengerechte Bildungssysteme und Hilfen für benachteiligte Kinder, Jugendliche, Familien und Erwachsene sind notwendig um Armutsrisiken zu reduzieren.
Vor diesem Hintergrund sind die politischen Schwerpunkte im Europäischen Semester und in anderen europäischen und nationalen Politikprozessen neu zu justieren, um eine umfassende Bekämpfung der Armutsgefährdung zu gewährleisten und damit auch die zurzeit fast vergessene Europa 2020-Strategie wieder sichtbar zu machen.
Armutsbekämpfung ist mehr als Arbeitsmarktpolitik, so dass die BAGFW die Bundesregierung dazu ermuntert, das Indikatorenset zur Erfassung von Armut so zu erweitern, dass eine umfassende Bekämpfung der Armutsgefährdung gewährleistet wird.
o Integration in Arbeitsmarkt und Gesellschaft fördern (Ziff. 143 bis 146)
In dem Kapitel werden verschiedene Maßnahmen aufgeführt, wie die Integration von (Langzeit-)Arbeitslosen in den Arbeitsmarkt und die Gesellschaft gefördert werden kann. Bestimmte Personengruppen wie Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen (z.B. Suchtkranke oder psychisch Kranke) werden mit den bereits existierenden Förderprogrammen zur Reduzierung der Arbeitslosigkeit nicht oder nur selten erreicht. Um langfristig und nachhaltig Arbeitslosigkeit und Armut zu überwinden, müssen Instrumente zur Verfügung stehen, die für die Förderung arbeitsmarktferner Personengruppen wirksam genutzt werden können. Aus Sicht der BAGFW fehlt es aber weiterhin an einem umfassenden Arbeitsmarktkonzept, welches eine passgenaue und langfristige Förderstrategie beinhaltet. Auch die Problematik des Ausmaßes des verfestigten Langzeitleistungsbezugs in der Grundsicherung für Arbeitsuchende bleibt im NRP weitgehend unerwähnt, obwohl sie zum Beispiel im Arbeitsdokument der Europäischen Kommission zum Länderbericht Deutschland 2016 beschrieben wird.
Langzeitarbeitslose sind vom rückläufigen Einsatz arbeitsmarktpolitischer Instrumente besonders betroffen. Nach Angaben aus dem Eingliederungsbericht 2014 der Bundesagentur für Arbeit waren sie nur mit einem Anteil von 19 % an Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik beteiligt. Die BAGFW spricht sich dafür aus, die schwerpunktmäßige Ausrichtung der Arbeitsmarktförderung auf Personen und Förderleistungen mit großer Arbeitsmarktnähe aufzugeben und Langzeitleistungsbeziehenden und ihren Familien deutlich mehr Förderung anzubieten.
Für einen Teil derjenigen Menschen, die trotz intensiver Förderung ohne Chance auf Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt sind, sollen über öffentlich geförderte sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsangebote Möglichkeiten der sozialen Teilhabe eröffnet werden. Vor dem Hintergrund der verfestigten und hohen Langzeitarbeitslosigkeit sieht die BAGFW das im NRP aufgeführte Konzept „Chancen eröffnen – soziale Teilhabe sichern“ positiv. Die Verbände loben ausdrücklich das Vorhaben, ein Angebot zur sozialen Teilhabe durch Erwerbsarbeit für ansonsten vom Arbeitsmarkt ausgeschlossene Personen mit öffentlich geförderter sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung zu unterbreiten. Das Programm kann dazu ein erster wichtiger Schritt sein. Da die tatsächlichen Unterstützungsbedarfe weit über die angedachte Förderung von 20.000 Personen hinausgehen, fordert die BAGFW zusätzliche Mittel bereitzustellen und das Programm mit einer Erprobung des sog. Passiv-Aktiv-Transfers (PAT) zu verknüpfen.
o Soziale Teilhabe im Alter (Ziff. 147-149)
Die Altersarmut bestimmter Menschen ist bereits heute ein ernstzunehmendes Problem, das sich in den nächsten Jahren noch erheblich verschärfen wird. Immer mehr Menschen sind auf Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung angewiesen. Frauen sind dabei deutlich mehr von Altersarmut betroffen als Männer. Trotz der Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes drohen prekäre Arbeitsverhältnisse, der Ausbau des Niedriglohnsektors und unterbrochene Erwerbsbiographien das Problem der Altersarmut zu verschärfen.
o Knappheit auf Wohnungsmärkten entgegenwirken (Ziff. 150-154)
Die BAGFW begrüßt die von der Bundesregierung in die Wege geleiteten Maßnahmen zur Ankurbelung des Wohnungsbaus. Die Zahl der 2016 erteilten Baugenehmigungen ist in 2016 deutlich gestiegen[1]. Auch die Zahl der fertig gestellten Wohnungen[2] wird höher liegen als im Vorjahr. Wohnungen im unteren Preissegment sind dennoch weiterhin Mangelware. Die Zahl der Sozialwohnungen sinkt weiterhin. Daher ist die bedarfsgerechte und zweckgebundene Aufstockung der Kompensationsmittel des Bundes an die Länder für den Sozialen Wohnungsbau dringend geboten und muss auch nach 2019 rechtlich ermöglicht werden.
Die Aufstockung der Fördermittel im Städtebauprogramm „Soziale Stadt“ begrüßt die BAGFW. Die Einrichtung von Quartiersmanagements in Stadtteilen erweist sich als effiziente Methode, um unterschiedliche Aufgabenbereiche auf Quartiersebene miteinander zu verzahnen, Begegnungen der Menschen untereinander zu ermöglichen und den sozialen Zusammenhalt zu stärken. Probleme verursachen weiterhin die Befristung des Quartiersmanagements und die damit verbundene fehlende Perspektive.
Bei der von der Bundesregierung 2016 vorgenommenen Wohngelderhöhung wurde versäumt, einen Dynamisierungsfaktor einzubauen, der eine regelmäßige Anpassung des Wohngelds gesetzlich normiert. Damit besteht die Gefahr, dass zahlreiche Haushalte bald wieder ins SGB II fallen werden und bei den Jobcentern Grundsicherungsleistungen beantragen müssen. Die BAGFW verweist in diesem Zusammenhang auch auf ihre Forderung der Wiedereinführung einer Heizkostenpauschale.
Berlin/Brüssel, 17.03.2017
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"Freie Wohlfahrtspflege" ist die Gesamtheit aller sozialen Hilfen, die auf freigemeinnütziger Grundlage und in organisierter Form in der Bundesrepublik Deutschland geleistet werden. Freie Wohlfahrtspflege unterscheidet sich einerseits von gewerblichen - auf Gewinnerzielung ausgerichteten - Angeboten und andererseits von denen öffentlicher Träger. Das Miteinander öffentlicher und freier Wohlfahrtspflege in der Bundesrepublik Deutschland ist einmalig in der Welt. Die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege sind aufgrund ihrer Leistungen für das Gemeinwesen ein wichtiger Bestandteil des Sozialstaates. Das soziale Netz würde zerreißen, wenn es ihre Arbeit nicht gäbe: In den Einrichtungen und Diensten der Wohlfahrtsverbände sind rund 1,4 Millionen Menschen hauptamtlich beschäftigt; schätzungsweise 2,5 bis 3 Millionen leisten ehrenamtlich engagierte Hilfen in Initiativen, Hilfswerken und Selbsthilfegruppen. Die Wohlfahrtsverbände sind föderalistisch strukturiert, d. h. die Gliederungen und Mitgliedsorganisationen sind überwiegend rechtlich selbstständig. Sie haben sich in sechs Spitzenverbänden der Freien Wohlfahrtspflege zusammengeschlossen. Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege sind geprägt durch unterschiedliche weltanschauliche oder religiöse Motive und Zielvorstellungen. Gemeinsam ist allen, dass sie unmittelbar an die Hilfsbereitschaft und an die Solidarität der Bevölkerung anknüpfen.
Personengruppen, die voll oder teilweise auf die Unterstützung der Gesellschaft angewiesen sind, wie z.B. arme, kranke, behinderte, pflegebedürftige, arbeitslose, obdachlose, Asyl suchende oder sozial ausgegrenzte Menschen, haben oft keine oder nur geringe Möglichkeiten, ihren Vorstellungen zur Lösung der sie bedrängenden Nöte und Probleme Gehör zu verschaffen. Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege setzen sich für die Belange benachteiligter und hilfebedürftiger Menschen ein und vertreten deren Interessen in der öffentlichen Diskussion.
Wir begrüßen daher die Möglichkeit, im Interesse unserer Dienste und Einrichtungen, insbesondere aber auch im Interesse der betroffenen Menschen eine Stellungnahme zur Neuausrichtung der Mehrwertsteuer-Sätze abgeben zu dürfen, da diese als Endverbraucher von Neuerungen direkt oder indirekt betroffen sind.
Die geltenden Vorschriften erlauben gewisse Umsatzsteuerermäßigungen und
-befreiungen für bestimmte, dem Gemeinwohl dienende Tätigkeiten. Diese sollten aus der Sicht der Freien Wohlfahrtsverbände unbedingt beibehalten werden.
Zur Beibehaltung von Umsatzsteuerbefreiungen
Insbesondere Artikel 132 Richtlinie 2006/112/EG Mehrwertsteuer-Systemrichtlinie (i.F.: MwStSystRL) sieht Steuerbefreiungen für bestimmte, dem Gemeinwohl dienende Tätigkeiten vor, wie beispielsweise Krankenhausbehandlungen und ärztliche Heilbehandlungsleistungen, eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbundene Dienstleistungen, Leistungen der Kinder- und Jugendbetreuung/-erziehung oder Schul- und Hochschulunterricht. Darüber hinaus werden nach Artikel 132 Abs. 1 Buchstabe f und k der MwStSystRL auch die Leistungen von umsatzsteuerbefreiten Personenzusammenschlüssen sowie die Personalgestellung durch religiöse und weltanschauliche Einrichtungen für Tätigkeiten im Bereich der Heilbehandlung, der Sozialfürsorge sowie der Kinder- und Jugendbetreuung/ -erziehung von der Umsatzsteuer befreit.
Eine Abschaffung der Umsatzsteuerbefreiung von dem Gemeinwohl dienenden Tätigkeiten hätte aus Sicht der Freien Wohlfahrtspflege aller Wahrscheinlichkeit nach für soziale Leistungen aufgrund des hohen Anteils von Personalkosten eine Erhöhung der Preise bis zum reduzierten Umsatzsteuersatz bzw. sogar bis zum Regelsteuersatz von in Deutschland derzeit 19 % zur Folge.
Insbesondere die Krankenhaus- und Heilbehandlungsleistungen, Pflegeleistungen oder Leistungen der Sozialfürsorge werden in Deutschland durch die Sozialversicherung und zum Teil auch aus öffentlichen Kassen bezahlt. Die Abschaffung der Umsatzsteuerbefreiung und eine Besteuerung zum Regelsteuersatz hätte allein in Deutschland bezogen auf das Jahr 2014 für die gesetzliche Kranken-, Pflege-, Renten-, Unfall- und Arbeitslosenversicherung Mehrkosten in Höhe von 34 Mrd. Euro bzw. eine Steigerung der Beitragssätze um mehr als 3 Prozentpunkte zur Folge[1]. Eine derart signifikante Erhöhung der Sozialversicherungsbeiträge wird jedoch politisch kaum realisierbar sein, denn die Beitragslast ist bereits hoch, und eine weitere Erhöhung würde zu einer zusätzlichen Steigerung der Lohnnebenkosten führen. Wahrscheinlicher ist, dass mittelfristig das Leistungsniveau der Sozialversicherung und der Sozialfürsorge abgesenkt wird. Dies hätte jedoch massive negative Auswirkungen auf den Lebensstandard von benachteiligten und/oder hilfebedürftigen Menschen.
Bei Selbstzahlern ergeben sich in Abhängigkeit von der Einkommenshöhe und der Personenzahl eines Haushalts bei einer Steuererhöhung um bis zu 19 % - Punkte gravierende Folgen für die Lebenshaltungskosten. Insbesondere Haushalte mit niedrigem Einkommen sowie Haushalte mit Kindern wären von entsprechenden Steuererhöhungen (z.B. im Bereich der Betreuung und Bildung) überproportional betroffen. Dies könnte durch Transferzahlungen des Staates, wenn überhaupt, nur mit einem zusätzlichen bürokratischen Aufwand und auch nur zeitlich verzögert kompensiert werden.
Eine Abschaffung der Umsatzsteuerbefreiungen für dem Gemeinwohl dienende Tätigkeiten hätte zwar eine breitere Bemessungsgrundlage für die Erhebung der Umsatzsteuer zur Folge. Ob aber im Gegenzug der Regelsteuersatz abgesenkt wird, ist angesichts der angespannten Haushaltslage vieler europäischer Länder fraglich. Auch ist nicht mit einer die sozialpolitischen Auswirkungen kompensierenden oder abfedernden Absenkung anderer Steuerarten oder mit entsprechenden Transferleistungen zu rechnen. Ferner dürfte die Abschaffung der Mehrwertsteuerbefreiungen künftige Erhöhungen des Mehrwertsteuer-Regelsatzes oder auch eines ermäßigten Steuersatzes kaum verhindern. Jede Erhöhung des Umsatzsteuersatzes hätte jedoch eine überproportionale Belastung der Sozialkassen bzw. von Bevölkerungsgruppen mit niedrigem Einkommen und von Familien mit Kindern zur Folge.
Die Steuerbefreiungen nach Artikel 132 Abs. 1 Buchstabe f und k der MwStSystRL sind ebenfalls beizubehalten, da hierdurch das Zusammenwirken umsatzsteuerbefreiter Organisationen gefördert wird. Ohne eine solche Steuerbefreiung wären betriebswirtschaftlich sinnvolle Kooperationen und Zusammenschlüsse zwar möglich, praktisch aber nicht durchführbar. Die Umlage der angefallenen Kosten, insbesondere der Personalkosten, würde mit Umsatzsteuer belegt, die auf Ebene des umsatzsteuerbefreiten Leistungsempfängers mangels Vorsteuerabzug als Aufwand verbleiben würde. Darüber hinaus sollte die Umsatzsteuerbefreiung nach Artikel 132 Abs. 1 Buchstabe k der MwStSystRL nicht nur auf unmittelbare Personalgestellungen in den genannten Bereichen beschränkt sein, sondern auf alle Tätigkeiten in den umsatzsteuerbefreiten Bereichen ausgeweitet werden, denn hierdurch ließen sich wirtschaftlich sinnvolle Synergieeffekte bei Kooperationen/Zusammenschlüssen (z.B. im Bereich der Verwaltung) noch effizienter nutzen.
Abschließend fordern die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege ausdrücklich die Beibehaltung der Umsatzsteuerbefreiung nach Artikel 132 Abs. 1 Buchstabe l der MwStSystRL. Nach dieser Vorschrift sind Leistungen, die Einrichtungen ohne Gewinnstreben, welche politische, gewerkschaftliche, religiöse, weltanschauliche,
philanthropische oder staatsbürgerliche Ziele verfolgen, an ihre Mitglieder in deren gemeinsamen Interesse gegen einen satzungsgemäß festgelegten Beitrag erbringen, von der Umsatzsteuer befreit. Diese Vorschrift hat in Deutschland eine weitreichende Bedeutung, denn bürgerschaftliches Engagement findet vielfach in ertragssteuerbegünstigten, gemeinnützigen Vereinen statt, die ihre dem Gemeinwohl dienenden Aufgaben in der Regel über Mitgliedsbeiträge finanzieren. Werden diese Beiträge nun der Umsatzsteuer unterworfen, könnte dies die Motivation der oft ehrenamtlich Tätigen nachhaltig dämpfen. Ferner könnten kleinere Organisationen mit den anfallenden Pflichten im Zuge der Umsatzsteuererhebung, insbesondere mit der damit verbundenen zusätzlichen Bürokratie, schnell überfordert sein.
Zur Beibehaltung von ermäßigten Umsatzsteuersätzen
Aus Sicht der Freien Wohlfahrtspflege ist die Anwendung eines ermäßigten Steuersatzes insbesondere auf Gegenstände des täglichen Bedarfs wie Lebensmittel und gesundheitliche Bedarfe grundsätzlich sinnvoll. Die reduzierten Mehrwertsteuersätze erleichtern die Deckung von grundlegenden Bedarfen der Bürgerinnen und Bürger, die an oder unterhalb der nationalen Armutsrisikogrenze von 60 % des Medianeinkommens leben.
Die jährlichen Steuermindereinnahmen der Bundesrepublik Deutschland aufgrund des ermäßigten Umsatzsteuersatzes liegen bei ca. 23 Mrd. Euro. Der weitaus größte Teil der Steuermindereinnahmen, d.h. knapp 75 %, entfällt auf den reduzierten Umsatzsteuersatz bei Nahrungsmitteln, Milch und Trinkwasser (ca. 17 Mrd. Euro)[2]. Die Beibehaltung des reduzierten Umsatzsteuersatzes bei Nahrungsmitteln, Milch und Trinkwasser ist aus sozialpolitischen Gründen unabdingbar. Zu diesem Ergebnis kommt auch ein vom Bundesministerium der Finanzen in Auftrag gegebenes Gutachten[3]. Hiervon profitieren vor allem Bevölkerungsgruppen mit geringem Einkommen sowie Familien mit Kindern bezogen auf ihre Lebenshaltung in besonderem Maße. Bei diesen Bevölkerungsgruppen haben aufgrund der relativ hohen Konsumquote bereits geringe Preissteigerungen einen großen Einfluss auf die Lebenshaltung. Darum sollte für Gegenstände des täglichen Bedarfs weiterhin und grundsätzlich der ermäßigte Mehrwertsteuersatz gelten.
Eine Erhöhung des Umsatzsteuersatzes auf grundlegende Bedarfe würde zu einer Unterdeckung von grundlegenden Bedarfen insbesondere bei Transferleistungsbeziehern und anderen Personengruppen mit geringem Einkommen führen. Haushalte, die an oder unterhalb der Armutsrisikogrenze leben haben sehr große Probleme, ihre täglichen Bedarfe zu decken. Würde in diesen Fällen der Mehrwertsteuersatz erhöht, würde diese Problematik noch weiter verschärft. Zudem ist kaum zu erwarten, dass der Regelsteuersatz bei Abschaffung des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes für jegliche Sachverhalte insgesamt soweit abgesenkt würde, dass eine Mehrbelastung der Bevölkerung ausgeschlossen ist. Auch Einkommensteuersenkungen könnten dies nicht kompensieren, da Haushalte an oder unterhalb der Armutsrisikogrenze weitgehend von Einkommensteuerzahlungen befreit sind oder aber gar kein Erwerbseinkommen erzielen.
Aus sozialpolitischen Gründen ist es des Weiteren zu begrüßen, dass nach der derzeitigen Kategorie 15 des Anhangs III der MwStSystRL die Lieferung von Gegenständen und die Erbringung von Dienstleistungen durch von den Mitgliedstaaten anerkannte gemeinnützige Einrichtungen für wohltätige Zwecke und im Bereich der sozialen Sicherheit, soweit sie nicht gemäß den Artikeln 132, 135 und 136 von der Steuer befreit sind, einem ermäßigten Umsatzsteuersatz unterworfen werden. Diese Regelung hat in Deutschland u. a. Bedeutung für die Besteuerung von Werkstätten für Menschen mit Behinderung und von Integrationsprojekten. Werkstätten für Menschen mit Behinderung dienen in erster Linie der sinnvollen Beschäftigung der betreuten Menschen und sind nach SGB IX Kapitel 5 Teil 1 und § 136 Abs. 1 Satz 1 SGB IX Einrichtungen zur Teilhabe behinderter Menschen am Arbeitsleben und zur Eingliederung in das Arbeitsleben. Erst die Besteuerung von Werkstätten und Integrationsprojekten zu einem ermäßigten Mehrwertsteuersatz ermöglicht es, für die im Rahmen der Betreuung hergestellten Produkte und Dienstleistungen auch Abnehmer zu finden und die gemeinnützige Einrichtung sowie die Arbeitsentgelte an die Menschen mit Behinderung zumindest teilweise selbst zu finanzieren.
Die Freie Wohlfahrtspflege spricht sich deshalb grundsätzlich für die Beibehaltung der reduzierten Mehrwertsteuersätze insbesondere in den benannten Bereichen aus.
Darüber hinaus sollte Kategorie 15 des Anhangs III der MwStSystRL dahingehend präzisiert werden, dass auch Lieferungen und Leistungen, die quasi als „Nebenprodukt“ im Bereich der sozialen Sicherheit anfallen, mit einem ermäßigten Mehrwertsteuersatz belegt werden können.
Aufgrund der unterschiedlichen Rahmenbedingungen in den Mitgliedstaaten der EU (z.B. Sozialversicherung, steuerfinanzierte Sozialleistungen, Höhe der Regelsteuer-sätze) sollte auf Ebene der EU nur ein allgemeiner Rahmen für die Festlegung der reduzierten Mehrwertsteuersätze vorgegeben werden. Die Festsetzung der konkreten Höhe des reduzierten Mehrwertsteuersatzes hat auf der Ebene der National-staaten zu erfolgen.
[1] „Europäische Mehrwertsteuerreform: Sanierung des Staatshaushalts auf Kosten der Beitragszahler? Finanzielle Auswirkungen eines Wegfalls der Steuerbefreiung von bzw. Steuerermäßigung auf Leistungen der deutschen gesetzlichen Sozialversicherung im Rahmen des Reformvorhabens der Europäischen Union zur Mehrwertsteuer“
Stellungnahme der Deutschen Sozialversicherung, AOK-Bundesverband, BKK Dachverband, Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung, Deutsche Rentenversicherung Bund, IKK e.V., Knappschaft, Sozialversicherung für Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau, Verband der Ersatzkassen e.V., GKV-Spitzenverband (vorgelegt am 27.Mai 2013)
[2] Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung: Chancen für einen stabilen Aufschwung, Jahresgutachten 2010/2011, S. 214
[3] Ismer R., Kaul A., Reiß W., Rath S.: Analyse und Bewertung der Strukturen von Regel- und ermäßigten Sätzen bei der Umsatzbesteuerung unter sozial-, wirtschafts-, steuer- und haushaltspolitischen Gesichtspunkten, Saarbrücken 2010
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"Freie Wohlfahrtspflege" ist die Gesamtheit aller sozialen Hilfen, die auf freigemeinnütziger Grundlage und in organisierter Form in der Bundesrepublik Deutschland geleistet werden. Freie Wohlfahrtspflege unterscheidet sich einerseits von gewerblichen - auf Gewinnerzielung ausgerichteten - Angeboten und andererseits von denen öffentlicher Träger. Das Miteinander öffentlicher und freier Wohlfahrtspflege in der Bundesrepublik Deutschland ist einmalig in der Welt. Die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege sind aufgrund ihrer Leistungen für das Gemeinwesen ein wichtiger Bestandteil des Sozialstaates. Das soziale Netz würde zerreißen, wenn es ihre Arbeit nicht gäbe: In den Einrichtungen und Diensten der Wohlfahrtsverbände sind rund 1,4 Millionen Menschen hauptamtlich beschäftigt; schätzungsweise 2,5 bis 3 Millionen leisten ehrenamtlich engagierte Hilfen in Initiativen, Hilfswerken und Selbsthilfegruppen. Die Wohlfahrtsverbände sind föderalistisch strukturiert, d. h. die Gliederungen und Mitgliedsorganisationen sind überwiegend rechtlich selbstständig. Sie haben sich in sechs Spitzenverbänden der Freien Wohlfahrtspflege zusammengeschlossen. Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege sind geprägt durch unterschiedliche weltanschauliche oder religiöse Motive und Zielvorstellungen. Gemeinsam ist allen, dass sie unmittelbar an die Hilfsbereitschaft und an die Solidarität der Bevölkerung anknüpfen.
Personengruppen, die voll oder teilweise auf die Unterstützung der Gesellschaft angewiesen sind, wie z.B. arme, kranke, behinderte, pflegebedürftige, arbeitslose, obdachlose, Asyl suchende oder sozial ausgegrenzte Menschen, haben oft keine oder nur geringe Möglichkeiten, ihren Vorstellungen zur Lösung der sie bedrängenden Nöte und Probleme Gehör zu verschaffen. Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege setzen sich für die Belange benachteiligter und hilfebedürftiger Menschen ein und vertreten deren Interessen in der öffentlichen Diskussion.
Wir begrüßen daher die Möglichkeit, im Interesse unserer Dienste und Einrichtungen, insbesondere aber auch im Interesse der betroffenen Menschen eine Stellungnahme zur Neuausrichtung der Mehrwertsteuer-Sätze abgeben zu dürfen, da diese als Endverbraucher von Neuerungen direkt oder indirekt betroffen sind.
Die geltenden Vorschriften erlauben gewisse Umsatzsteuerermäßigungen und
-befreiungen für bestimmte, dem Gemeinwohl dienende Tätigkeiten. Diese sollten aus der Sicht der Freien Wohlfahrtsverbände unbedingt beibehalten werden.
Zur Beibehaltung von Umsatzsteuerbefreiungen
Insbesondere Artikel 132 Richtlinie 2006/112/EG Mehrwertsteuer-Systemrichtlinie (i.F.: MwStSystRL) sieht Steuerbefreiungen für bestimmte, dem Gemeinwohl dienende Tätigkeiten vor, wie beispielsweise Krankenhausbehandlungen und ärztliche Heilbehandlungsleistungen, eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbundene Dienstleistungen, Leistungen der Kinder- und Jugendbetreuung/-erziehung oder Schul- und Hochschulunterricht. Darüber hinaus werden nach Artikel 132 Abs. 1 Buchstabe f und k der MwStSystRL auch die Leistungen von umsatzsteuerbefreiten Personenzusammenschlüssen sowie die Personalgestellung durch religiöse und weltanschauliche Einrichtungen für Tätigkeiten im Bereich der Heilbehandlung, der Sozialfürsorge sowie der Kinder- und Jugendbetreuung/ -erziehung von der Umsatzsteuer befreit.
Eine Abschaffung der Umsatzsteuerbefreiung von dem Gemeinwohl dienenden Tätigkeiten hätte aus Sicht der Freien Wohlfahrtspflege aller Wahrscheinlichkeit nach für soziale Leistungen aufgrund des hohen Anteils von Personalkosten eine Erhöhung der Preise bis zum reduzierten Umsatzsteuersatz bzw. sogar bis zum Regelsteuersatz von in Deutschland derzeit 19 % zur Folge.
Insbesondere die Krankenhaus- und Heilbehandlungsleistungen, Pflegeleistungen oder Leistungen der Sozialfürsorge werden in Deutschland durch die Sozialversicherung und zum Teil auch aus öffentlichen Kassen bezahlt. Die Abschaffung der Umsatzsteuerbefreiung und eine Besteuerung zum Regelsteuersatz hätte allein in Deutschland bezogen auf das Jahr 2014 für die gesetzliche Kranken-, Pflege-, Renten-, Unfall- und Arbeitslosenversicherung Mehrkosten in Höhe von 34 Mrd. Euro bzw. eine Steigerung der Beitragssätze um mehr als 3 Prozentpunkte zur Folge[1]. Eine derart signifikante Erhöhung der Sozialversicherungsbeiträge wird jedoch politisch kaum realisierbar sein, denn die Beitragslast ist bereits hoch, und eine weitere Erhöhung würde zu einer zusätzlichen Steigerung der Lohnnebenkosten führen. Wahrscheinlicher ist, dass mittelfristig das Leistungsniveau der Sozialversicherung und der Sozialfürsorge abgesenkt wird. Dies hätte jedoch massive negative Auswirkungen auf den Lebensstandard von benachteiligten und/oder hilfebedürftigen Menschen.
Bei Selbstzahlern ergeben sich in Abhängigkeit von der Einkommenshöhe und der Personenzahl eines Haushalts bei einer Steuererhöhung um bis zu 19 % - Punkte gravierende Folgen für die Lebenshaltungskosten. Insbesondere Haushalte mit niedrigem Einkommen sowie Haushalte mit Kindern wären von entsprechenden Steuererhöhungen (z.B. im Bereich der Betreuung und Bildung) überproportional betroffen. Dies könnte durch Transferzahlungen des Staates, wenn überhaupt, nur mit einem zusätzlichen bürokratischen Aufwand und auch nur zeitlich verzögert kompensiert werden.
Eine Abschaffung der Umsatzsteuerbefreiungen für dem Gemeinwohl dienende Tätigkeiten hätte zwar eine breitere Bemessungsgrundlage für die Erhebung der Umsatzsteuer zur Folge. Ob aber im Gegenzug der Regelsteuersatz abgesenkt wird, ist angesichts der angespannten Haushaltslage vieler europäischer Länder fraglich. Auch ist nicht mit einer die sozialpolitischen Auswirkungen kompensierenden oder abfedernden Absenkung anderer Steuerarten oder mit entsprechenden Transferleistungen zu rechnen. Ferner dürfte die Abschaffung der Mehrwertsteuerbefreiungen künftige Erhöhungen des Mehrwertsteuer-Regelsatzes oder auch eines ermäßigten Steuersatzes kaum verhindern. Jede Erhöhung des Umsatzsteuersatzes hätte jedoch eine überproportionale Belastung der Sozialkassen bzw. von Bevölkerungsgruppen mit niedrigem Einkommen und von Familien mit Kindern zur Folge.
Die Steuerbefreiungen nach Artikel 132 Abs. 1 Buchstabe f und k der MwStSystRL sind ebenfalls beizubehalten, da hierdurch das Zusammenwirken umsatzsteuerbefreiter Organisationen gefördert wird. Ohne eine solche Steuerbefreiung wären betriebswirtschaftlich sinnvolle Kooperationen und Zusammenschlüsse zwar möglich, praktisch aber nicht durchführbar. Die Umlage der angefallenen Kosten, insbesondere der Personalkosten, würde mit Umsatzsteuer belegt, die auf Ebene des umsatzsteuerbefreiten Leistungsempfängers mangels Vorsteuerabzug als Aufwand verbleiben würde. Darüber hinaus sollte die Umsatzsteuerbefreiung nach Artikel 132 Abs. 1 Buchstabe k der MwStSystRL nicht nur auf unmittelbare Personalgestellungen in den genannten Bereichen beschränkt sein, sondern auf alle Tätigkeiten in den umsatzsteuerbefreiten Bereichen ausgeweitet werden, denn hierdurch ließen sich wirtschaftlich sinnvolle Synergieeffekte bei Kooperationen/Zusammenschlüssen (z.B. im Bereich der Verwaltung) noch effizienter nutzen.
Abschließend fordern die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege ausdrücklich die Beibehaltung der Umsatzsteuerbefreiung nach Artikel 132 Abs. 1 Buchstabe l der MwStSystRL. Nach dieser Vorschrift sind Leistungen, die Einrichtungen ohne Gewinnstreben, welche politische, gewerkschaftliche, religiöse, weltanschauliche,
philanthropische oder staatsbürgerliche Ziele verfolgen, an ihre Mitglieder in deren gemeinsamen Interesse gegen einen satzungsgemäß festgelegten Beitrag erbringen, von der Umsatzsteuer befreit. Diese Vorschrift hat in Deutschland eine weitreichende Bedeutung, denn bürgerschaftliches Engagement findet vielfach in ertragssteuerbegünstigten, gemeinnützigen Vereinen statt, die ihre dem Gemeinwohl dienenden Aufgaben in der Regel über Mitgliedsbeiträge finanzieren. Werden diese Beiträge nun der Umsatzsteuer unterworfen, könnte dies die Motivation der oft ehrenamtlich Tätigen nachhaltig dämpfen. Ferner könnten kleinere Organisationen mit den anfallenden Pflichten im Zuge der Umsatzsteuererhebung, insbesondere mit der damit verbundenen zusätzlichen Bürokratie, schnell überfordert sein.
Zur Beibehaltung von ermäßigten Umsatzsteuersätzen
Aus Sicht der Freien Wohlfahrtspflege ist die Anwendung eines ermäßigten Steuersatzes insbesondere auf Gegenstände des täglichen Bedarfs wie Lebensmittel und gesundheitliche Bedarfe grundsätzlich sinnvoll. Die reduzierten Mehrwertsteuersätze erleichtern die Deckung von grundlegenden Bedarfen der Bürgerinnen und Bürger, die an oder unterhalb der nationalen Armutsrisikogrenze von 60 % des Medianeinkommens leben.
Die jährlichen Steuermindereinnahmen der Bundesrepublik Deutschland aufgrund des ermäßigten Umsatzsteuersatzes liegen bei ca. 23 Mrd. Euro. Der weitaus größte Teil der Steuermindereinnahmen, d.h. knapp 75 %, entfällt auf den reduzierten Umsatzsteuersatz bei Nahrungsmitteln, Milch und Trinkwasser (ca. 17 Mrd. Euro)[2]. Die Beibehaltung des reduzierten Umsatzsteuersatzes bei Nahrungsmitteln, Milch und Trinkwasser ist aus sozialpolitischen Gründen unabdingbar. Zu diesem Ergebnis kommt auch ein vom Bundesministerium der Finanzen in Auftrag gegebenes Gutachten[3]. Hiervon profitieren vor allem Bevölkerungsgruppen mit geringem Einkommen sowie Familien mit Kindern bezogen auf ihre Lebenshaltung in besonderem Maße. Bei diesen Bevölkerungsgruppen haben aufgrund der relativ hohen Konsumquote bereits geringe Preissteigerungen einen großen Einfluss auf die Lebenshaltung. Darum sollte für Gegenstände des täglichen Bedarfs weiterhin und grundsätzlich der ermäßigte Mehrwertsteuersatz gelten.
Eine Erhöhung des Umsatzsteuersatzes auf grundlegende Bedarfe würde zu einer Unterdeckung von grundlegenden Bedarfen insbesondere bei Transferleistungsbeziehern und anderen Personengruppen mit geringem Einkommen führen. Haushalte, die an oder unterhalb der Armutsrisikogrenze leben haben sehr große Probleme, ihre täglichen Bedarfe zu decken. Würde in diesen Fällen der Mehrwertsteuersatz erhöht, würde diese Problematik noch weiter verschärft. Zudem ist kaum zu erwarten, dass der Regelsteuersatz bei Abschaffung des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes für jegliche Sachverhalte insgesamt soweit abgesenkt würde, dass eine Mehrbelastung der Bevölkerung ausgeschlossen ist. Auch Einkommensteuersenkungen könnten dies nicht kompensieren, da Haushalte an oder unterhalb der Armutsrisikogrenze weitgehend von Einkommensteuerzahlungen befreit sind oder aber gar kein Erwerbseinkommen erzielen.
Aus sozialpolitischen Gründen ist es des Weiteren zu begrüßen, dass nach der derzeitigen Kategorie 15 des Anhangs III der MwStSystRL die Lieferung von Gegenständen und die Erbringung von Dienstleistungen durch von den Mitgliedstaaten anerkannte gemeinnützige Einrichtungen für wohltätige Zwecke und im Bereich der sozialen Sicherheit, soweit sie nicht gemäß den Artikeln 132, 135 und 136 von der Steuer befreit sind, einem ermäßigten Umsatzsteuersatz unterworfen werden. Diese Regelung hat in Deutschland u. a. Bedeutung für die Besteuerung von Werkstätten für Menschen mit Behinderung und von Integrationsprojekten. Werkstätten für Menschen mit Behinderung dienen in erster Linie der sinnvollen Beschäftigung der betreuten Menschen und sind nach SGB IX Kapitel 5 Teil 1 und § 136 Abs. 1 Satz 1 SGB IX Einrichtungen zur Teilhabe behinderter Menschen am Arbeitsleben und zur Eingliederung in das Arbeitsleben. Erst die Besteuerung von Werkstätten und Integrationsprojekten zu einem ermäßigten Mehrwertsteuersatz ermöglicht es, für die im Rahmen der Betreuung hergestellten Produkte und Dienstleistungen auch Abnehmer zu finden und die gemeinnützige Einrichtung sowie die Arbeitsentgelte an die Menschen mit Behinderung zumindest teilweise selbst zu finanzieren.
Die Freie Wohlfahrtspflege spricht sich deshalb grundsätzlich für die Beibehaltung der reduzierten Mehrwertsteuersätze insbesondere in den benannten Bereichen aus.
Darüber hinaus sollte Kategorie 15 des Anhangs III der MwStSystRL dahingehend präzisiert werden, dass auch Lieferungen und Leistungen, die quasi als „Nebenprodukt“ im Bereich der sozialen Sicherheit anfallen, mit einem ermäßigten Mehrwertsteuersatz belegt werden können.
Aufgrund der unterschiedlichen Rahmenbedingungen in den Mitgliedstaaten der EU (z.B. Sozialversicherung, steuerfinanzierte Sozialleistungen, Höhe der Regelsteuer-sätze) sollte auf Ebene der EU nur ein allgemeiner Rahmen für die Festlegung der reduzierten Mehrwertsteuersätze vorgegeben werden. Die Festsetzung der konkreten Höhe des reduzierten Mehrwertsteuersatzes hat auf der Ebene der National-staaten zu erfolgen.
[1] „Europäische Mehrwertsteuerreform: Sanierung des Staatshaushalts auf Kosten der Beitragszahler? Finanzielle Auswirkungen eines Wegfalls der Steuerbefreiung von bzw. Steuerermäßigung auf Leistungen der deutschen gesetzlichen Sozialversicherung im Rahmen des Reformvorhabens der Europäischen Union zur Mehrwertsteuer“
Stellungnahme der Deutschen Sozialversicherung, AOK-Bundesverband, BKK Dachverband, Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung, Deutsche Rentenversicherung Bund, IKK e.V., Knappschaft, Sozialversicherung für Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau, Verband der Ersatzkassen e.V., GKV-Spitzenverband (vorgelegt am 27.Mai 2013)
[2] Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung: Chancen für einen stabilen Aufschwung, Jahresgutachten 2010/2011, S. 214
[3] Ismer R., Kaul A., Reiß W., Rath S.: Analyse und Bewertung der Strukturen von Regel- und ermäßigten Sätzen bei der Umsatzbesteuerung unter sozial-, wirtschafts-, steuer- und haushaltspolitischen Gesichtspunkten, Saarbrücken 2010
]]>Ausgangslage
Die EU-Kommission hatte im Herbst 2016 erklärt, ein Solidaritätskorps einzurichten, mit dem junge Menschen an Freiwilligen- oder Beschäftigungsprojekten in ihrem eigenen Land oder im EU-Ausland teilnehmen können, die Gemeinschaften und Menschen in ganz Europa zugutekommen.
Am 07. Dezember 2016 fiel der Startschuss für das Solidaritätskorps. Junge Menschen zwischen 18 und 30 Jahren können sich seitdem auf dem Portal des Solidaritätskorps registrieren. Damit wird ein Pool junger Menschen erstellt, auf die Organisationen zurückgreifen können, wenn sie Solidaritäts-Projekte umsetzen. Die registrierten Teilnehmenden des Korps können von Organisationen entweder für einen Freiwilligendienst (z.B. im Rahmen des Europäischen Freiwilligendienstes in Erasmus+) oder für einen Arbeits-, Praktikums- oder Ausbildungsplatz rekrutiert werden. Die ersten Teilnehmenden sollen ab Juni 2017 zu den Projekten stoßen.
Zur Umsetzung des Europäischen Solidaritätskorps sind in verschiedenen europäischen Programmen spezielle Ausschreibungen angekündigt. Das Solidaritätskorps wurde in die Programmleitfäden europäischer Programme wie Erasmus+ und Europa für Bürgerinnen und Bürger aufgenommen. Erste Ausschreibungen, wie beispielsweise im Europäischen Programm für Beschäftigung und soziale Innovation (EaSI) zur Umsetzung des berufsbezogenen Bereiches des Solidaritätskorps, wurden veröffentlicht.
Bewertung
Mit dem Solidaritätskorps ist das Thema „Jugend“ ganz oben auf die politische Agenda der EU gesetzt worden (vgl. auch das Arbeitsprogramm der Kommission 2017). Die Entwicklung von wirksamen Maßnahmen gegen Arbeitslosigkeit, insbesondere die Jugendarbeitslosigkeit, in deren Kontext die Schaffung eines Europäischen Solidaritätskorps zu sehen ist, ist ein erklärtes und priorisiertes Ziel der EU. Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege unterstützt grundsätzlich solche Maßnahmen und Ansätze. Die BAGFW begrüßt deshalb die Idee der Europäischen Kommission, die Solidarität in der EU zu stärken und entsprechende Maßnahmen zu ergreifen. Jungen Menschen mehr Möglichkeiten für prägende, positive europäische Erfahrungen zu eröffnen und ihr Engagement zu fördern, ist für die Zukunft Europas von herausragender Bedeutung. Wenn noch mehr junge Menschen die Sprachen und Kulturen ihrer Nachbarn besser kennen und verstehen lernen können, dient dies nicht nur dem sozialen Zusammenhalt, sondern auch der guten Entwicklung der EU. Um solche Maßnahmen wirkungsvoll zu entwickeln, ist allerdings eine differenzierte Betrachtung der Situationen und Gegebenheiten in den einzelnen Mitgliedstaaten erforderlich. So gibt es gerade in Deutschland ein etabliertes Angebot von gesetzlich geregelten Freiwilligendiensten, die schon jetzt durch Europäische Förderprogramme sinnvoll ergänzt werden. Kennzeichnend für alle geregelten Formen von Freiwilligendienste ist der Lern- und Bildungscharakter. Als Sozialisationsinstanz für junge Menschen haben Freiwilligendienste deshalb einen besonderen eigenen Wert, mit dem sie deutlich von Maßnahmen der Arbeits- bzw. Beschäftigungsförderung abgegrenzt sind. Mit dem Europäischen Solidaritätskorps wird diese Abgrenzung aufgehoben.
Die BAGFW bemängelt, dass der Europäische Solidaritätskorps ohne die Mitarbeit von zivilgesellschaftlichen Vertreter(inne)n und im Eilverfahren ausgearbeitet worden ist. Die
BAGFW sieht die große Gefahr, dass die für die Finanzierung etablierter und bewährter Programme erforderlichen Mittel, beispielsweise des Europäischen Freiwilligendienstes (EFD) im Rahmen von Erasmus +, abgezogen werden und nicht mehr nachfragegerecht zur Verfügung stehen.
Grundsätzlich begrüßt wird, dass mit dem Europäischen Solidaritätskorps verschiedene Maßnahmen eingeführt oder ausgebaut werden sollen, die u. a. von Deutschland bereits im Bereich Erasmus +/EFD lange gefordert wurden (z.B. Vorbereitungs- und Ausreiseseminare). Es ist jedoch unbedingt zu vermeiden, mit der Realisierung des Europäischen Solidaritätskorps neben dem EFD unnötige Parallelstrukturen mit unterschiedlichen Standards zu entwickeln. Alle von der Kommission unter Qualitätsstandards genannten Elemente gibt es bereits heute im EFD (Einführungstraining, Zwischenauswertung, Rückkehr-Event). Diese Elemente könnten erweitert, angepasst bzw. vollständig übernommen werden. Die Angebote für junge Menschen müssen übersichtlich und wiedererkennbar bleiben. Nach Auffassung der BAGFW muss die Marke EFD erhalten bleiben und der EFD im Programm Erasmus+ gestärkt, weiterentwickelt und administrativ vereinfacht werden. Der EFD hat sich seit zwei Jahrzehnten als feste Marke etabliert. Auf diesem Erfolg gilt es auch weiterhin aufzubauen.
Zusammenfassung des Textes
Die BAGFW unterstützt grundsätzlich die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit und begrüßt die Stärkung der Solidarität in der EU. Jungen Menschen mehr europäische Erfahrungen zu eröffnen, ist für die Zukunft Europas unverzichtbar. Allerdings ist bei der Einrichtung des ESK eine differenzierte Betrachtung der Situationen in den Mitgliedsstaaten erforderlich. Es gibt ein etabliertes Angebot von gesetzlich geregelten Freiwilligendiensten, die durch EU-Programme ergänzt werden. Als Sozialisationsinstanz grenzen sich Freiwilligendienste von Maßnahmen der Arbeits- bzw. Beschäftigungsförderung ab. Die BAGFW bemängelt, dass mit dem ESK diese wichtige Abgrenzung aufgehoben wird. Sie bemängelt außerdem die fehlende Mitwirkungsmöglichkeit und das Eilverfahren Weiterhin sieht sie die Gefahr, dass dabei Mittel bewährter Programme abgezogen werden. Begrüßt wird, dass mit dem ESK lange geforderte Maßnahmen eingeführt werden sollen (z.B. Vorbereitungs- und Ausreiseseminare); dabei sind Parallelstrukturen zu vermeiden und der EFD auszubauen und zu stärken.
Ausgangslage
Die EU-Kommission hatte im Herbst 2016 erklärt, ein Solidaritätskorps einzurichten, mit dem junge Menschen an Freiwilligen- oder Beschäftigungsprojekten in ihrem eigenen Land oder im EU-Ausland teilnehmen können, die Gemeinschaften und Menschen in ganz Europa zugutekommen.
Am 07. Dezember 2016 fiel der Startschuss für das Solidaritätskorps. Junge Menschen zwischen 18 und 30 Jahren können sich seitdem auf dem Portal des Solidaritätskorps registrieren. Damit wird ein Pool junger Menschen erstellt, auf die Organisationen zurückgreifen können, wenn sie Solidaritäts-Projekte umsetzen. Die registrierten Teilnehmenden des Korps können von Organisationen entweder für einen Freiwilligendienst (z.B. im Rahmen des Europäischen Freiwilligendienstes in Erasmus+) oder für einen Arbeits-, Praktikums- oder Ausbildungsplatz rekrutiert werden. Die ersten Teilnehmenden sollen ab Juni 2017 zu den Projekten stoßen.
Zur Umsetzung des Europäischen Solidaritätskorps sind in verschiedenen europäischen Programmen spezielle Ausschreibungen angekündigt. Das Solidaritätskorps wurde in die Programmleitfäden europäischer Programme wie Erasmus+ und Europa für Bürgerinnen und Bürger aufgenommen. Erste Ausschreibungen, wie beispielsweise im Europäischen Programm für Beschäftigung und soziale Innovation (EaSI) zur Umsetzung des berufsbezogenen Bereiches des Solidaritätskorps, wurden veröffentlicht.
Bewertung
Mit dem Solidaritätskorps ist das Thema „Jugend“ ganz oben auf die politische Agenda der EU gesetzt worden (vgl. auch das Arbeitsprogramm der Kommission 2017). Die Entwicklung von wirksamen Maßnahmen gegen Arbeitslosigkeit, insbesondere die Jugendarbeitslosigkeit, in deren Kontext die Schaffung eines Europäischen Solidaritätskorps zu sehen ist, ist ein erklärtes und priorisiertes Ziel der EU. Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege unterstützt grundsätzlich solche Maßnahmen und Ansätze. Die BAGFW begrüßt deshalb die Idee der Europäischen Kommission, die Solidarität in der EU zu stärken und entsprechende Maßnahmen zu ergreifen. Jungen Menschen mehr Möglichkeiten für prägende, positive europäische Erfahrungen zu eröffnen und ihr Engagement zu fördern, ist für die Zukunft Europas von herausragender Bedeutung. Wenn noch mehr junge Menschen die Sprachen und Kulturen ihrer Nachbarn besser kennen und verstehen lernen können, dient dies nicht nur dem sozialen Zusammenhalt, sondern auch der guten Entwicklung der EU. Um solche Maßnahmen wirkungsvoll zu entwickeln, ist allerdings eine differenzierte Betrachtung der Situationen und Gegebenheiten in den einzelnen Mitgliedstaaten erforderlich. So gibt es gerade in Deutschland ein etabliertes Angebot von gesetzlich geregelten Freiwilligendiensten, die schon jetzt durch Europäische Förderprogramme sinnvoll ergänzt werden. Kennzeichnend für alle geregelten Formen von Freiwilligendienste ist der Lern- und Bildungscharakter. Als Sozialisationsinstanz für junge Menschen haben Freiwilligendienste deshalb einen besonderen eigenen Wert, mit dem sie deutlich von Maßnahmen der Arbeits- bzw. Beschäftigungsförderung abgegrenzt sind. Mit dem Europäischen Solidaritätskorps wird diese Abgrenzung aufgehoben.
Die BAGFW bemängelt, dass der Europäische Solidaritätskorps ohne die Mitarbeit von zivilgesellschaftlichen Vertreter(inne)n und im Eilverfahren ausgearbeitet worden ist. Die
BAGFW sieht die große Gefahr, dass die für die Finanzierung etablierter und bewährter Programme erforderlichen Mittel, beispielsweise des Europäischen Freiwilligendienstes (EFD) im Rahmen von Erasmus +, abgezogen werden und nicht mehr nachfragegerecht zur Verfügung stehen.
Grundsätzlich begrüßt wird, dass mit dem Europäischen Solidaritätskorps verschiedene Maßnahmen eingeführt oder ausgebaut werden sollen, die u. a. von Deutschland bereits im Bereich Erasmus +/EFD lange gefordert wurden (z.B. Vorbereitungs- und Ausreiseseminare). Es ist jedoch unbedingt zu vermeiden, mit der Realisierung des Europäischen Solidaritätskorps neben dem EFD unnötige Parallelstrukturen mit unterschiedlichen Standards zu entwickeln. Alle von der Kommission unter Qualitätsstandards genannten Elemente gibt es bereits heute im EFD (Einführungstraining, Zwischenauswertung, Rückkehr-Event). Diese Elemente könnten erweitert, angepasst bzw. vollständig übernommen werden. Die Angebote für junge Menschen müssen übersichtlich und wiedererkennbar bleiben. Nach Auffassung der BAGFW muss die Marke EFD erhalten bleiben und der EFD im Programm Erasmus+ gestärkt, weiterentwickelt und administrativ vereinfacht werden. Der EFD hat sich seit zwei Jahrzehnten als feste Marke etabliert. Auf diesem Erfolg gilt es auch weiterhin aufzubauen.
Zusammenfassung des Textes
Die BAGFW unterstützt grundsätzlich die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit und begrüßt die Stärkung der Solidarität in der EU. Jungen Menschen mehr europäische Erfahrungen zu eröffnen, ist für die Zukunft Europas unverzichtbar. Allerdings ist bei der Einrichtung des ESK eine differenzierte Betrachtung der Situationen in den Mitgliedsstaaten erforderlich. Es gibt ein etabliertes Angebot von gesetzlich geregelten Freiwilligendiensten, die durch EU-Programme ergänzt werden. Als Sozialisationsinstanz grenzen sich Freiwilligendienste von Maßnahmen der Arbeits- bzw. Beschäftigungsförderung ab. Die BAGFW bemängelt, dass mit dem ESK diese wichtige Abgrenzung aufgehoben wird. Sie bemängelt außerdem die fehlende Mitwirkungsmöglichkeit und das Eilverfahren Weiterhin sieht sie die Gefahr, dass dabei Mittel bewährter Programme abgezogen werden. Begrüßt wird, dass mit dem ESK lange geforderte Maßnahmen eingeführt werden sollen (z.B. Vorbereitungs- und Ausreiseseminare); dabei sind Parallelstrukturen zu vermeiden und der EFD auszubauen und zu stärken.
Bewertung:
Die BAGFW begrüßt die Bemühungen, die Gründungen unternehmerischer Initiativen aus dem bürgerschaftlichen Engagement zu erleichtern. Unserem Erachten nach sind die vorgesehenen Änderungen aber nicht geeignet, eine nachhaltige Klärung bei der Frage herbeizuführen, für welche unternehmerischen Aktivitäten welche Rechtsform vorgesehen ist. So werden Dorfläden, Kitas, altersgerechte Wohnformen, aber auch Energievorhaben zusammen genannt. Dies sind zum Teil rein wirtschaftliche Aktivitäten und zum Teil wirtschaftliche Aktivitäten mit einem unmittelbaren ideellen Bezug. Für letztere gibt es bereits höchstrichterliche Entscheidungen bzw. steht in Kürze eine BGH-Entscheidung aus zur wirtschaftlichen Betätigung und Reichweite des Nebenzweckprivilegs von eingetragenen Vereinen, aus denen sich die Zulässigkeit für derartige Aktivitäten mit ideellen Motiven in der Rechtsform des eingetragenen Vereins ergibt.
Zu Artikel 1: Änderung des Bürgerlichen Gesetzbuches
Für kleine unternehmerische Initiativen, die aus bürgerschaftlichem Engagement heraus entstehen, sind die Rechtsformen der Kapitalgesellschaft oder der Genossenschaft oft zu kompliziert. Im Mittelpunkt solcher Bewegungen stehen einerseits die Verfolgung eines ideellen Ziels mit Mitteln eines wirtschaftlichen Geschäftsbetriebes, mit Beiträgen, Spenden oder Zuschüssen und andererseits das persönliche Einbringen in demokratische Mitbestimmungsprozesse im Hinblick auf eine nachhaltige Förderung des Gemeinwohls. Seit 1900 ist dafür in Deutschland der Verein die richtige Rechtsform, die auch durch Art. 9 GG grundrechtlich geschützt ist. Nach § 21 BGB erlangt ein Verein Rechtsfähigkeit durch Eintragung in das Vereinsregister des zuständigen Amtsgerichts, eine wirtschaftliche Betätigung ist aber nur im Rahmen des Nebenzweckprivilegs zulässig, wenn sie dem ideellen, nicht wirtschaftlichen Hauptzweck dient und diesem funktional untergeordnet ist. Dagegen erlangt der wirtschaftliche Verein nach § 22 BGB seine Rechtsfähigkeit durch staatliche Verleihung. Diese Verleihung erfolgt nur in Ausnahmefällen, wenn es wegen besonderer Umstände des Einzelfalls unzumutbar ist, sich in einer für die wirtschaftliche Betätigung gesetzgeberisch bereitgestellten Rechtsform (GmbH, AG, Genossenschaft, etc.) zu organisieren. Mit einer Änderung des § 22 BGB soll der wirtschaftliche Verein für Geschäftsbetriebe, die aus bürgerschaftlichem Engagement entstanden sind, nutzbar gemacht werden. Verwiesen wird beispielsweise auf sogenannte Dorfläden.
Bewertung:
Die BAGFW begrüßt, dass diese in der Tat sehr wichtigen Angebote betrachtet werden. Sie ermöglichen insbesondere mobilitätseingeschränkten Menschen in strukturschwachen, ländlichen Gebieten, Waren des täglichen Bedarfs einzukaufen. Die Dorfläden haben darüber hinaus eine sehr wichtige Funktion für Begegnung und Kommunikation in kleinen Gemeinden. Die Stärkung dieses wichtigen Bereiches wird unsererseits ausdrücklich begrüßt.
Eine Änderung des § 22 BGB ist aber nicht geeignet, das Ziel zu erreichen.
Der wirtschaftliche Verein soll nur dann Rechtsfähigkeit erlangen können, wenn dies durch Gesetz bestimmt ist oder wenn es für den Verein unzumutbar ist, seinen Zweck in der Rechtsform einer Kapitalgesellschaft oder Genossenschaft zu verfolgen. Damit wird die Verleihung alternativ von einer gesetzlichen Regelung oder der Unzumutbarkeit einer alternativen Rechtsform abhängig gemacht. Nach Absatz 2 soll darüber hinaus die Unzumutbarkeit der alternativen Rechtsform durch Rechtsverordnung geregelt werden. Der Gesetzgeber übernimmt es hier, durch eine abstrakt-generelle Norm über die Zumutbarkeit von Rechtsformen für eine Personengemeinschaft zu entscheiden. Er berührt damit den Kernbereich der verfassungsrechtlich durch Art. 9 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG geschützten Autonomie von Personenvereinigungen, Zweck und Verfassung ihrer Vereinigung frei bestimmen und die passende Rechtsform entsprechend auswählen zu können. Was zumutbar bzw. unzumutbar ist, ist in erster Linie eine von den Mitgliedern der Personenvereinigung zu bewertende subjektive Angelegenheit, in die hier unser Erachtens unverhältnismäßig eingegriffen wird. Die Möglichkeit durch Rechtsverordnung Regelungen für wirtschaftliche Vereine zu treffen, deren wirtschaftlicher Geschäftsbetrieb auf einen „geringen Umfang“ gerichtet ist, zieht darüber hinaus die Frage nach sich, wie dieser „geringe Umfang“ bestimmt werden soll. Der Gesetzentwurf gibt dazu wenig Anhaltspunkte, sondern nennt nur einen Verein zum Betrieb eines Dorfladens als Beispiel eines wirtschaftlichen Geschäftsbetriebs von geringem Umfang. Weitere Kriterien werden nicht benannt.
Bekanntlich haben inzwischen viele Idealvereine wegen der Frage, ob ein wirtschaftlicher Geschäftsbetrieb als ideeller Zweck i.S. des § 21 BGB betrieben wird, Probleme, ins Vereinsregister eingetragen zu werden. Bereits bestehende Vereine sind deshalb von Amtslöschungsverfahren bedroht. Die diesbezügliche Spruchpraxis des Kammergerichts Berlin zu sogenannten Kita-Vereinen darf als bekannt vorausgesetzt werden. Ebenso bekannt wird die anderslautende Rechtsprechung der Oberlandesgerichte Schleswig-Holstein, Brandenburg und Stuttgart sein.
Unabhängig von den noch ausstehenden Entscheidungen des Bundesgerichtshofs zu den Rechtsbeschwerdeverfahren gegen die Amtslöschungsverfügungen des KG Berlin (Az.: II ZB 6/16; 9/16) sehen wir einen dringenden politischen Handlungs-bedarf, um die – über einhundert Jahre alte – Tradition der Idealvereine zu erhalten. Möglichst viele Menschen möchten sich auch zukünftig in einer demokratisch verfassten Organisation engagieren und zu diesem Zweck auch erhebliche wirtschaftliche Aktivitäten entfalten können, um mit ihrem ideell ausgerichteten Wirken die Allgemeinheit zu fördern. Der wirtschaftliche Verein kommt für sie nicht in Betracht, weil sie sich auf der Grundlage ihrer Vereinssatzung nicht als wirtschaftlich, sondern als Idealverein verstehen und einen ideellen Hauptzweck verfolgen.
Mit dem Versuch, den unbestimmten Rechtsbegriff „Unzumutbarkeit“ per Verordnung festzulegen, wird darüber hinaus eine weitere Hürde der Begriffsklärung aufgebaut, die neben der Unterscheidung vorgenommen werden muss, ob überhaupt ein untergeordneter wirtschaftlicher Geschäftsbetrieb i.S. des § 21 BGB vorliegt. Rechtsprechung und Literatur nehmen bisher die Abgrenzung zwischen Idealverein und wirtschaftlicher Verein in einer zweistufigen Prüfung vor. Zunächst wird geprüft, ob ein wirtschaftlicher Geschäftsbetrieb überhaupt vorliegt. Wird dies bejaht, wird in einem zweiten Schritt geprüft, ob die wirtschaftliche Betätigung dem ideellen Zweck funktional untergeordnet ist (sog. „Nebenzweckprivileg) und der wirtschaftlich tätige Verein somit dennoch als Idealverein eingeordnet werden kann. Diese Prüfung wird durch den vorliegenden Gesetzentwurf nicht obsolet und betrifft weiterhin viele Bereiche der Wohlfahrtspflege.
Denn Idealvereine sind nicht nur Träger von Kindertagesstätten, sondern auch Träger von einer Vielzahl von Einrichtungen der Bildung, der Jugendhilfe, der Altenhilfe, der Hilfe für Menschen mit Behinderungen und vielem anderen mehr. All diesen Vereinen ist gemeinsam, dass sich Menschen aus eigener Betroffenheit oder auch, weil sie Versorgungslücken erkannt haben, zusammengeschlossen haben, um die Versorgung hilfebedürftiger Menschen zu verbessern. In der Folge entstehen sehr häufig Zweckbetriebe, um die nötige Hilfe leisten zu können. Es handelt sich hier regelmäßig um bürgerschaftliches Engagement im besten Sinne.
Man kann darüber streiten, ob den Mitgliedern die Wahl einer anderen Rechtsform zumutbar ist oder nicht. Entscheidend ist, dass diese Menschen den Idealverein als die Rechtsform ansehen, in der sich bürgerschaftliches Engagement am besten entfalten kann. Weder GmbH noch Genossenschaft entsprechen den Leitvorstellungen der Mitglieder zur Verwirklichung ihrer ideellen Ziele. Dagegen bringt der Verein am besten Demokratie und Zivilgesellschaft zusammen.
Auch der wirtschaftliche Verein wird diesen Menschen nicht gerecht. Er wird im Entwurf definiert als ein Verein, dessen Zweck auf einen wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb gerichtet ist. Der wirtschaftliche Geschäftsbetrieb mag in vielen Vereinen eine wirtschaftlich große Bedeutung haben. Es geht aber immer um die Verfolgung ideeller Ziele, zu deren Erreichung ein wirtschaftlicher Geschäftsbetrieb als Zweckbetrieb (vgl. §§ 65 bis 68 Abgabenordnung) errichtet wird. Jahrzehntelang wurde die steuerrechtliche Wertung des Zweckbetriebs zur Ausfüllung des sogenannten Nebenzweckprivilegs genutzt.
Die neuere Rechtsprechung des Kammergerichts Berlin hat diese Sichtweise aufgegeben. Dieses bezieht sich dabei insbesondere auf den unzureichenden Gläubigerschutz bei Vereinen. Statistiken zeigen eher, dass Vereine wesentlich seltener insolvent werden als Kapitalgesellschaften. Auch kann man den Gläubigerschutz von Unternehmergesellschaften (UG), unterkapitalisierten GmbH‘en sowie der Limited hinterfragen. Die von einigen Gerichten diesbezüglich immer wieder zitierte Rechtsprechung des BGH aus dem Jahre 1982 (BGHZ 85, 84, 88, 89) ist nicht mehr zeitgemäß. Zuzugestehen ist aber, dass Kapitalgesellschaften Rechnungslegungspflichten haben, die auch Publizität mit einschließen.
Lösungsvorschlag:
Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege bittet eindringlich darum, den Rechtsrahmen des Idealvereins für die Realisierung des bürgerschaftlichen Engagements weiter zur Verfügung zu stellen. Die wirtschaftliche Betätigung im Sinne des Nebenzweckprivilegs hat sich insoweit bewährt. Daneben erkennen wir die Berechtigung der kritischen Anfragen zur Rechnungslegung an. Viele Vereine wenden bereits heute auf freiwilliger Basis die HGB-Vorschriften zur Rechnungslegung an. Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege plädiert zur Erhaltung der Rechtsform des Idealvereins dafür, auf diesen die Rechnungslegungsvorschriften des HGB anzuwenden.
Dabei ist allerdings zu bedenken, dass die meisten Vereine wirtschaftlich völlig unbedeutend sind. Sie auf die Rechnungslegung nach HGB zu verpflichten, würde sie überfordern und wäre unverhältnismäßig. Es macht dagegen Sinn, kleine, mittelgroße und große Vereine im Sinne § 267 HGB auf die Rechnungslegung nach HGB zu verpflichten.
Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege schlägt vor, § 21 BGB wie folgt zu fassen:
NEU: § 21 BGB
(1) Ein Verein, dessen Zweck nicht auf einen wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb gerichtet ist, erlangt Rechtsfähigkeit durch Eintragung in das Vereinsregister des zuständigen Amtsgerichts.
(2) Eine wirtschaftliche Betätigung, die der Verfolgung der satzungsgemäßen ideellen Zwecke dient, steht einer Eintragung in das Vereinsregister nicht entgegen.
Hinsichtlich der Rechnungslegung wird die Ergänzung des § 27 BGB um einen Absatz 4 vorgeschlagen:
NEU: § 27 BGB
(4) Der Vorstand ist nach §§ 259, 260 dieses Gesetzes rechenschaftspflichtig. Bei Vereinen, die mindestens zwei der drei in § 267 Abs. 1 Handelsgesetzbuch genannten Merkmale überschreiten, gelten die Vorschriften des Handelsgesetzbuches zu Buchführung und Jahresabschluss. Die veröffentlichungspflichtigen Unterlagen sind beim Vereinsregister einzureichen und auf die Internetseite des Vereins zu stellen.
Zu Artikel 3: Änderung des Genossenschaftsgesetzes
Zu den grundsätzlichen Überlegungen für die Rechtsform der Genossenschaft verweisen wir auf die beigefügte Stellungnahme der BAGFW zur Anhörung des BMJ zum Referentenentwurf zur Einführung der Kooperationsgesellschaft vom 03.09.2013.
1) § 21b GenG: Mitgliederdarlehen
§ 21b wird neu eingefügt und behandelt die sog. Mitgliederdarlehen. Die Vorschrift soll für Genossenschaften Rechtsklarheit schaffen, wann diese Mitgliederdarlehen zur Finanzierung von Investitionen entgegen nehmen dürfen und wie das Verfahren ausgestaltet ist. Es werden Grenzen in der Höhe der Darlehen eingezogen, die sich am Vermögensanlagengesetz orientieren. Damit wird ein eng begrenzter Ausnahmetatbestand zur Erlaubnispflicht nach dem Kreditwesengesetz geschaffen.
Bewertung:
Grundsätzlich begrüßen wir die Wertung, Mitgliederdarlehen bei Genossenschaften an die gleichen Voraussetzungen zu knüpfen, wie sie auch für soziale Projekte, gemeinnützige Projekte und für Religionsgemeinschaften (§§ 2b,c VermAnlG) vorgesehen sind.
§ 21b Abs. 1 Nr. 2 ist aber insoweit unklar gefasst, als nicht klar gestellt wird, ob Mitgliederdarlehen faktisch nur bis 2,5 Mio.€ möglich sind oder ob bei übersteigender Summe die Erlaubnis zur Betreibung des Einlagengeschäfts notwendig ist.
Auch wird nicht definiert, wer Unternehmer im Sinne der Vorschrift ist und damit nicht unter die Privilegierung des § 21b GenG fallen soll. Der Begründungstext führt dazu aus, dass die Vorschrift dem Schutz des einzelnen Mitglieds dienen soll, sofern dieses ein Verbraucher ist. Auch dazu wird nichts Weiteres ausgeführt.
2) § 34 GenG: Sorgfaltspflicht und Verantwortlichkeit der Vorstandsmitglieder
§ 34 Abs. 2 wird neu eingefügt. Danach soll für Vorstandsmitglieder eine Haftungserleichterung eingeführt werden, wenn sie „im Wesentlichen unentgeltlich“ tätig sind.
Bewertung:
Die Vorschrift ist nicht nachvollziehbar und in dieser Formulierung abzulehnen.
In der Begründung wird auf den Rechtsgedanken der ehrenamtlichen Vorstandstätigkeit im Verein hingewiesen. Da es sich bei Genossenschaften meist um Formkaufleute handele, geht der Referentenentwurf davon aus, dass eine vollständige Übertragung der Vorschrift wie im BGB nicht angezeigt sei. Er geht sogar weiter und legt fest, dass der Bezug von 720 € jährlich keine starre Regelung sein soll, weil dies nicht zu vermitteln wäre, so die Begründung.
Dem muss widersprochen werden. Die Regelung „im Wesentlichen“ ist zu unbestimmt. In § 31a BGB ist die Haftungsprivilegierung nur vorgesehen, wenn die Organmitglieder unentgeltlich tätig sind oder ihre Vergütung 720 € im Jahr nicht übersteigt. Warum im Genossenschaftsrecht eine flexiblere Regelung als im Vereinsrecht eingeführt werden soll, ist nicht nachvollziehbar. Wenn eine Haftungsprivilegierung trotz des Bezugs von mehr als 720 € jährlich erfolgen soll, dann sollte dies auch für den Bereich des Vereinsrechts gelten, indem einheitliche Grenzen festgelegt werden. Die Regelung führt jedoch in dieser Form zu Rechtsunsicherheit, da sich in der Praxis immer die Frage stellen dürfte, wieviel höher als 720 €/ p.a. die Bezahlung der Vorstände sein darf. Zudem ist mit einer Aushöhlung des Begriffs der Ehrenamtlichkeit zu rechnen.
3) § 53a GenG: Vereinfachte Prüfung; Verordnungsermächtigung
§ 53a wird neu eingefügt und sieht eine vereinfachte Prüfung für sehr kleine Genossenschaften vor.
Bewertung:
Grundsätzlich ist es positiv zu werten, wenn kleine Genossenschaften sich nur einer vereinfachten Prüfung unterziehen sollen. Allerdings geht die Begründung fehl. Es wird ausgeführt, dass kleine Genossenschaften regelmäßig ehrenamtlich geführt würden und zudem aufgrund der geringen Umsätze das Risiko für Gläubiger und Mitglieder regelmäßig nicht sehr hoch sei. Dem können wir aus systematischen Gründen nicht zustimmen. Bei Vereinen, die ebenfalls in der Mehrheit mit ehrenamtlichen Strukturen arbeiten, wird regelmäßig das Argument des Gläubigerschutzes vorgetragen, wenn es um eine Eintragung in das bzw. Löschung aus dem Vereinsregister geht. Hier soll es für den Bereich der Genossenschaften gerade aufgeweicht werden, weil das Risiko regelmäßig nicht so hoch sei, trotz der Tatsache, dass es sich gerade um wirtschaftliche Tätigkeiten der Genossenschaft handelt und damit das Insolvenzrisiko grundsätzlich höher ist.
Dieser Wertungswiderspruch ist nicht nachvollziehbar.
Auch halten wir die Versagung der vereinfachten Prüfung bei Genossenschaften allein aufgrund der Tatsache, dass sie Mitgliederdarlehen erhalten haben, für nicht gerechtfertigt und können daraus das besondere Schutzbedürfnis der Mitglieder nicht nachvollziehen. Selbst wenn eine kleine Initiative mit Mitgliederdarlehen in Höhe von nur 500 Euro einen kleinen Verkaufswagen finanzieren möchte, kann nach dem Gesetzentwurf eine vereinfachte Prüfung nicht stattfinden, obwohl das Risiko für Gläubiger und Mitglieder gering ist. Und selbst eine vereinfachte Prüfung beinhaltet eine Feststellung, ob es Anhaltspunkte gibt, an einer geordneten Vermögenslage oder der Ordnungsmäßigkeit der Geschäftsführung zu zweifeln. Auch damit werden die Interessen der Mitglieder geschützt. Darüber hinaus wird mit den Mitgliederdarlehen auch die Bilanzsumme insgesamt steigen, sodass mit der Grenze des § 267a i.V.m. § 336 Abs. 2 Satz 3 HGB auch eine zusätzliche Sicherung eingebaut ist. Werden danach die Größenmerkmale der Kleinstgenossenschaft überstiegen, scheidet eine vereinfachte Prüfung in jedem Fall aus und das Schutzinteresse der Mitglieder wird durch eine vollständige Prüfung gewahrt.
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Der Referentenentwurf „Entwurf eines Gesetzes zu dem Übereinkommen des Europarats vom 11. Mai 2011 zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt“ dient der Ratifikation der Istanbul-Konvention, die die Mitgliedsstaaten des Europarates am 11. Mai 2011 in Istanbul gezeichnet haben und die am 1. August 2014 nach Ratifikationen durch 10 Mitgliedsstaaten in Kraft getreten ist. Die Europaratskonvention sieht erstmalig in einem völkerrechtlichen Vertrag umfassende und spezifische Maßnahmen zur Prävention und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt sowie zum Schutz der Opfer vor. Durch die Ratifizierung verpflichtet sich Deutschland, die durch das Übereinkommen gesetzten Standards dauerhaft zu schaffen bzw. einzuhalten. Es konnten bereits in den letzten Jahren gesetzgeberische Schritte und weitere Maßnahmen zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt erreicht werden und die Rechte der Opfer gestärkt werden. Weitere bundesgesetzliche Schritte sind aus Sicht des Gesetzentwurfes mit Denkschrift zur Erfüllung der Anforderungen der Konvention nicht mehr erforderlich.
Bewertung
Die BAGFW begrüßt die Ratifikation der Europaratskonvention und die damit verbundene zeitnahe Umsetzung in nationales Recht. Viele Schritte sind auch bereits im Interesse der Opfer in Gesetzgebungsverfahren gegangen worden, tragen zu ihrem Schutz bei und geben ihnen Rechte an die Hand, um ihre Ansprüche geltend zu machen.
Zwei Punkte sind aus unserer Sicht aber noch von besonderer Bedeutung und müssen auf Bundesebene umgesetzt werden:
1. eine bundesrechtliche Verankerung des Rechtsanspruchs auf Schutz und Hilfe für von Gewalt betroffene Frauen und deren Kinder
Körperliche, sexualisierte oder psychische Gewalt zu erleben, ist nach wie vor für viele Frauen in Deutschland alltägliche Realität. Jede dritte Frau in Deutschland (35%) hat körperliche und/oder sexuelle Gewalt in der Partnerschaft oder durch andere Personen erlebt. Die schwerwiegenden gesundheitlichen und sozialen Gewaltfolgen betreffen nicht nur die Frauen, sondern ebenso deren Kinder als Zeugen von häuslicher oder sexualisierter Gewalt. Vor diesem Hintergrund kommt dem Hilfe- und Unterstützungssystem für von Gewalt betroffenen Frauen und deren Kinder eine hohe Bedeutung zu. Seit langem ist jedoch der Zugang zum Hilfesystem nicht für alle gewaltbetroffenen Frauen und deren Kinder gesichert: es bestehen große Mängel hinsichtlich der Finanzierung bundesweit flächendeckender und ausreichender Strukturen, die jeder betroffenen Frau das Hilfesystem zugänglich machen. Um Schutz, Zuflucht und Beratung in Frauenhäusern und Fachberatungsstellen verlässlich sicherstellen zu können, braucht es nach Ansicht der BAGFW einen Rechtsanspruch auf Schutz und Hilfe bei Gewalt für betroffene Frauen und deren Kinder in einem Bundesgesetz.
2. Aktionsplan zur Umsetzung der Konvention
Um die strukturellen Voraussetzungen für eine Verwirklichung eines solchen Rechtsanspruchs zu schaffen, empfiehlt die BAGFW einen Aktionsplan zur Umsetzung der Konvention.
Angesichts der komplexen Verpflichtungen sollte die Ratifikation vom Aufbau einer Struktur begleitet werden, die es ermöglicht, die Anforderungen aus der Europaratskonvention systematisch mit der Wirksamkeit bestehender Maßnahmen und Strukturen in Deutschland abzugleichen, Wissenslücken aufzudecken und erforderliche Verbesserungsbedarfe zu identifizieren. In Deutschland als einem föderal verfassten Staat sind in erster Linie die Bundesländer für die Durchführung bzw. Bereitstellung verabredeter Maßnahmen zuständig. Es fehlt aber bislang an einer länderübergreifenden Verbindlichkeit zur Bereitstellung von gleichwertigen Schutz- und Hilfemaßnahmen. In Fortsetzung des Aktionsplans II von 2007 sollten deshalb Bundes- und Landesebene zusammen weiter an der Verbesserung der Effizienz der Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen arbeiten und den Schutz der betroffenen Frauen einheitlich sicherstellen. Dazu bedarf es einer gemeinsamen Zielbestimmung, bindender Zeitvorgaben und klarer Ressourcenzuweisungen. Entsprechend der Istanbul-Konvention ist auch die Zivilgesellschaft bei diesem Prozess einzubinden. Es empfiehlt sich, eine unabhängige Monitoringstelle einzurichten, die den Umsetzungsprozess aus dem Blickwinkel der Menschenrechte auf regionaler und überregionaler Ebene beobachtet und analysiert. Die Monitoringstelle berät die Politik in Bund und Ländern, die Justiz, Anwaltschaft, Wirtschaft sowie zivilgesellschaftliche Organisationen bei der Umsetzung des internationalen Abkommens und fördert den Austausch zwischen Staat und Zivilgesellschaft, Wissenschaft und Praxis, nationalen und internationalen Akteuren. Denn die Gewalt gegen Frauen berührt Menschenrechte und damit die Grundlage unserer Gesellschaft. Auf ihre Einhaltung ist zu achten und gesellschaftliche und politische Prozesse müssen entsprechend ausgestaltet werden.
Wir verweisen zur vertieften fachlichen Einschätzung der Denkschrift auf die Stellungnahme der Frauenhauskoordinierung e.V. (10.2.2017)
]]>Da in der EU mittlerweile 122 Millionen Menschen von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht seien, könne dieser Ansatz nicht länger aufrechterhalten werden. Die Bundesregierung wird aufgefordert, künftig im Rahmen der Europa 2020-Strategie die drei EU-Armutsindikatoren Armutsgefährdungsquote, materielle Deprivation und Erwerbsintensität anzuwenden und so sozialpolitischen Ehrgeiz zu demonstrieren.]]>
Nur ein starkes soziales Europa kann erfolgreich sein und das Vertrauen der Menschen zurückgewinnen! Trotzdem spielen Sozialpolitik und die soziale Dimension nach wie vor eine untergeordnete Rolle in der europäischen Politik, bei deren nationaler Umsetzung, sowie in den EU-Institutionen und Prozessen. Das gilt auch für das Thema Armutsbekämpfung. Damit werden die EU und ihre Mitgliedsstaaten der Bedeutung des Themas nicht gerecht.
In der reichen EU ist Armut allgegenwärtig: 122 Millionen Menschen sind in Europa mittlerweile von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht. Das sind 4 Millionen mehr, als noch 2010. Die Finanz- und Wirtschaftskrise und die danach einsetzende Spar- und Kürzungspolitik haben die Lage drastisch verschlechtert. Vor allem in den südlichen EU-Mitgliedsstaaten verloren Millionen ihren Arbeitsplatz. In Krisenländern wurden Gewerkschaftsrechte beschnitten und Tarifsysteme ausgehöhlt. Renten, staatliche Leistungen, Löhne und Mindestlöhne wurden gekürzt. Armut breitete sich aus. Obwohl Deutschland weniger unter der anhaltenden Krise leidet, steigt auch hierzulande die Armut: 13,5 Millionen Menschen sind mittlerweile in Deutschland von Armut bedroht oder betroffen.[1]
Wir brauchen deshalb eine Politik, die Armutsbekämpfung zum Kernthema macht. Das würde auch den sozialen Zusammenhalt in der EU und innerhalb ihrer Mitgliedsstaaten wieder stärken.
Armutsbekämpfung im Kontext der Europa 2020 Strategie
Im Programm Europa 2020, das Kernziele für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung der EU definiert, ist die Armutsbekämpfung zwar ein zentrales Element: Die Zahl der von Armut und Ausgrenzung bedrohten oder betroffenen Menschen soll bis 2020 um mindestens 20 Millionen sinken und die einzelnen Mitgliedstaaten haben sich verpflichtet, durch eigene Zielsetzungen auf nationaler Ebene zur europäischen Zielerreichung beizutragen. Bei den Prioritäten der konkreten Politikgestaltung bleibt die Armutsbekämpfung allerdings hinter anderen Zielen zurück.
Der DGB und die BAGFW kritisieren, dass die Einbettung der EU 2020 Strategie in den Prozess des Europäischen Semesters die Vorrangstellung der Haushalts- und Wirtschaftspolitik gegenüber der Sozialpolitik weiter verfestigt hat. Die sanktionsbelegten haushalts- und wirtschaftspolitischen Vorgaben des Stabilitäts- und Wachstumspakts sowie des Verfahrens zu makroökonomischen Gleichgewichten stehen oft im Gegensatz zu dem Armutsbekämpfungsziel und konterkarieren sein Erreichen stark. Der DGB und die BAGFW fordern, dass ein vollwertiges Gleichgewicht zwischen den sozialen und wirtschaftlichen Zielen der unterschiedlichen Verfahren geschaffen wird.
Um das Armutsziel im Rahmen der Strategie zu erreichen, sind weitere Maßnahmen notwendig. DGB und BAGFW fordern, dass der Bekämpfung von Armut und Ausgrenzung im Rahmen der Vorschläge der Kommission für eine Europäische Säule Sozialer Rechte eine wichtige Rolle eingeräumt wird. Erforderlich sind zudem verbindliche Vorgaben auf europäischer Ebene zur Absicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums.
Armutsbekämpfung ist mehr als Arbeitsmarktpolitik
Die Bundesregierung wählt bei der Berichterstattung über die Annäherung Deutschlands an die EU-2020 Ziele in ihrem „Nationalen Reformprogramm“ regelmäßig nur einen Armutsindikator: die Entwicklung der Langzeitarbeitslosigkeit. Das reicht nicht aus.
Der DGB und die BAGFW treten gemeinsam für eine umfassende Politik der Arbeitsmarktintegration und Armutsbekämpfung ein. Die Reduzierung der Arbeitslosigkeit und speziell der Langzeitarbeitslosigkeit ist ein wichtiges Element zur Bekämpfung von Armut und Ausgrenzung, sie darf sich darin jedoch nicht erschöpfen. Weitere Elemente müssen folgen. Mehr denn je bedarf es eines integrierten Ansatzes, um die soziale Kohäsion in Europa zu fördern.
Mehrfach haben der DGB und die BAGFW darauf hingewiesen, dass der Indikator Langzeitarbeitslosigkeit allein zur Erfassung des arbeitsmarktpolitischen bzw. sozialpolitischen Handlungsbedarfs ungeeignet ist. Er bildet die verschiedenen Dimensionen von Armut und Mangellagen nicht in ausreichendem Maße ab. Auch die Armut von Menschen, die nicht, noch nicht oder nicht mehr am Erwerbsleben teilnehmen können, muss verstärkt in den Fokus rücken. Die Einbeziehung weiterer Indikatoren, wie z. B. die relative Einkommensarmut, die materielle Deprivation oder die Verweildauer im Bezug existenzsichernder Sozialleistungen[2], ist erforderlich. Deutschland sollte daher die Halbzeitbewertung der Europa 2020-Strategie nutzen und zukünftig mindestens die drei EU-Armutsindikatoren (Armutsgefährdungsquote, materielle Deprivation und Erwerbsintensität) anwenden.
Die Armutsrisikoquote in Deutschland ist inzwischen auf einen Wert von 16,7 Prozent im Jahr 2014 angestiegen. Dabei haben sich die Arbeitslosenzahlen und die Armutsrisikoquoten in ihrer Entwicklung seit 2010 entgegengesetzt entwickelt. Mit Sorge betrachten der DGB und die BAGFW eine Entwicklung hin zu einer Erhöhung des Armutsrisikos trotz Erwerbstätigkeit („Armut trotz Arbeit“) insbesondere durch die seit der Jahrtausendwende stark gestiegene Ausbreitung von Formen prekärer Beschäftigung.
Die Altersarmut ist nach Einschätzung des DGB und der BAGFW bereits heute ein ernstzunehmendes soziales Problem, das sich in den nächsten Jahren noch erheblich verschärfen wird. Immer mehr Menschen sind auf die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung angewiesen. Frauen sind dabei deutlich stärker von Altersarmut betroffen als Männer. Trotz der Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns drohen prekäre Arbeitsverhältnisse, der Ausbau des Niedriglohnsektors und unterbrochene Erwerbsbiographien das Problem der Altersarmut noch zu verschärfen.
Anstrengungen für besonders benachteiligte Menschen verstärken
Bestimmte Personengruppen, wie Menschen in verfestigter Langzeitarbeitslosigkeit oder Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen (z. B. Suchtkranke oder psychisch Kranke) wurden und werden mit den bereits existierenden Förderprogrammen zur Reduzierung der Arbeitslosigkeit nicht oder zumindest zu wenig erreicht. Um langfristig und nachhaltig Arbeitslosigkeit und Armut zu überwinden, müssen Instrumente zur Verfügung stehen, die für die Förderung der genannten arbeitsmarktfernen Personengruppen wirksam genutzt werden können. Neben einer grundsätz-lichen finanziellen und personellen Aufstockung der Hilfesysteme sind spezielle Anstrengungen für besonders benachteiligte Gruppen erforderlich. Die Problematik des Ausmaßes des verfestigten Langzeitleistungsbezugs in der Grundsicherung für Arbeitsuchende wird zu wenig thematisiert.
Der DGB und die BAGFW fordern daher gezielte und kleinschrittige Hilfen für Menschen mit mehrfachen Vermittlungshemmnissen, wenn notwendig über einen längeren Zeitraum, damit eine Erwerbsintegration auch nachhaltig gelingt. Für einen Teil derjenigen Menschen, die trotz intensiver Förderung ohne Chance auf Beschäftigung auf dem Arbeitsmarkt sind, sollten über öffentlich geförderte sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsangebote Möglichkeiten der sozialen Teilhabe eröffnet werden. Um dies zu erreichen, muss die Zielsteuerung des SGB II stärker auf die Ermöglichung sozialer Teilhabe für Menschen mit sehr geringen Arbeitsmarktchancen ausgerichtet werden. Die Jobcenter müssen durch höhere Budgets für Eingliederungsmaßnahmen sowie durch eine bessere personelle Ausstattung in die Lage versetzt werden, auch für diese Menschen Förderangebote zu machen. Die von den Kommunen zu erbringenden sozialintegrativen Leistungen wie z.B. Kinderbetreuung, Schulden- oder Suchtberatung sollten umfassender und zeitnäher bereitgestellt werden, um die Arbeitsmarktintegration zu flankieren.
Die Arbeitsförderung muss außerdem grundsätzlich stärker an den Bedürfnissen der Frauen und ihrer häufig unterbrochenen Erwerbsbiographien ausgerichtet werden. Trotz der Anstrengungen, öffentliche Kinderbetreuungsmöglichkeiten auszubauen, besteht hier weiter ein erheblicher Handlungsbedarf, insbesondere bei der Qualität sowie bei Betreuungsangeboten auch zu Randzeiten.
Die Abhängigkeit des Bildungserfolgs von der sozialen Herkunft bleibt die zentrale Herausforderung unseres Bildungssystems. Der DGB und die BAGFW fordern mehr Investitionen in die frühkindliche Bildung. Dazu gehören auch mehr und gut ausgebildete und angemessen bezahlte Erzieherinnen und Erzieher. Wir benötigen mehr gute Ganztagsschulen mit multiprofessionellen Teams und auskömmlich finanzierte Kinder- und Jugendeinrichtungen. Unfreiwillige Warteschleifen im Übergang von der Schule in die Ausbildung müssen abgebaut und das Nachholen von Schul- und Berufsabschlüssen müssen gefördert werden. Die EU kann es sich nicht leisten, Investitionen in Bildung zu vernachlässigen und damit Fähigkeiten und Potentiale junger Menschen ungenutzt zu lassen. Wir brauchen egalitäre Bildungsangebote und die Förderung und Ermöglichung des sozialen Aufstiegs. DGB und die BAGFW fordern ein inklusives Bildungssystem.
Fazit
Die Europa 2020-Strategie konnte bislang die in sie gesetzten Erwartungen an die Förderung sozialer Kohäsion, Nachhaltigkeit und Inklusion nicht erfüllen. Europa hat aber nur dann eine Zukunft, wenn es nicht nur eine Wirtschaftsgemeinschaft, sondern auch eine Wertegemeinschaft ist, die nachhaltiges Wachstum und sozialen Zusammenhalt verbindet.
Der DGB und die BAGFW fordern deshalb, die politischen Schwerpunkte im Europäischen Semester und in anderen europäischen und nationalen Politikprozessen neu zu justieren, um eine umfassende Bekämpfung der Armutsgefährdung zu gewährleisten. Der DGB und die BAGFW treten gemeinsam dafür ein, die Arbeits- und Lebensbedingungen aller Menschen in der EU zu verbessern, Armut nachhaltig zu bekämpfen, soziale Ungleichheit zu beseitigen und den Menschen in Europa eine Perspektive zu bieten.
[1] Quelle: Strategische Sozialberichterstattung 2016 für Deutschland, S. 40, EU-SILC
[2] Zu verlässlichen Sozialleistungssystemen vgl. EWSA-Stellungnahme von Berichterstatter Prof. Dr. Bernd Schlüter, SOC/520 vom 17.09.2015, siehe: <link file:3779>www.bagfw.de/uploads/media/EWSA_Stellungnahme_Schlueter_SOC_520_17.09.2015_01.pdf
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Bewertung:
Die BAGFW begrüßt die Bemühungen, die Gründungen unternehmerischer Initiativen aus dem bürgerschaftlichen Engagement zu erleichtern. Unserem Erachten nach sind die vorgesehenen Änderungen aber nicht geeignet, eine nachhaltige Klärung bei der Frage herbeizuführen, für welche unternehmerischen Aktivitäten welche Rechtsform vorgesehen ist. So werden Dorfläden, Kitas, altersgerechte Wohnformen, aber auch Energievorhaben zusammen genannt. Dies sind zum Teil rein wirtschaftliche Aktivitäten und zum Teil wirtschaftliche Aktivitäten mit einem unmittelbaren ideellen Bezug. Für letztere gibt es bereits höchstrichterliche Entscheidungen bzw. steht in Kürze eine BGH-Entscheidung aus zur wirtschaftlichen Betätigung und Reichweite des Nebenzweckprivilegs von eingetragenen Vereinen, aus denen sich die Zulässigkeit für derartige Aktivitäten mit ideellen Motiven in der Rechtsform des eingetragenen Vereins ergibt.
Zu Artikel 1: Änderung des Bürgerlichen Gesetzbuches
Für kleine unternehmerische Initiativen, die aus bürgerschaftlichem Engagement heraus entstehen, sind die Rechtsformen der Kapitalgesellschaft oder der Genossenschaft oft zu kompliziert. Im Mittelpunkt solcher Bewegungen stehen einerseits die Verfolgung eines ideellen Ziels mit Mitteln eines wirtschaftlichen Geschäftsbetriebes, mit Beiträgen, Spenden oder Zuschüssen und andererseits das persönliche Einbringen in demokratische Mitbestimmungsprozesse im Hinblick auf eine nachhaltige Förderung des Gemeinwohls. Seit 1900 ist dafür in Deutschland der Verein die richtige Rechtsform, die auch durch Art. 9 GG grundrechtlich geschützt ist. Nach § 21 BGB erlangt ein Verein Rechtsfähigkeit durch Eintragung in das Vereinsregister des zuständigen Amtsgerichts, eine wirtschaftliche Betätigung ist aber nur im Rahmen des Nebenzweckprivilegs zulässig, wenn sie dem ideellen, nicht wirtschaftlichen Hauptzweck dient und diesem funktional untergeordnet ist. Dagegen erlangt der wirtschaftliche Verein nach § 22 BGB seine Rechtsfähigkeit durch staatliche Verleihung. Diese Verleihung erfolgt nur in Ausnahmefällen, wenn es wegen besonderer Umstände des Einzelfalls unzumutbar ist, sich in einer für die wirtschaftliche Betätigung gesetzgeberisch bereitgestellten Rechtsform (GmbH, AG, Genossenschaft, etc.) zu organisieren. Mit einer Änderung des § 22 BGB soll der wirtschaftliche Verein für Geschäftsbetriebe, die aus bürgerschaftlichem Engagement entstanden sind, nutzbar gemacht werden. Verwiesen wird beispielsweise auf sogenannte Dorfläden.
Bewertung:
Die BAGFW begrüßt, dass diese in der Tat sehr wichtigen Angebote betrachtet werden. Sie ermöglichen insbesondere mobilitätseingeschränkten Menschen in strukturschwachen, ländlichen Gebieten, Waren des täglichen Bedarfs einzukaufen. Die Dorfläden haben darüber hinaus eine sehr wichtige Funktion für Begegnung und Kommunikation in kleinen Gemeinden. Die Stärkung dieses wichtigen Bereiches wird unsererseits ausdrücklich begrüßt.
Eine Änderung des § 22 BGB ist aber nicht geeignet, das Ziel zu erreichen.
Der wirtschaftliche Verein soll nur dann Rechtsfähigkeit erlangen können, wenn eine andere Rechtsform unzumutbar ist. Damit wird von vornherein eine Hürde aufgebaut, die kaum zu überwinden sein wird. Die Möglichkeit durch Rechtsverordnung Regelungen für wirtschaftliche Vereine zu treffen, deren wirtschaftlicher Geschäftsbetrieb auf einen „geringen Umfang“ gerichtet ist, stellt sich zudem als zu unbestimmt dar.
Bekanntlich haben inzwischen auch viele Idealvereine Probleme, ins Vereinsregister eingetragen zu werden. Bereits bestehende Vereine sind von Amtslöschungsverfahren bedroht. Die diesbezügliche Spruchpraxis des Kammergerichts Berlin zu sogenannten Kita-Vereinen darf als bekannt vorausgesetzt werden. Ebenso bekannt wird die anderslautende Rechtsprechung der Oberlandesgerichte Schleswig-Holstein, Brandenburg und Stuttgart sein.
Unabhängig von den noch ausstehenden Entscheidungen des Bundesgerichtshofs zu den Rechtsbeschwerdeverfahren gegen die Amtslöschungsverfügungen des KG Berlin (Az.: II ZB 6/16; 9/16) sehen wir einen dringenden politischen Handlungs-bedarf, um die – über einhundert Jahre alte – Tradition der Idealvereine zu erhalten. Möglichst viele Menschen möchten sich auch zukünftig in einer demokratisch verfassten Organisation engagieren und zu diesem Zweck auch erhebliche wirtschaftliche Aktivitäten entfalten können, um mit ihrem ideell ausgerichteten Wirken die Allgemeinheit zu fördern.
Idealvereine sind nicht nur Träger von Kindertagesstätten, sondern auch Träger von einer Vielzahl von Einrichtungen der Bildung, der Jugendhilfe, der Altenhilfe, der Hilfe für Menschen mit Behinderungen und vielem anderen mehr. All diesen Vereinen ist gemeinsam, dass sich Menschen aus eigener Betroffenheit oder auch, weil sie Versorgungslücken erkannt haben, zusammengeschlossen haben, um die Versorgung hilfebedürftiger Menschen zu verbessern. In der Folge entstehen sehr häufig Zweckbetriebe, um die nötige Hilfe leisten zu können. Es handelt sich hier regelmäßig um bürgerschaftliches Engagement im besten Sinne.
Man kann darüber streiten, ob den Mitgliedern die Wahl einer anderen Rechtsform zumutbar ist oder nicht. Entscheidend ist, dass diese Menschen den Idealverein als die Rechtsform ansehen, in der sich bürgerschaftliches Engagement am besten entfalten kann. Weder GmbH noch Genossenschaft entsprechen den Leitvorstellungen der Mitglieder zur Verwirklichung ihrer ideellen Ziele. Dagegen bringt der Verein am besten Demokratie und Zivilgesellschaft zusammen.
Auch der wirtschaftliche Verein wird diesen Menschen nicht gerecht. Er wird im Entwurf definiert als ein Verein, dessen Zweck auf einen wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb gerichtet ist. Der wirtschaftliche Geschäftsbetrieb mag in vielen Vereinen eine wirtschaftlich große Bedeutung haben. Es geht aber immer um die Verfolgung ideeller Ziele, zu deren Erreichung ein wirtschaftlicher Geschäftsbetrieb als Zweckbetrieb (vgl. §§ 65 bis 68 Abgabenordnung) errichtet wird. Jahrzehntelang wurde die steuerrechtliche Wertung des Zweckbetriebs zur Ausfüllung des sogenannten Nebenzweckprivilegs genutzt.
Die neuere Rechtsprechung des Kammergerichts Berlin hat diese Sichtweise aufgegeben. Dieses bezieht sich dabei insbesondere auf den unzureichenden Gläubigerschutz bei Vereinen. Statistiken zeigen eher, dass Vereine wesentlich seltener insolvent werden als Kapitalgesellschaften. Auch kann man den Gläubigerschutz von Unternehmergesellschaften (UG), unterkapitalisierten GmbH‘en sowie der Limited hinterfragen. Die von einigen Gerichten diesbezüglich immer wieder zitierte Rechtsprechung des BGH aus dem Jahre 1982 (BGHZ 85, 84, 88, 89) ist nicht mehr zeitgemäß. Zuzugestehen ist aber, dass Kapitalgesellschaften Rechnungslegungspflichten haben, die auch Publizität mit einschließen.
Lösungsvorschlag:
Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege bittet eindringlich darum, den Rechtsrahmen des Idealvereins für die Realisierung des bürgerschaftlichen Engagements weiter zur Verfügung zu stellen. Die wirtschaftliche Betätigung im Sinne des Nebenzweckprivilegs hat sich insoweit bewährt. Daneben erkennen wir die Berechtigung der kritischen Anfragen zur Rechnungslegung an. Viele Vereine wenden bereits heute auf freiwilliger Basis die HGB-Vorschriften zur Rechnungslegung an. Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege plädiert zur Erhaltung der Rechtsform des Idealvereins dafür, auf diesen die Rechnungslegungsvorschriften des HGB anzuwenden.
Dabei ist allerdings zu bedenken, dass die meisten Vereine wirtschaftlich völlig unbedeutend sind. Sie auf die Rechnungslegung nach HGB zu verpflichten, würde sie überfordern und wäre unverhältnismäßig. Es macht dagegen Sinn, kleine, mittelgroße und große Vereine im Sinne § 267 HGB auf die Rechnungslegung nach HGB zu verpflichten.
Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege schlägt vor, § 21 BGB wie folgt zu fassen:
(1) Ein Verein, dessen Zweck nicht auf einen wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb gerichtet ist, erlangt Rechtsfähigkeit durch Eintragung in das Vereinsregister des zuständigen Amtsgerichts.
(2) Eine wirtschaftliche Betätigung, die der Verfolgung der satzungsgemäßen ideellen Zwecken dient, steht einer Eintragung in das Vereinsregister nicht entgegen.
Hinsichtlich der Rechnungslegung wird die Ergänzung des § 27 BGB um einen Absatz 4 vorgeschlagen:
(4) Der Vorstand ist nach §§ 259, 260 dieses Gesetzes rechenschaftspflichtig. Bei Vereinen, die mindestens zwei der drei in § 267 Abs. 1 Handelsgesetzbuch genannten Merkmale überschreiten, gelten die Vorschriften des Handelsgesetzbuches zu Buchführung und Jahresabschluss. Die veröffentlichungspflichtigen Unterlagen sind beim Vereinsregister einzureichen und auf die Internetseite des Vereins zu stellen.
Zu Artikel 3: Änderung des Genossenschaftsgesetzes
Zu den grundsätzlichen Überlegungen für die Rechtsform der Genossenschaft verweisen wir auf die beigefügte Stellungnahme der BAGFW zur Anhörung des BMJ zum Referentenentwurf zur Einführung der Kooperationsgesellschaft vom 03.09.2013.
§ 21 b wird neu eingefügt und behandelt die sog. Mitgliederdarlehen. Die Vorschrift soll für Genossenschaften Rechtsklarheit schaffen, wann diese Mitgliederdarlehen entgegen nehmen dürfen und wie das Verfahren ausgestaltet ist. Es werden Grenzen in der Höhe der Darlehen eingezogen, die sich am Vermögensanlagengesetz orientieren.
Bewertung:
Die Regelung ist jedoch insofern verwirrend, als in § 2 Abs. 1 Nr. 1 Vermögensanlagengesetz ohnehin Ausnahmen für Genossenschaften vorgesehen sind. Dann müsste es auch in diesem Gesetz zu entsprechenden Folgeänderungen kommen. Grundsätzlich begrüßen wir jedoch die Wertung, Mitgliederdarlehen bei Genossenschaften an die gleichen Voraussetzungen zu knüpfen, wie sie auch für soziale Projekte, gemeinnützige Projekte und für Religionsgemeinschaften (§§ 2b,c VermAnlG) vorgesehen sind.
§ 34 Abs. 2 wird neu eingefügt. Danach soll für Vorstandsmitglieder eine Haftungserleichterung eingeführt werden, wenn sie „im Wesentlichen unentgeltlich“ tätig sind.
Bewertung:
Die Vorschrift ist nicht nachvollziehbar und in dieser Formulierung abzulehnen.
In der Begründung wird auf den Rechtsgedanken der ehrenamtlichen Vorstandstätigkeit im Verein hingewiesen. Da es sich bei Genossenschaften meist um Formkaufleute handele, geht der Referentenentwurf davon aus, dass eine vollständige Übertragung der Vorschrift wie im BGB nicht angezeigt sei. Er geht sogar weiter und legt fest, dass der Bezug von 720 € jährlich keine starre Regelung sein soll, weil dies nicht zu vermitteln wäre, so die Begründung.
Dem muss widersprochen werden. Die Regelung „im Wesentlichen“ ist zu unbestimmt. In § 31a BGB ist die Haftungsprivilegierung nur vorgesehen, wenn die Organmitglieder unentgeltlich tätig sind oder ihre Vergütung 720 € im Jahr nicht übersteigt. Warum im Genossenschaftsrecht eine flexiblere Regelung als im Vereinsrecht eingeführt werden soll, ist nicht nachvollziehbar. Wenn eine Haftungsprivilegierung trotz des Bezugs von mehr als 720 € jährlich erfolgen soll, dann sollte dies auch für den Bereich des Vereinsrechts gelten, indem einheitliche Grenzen festgelegt werden. Die Regelung führt jedoch in dieser Form zu Rechtsunsicherheit, da sich in der Praxis immer die Frage stellen dürfte, wieviel höher als 720 €/ p.a. die Bezahlung der Vorstände sein darf. Zudem ist mit einer Aushöhlung des Begriffs der Ehrenamtlichkeit zu rechnen.
§ 53 a wird neu eingefügt und sieht eine vereinfachte Prüfung für sehr kleine Genossenschaften vor.
Bewertung:
Grundsätzlich ist es positiv zu werten, wenn kleine Genossenschaften sich nur einer vereinfachten Prüfung unterziehen sollen. Allerdings geht die Begründung fehl. Es wird ausgeführt, dass kleine Genossenschaften regelmäßig ehrenamtlich geführt würden und zudem aufgrund der geringen Umsätze das Risiko für Gläubiger und Mitglieder regelmäßig nicht sehr hoch sei. Dem können wir aus systematischen Gründen nicht zustimmen. Bei Vereinen, die ebenfalls in der Mehrheit mit ehrenamtlichen Strukturen arbeiten, wird regelmäßig das Argument des Gläubigerschutzes vorgetragen, wenn es um eine Eintragung in das bzw. Löschung aus dem Vereinsregister geht. Hier soll es für den Bereich der Genossenschaften gerade aufgeweicht werden, weil das Risiko regelmäßig nicht so hoch sei, trotz der Tatsache, dass es sich gerade um wirtschaftliche Tätigkeiten der Genossenschaft handelt und damit das Insolvenzrisiko grundsätzlich höher ist.
Dieser Wertungswiderspruch ist nicht nachvollziehbar.
Anlagen
<link file:7198 download>Stellungnahme der BAGFW zur Anhörung am 2. Septmber 2013 im Bundesministerium der Justiz zum Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz - Entwurf eines Gesetzes zur Einführung der Kooperationsgesellschaft und zum weiteren Bürokratieabbau bei Genossenschaften (KoopEG)
<link file:6631 download>
Positionierung zur Zukunft des Idealvereins und zu Transparenzanforderungen
Im Hinblick auf das nach § 17 Abs. 1b Satz 3 in Verbindung mit § 17a Abs. 1 Satz 2 SGB XI vorgesehene Beteiligungsverfahren wird der BAGFW Gelegenheit gegeben, zu der beiliegenden Entwurfsfassung der Kostenabgrenzungs-Richtlinien Stellung zu nehmen, wovon hiermit entsprechend Gebrauch gemacht wird.
Entwurf
Der Entwurf der Richtlinien regelt das Verfahren für die Feststellung des Zeitanteils, für den die Pflegeversicherung bei ambulant versorgten Pflegebedürftigen, die einen besonders hohen Bedarf an behandlungspflegerischen Leistungen haben und die Leistungen der häuslichen Pflegehilfe nach § 36 SGB XI und der häuslichen Krankenpflege nach § 37 Abs. 2 SGB V beziehen, die hälftigen Kosten zu tragen hat.
Dabei geht es um die Abgrenzung der Kosten zwischen SGB V und SGB XI ab dem 01.01.2017, da der Zeitaufwand ab dem 01.01.2017 im Rahmen der Begutachtung zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit nicht mehr festgestellt wird und die Gutachten künftig nicht mehr für eine zeitbezogene Aufteilung der Kostenträgerschaft herangezogen werden können.
Diese Richtlinien umfassen Fälle von ambulant versorgten Pflegebedürftigen, die einen besonders hohen Bedarf an behandlungspflegerischen Leistungen haben (rund um die Uhr, also 24 Stunden am Tag ist die Anwesenheit / Interventionsbereitschaft einer geeigneten Pflegefachkraft zur individuellen Kontrolle und Einsatzbereitschaft und zur Durchführung der notwendigen behandlungspflegerischen Maßnahmen erforderlich) und Leistungen der häuslichen Krankenpflege nach § 37 SGB V sowie Leistungen der häuslichen Pflegehilfe nach § 36 SGB XI durch dieselbe Pflegekraft beziehen. Dem Entwurf nach müssen somit drei Voraussetzungen gleichzeitig vorliegen:
1. Vorliegen eines besonders hohen Bedarfs an medizinischer Behandlungspflege,
2. Inanspruchnahme von Leistungen der häuslichen Krankenpflege nach § 37 SGB V und
3. Inanspruchnahme von Pflegesachleistungen nach § 36 SGB XI durch dieselbe Pflegekraft.
Der durch die Pflegeversicherung zu tragende Anteil soll pauschal festgelegt werden. Dabei wird jedem Pflegegrad ein bestimmter Minutenwert zugeordnet, für den die Pflegeversicherung aufzukommen hat. Die ermittelten Minutenwerte entsprechen den Zeitanteilen, die nach dem bis 31.12.2016 gültigen Verfahren (vgl. Abschnitt 4) vom verordneten zeitlichen Umfang der häuslichen Krankenpflege abzuziehen waren. Unter Beachtung der Überleitungsregelung nach § 140 Abs. 2 SGB XI wurden die ermittelten Zeitanteile der „reinen“ Grundpflege je Pflegestufe auf die Systematik der Pflegegrade übertragen. Anschließend wurden je Pflegegrad Mittelwerte errechnet.
Bewertung
Für den bezeichneten Personenkreis soll anhand von Pauschalwerten, die auf der Auswertung von Bestandsfällen beruhen, ab 2017 für alle neuen Fälle ein unkompliziertes Verfahren eingeführt werden. Dies wird durch die BAGFW begrüßt.
Die vorgeschlagenen Werte je Pflegegrad erscheinen plausibel. Dass der Pflegegrad 1 nicht berücksichtigt wurde, muss beanstandet werden. Ca. 24 % aus den Pflegestufen 1 und 2 migrieren im Zuge der Überleitung in den Pflegegrad 1 und es kann nicht ausgeschlossen werden, dass die bezeichneten Personenkreise in Ausnahmefällen eine entsprechende Selbstständigkeit mitbringen, jedoch über 24 h einer Interventionsbereitschaft unterliegen (z. B. weil sie sich nicht selber absaugen können / bei tracheotomierten Patienten). Daher empfehlen wir vorsorglich diese Lücke zu schließen und die Berechnung ebenfalls auf diesen Pflegegrad zu übertragen.
Mit dem Verfahren wird zudem sichergestellt, dass die Vorgaben der maßgeblichen BSG-Rechtsprechung zur Kostenaufteilung in Fällen der über 24 Stunden täglich erforderlichen häuslichen Krankenpflege weiterhin umgesetzt werden, was zielführend ist.
Unter Ziffer 6 wird geregelt, dass die pauschalen Minutenwerte anteilig nach kaufmännischer Rundung in Abzug zu bringen sind, wenn die Versorgung stundenweise anderweitig, z.B. durch Angehörige, übernommen wird. Dies ist bei einem pauschalen Ansatz mit Mittelwertbildung nicht schlüssig, da davon auszugehen ist, dass die zu Grunde gelegten Zeitwerte für die Berechnung diese Anteile bereits enthalten müssen. Im Zweifel würden diese Zeiten also doppelt abgezogen, was aus Sicht der BAGFW nicht sein darf. Wir sprechen uns daher für die ersatzlose Streichung dieses Zusatzes aus.
Die in der BAGFW kooperierenden Verbände hielten seinerzeit im Stellungnahmeverfahren zum Transplantationsregister-Gesetz das hier bezeichnete Verfahren als Zwischenschritt für geeignet, um für die hier dargelegte Zielgruppe eine Lösung zum 01.01.2017 zu finden. Da das MDK-Gutachten nicht mehr für eine zeitbezogene Aufteilung der Kostenträgerschaft herangezogen werden kann muss allerdings sichergestellt werden, dass diese Richtlinien nicht in anderen Bereichen genutzt werden – etwa vom Sozialhilfeträger oder bei der Bemessung der Pflegezeiten von privat pflegenden Pflegepersonen, wenn es um die Klärung der sozialen Absicherung geht etc. Insoweit darf diese Richtlinie keine präjudizierende Wirkung darauf entfalten und im Präambeltext ist dies mit Verweis auf die Nutzung „alter Messwerte“, die keinen Bezug zum Pflegebedürftigkeitsbegriff haben, klarzustellen.
Für körperbezogene Pflegemaßnahmen gibt es bisher keine pflegewissenschaftlich begründete Definition. Vielmehr stellen körperbezogene Pflegemaßnahmen eine Begrifflichkeit dar, deren Leistungsinhalte aufgrund der gesetzlichen Vorgaben von den Rahmenvertragsparteien nach § 75 SGB XI zu bestimmen sind. Auch dies ist noch nicht geschehen. Auch wenn im Kern bei körperbezogenen Pflegemaßnahmen voraussichtlich auf das Leistungsspektrum der durch den alten Pflegebedürftigkeitsbegriff geprägten verrichtungsbezogenen Tätigkeiten zurückgegriffen wird, soll nach dem neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff anstelle der verrichtungsorientierten Sichtweise eine problemorientierte Sicht auf die Planung und Ausführung von Pflegemaßnahmen bzw. Aufgaben treten. Körperbezogene Pflegemaßnahmen korrelieren jedoch nicht einfach mit den Modulen 1 und 4. Auch Beeinträchtigungen innerhalb der Module 2, 3 aber auch des Modul 6 wirken auf die Durchführung körperbezogener Leistungen ein und haben Einfluss auf die Dauer der Leistungserbringung.
Mittelfristig sollte daher auch für den hier genannten Personenkreis eine pflegefachlich wissenschaftlich fundierte Lösung aus dem NBA entwickelt werden, damit die Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffes nicht durch einen veralteten Rückgriff auf Zeitanteile konterkariert wird.
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Die geplanten Änderungen umfassen aus unserer Sicht zahlreiche Maßnahmen, die letztlich zu einer verbesserten Versorgung substituierter opioidabhängiger Menschen beitragen können. Die Verwirklichung dieses wichtigen Zieles wird jedoch weitere Maßnahmen erforderlich machen, die über die Regelungen der BtMVV hinausgehen.
Im Einzelnen nehmen wir zu den Änderungen in der Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung wie folgt Stellung:
§ 5 Substitution, Verschreiben von Substitutionsmitteln
§ 5 Absätze 1 und 2
Referentenentwurf
In den Absätzen 1 und 2 des Referentenentwurfs werden mehrere Änderungen vorgenommen: die Aufnahme einer Legaldefinition der Substitution, die Erweiterung der Begrifflichkeit der Opioidabhängigkeit (anstelle der Opiatabhängigkeit), die Bindung der Substitution an die Abhängigkeit von unerlaubt erworbenen Opioiden. Insbesondere wird die Zielsetzung der Substitutionsbehandlung dahingehend modifiziert, dass eine Opioidabstinenz der Patienten(inn)en zukünftig angestrebt werden soll, sie aber nicht mehr das vorrangige Ziel der Substitutionsbehandlung darstellen soll. Als wesentliche Ziele werden zusätzlich explizit aufgenommen die Sicherung des Überlebens und die Abstinenz von unerlaubt erworbenen Opioiden.
Bewertung
Die vorgenommenen Änderungen greifen langjährige Forderungen der in der BAGFW zusammengeschlossenen Verbände auf. Die Erfahrungen in der Beratung, Behandlung und Begleitung langjährig opioidabhängiger Klient(inn)en haben gezeigt, dass durch eine differenzierte Zielehierarchie und zieloffene Unterstützung, die insbesondere auf die Motivierung der Klient(inn)en und die Förderung der Compliance abhebt, viele Klient(inn)en weitreichende gesundheitliche Stabilisierung und tragfähige Verbesserungen der Teilhabe erreichen können.
Die Begrenzung der Regelungen der BtMVV auf die Behandlung von Opioidabhängigkeiten, die durch den Missbrauch von unerlaubt erworbenen Betäubungsmitteln zurückgehen und die damit verbundene Abgrenzung zur rechtmäßigen Behandlung nach § 13 Absatz 1 BtMG und ihren unerwünschten Nebenwirkungen, halten wir für dringend geboten und begrüßen dies ausdrücklich. Diese Klarstellung trägt zur Rechtssicherheit in vielen Bereichen der medizinischen Versorgung, auch der palliativen Behandlung und Pflege bei.
Wir begrüßen zudem, dass das Ziel der Abstinenz in der Substitutionsbehandlung nicht völlig aufgegeben wird, da opioidabhängen Patient(inn)en grundsätzlich differenzierte individuelle Behandlungsverläufe ermöglicht werden müssen, die alle Formen der Behandlung eröffnen. Dafür hält die BAGFW es allerdings für erforderlich, dass die Verbindung von substitutionsgestützter Behandlung und der medizinischen Rehabilitation für Abhängigkeitskranke zukünftig flexibler gestaltet werden und die medizinisch Rehabilitation nicht mehr an das Ziel der Opioidabstinenz bzw. die Abdosierung des Substitutionsmittels gebunden wird.
§ 5 Absätze 3,4 und 5
Referentenentwurf
§ 5 Absatz 3 regelt die Voraussetzungen für die Berechtigung zur Verschreibung von Substitutionsmitteln gem. § 13 Absatz 1 BtMG; diese umfassen nur noch die Mindestanforderungen an eine suchtmedizinische Qualifikation des substituierenden Arztes, die Meldeverpflichtungen gem. § 5a Absatz 2 sowie Maßnahmen zur Vergewisserung, dass der Patient keine von einem anderen Arzt verschriebenen Substitutionsmittel erhält.
§ 5 Absatz 4 regelt die zusätzlichen Bedingungen, unter denen ein suchtmedizinisch nicht qualifizierter Arzt zur Verschreibung von Substitutionsmitteln berechtigt ist: Er muss sich zu Beginn der Behandlung mit einem suchtmedizinisch qualifizierten Arzt abstimmen und sicherstellen, dass sich sein Patient zu Beginn der Behandlung und mindestens einmal im Quartal diesem suchtmedizinisch qualifizierten Arzt im Rahmen einer Konsiliarbehandlung vorstellt. Ein suchtmedizinisch nicht qualifizierter Arzt darf gleichzeitig höchstens 10 Patient(inn)en mit Substitutionsmitteln behandeln.
§ 5 Absatz 5 regelt die Vertretung des substituierenden Arztes. Dabei gilt weiterhin, dass der substituierende Arzt grundsätzlich von einem suchtmedizinisch qualifizierten Arzt vertreten werden soll. Falls dies nicht möglich ist, kann der substituierende Arzt auch von einem suchtmedizinisch nicht qualifizierten Arzt vertreten werden, allerdings nur bis zu einer maximalen Dauer von 4 Wochen und bis zu insgesamt 12 Wochen in einem Jahr. Für die zeitlich befristete Vertretung durch einen sucht-medizinisch nicht qualifizierten Arzt gilt die Obergrenze von maximal 10 substituierten Patient(inn)en nicht.
Die Verschreibung von Substitutionsmitteln mit Diamorphin durch einen suchtmedizinisch nicht qualifizierten Arzt ist weiterhin ausgeschlossen.
Bewertung
Die Beschränkung der Regelungsbereiche in Absatz 3 auf die unmittelbar mit der Verschreibung des Substitutionsmittels verbundenen Sachverhalte bewertet die BAGFW für sachgerecht. So ist die bisher vorgesehene Bewertung des Arztes, ob der Patient das ihm verschriebene Substitutionsmittel nicht bestimmungsgemäß verwendet, kaum zu leisten. Auch der Beikonsum des Patienten wird nicht mehr als Bedingung für die Beendigung der Substitutionsbehandlung aufgeführt.
Die zusätzlichen Bedingungen für die Verschreibung von Substitutionsmitteln durch einen suchtmedizinisch nicht qualifizierten Arzt halten wir im Sinne der Qualitätssicherung in der Substitutionsbehandlung für dringend geboten. Die Erweiterung der Obergrenze von drei auf nun maximal 10 Patient(inn)en halten wir für zu weitgehend. Sie ist zu verstehen angesichts der erheblichen Schwierigkeiten, in ländlichen und/oder strukturschwachen Gebieten ausreichend substituierende Ärzte zu finden, die zudem eine suchtmedizinische Qualifikation erwerben. Aus Sicht der BAGFW wird die Gewährleistung der flächendeckenden substitutionsgestützten Behandlung jedoch nicht allein über die Erweiterung der zulässigen Patientenzahl zu erreichen sein; denn die ärztliche Versorgung steht gerade in ländlichen und/oder strukturschwachen Regionen grundsätzlich in den kommenden Jahren vor großen Herausforderungen. Der Gesetzgeber hat in den letzten Jahren in mehreren Gesetzen, wie z.B. im Versorgungsstärkungsgesetz Anreize geschaffen, welche die ärztliche Niederlassung in strukturschwachen Gebieten attraktiver machen sollen. Letztlich wird es von der Wirkung dieser Maßnahmen abhängen, ob auch die wohnortnahe Substitutionsbehandlung gewährleistet werden kann. Bereits heute liegen die durchschnittlichen Patientenzahlen in der Substitutionsbehandlung zwischen den Stadtstaaten und den Flächenbundesländern sowie zwischen den Bundesländern erheblich auseinander. So weist der aktuelle Reitox-Jahresbericht für Deutschland 2016, dass z.B. in Hamburg von einem substituierenden Arzt durchschnittlich 40,7 Patient(innen) behandelt werden, in Brandenburg dagegen durchschnittlich 6,5 Patient(inn)en. Aus den genannten Gründen haben wir Zweifel, dass allein die erweiterte Obergrenze für die Gewährleistung der flächendeckenden wohnortnahen Substitutionsbehandlung ausreichen wird.
Die zeitliche Begrenzung für die Vertretung des substituierenden Arztes durch einen suchtmedizinisch nicht qualifizierten Arzt halten wir für dringend geboten. Die erforderlichen ärztlichen Abstimmungen unterstützen und begrüßen wir nachdrücklich
§ 5 Absatz 9
Absatz 9 formuliert die Voraussetzungen und Rahmenbedingungen für die ärztliche Verschreibung des Substitutionsmittels zur eigenverantwortlichen Einnahme. Der substituierende Arzt muss zu dem Ergebnis kommen, dass eine Überlassung des Substitutionsmittels zum unmittelbaren Gebrauch nach Absatz 7 nicht mehr erforderlich ist. In diesen Fällen kann der Arzt das Substitutionsmittel wie bisher die für bis zu sieben Tage benötige Menge verschreiben; neu eröffnet wird nun die Möglichkeit, dass der Arzt in begründeten Einzelfällen die für bis zu 30 Tagen benötige Menge nicht nur für Auslandsaufenthalte, sondern auch im Inland verschreiben kann. Der Arzt darf die Verschreibung nur im Rahmen einer persönlichen Konsultation aushändigen. Zudem gelten die Maßgaben der Richtlinien der Bundesärztekammer nach § 5 Absatz 12 Satz 1 Ziffer 3 Buchstabe b.
Der substituierende Arzt kann patientenindividuelle Zeitpunkte festlegen, an denen Teilmengen des verschriebenen Substitutionsmittels in der Apotheke an den Patienten oder an die Praxis des substituierenden Arztes abgegeben oder zum unmittelbaren Gebrauch überlassen werden sollen.
Bewertung
Die Rahmenbedingungen für die Verschreibung des Substitutionsmittels zur eigenverantwortlichen Einnahme gemäß den Maßgaben der ärztlichen Richtlinien der Bundesärztekammer bewertet die BAGFW nach wie vor als sachgerecht. Die Eröffnung der Möglichkeit für eine Verschreibung der für bis zu 30 Tagen erforderlichen Menge und die damit verbundene Flexibilisierung der Substitutionsbehandlung halten wie, wie vorgesehen, nur in begründeten Einzelfällen für angemessen, wenn damit die individuelle Teilhabe des Patienten – aus beruflichen und dringenden persönlichen Gründen – gestärkt werden kann. Die BAGFW spricht sich dafür aus, das Meldeverfahren für die Verschreibung des Substitutionsmittels für Auslandsaufenthalte auch für die längerfristige Verschreibung im Inland anzuwenden, so dass die entsprechende Verschreibung – über die 7-Tage-Regelung hinaus - für die bis zu 30 Tagen erforderliche Menge auch für Inlandsaufenthalte an die zuständige Landesbehörde gemeldet werden muss.
Die Festlegung patientenindividueller Zeitpunkte für die Überlassung des verschriebenen Substitutionsmittels, die bereits jetzt schon in den Richtlinien der Bundesärztekammer vorgesehen ist, hat sich aus unserer Sicht bewährt im Hinblick auf die individuelle Gestaltung der Behandlung bzw. des Übergangs zu einer eigenverantwortlichen Einnahme des Substitutionsmittels.
Der Referentenentwurf formuliert in Absatz 9 Satz 1 als Voraussetzung für die Verschreibung zur eigenverantwortlichen Einnahme, dass der Arzt zu dem Ergebnis kommt, dass die Überlassung des Substitutionsmittels zum unmittelbaren Gebrauch „nicht mehr erforderlich ist“. In der Begründung wird dagegen formuliert, dass dies „nicht mehr zwingend erforderlich ist“. Dies ist ein erheblicher Unterschied in der Bewertung der Voraussetzung. Angesichts des hohen Missbrauchspotentials und den sehr differenzierten Maßgaben der Richtlinien der Bundesärztekammer für die Take-Home-Verordnung, kann aus Sicht der BAGFW nur die Formulierung des Referentenentwurfs maßgeblich sein.
Wir bitten daher dringend, den Begründungstext zu § 5 Absatz 9 der entsprechenden Formulierung des Referentenentwurfes anzupassen.
§ 5 Absätze 10 und 11
Referentenentwurf
§ 5 Absatz 10 bestimmt den berechtigten Personenkreis und die Einrichtungen, in denen die Überlassung des Substitutionsmittels nur zum unmittelbaren Gebrauch zulässig ist. Der Kreis der bisher berechtigten Einrichtungen (Apotheken, Krankenhäuser oder andere von der zuständigen Landesbehörde anerkannte geeignete Einrichtungen) wird nun erweitert um stationäre Einrichtungen der Rehabilitation, Gesundheitsämter, Alten- und Pflegeheime, Hospize sowie andere staatlich anerkannte Einrichtungen. In Folge dieser Regelung wird - über ärztliches und pharmazeutisches Personal hinaus – zukünftig auch pflegerisches Personal zur Überlassung des Substitutionsmittels berechtigt sein. Zudem darf das Substitutionsmittel zum unmittelbaren Gebrauch bei einem Hausbesuch von dem substituierenden Arzt sowie von dem pflegerischen und medizinischen Personal von Pflegediensten und Einrichtungen der spezialisierten ambulanten Palliativversorgung überlassen werden. Der substituierende Arzt muss mit den o.g. Einrichtungen und Diensten jeweils eine Vereinbarung getroffen haben, in der auch die erforderliche Einweisung des Personals sichergestellt werden muss, das zur Überlassung des Substitutionsmittels zum unmittelbaren Gebrauch berechtigt ist.
Die bestehenden Regelungen zur Lagerung des Substitutionsmittels werden auf die neu aufgenommenen Dienste und Einrichtungen erweitert.
Die bisherigen Regelungen zur Dokumentation der Substitution werden inhaltlich unverändert in § 5 Absatz 11 fortgeführt.
Bewertung
Die Erweiterung der Dienste und Einrichtungen, die zur Überlassung des Substitutionsmittels zum unmittelbaren Gebrauch grundsätzlich berechtigt sind, wird von der BAGFW ausdrücklich begrüßt.
Substituierte opioidabhängige Patient(innen) erreichen heute erfreulicherweise ein höheres Alter; zudem verändert sich die Altersstruktur der opioidabhängigen Klientel seit vielen Jahren in der Weise, dass ältere Klient(innen) kontinuierlich zunehmen. Den damit verbundenen Behandlungs- und Betreuungsbedarfen einschließlich der Pflegebedürftigkeit der Klientel wird mit der Erweiterung Rechnung getragen. Dass die Überlassung des Substitutionsmittels in den o.g. Diensten und Einrichtungen an die Voraussetzung einer Vereinbarung mit dem substituierenden Arzt gebunden ist, halten wir für unabdingbar, um die Einweisung des für die Überlassung berechtigten und zuständigen Personals zu gewährleisten. Die Regelungen zur Lagerung und Sicherung des Substitutionsmittels stellen für die Alten- und Pflegeheime, die Hospize, die SAPV-Dienste und die ambulanten Pflegedienste keine neuen Anforderungen dar, da sie bisher schon auf Grundlage entsprechender Regelungen arbeiten.
Im Referentenentwurf sind bisher Einrichtungen der Tages-, Nacht- und Kurzzeitpflege als zur Überlassung des Substitutionsmittels zum unmittelbaren Gebrauch berechtigte Einrichtungen nicht aufgeführt. Da pflegebedürftige opoidabhängige substitutierte Patient(inn)en auch diese Formen der Pflege werden in Anspruch nehmen müssen, halten wir eine ergänzende Aufnahme dieser Einrichtungen in den Regelungsbereich der BtMVV für geboten. Wir geben zudem zu bedenken, dass der Begriff „Alten- und Pflegeheime“ nicht mehr verwandt wird. Daher schlagen wir vor, unter der Ziffer 3c eine Begrifflichkeit aufzunehmen, die dem Stand der Fachdiskussion und der Terminologie des SGB XI entspricht und zudem die o.g. zusätzlichen Einrichtungen der Pflege miteinschließt.
Lösungsvorschlag:
§ 5 Absatz 10 Satz 1 Ziffer 3c soll wie folgt gefasst werden:
3c) einer teilstationären oder vollstationären Pflegeeinrichtung
§ 5 Absatz 12 (neu) (in Verbindung mit § 5 Absatz 2)
Referentenentwurf
In Absatz 12 werden die Regelungsbereiche definiert, zu welchen die Bundesärztekammer in ihren Richtlinien Feststellungen gemäß dem Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse zu treffen hat. Diese Sachverhalte werden zum einen ergänzt um die Feststellung zur Notwendigkeit einer Substitutionsbehandlung. Zudem werden Sachverhalte aufgenommen, die zukünftig nicht mehr durch Bundesrecht, sondern durch Richtlinien geregelt werden sollen; dies umfasst u.a. die Einbeziehung psychosozialer Betreuungsmaßnahmen.
Bewertung
Mit den Regelungen in § 12 des Referentenentwurfs werden die ärztlich-therapeutischen Entscheidungen in die Richtlinienkompetenz der Bundesärztekammer überführt, die die entsprechenden Sachverhalte zukünftig im Rahmen ihrer Richtlinien zur Durchführung der substitutionsgestützten Behandlung regeln soll. Diese Stärkung der ärztlichen Kompetenzen und die Trennung von Regelungen zur Verschreibung und Vergabe von Substitutionsmitteln von den ärztlich-therapeutischen Entscheidungen werden im Sinne einer individuellen Behandlung als sachdienlich bewertet.
Die Verlagerung der Einbeziehung der psychosozialen Betreuungsmaßnahmen aus den Regelungen der BtMVV ist unter den Gesichtspunkt der Rechtssystematik nachvollziehbar, allerdings fehlt es für diesen Leistungsbereich an einer bundesrechtlichen Verankerung.
So konnte die Psychosoziale Begleitung von Klient(inn)en in der Substitutionsbehandlung bisher leistungsrechtlich nicht geregelt werden. Dies hat leider dazu geführt, das bisher kein einheitlicher Standard und kein wirklich flächendeckendes Angebot realisiert werden konnte. Hier besteht – über die Regelungen der BtMVV hinaus – weiterer Handlungsbedarf, um substituierten Opioidabhängigen eine bedarfsgerechte psychosoziale Begleitung zu eröffnen. Mit der Berücksichtigung der Psychosozialen Begleitung ausschließlich im Rahmen einer Richtlinie verbindet die BAGFW daher die Sorge, dass die Psychosoziale Begleitung noch weiter geschwächt werden könnte.
Die BAGFW begrüßt allerdings, dass die Einbeziehung psychosozialer Betreuungsmaßnahmen im Rahmen der Richtlinien der Bundesärztekammer zur Durchführung der substitutionsgestützten verbindlich berücksichtigt wird. Gerade der sozialen Stabilisierung und Sicherung der Teilhabe kommt für eine erfolgreiche Behandlung opioidabhängiger Patient(inn)en mit langjährigem Suchtmittelkonsum hohe Bedeutung zu. Wir weisen allerdings darauf hin, dass die psychosoziale Begleitung und psychosoziale Betreuungsmaßnahmen keine ärztliche und medizinische Maßnahme darstellen.
Daher bewerten wir das im Referentenentwurf vorgesehene Stellungnahmerecht des Gemeinsamen Bundesausschusses zu den Richtlinien der Bundesärztekammer als nicht ausreichend. Für die Regelungen zur Einbeziehung psychosozialer Begleitmaßnahmen halten wir die Einbindung der BAGFW und der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen für dringend geboten. Die Dienste und Einrichtungen der Verbände der Freien Wohlfahrtspflege sind in hohem Maße Träger dieser psychosozialen Maßnahmen und verfügen über langjährige Erfahrungen in der Begleitung opioidabhängiger Klient(inn)en und in der Kooperation mit substituierenden Ärztinnen und Ärzten.
In § 5 Absatz 2 Ziffer 2 der gültigen BtMVV sind neben den psychosozialen Begleitmaßnahmen auch die erforderlichen psychiatrischen und psychotherapeutischen Behandlungsmaßnahmen aufgeführt. Dieser Behandlungsbereich wird in § 5 Absatz 12 Referentenentwurf nicht mehr als Sachverhalt aufgegriffen, der nun im Rahmen der Richtlinien der Bundesärztekammer geregelt werden soll. Angesichts der hohen Komorbidität der opioidabhängigen Patient(inn)en in der Substitutionsbehandlung halten wir dies im Sinne einer umfassend verstandenen - und nicht auf pharmakologische Behandlung reduzierten - Substitution für nicht sachgerecht. Gerade da die Richtlinien der Bundesärztekammer die ärztlich-therapeutischen Entscheidungen zukünftig noch umfassender regeln und unterstützen sollen, muss aus Sicht der BAGFW auch die Prüfung des Bedarfs für psychiatrische und psychotherapeutische Behandlungsmaßnahmen in die Entscheidung und Behandlungsplanung des substituierenden Arztes verbindlich einbezogen werden.
Die BAGFW geht zudem davon aus, dass die bisherigen differenzierten und weitreichenden Maßgaben der Richtlinien der Bundesärztekammer zur Durchführung der substitutionsgestützten Behandlung Opioidabhängiger, die wir nachdrücklich unterstützen, auch weiterhin Bestand haben werden.
Lösungsvorschläge
1. § 5 Absatz 12 Satz 1 Ziffer 3 soll durch Ziffer 3 d (neu) wie folgt ergänzt werden:
3 d) die Einbeziehung psychiatrischer und psychotherapeutischer Behandlungsmaßnahmen
Die bisherige Ziffer 3 d des Referentenentwurfs wird folgerichtig zur neuen Ziffer 3 e.
2. § 5 Absatz 12 soll um Satz 4 (neu) ergänzt werden.
„Der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege und der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen ist bezüglich der Regelungen zur Einbeziehung psychosozialer Begleitmaßnahmen Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben.“
§ 13 Nachweisführung
Referentenentwurf
In § 13 wird neben den erforderlichen redaktionellen Anpassungen ein neuer Satz 3 eingefügt. Danach muss der Arzt durch die in § 5 Absatz 10 Satz 1 und Satz oder in § 5c Absatz 2 (Verschreibung für den Notfallbedarf in Hospizen und in der spezialisierten ambulanten Palliativversorgung) genannten Personen am Ende eines jeden Kalendermonats über die erfolgte Prüfung und Nachweisführung zum Verbleib und Bestand der Betäubungsmittel informiert werden, soweit und sofern er die Nachweisprüfung und Prüfung nicht selbst vornimmt.
Bewertung
Die Regelung soll, wie in der Begründung ausgeführt, zur Entlastung der substituierenden Ärzte beitragen, die den Bestand und den Verbleib der verschriebenen Substitutionsmittel nicht mehr zwingend persönlich prüfen müssen. Diese Öffnung halten wir – auch angesichts der Erweiterung der zur Überlassung des Substitutionsmittels zum unmittelbaren Gebrauch berechtigten Einrichtungen - für sinnvoll. Wir gehen davon aus, dass die Wahrnehmung der Prüfung und Nachweisprüfung im Rahmen der Vereinbarungen, die der substituierende Arzt mit den zur Überlassung berechtigten Einrichtungen gemäß § 5 Absatz 10 Satz 1 Ziffer 3 sowie Satz 2 Ziffer 1 a und b trifft, abgestimmt und geregelt wird.
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Antrag
Die Linke fordert, in der Altenpflege eine bundeseinheitliche, verbindliche Personalbemessung für den stationären und ambulanten Bereich einzuführen, die sich neben den Pflegegraden auch an den Qualitätsstandards der Einrichtungen sowie an individuellen Mehrbedarfen orientiert. Die LINKE setzt sich dafür ein, Maßnahmen zur Steigerung der Attraktivität der Pflegeberufe und zum Abbau von Arbeitsbelastungen in der Pflege zu ergreifen. Zur Sicherstellung einer nachhaltigen solidarischen Finanzierung der Kranken- und Pflegeversicherung fordert sie die Einführung einer Bürgerinnen- und Bürgerversicherung.
Bewertung
In Deutschland liegt derzeit für die vollstationäre Pflege kein anerkanntes wissenschaftlich fundiertes Verfahren für die Erhebung einer bedarfsgerechten Personalausstattung in der Pflege vor. Die Personalbemessung in der vollstationären Pflege wird daher zurzeit auf Länderebene pflegestufenabhängig und teilweise bewohnerzahlabhängig zwischen den Kostenträgern und Leistungserbringern ausgehandelt. Als Basis dienen dazu Personalaufwen-dungen der Träger, Finanzvolumen der Kassen und Sozialhilfeträger sowie die historische Entwicklung der Personalrichtwerte im jeweiligen Bundesland. Dies führt zu einer oft mangelhaften Personalausstattung sowie zu deutlichen regionalen Unterschieden bei den Personalrichtwerten.
Die BAGFW begrüßt daher, dass der Gesetzgeber dieses Problem nun auch erkannt hat. Er hat mit § 113c die Vertragspartner nach § 113 verpflichtet, im Einvernehmen mit dem BMG und dem BMFSFJ die Entwicklung und Erprobung eines wissenschaftlich fundierten Verfahrens zur einheitlichen Bemessung des Personalbedarfs in Pflegeeinrichtungen nach quantitativen und qualitativen Maßstäben zu beauftragen. Mit der Weiterentwicklung der Pflegeversicherung und vor dem Hintergrund der Einführung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs hat diese Diskussion eine besondere Aktualität erhalten.
Allerdings hat die BAGFW große Zweifel, dass der vorgeschlagene Weg zielführend ist. So ist im Gesetz lediglich die Entwicklung eines entsprechenden Instrumentariums vorgegeben, aber keinerlei verbindliche Vorgabe zur späteren Umsetzung. Ein pflegebedarfsbezogenes Personalbemessungsinstrument, das am Ende in den Pflegeeinrichtungen eingesetzt wird, muss für alle Beteiligten verbindliche Grundlage einer einrichtungsbezogenen Personalbemessung sein. Ergebnisse des Personalbemessungsverfahrens müssen anerkannte Grundlage einer Finanzierung der personenbezogenen Pflegeentgelte sein. Das System muss auch länderspezifische Besonderheiten berücksichtigen. Dazu bedarf es einer gesetzlichen Verpflichtung zur Anerkennung des Bedarfs in den Verhandlungen auf Landesebene. Beides liegt nicht im Bereich der Kompetenzen der Selbstverwaltung, sondern hier sind politische und gesetzliche Weichenstellungen zu treffen.
Die Frage, was bis 2020 passiert – also bis die Ergebnisse des Projektes nach § 113c vorhanden sind – ist derweil unbeantwortet. Aus Sicht der BAGFW muss in diesem Zeitraum bereits jede Möglichkeit genutzt werden, um die Personalschlüssel anzuheben.
Auch sollte die Zeit genutzt werden, um die mit der Umsetzung eines Personalinstruments verbundenen Fragen der Finanzierung zu lösen. Die BAGFW spricht sich dafür aus, die Fragen der Finanzierung mit der Konstituierung eines Beirates und unter Moderation der Ministerien zu verknüpfen. Auf Grundlage des wissenschaftlich fundierten und erprobten bedarfsbezogenen Personalbemessungssystems für die stationäre Altenhilfe soll der Beirat dann Empfehlungen zur Umsetzung und Finanzierung erarbeiten, die dann durch den Gesetzgeber entsprechend im SGB XI verankert würden.
Bewertung
Der in Deutschland notwendige Bedarf an Pflegefachkräften kann nicht gedeckt werden. Bereits jetzt kommen auf 100 gemeldete Stellen in der Altenpflege rechnerisch lediglich 46 und in der Krankenpflege 95 Arbeitssuchende (ohne Berücksichtigung der Zeitarbeit). Die Fachkräfteengpassanalyse der Bundesagentur für Arbeit zeigt auch, dass in der überwiegenden Anzahl der Bundesländer ein akuter Fachkräftemangel in der Pflege besteht und in den übrigen Bundesländern wenigstens aber Anzeichen für Fachkräfteengpässe vorhanden sind.
Unterschiedliche Faktoren führen dazu, dass sich dieser Trend in absehbarer Zeit verstärken wird:
? Die Zahl der Pflegebedürftigen wird von derzeit 2,6 Mio. auf 3,4 Mio. im Jahr 2030 steigen.
? Das Erwerbspersonenpotenzial wird ab dem Jahre 2020 aufgrund des Erreichens des Renteneintrittsalters der geburtenstarken Jahrgänge (Babyboomer) stärker abnehmen.
? Die Prognosen für den Anstieg des Bedarfs an Pflegekräften belaufen sich je nach Szenario in den Jahren 2010 bis 2025 zwischen 20 Prozent und 60 Prozent.
? Der Bedarf besteht dabei nicht nur an Pflegefachkräften, sondern vor allem auch an spezialisierten Fachkräften (z. B. zur Pflege von Menschen mit Demenz oder in Palliativ Care) und an Fachkräften in leitenden Funktionen.
? Bei den Kriterien der Arbeitsqualität schneidet der Pflegeberuf im unteren Mittelfeld ab. Insbesondere die Arbeitsintensität und das geringe Einkommen werden im Vergleich zu anderen Berufen sehr schlecht bewertet. Unterstellt man, dass es dabei um zentrale Kriterien im Wettbewerb um Facharbeitskräfte geht, befindet sich die Pflege in einer schwierigen Ausgangslage. Die Altenpflege leidet dem zufolge unter einem schlechten Image, das es erschwert, Nachwuchs zu gewinnen und bei dem zukünftigen Wettbewerb um Auszubildende in der „ersten Reihe“ zu stehen.
Um dem Fachkraftmangel entschieden entgegenzutreten bieten sich aus Sicht der BAGFW folgende Maßnahmen an:
· Anerkennung von tariflichen Regelungen bei den Verhandlungen von Leistungsentgelten im SGB V analog zu §§ 84 und 89 SGB XI
· bessere Arbeitsbedingungen
· bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf, z.B. durch Schaffung und Ausweitung von Kinderbetreuungsmöglichkeiten
· (berufsbegleitende) Ausbildung von Hilfskräften zu Fachkräften
· (freiwilliges) Aufstocken der Arbeitszeit bei Teilzeitbeschäftigten
· Rückgewinnung und Qualifizierung von Berufsaussteigern, die wegen schlechter Arbeitsbedingungen der Pflege den Rücken gekehrt haben
· Gewinnung von Seiteneinsteigern
· Schaffung eines Rechtsanspruchs auf Finanzierung der Umschulung für die gesamte Ausbildungsdauer in sozialen Berufsfeldern von drei bzw. vier Jahren als Regelinstrument im SGB III
· jugendliche Migrantinnen/Migranten gezielt für die Pflegeberufe gewinnen
· Maßnahmen zur Steigerung des Männeranteils in Care- und Sozialberufen
· Freiwilligendienst als Möglichkeit zur Personalgewinnung, Steigerung der Eintritte in die Pflegeausbildung und damit Steigerung der Ausbildungskapazitäten
· Ausreichende Finanzierung der Pflegeschulen
Des Weiteren sollte eine Erweiterung des Potenzials an Erwerbspersonen gezielt durch Anwerbung von Fachkräften oder durch Ausbildung internationaler Fachkräfte im Rahmen einer Ausbildungspartnerschaft erreicht werden. Die Zuwanderung darf aber weder zu einer Absenkung qualitativer Standards noch zu Lohndumping führen. Eine gezielte Anwerbung kann nur ein Beitrag zur Reduzierung des Fachkräftemangels sein und muss nach den Grundsätzen einer ethisch verantwortlichen Anwerbung erfolgen und vor allem die Situation der Menschen in den Herkunftsländern berücksichtigen (<link veroeffentlichungen stellungnahmenpositionen detail article positionspapier-altenpflege-in-deutschland>www.bagfw.de/veroeffentlichungen/stellungnahmenpositionen/detail/article/positionspapier-altenpflege-in-deutschland/). Zudem ist eine Willkommens- und Anerkennungskultur zu schaffen. Die berufliche und gesellschaftliche Integration zugewanderter Fachkräfte ist für die Träger eine wichtige Aufgabe.
Ein Konzept zur Refinanzierung höherer Kosten in der Pflege (aufgrund notwendiger Lohnsteigerungen und des Mehrbedarfs an Personal) fußt aus Sicht der BAGFW bezogen auf die solidarische Versicherung auf mehreren Säulen:
a. Solidarische und paritätische Finanzierung
· Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze bis auf das Niveau der Renten-versicherung. Eine Aufhebung der Beitragsbemessungsgrenze, wie von der LINKEN gefordert, lehnt die BAGFW ab.
· Moderate Beitragssatzerhöhung
b. ein einheitliches Versicherungssystem mit einer risikounabhängigen Prämienbemessung und einheitlichen Rahmenbedingungen für alle Anbieter.
c. Erweiterung der Einnahmebasis durch Ausweitung der zu berücksichtigenden Einkommensarten (auf der Grundlage der steuerlichen Einkommensarten).
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§ 31 Absatz 1a – Arznei- und Verbandmittel
Gesetzentwurf
§ 31 SGB V wird dahingehend erweitert, dass eine Legaldefinition für Verbandmittel mit Absatz 1 aufgenommen wird. Durch die Definition soll sichergestellt werden, dass nur jene Medizinprodukte als Verbandmittel anerkannt sind, deren Hauptwirkung darin besteht, oberflächengeschädigte Körperteile zu bedecken, Körperflüssigkeiten aufzusaugen oder beides zu erfüllen. Hierunter fallen auch Verbandmittel, die Körperteile stabilisieren, immobilisieren oder komprimieren. Das Nähere zur Abgrenzung von Verbandmitteln und Produkten nach Abs. 1 Satz 2 regelt der Gemeinsame Bundesausschuss in den Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6. Hintergrund der Festlegung einer Legaldefinition ist, dass in den letzten Jahren vermehrt Produkte zur Förderung der Wundheilung auf dem Markt erschienen sind, die nicht den Eigenschaften gemäß Absatz 1a Satz 1 entsprechen. Daraus folgt in der Praxis eine zunehmende Rechtsunsicherheit der Unterscheidung zwischen klassischen Verbandsmitteln und weiteren Gegenständen zur Wundbehandlung.
Bewertung
Die BAGFW begrüßt, dass mit dem Gesetz eine Legaldefinition für Verbandmittel aufgenommen wird, damit klar abgrenzbar ist, welche Produkte hierunter fallen. Zum einen ist eine klare Unterscheidung zwischen Verbandmitteln, Produkten zur Wundbehandlung und Arzneimitteln notwendig, da für diese Produkte unterschiedliche Zulassungsverfahren geltend sind, zum anderen ist eine Differenzierung notwendig, um neue Produkte, die auf den Markt kommen, besser zuordnen zu können. Unterstützt wird die Forderung des Bundesrates, dass in Absatz 1a Satz 2 die in der Begründung des Gesetzentwurfs formulierte Definition von Verbandmitteln hinsichtlich ihrer weiteren Wirkung ergänzt werden soll. Weiterhin begrüßt die BAGFW einzelne Modifizierungen in der Legaldefinition von Verbandmitteln gegenüber dem Referentenentwurf, sodass aktuell als unstrittig geltende Verbandmittel weiterhin als jene anerkannt werden und somit Leistungen der GKV sind. Hierunter fallen beispielsweise Wundauflagen mit geruchsbindender oder antimikrobieller Wirkung. Im Fokus muss der Patient sein, der eine qualitativ hohe Versorgung erfahren muss. Derzeitig anerkannte Verbandmittel müssen weiterhin Leistungen der GKV und erstattungsfähig sein.
Lösungsvorschlag
Wir unterstützen den Änderungsvorschlag des Bundesrats.
§ 31 Artikel 1 Nummer 1 Absatz 1a Satz 2 ist somit, wie folgt, zu formulieren:
„Die Eigenschaft als Verbandmittel entfällt insbesondere nicht, wenn ein Gegenstand ergänzend weitere Wirkungen hat, die der Wundheilung dienen, beispielsweise eine Wunde feucht zu halten, zu reinigen oder geruchsbindend bzw. antimikrobiell zu wirken.“
§ 33 Absatz 1 Satz 4 – Hilfsmittel
Gesetzentwurf
Die erweiterte Formulierung in Satz 4 steht in Verbindung mit den vertraglichen Regelungen für zusätzlich zur Bereitstellung von Hilfsmitteln zu erbringende, notwendige Leistungen gemäß §§ 127 und 149 SGB V-E HHVG. Notwendige Änderungen, Instandsetzung und Ersatzbeschaffung von Hilfsmitteln, die Ausbildung in ihrem Gebrauch sowie notwendige Wartungen und technische Kontrollen werden nun als zusätzlich zu erbringende, notwendige Leistungen bezeichnet. Wenn die Krankenkassen, ihre Landesverbände oder Arbeitsgemeinschaften Verträge mit Leistungserbringern oder zu diesem Zweck gebildeten Zusammenschlüssen der Leistungserbringer über die Lieferung einer bestimmten Menge von Hilfsmitteln, die Durchführung einer bestimmten Anzahl von Versorgungen oder die Versorgung für einen bestimmten Zeitraum schließen, haben sie darin auch die Sicherstellung der zusätzlichen Leistungen zu regeln.
Bewertung
Die notwendige Änderung, Instandsetzung und Ersatzbeschaffung von Hilfsmitteln, die Ausbildung in ihrem Gebrauch sowie Leistungen der Wartung und technischen Kontrolle von Hilfsmitteln sollen nun ausdrücklich vertraglich geregelt werden können. Dies ist als Schritt in die richtige Richtung zu begrüßen, weil dadurch eine passgenaue Versorgung mit Hilfsmitteln, der sachgerechte Umgang mit diesen und das Aufrechterhalten der Sicherheit und Funktionsfähigkeit von Hilfsmitteln erstmals verpflichtend festlegbar wird für den Fall, dass Verträge gemäß § 127 Abs. 1 SGB V-E geschlossen werden.
§ 33 Absatz 6 Satz 4 – Hilfsmittel
Gesetzentwurf
Die Ergänzung in § 33 Absatz 6 bezieht sich auf § 127 Absatz 1, Satz 4 und besagt, dass Versicherte für individuell angefertigte Hilfsmittel und Versorgungen mit hohem Dienstleistungsanteil einen Leistungserbringer frei auswählen können. Für individuell angefertigte Hilfsmittel wie z.B. orthopädische Maßschuhe und bei Versorgungen mit hohem Dienstleistungsanteil wie z.B. bei der Versorgung mit einer Trachealkanüle können Versicherte den Leistungserbringer somit frei auswählen.
Bewertung
Es ist zu begrüßen, dass für höchst individuell angepasste Versorgungen die freie Wahl eines Leistungserbringers des Vertrauens gesetzlich festgeschrieben werden soll. Bisher war lediglich festgelegt, dass für Hilfsmittel, die für einen bestimmten Versicherten individuell angefertigt werden, oder bei Versorgungen mit hohem Dienstleistungsanteil Ausschreibungen in der Regel nicht zweckmäßig sind. Mit der neuen ergänzenden Regelung wird für diesen besonders sensiblen Versorgungsbereich Rechtssicherheit geschaffen.
§ 37 – Häusliche Krankenpflege
Gesetzentwurf
Nach § 37 Absatz 7 SGB V neu legt der Gemeinsame Bundesausschuss in seinen Richtlinien nach § 92 Absatz 6 explizit das Nähere zur Versorgung von chronischen und schwer heilenden Wunden fest. Des Weiteren soll klargestellt werden, dass die Versorgung von chronischen und schwer heilenden Wunden auch in entsprechend auf die Versorgung dieser Art von Wunden spezialisierten Einrichtungen bzw. an einem geeigneten Ort außerhalb der Häuslichkeit der Patientin oder des Patienten, erbracht werden kann.
Bewertung
Ausweislich der Gesetzesbegründung soll mit der Änderung die Wundversorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung gestärkt werden, es sollen aktuelle Entwicklungen in der Wundversorgung aufgegriffen werden und durch die Stärkung der ambulanten Wundversorgung nicht notwendige Krankenhausaufenthalte vermieden werden. Des Weiteren wird darauf verwiesen, dass Versicherte einer Wundbehandlung bedürfen, die dem aktuellen Stand der Versorgung entspricht und individuell angepasst ist. Diese Ziele teilen wir uneingeschränkt. Sie gelten bereits jetzt für die Häusliche Krankenpflege.
Die in der BAGFW kooperierenden Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege setzen sich darüber hinaus dafür ein, dass besonders spezialisierte Pflegefachkräfte für das Wundmanagement in weitaus stärkerem Maße für die Wundversorgung im ambulanten Bereich und auch in der vollstationären Pflege eingesetzt werden können. Viele ambulante Pflegedienste haben inzwischen für das Wundmanagement weitergebildete Pflegefachkräfte. Gerade ältere pflegebedürftige Menschen, die beispielsweise an Ulcus cruris oder diabetischem Fußsyndrom oder unter ulzerierenden Tumoren leiden, bedürfen oft einer spezifischen Versorgung durch zu Wundmanagerinnen und Wundmanagern fort-/weitergebildeten Pflegefachkräfte.
Wir erachten es grundsätzlich als sachgerecht, dass auch spezialisierte Einrichtungen, die nicht die Häuslichkeit darstellen, als andere geeignete Orte zur Erbringung von Häuslicher Krankenpflege anerkannt werden sollen. Dies gilt auch für sog. Wundzentren, die Patienten mit chronischen Wunden versorgen und dafür besonders qualifizierte Pflegekräfte für die Wundversorgung beschäftigen.
Eine flächendeckende qualitativ hochwertige Wundversorgung kann durch die Regelversorgung zugelassener Pflegedienste, ggf. in Zusammenarbeit mit Wundzentren, gewährleistet werden.
Aus Sicht der in der BAGFW kooperierenden Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege bildet § 37 Absatz 6 SGB V in der bestehenden Fassung bereits jetzt eine ausreichende Grundlage, um die häusliche Krankenpflege in solchen spezialisierten Einrichtungen zu ermöglichen, denn der Gemeinsame Bundesausschuss kann auf dieser Rechtsgrundlage auch heute schon festlegen, dass Wundzentren geeignete Orte für die Leistungserbringung sein können. Einer Erweiterung um § 37 Absatz 7 SGB V bedarf es deshalb nicht. Auch bereits jetzt bedürfen Versicherte einer Wundbehandlung, die dem aktuellen Stand der Versorgung entspricht und individuell angepasst ist.
Nicht zuletzt weisen wir darauf hin, dass Wundzentren auch Verträge der Integrierten Versorgung nach § 140a SGB V mit den Krankenkassen abschließen können und es hierzu eine Vielzahl funktionierender Beispiele gibt. Dies auch gerade vor dem Hintergrund, dass gerade in Wundzentren in der Regel neben den Pflegekräften auch Ärzte tätig sind.
Aus den vorgenannten Gründen ist die vorgesehene gesetzliche Öffnung und Erweiterung des § 37 Absatz 7 SGB V neu nicht erforderlich.
Lösungsvorschlag
Ersatzlose Streichung
§ 64d – Modellvorhaben zur Heilmittelversorgung
Gesetzentwurf
Nach § 64d haben die Landesverbände der Krankenkassen und Ersatzkassen gemeinsam und einheitlich mit den für die Wahrnehmung der Interessen der Heilmittelerbringer maßgeblichen Verbänden die Durchführung von Modellvorhaben zu vereinbaren. Die Modellvorhaben sind auf längstens drei Jahre zu befristen. Ziel der Modellvorhaben soll die Erprobung einer Blankoverordnung sein, bei der der Heilmittelerbringer selbst die Auswahl und Dauer der Therapie sowie die Frequenz der Behandlungseinheiten bestimmt. Bei Modellvorhaben nach § 64d soll insbesondere auch die zukünftige Mengenentwicklung und die Anforderung an die Qualifikation berücksichtigt werden. In den Vereinbarungen zu den Modellvorhaben ist zudem festzulegen, inwieweit die Heilmittelerbringer von den Vorgaben der Richtlinie nach § 92 Absatz 1 Satz 2 Nummer 6 abweichen dürfen.
Bewertung
Bereits heute ermöglicht § 63 Absatz 3b in den Sätzen 2 und 3 die Durchführung von Modellvorhaben im Bereich der Physio- und Ergotherapie, in denen die Auswirkungen einer sog. Blankoverordnung erprobt werden können. Dabei können zugelassene Physio- und Ergotherapeuten die Auswahl und Dauer der Therapie sowie die Frequenz der Behandlungseinheiten eigenverantwortlich bestimmen. Im Bereich der Physiotherapie führt die gesetzliche Krankenkasse BIG direkt gesund zusammen mit dem Bundesverband selbständiger Physiotherapeuten (IFK) ein solches Modellvorhaben auf der Grundlage des § 63 Absatz 3b durch. In zwei KV-Regionen (Westfalen-Lippe und Berlin) wird bei 139 Versicherten in 40 teilnehmenden Praxen erprobt, welche Auswirkungen die Blankoverordnung auf die Versorgungsqualität, die Patientenzufriedenheit, Verkürzung der Arbeitsunfähigkeitszeiten und auf Kostenersparnis gegenüber herkömmlicher Heilmittelerbringung hat. Ausgewertet wird das Modellvorhaben durch die Züricher Hochschule für Angewandte Wissenschaft. Ein Zwischenbericht aus dem Jahr 2012 hat erste positive Trends ausgewiesen. Durch die Möglichkeit zur eigenverantwortlichen Auswahl der Therapie wurden mehr Patienten mit Allgemeiner Krankengymnastik und Manueller Therapie in durchschnittlich weniger Behandlungseinheiten erfolgreich behandelt. Der Endbericht dieses Modellvorhabens steht jedoch noch aus und werden von der BAGFW, die sich grundsätzlich für eine eigenverantwortliche Ausübung von Heilkunde durch Angehörige der Pflegeberufe und der Heilmittelerbringer einsetzt, mit Spannung erwartet. Ein weiteres Modellvorhaben zur Blankoverordnung führt die IKK Brandenburg und Berlin zusammen mit dem Verband Physikalische Therapie (VPT) durch. Es wurde 2015 ebenfalls abgeschlossen, die Ergebnisse liegen jedoch noch nicht vor.
Aufgrund der Tatsache, dass bisher nur zwei kleinere gesetzliche Krankenkassen entsprechende Modellvorhaben durchgeführt haben, ist es jedoch sinnvoll, die Blankoverordnung bundesweit zu erproben. Positiv zu bewerten ist dabei, dass gegenüber dem Referentenentwurf nun die Anzahl der maximal durchzuführenden Modellvorhaben auf maximal 16 Vorhaben begrenzt werden soll und dass die Modellvorhaben auch bundesländerübergreifend durchgeführt werden können.
Die BAGFW erachtet es als unabdingbar, bei der Konzeption bundesweiter Modellvorhaben die Erkenntnisse aus den beiden bereits abgeschlossenen Modellvorhaben zugrundezulegen. Für eine bundesweite Erprobung ist zudem die Vergleichbarkeit der Ergebnisse sicherzustellen. Dies setzt vor allem voraus, dass bei der Ausstellung der Blanko-Verordnung die gleichen medizinischen Indikationen in den bundesweiten Modellvorhaben erprobt werden. Sinnvoll und sachgerecht ist aus Sicht der BAGFW der Zeitrahmen von längstens drei Jahren, der für die Modellvorhaben vorgegeben wird.
Den Verbänden der BAGFW erschließt sich zudem noch nicht, wie die in § 64d Absatz 1 Satz 4 in den Modellvorhaben geforderte höhere Verantwortung der Heilmittelerbringer im Hinblick auf die zukünftige Mengenentwicklung umgesetzt werden kann. Im Unterschied zu den Vertragsärzten gibt es bei den Heilmittelerbringern keine Zulassungs-beschränkung sowie keine Budgetbegrenzung, etwa in Form von Regelleistungsvolumina. Die Modellvorhaben ermöglichen bisher nämlich nicht die Erprobung des Direktzugangs der Patienten zum Heilmittelerbringer. Sollte mit Mengenentwicklung die Messung der Dauer der Therapie und der Anzahl der Behandlungseinheiten gemeint sein, so wird diese bereits in den laufenden Modellvorhaben erprobt. Einer gesonderten gesetzlichen Grundlage hierfür bedarf es somit ebenfalls nicht.
Die Verbände der BAGFW teilen nachdrücklich das Ziel des Gesetzentwurfs, den Angehörigen der Heilmittelerbringer – ebenso wie den Angehörigen der Pflegeberufe – eine stärkere Eigenverantwortung in der Ausübung von Heilkunde zu übertragen, letztlich verbunden mit dem Ziel einer selbständigen Ausübung von Heilkunde. Perspektivisch soll zudem nicht nur die Blankoverordnung, sondern bei vergleichbaren Indikationen auch der Direktzugang für die Heilmittelerbringer zeitnah erprobt werden.
Lösungsvorschlag
In Absatz 1 wird nach Satz 2 folgender Satz 3 eingefügt:
„Der Gemeinsame Bundesausschuss legt eine Liste von medizinischen Indikationen für die Durchführung von Modellvorhaben fest.“
§ 73 Absatz 8 – Kassenärztliche Versorgung
Gesetzentwurf
§ 73 Absatz 8 regelt die Informationspflichten der Kassenärztlichen Vereinigungen, der Kassenärztlichen Bundesvereinigungen, der Krankenkassen und ihrer Verbände, die diese zur Sicherung der wirtschaftlichen Verordnungsweise für Arznei-, Verband- und Heilmittel wahrzunehmen haben. In Satz 7 wird nun klargestellt, dass die Vertragsärzte- und ärztinnen nicht nur für die Verordnung von Arzneimitteln, sondern auch von Verbandmitteln und von Produkten, die gemäß der Richtlinien nach § 92 Absatz 1 Satz 2 Nr. 6 zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung verordnet werden können, nur elektronische Programme nutzen dürfen, welche die vorgegebenen Inhalte - wie schon bei Arzneimitteln – enthalten und von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung für die vertragsärztliche Versorgung zugelassen sind
Bewertung
In den Informationen und Hinweisen der Kassenärztlichen Vereinigungen, der Kassenärztlichen Bundesvereinigungen, der Krankenkassen und ihrer Verbände sind für Arznei-, Verband- und Heilmittel Handelsbezeichnungen, Indikationen und Preise sowie weitere für die Versordnung bedeutsame Angaben insbesondere auf Grundlage der Richtlinien nach § 92 Absatz 1 Satz 2 Nummer 6 in einer Weise anzugeben, die unmittelbar einen Vergleich ermöglichen können. Vertragsärzte und -ärztinnen dürfen – wie für Arzneimittel und Heilmittel - für die Verordnung von arzneimittelähnlichen Medizinprodukten nur elektronische Programme nutzen, welche diese nach Satz 3 erforderlichen Informationen enthalten. In § 131 des Referentenentwurfs werden daher entsprechende Regelungen für die Meldeverpflichtung zu arznei- und verbandmittelähnliche Medizinprodukten aufgenommen; diese müssen auch den Hinweis enthalten, ob ein Produkt nach den Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung verordnungsfähig ist. Diese Klarstellungen erhöhen die Transparenz und Verordnungssicherheit für Vertragsärzte und -ärztinnen und tragen damit auch zur Verbesserung der medizinischen Versorgung bei. Die Regelungen werden daher von der BAGFW ausdrücklich begrüßt.
§ 125 – Rahmenempfehlungen und Verträge
Gesetzentwurf
Für die Heilmittelverträge wird die Geltung des Grundsatzes der Beitragssatzstabilität nach § 71 für die Jahre 2017 bis 2019 aufgehoben. Des Weiteren wird in § 125 Absatz 2 Satz 5 neu für den Fall, dass die Vergütung von einer unabhängigen Schiedsperson bestimmt werden muss, eine Frist von drei Monaten gesetzt. Für den Fall, dass sich die Vertragspartner nicht auf eine Schiedsperson einigen und diese von der zuständigen Aufsichtsbehörde bestimmt werden muss, wird in § 125 Absatz 2 Satz 6 neu eine Frist von einem Monat vorgegeben. Die Schiedsperson kann dabei nur für das jeweilige Schiedsverfahren oder aber für einen Zeitraum von bis zu vier Jahren benannt werden. Klagen gegen die Bestimmung der Schiedsperson haben keine aufschiebende Wirkung. Klagen gegen die Festlegung des Vertragsinhalts richten sich gegen eine der beiden Vertragsparteien, nicht gegen die Schiedsperson.
Bewertung
Es fehlte bisher in der Regelung zu den Heilmittelverträgen an der Nennung einer Frist, innerhalb derer die Schiedsperson bei Nichteinigung der Vertragspartner die Preise festsetzen muss. Die Verbände der BAGFW begrüßen die Fristsetzung und halten eine Frist von drei Monaten für sachgerecht. Auch die Frist von einem Monat, nach Ablauf dessen die zuständige Aufsichtsbehörde bei Nichteinigung der Vertragspartner die Schiedsperson zu bestimmen hat, ist sachgerecht und trägt zu einem effizienten Konfliktlösungsverfahren bei.
Die Fristenregelungen zur Schiedsperson sind § 132a Absatz 2 Satz 6 und 7 nachgebildet. Die Verbände der BAGFW sehen die Notwendigkeit einer Fristsetzung ebenso bei den Verträgen der Versorgung mit Haushaltshilfe nach § 132 und bei den Verträgen zur Spezialisierten Ambulanten Palliativversorgung nach § 132d. Für die Versorgung mit Soziotherapie nach § 132b ist gleichfalls ein Schiedsverfahren vorzusehen und analog zu § 132a auszugestalten.
Im GKV-Versorgungsstärkungsgesetz wurde für die Heilmittelverträge in Absatz 3 neu geregelt, dass die Preise über einen Korridor von 5 Jahren zwischen 2016 und 2021 schrittweise angehoben werden sollen. Dabei darf die Preisanhebung gemäß § 125 Absatz 3 Sätze 4 und 5 das Niveau der Veränderungsrate der beitragspflichtigen Einnahmen aller Mitglieder der Krankenkassen (Grundlohnsumme) nach § 71 Absatz 3 übersteigen, wenn dies erforderlich ist, um die Untergrenze für die zu vereinbarenden Höchstpreise während der fünf Jahre der Preisanpassung zu erreichen. Dies verletze nicht den Grundsatz der Beitragssatzstabilität.
Der vorliegende Gesetzentwurf justiert an dieser Stelle erneut nach und normiert in Absatz 2 Satz 2, dass für die Verträge und die darin vorgenommene Festsetzung der Höchstpreise der Grundsatz der Beitragssatzstabilität für die Jahre 2017 bis 2019 nicht gilt. Ob das Nebeneinander der beiden Regelungen zur Preisanhebung (Absatz 3 Satz 5, geltend für die Jahre 2016 bis 2021 und Absatz 2 Satz 2 SGB V-E für die Jahre 2017 bis 2019) die Preisverhandlungen in der Heilmittelversorgung im Vergleich zur Regelung des Absatzes 3 aus dem Versorgungsstärkungsgesetz erleichtern wird, ist sehr fraglich. Die Regelung könnte zur Folge haben, dass vermehrt die Schiedspersonen zur Konfliktlösung angerufen werden.
Vor dem Hintergrund dieser Regelungen scheint es geboten, die Regelungen zum Schiedsstellenverfahren auszubauen. Die BAGFW begrüßt, dass die Schiedsperson nicht nur für das laufende Verfahren, sondern für einen längeren Zeitraum – in diesem Fall für vier Jahre – berufen werden kann. Auch die Ergänzungen des Kabinettsentwurfs, dass Klagen gegen die Bestimmung der Schiedsperson keine aufschiebende Wirkung haben und dass sich Klagen gegen die Festlegung des Vertragsinhalts gegen eine der beiden Vertragsparteien richten, sind sachgerecht. Allerdings bedarf es dringend der Ergänzung, dass Klagen gegen die Festsetzung des Vertragsinhalts keine aufschiebende Wirkung haben.
Sowohl durch die Regelung im Versorgungsstärkungsgesetz als auch durch die Neuregelung des Heil- und Hilfsmittelgesetzes wird die absolute Bindungswirkung der Grundlohnsummenorientierung außer Kraft gesetzt. Die bisher geltende Regelung des Versorgungsstärkungsgesetzes hat den Vorteil, dass sie den Grundsatz der Beitragssatzstabilität nicht gänzlich aufhebt, sondern nur den Automatismus von Grundlohnsummenorientierung und Vergütungsverbindung mit Blick auf die Erreichung einer wirtschaftlichen Vergütung durchbricht. Der Grundsatz der Vermeidung des Anstiegs von Beitragssätzen hat auch für die BAGFW eine hohe Bedeutung. Gleichwohl muss es den Leistungserbringern grundsätzlich möglich sein, ihre Leistung wirtschaftlich, zweckmäßig und dem Maß des Notwendigen entsprechend zu erbringen (§ 12 Absatz 1 SGB V). Daher muss die Leistungsvergütung grundsätzlich angemessen sein. Tarife und Tarifbindungen sind nach der Rechtsprechung des BSG grundsätzlich als wirtschaftlich anzuerkennen. Dieser Maßstab soll sowohl für die Preise der Heilmittelerbringung gelten als auch für die Leistungen der Häuslichen Krankenpflege. Dort klafft seit Jahren eine erhebliche Differenz zwischen den von der Krankenkasse angebotenen Vergütungen und den Personalkosten, die aufgrund der tatsächlichen tariflichen Entwicklung zu refinanzieren sind. Die BAGFW setzt sich seit Jahren dafür ein, auch im SGB V den Grundsatz aus § 84 und § 89 des SGB XI zu verankern, wonach die Bezahlung tarifvertraglich vereinbarter Vergütungen sowie entsprechender Vergütungen nach kirchlichen Arbeitsrechtsregelungen nicht als unwirtschaftlich abgelehnt werden kann. Die BAGFW bittet in diesem Zusammenhang, diese Regelung in § 132a aufzunehmen, um auch für die Häusliche Krankenpflege, ebenso wie für den Bereich der Heilmittel, eine Entkopplung von der unbedingten Bindungswirkung des § 71 SGB V zu erreichen.
Lösungsvorschlag
In § 125 Absatz 2 wird folgender Satz 9 angefügt:
„Gegen die Festsetzung ist der Rechtsweg zu den Sozialgerichten gegeben; Klagen gegen die Festsetzung der Vertragsinhalte haben keine aufschiebende Wirkung.“
§ 132 Absatz 1 Sätze 2 und 3 und § 132d Absatz 1 Sätze 3 und 4 sind wie folgt neu zu formulieren sowie § 132b Satz 2 neu sind wie folgt zu ergänzen: „Im Fall einer Nichteinigung wird der Vertragsinhalt durch eine von den Vertragsparteien zu bestimmende Schiedsperson innerhalb von drei Monaten festgelegt. Einigen sich die Vertragsparteien nicht auf eine Schiedsperson, so wird diese von der für die Vertragsschließung zuständigen Aufsichtsbehörde innerhalb eines Monats nach Vorliegen der für die Bestimmung der Schiedsperson notwendigen Informationen bestimmt.“
In § 132a ist die Anerkennung der Tarifbindung aufzunehmen. Nach Absatz 3 Satz 5 ist folgender Satz 6 einzufügen: „Die Vergütung muss dem Leistungserbringer bei wirtschaftlicher Betriebsführung ermöglichen, seine Aufwendungen zu finanzieren. Die Bezahlung tarifvertraglich vereinbarter Vergütungen sowie entsprechender Vergütungen nach kirchlichen Arbeitsrechtsregelungen kann dabei nicht als unwirtschaftlich abgelehnt werden. Der Grundsatz der Beitragssatzstabilität ist zu beachten.“
§ 126 – Versorgung durch Vertragspartner
Gesetzesentwurf
Die Neuregelung in Abs.1a legt verbindlich fest, dass die Leistungserbringer die Erfüllung der Anforderungen an eine ausreichende, zweckmäßige und funktionsgerechte Herstellung, Abgabe und Anpassung von Hilfsmitteln (Absatz 1 Satz 2) nur durch Vorlage eines Zertifikates einer Präqualifizierungsstelle nachgewiesen werden kann. Auf die Erteilung dieses Zertifikates besteht ein Anspruch der Leistungserbringer gegenüber der Präqualifizierungsstelle bei Erfüllung der gesetzlichen Voraussetzungen. Soweit für ein erforderliches Hilfsmittel keine Verträge der Krankenkasse mit Leistungserbringern bestehen oder durch Vertragspartner eine Versorgung der Versicherten in einer für sie zumutbaren Weise nicht möglich ist, kann der Nachweis auch durch Feststellung der Krankenkasse erfolgen.
In Satz 4 neu wird klargestellt, dass die Präqualifizierungsstellen auch weiterhin die Empfehlungen des GKV-Spitzenverbandes nach § 126 Absatz 1 Satz 3 für eine einheitliche Anwendung der Anforderungen zur ausreichenden, zweckmäßigen und funktionsgerechten Herstellung, Abgabe und Anpassung von Hilfsmitteln zu beachten haben.
Gemäß § 126 Abs. 2 (neu) wird ein neues Akkreditierungsverfahren für die Präqualifizierungsstellen eingeführt. Diese müssen ein Akkreditierungsverfahren vor einer nationalen Akkreditierungsstelle im Sinne der Verordnung (EG Nr. 765/2008), d.h. der Deutschen Akkreditierungsstelle (DAkkS), durchlaufen.
Bewertung
Die gesetzliche Verankerung eines vorgegebenen Akkreditierungsverfahrens wird von der BAGFW begrüßt. Dadurch werden nationale Vorgaben an das Verfahren gemacht, was die Rechtssicherheit erhöht. Die Übertragung der Akkreditierung der Präqualifizierungsstelle an die Deutsche Akkreditierungsstelle, trägt weiterhin zur Neutralität und Unabhängigkeit der Präqualifizierungsstellen bei. Bisher findet die Akkreditierung und Überprüfung der Präqualifizierungsstellen durch den GKV-Spitzenverband unter Zugrundelegung von vereinbarten Grundsätzen statt.
Dass in den Fällen des § 126 Abs.3 ein Nachweis durch Feststellung der Krankenkasse möglich sein soll, ist sachgerecht. Denn in diesen Fälle werden Verträge für bestimmte Einzelfälle getroffen. Ein Durchlaufen des Präqualifizierungsverfahrens würde für die Leistungserbringer einen unangemessenen Aufwand darstellen und eine effektive Versorgung der Versicherten erschweren.
Auch die Verpflichtung zur Einhaltung der Empfehlungen des GKV-Spitzenverbandes nach § 126 Absatz 1 Satz 3 für eine einheitliche Anwendung der Anforderungen zur ausreichenden, zweckmäßigen und funktionsgerechten Herstellung, Abgabe und Anpassung von Hilfsmitteln wird von der BAGFW begrüßt. Bisher war die Einhaltung durch die Präqualifizierungsvereinbarung nach § 126 Absatz 1a Satz 3 zwischen dem GKV-Spitzenverband und den für die Wahrnehmung der Interessen der Leistungserbringer maßgeblichen Spitzenorganisationen gesichert.
Die Klarstellung, dass diese nun durch die neuen Präqualifizierungsstellen ebenso eingehalten werden müssen, ist daher notwendig.
Angesichts der Bandbreite von Hilfsmitteln und dessen Einsatzorte sehen die in der BAGFW zusammen geschlossenen Verbände eine Konkretisierung bzw. Ausweitung der in Betracht kommenden Leistungserbringer im Sinne des § 126 Abs.1 für notwendig. Insbesondere im Hinblick auf Pflegehilfsmittel und Inkontinenzhilfen, die üblicherweise im Rahmen der Leistungserbringung durch ambulante und stationäre Pflegeeinrichtungen erbracht werden, muss eine gesetzliche Klarstellung erfolgen, dass diese auch als Leistungserbringer i.S.d § 126 Abs.1 in Betracht kommen. Dies ist angesichts der bestehenden Beratungspflicht von Bedeutung. Qualitätsgesichert beraten kann nur der Leistungserbringer, der sowohl differenzierte Kenntnisse über die individuelle Situation des Versicherten als auch über die vorhandene Produktpalette hat. Aufgrund dieses Umstands bestehen bereits heute vereinzelt Verträge mit stationären Pflegeeinrichtungen. Streitpunkt ist jedoch immer wieder, ob ein Anspruch auf Vertragsabschluss seitens der Pflegeeinrichtungen besteht.
Lösungsvorschlag
In Absatz 1 sollte klargestellt werden, wer im Einzelfall und hier insbesondere mit Blick auf o.g. Produktgruppen „Leistungserbringer“ ist.
§ 127 – Verträge
Gesetzentwurf
Mit den vorgesehenen Änderungen in Absatz 1 werden die Krankenkassen dazu verpflichtet, Versicherten bei Versorgungen, die auf der Grundlage von Ausschreibungsverträgen erbracht werden, eine hinreichende Auswahl zwischen mehrkostenfreien Hilfsmitteln einzuräumen.
Festgelegt wird im Weiteren, dass Krankenkassen im Rahmen der Ausschreibung auch mit mehreren Leistungserbringern Verträge abschließen können, so dass die Versicherten eine Auswahl zwischen verschiedenen Produkten unterschiedlicher Anbieter haben.
Absatz 1b legt fest, dass zwar der Zuschlag auf das wirtschaftlichste Angebot zu erteilen ist, künftig aber nicht nur der Preis, sondern auch qualitative Kriterien zu berücksichtigen sind. Einbezogen werden sollen – abgestimmt auf den Gegenstand des Auftrags – qualitative, umweltbezogene oder soziale Aspekte. Dazu müssen die Leistungsbeschreibungen oder Zuschlagskriterien so bestimmt und festgelegt werden, dass qualitative Aspekte angemessen berücksichtigt sind. Soweit diese qualitativen Anforderungen nicht erschöpfend in der Leistungsbeschreibung festgelegt sind, darf die Gewichtung der Zuschlagskriterien, die sich nicht auf den Preis oder die Kosten beziehen, 40 v. H. nicht unterschreiten.
In Absatz 4a wird die Beratungspflicht der Leistungserbringer geregelt: Der Leistungserbringer hat die Versicherten künftig vor Inanspruchnahme der Leistung zu beraten, welche Hilfsmittel und welche zusätzliche zur Bereitstellung notwendigen Leistungen, bezogen auf die konkrete, individuelle Situation des Versicherten, geeignet und medizinisch notwendig sind. Des Weiteren hat der Leistungserbringer den Versicherten über Mehrkosten zu informieren, falls sich ein Versicherter für ein Produkt entscheidet, für das Mehrkosten entstehen.
In Absatz 5 wird neu festgelegt, dass die Krankenkassen verpflichtet werden, Informationen über die von ihnen abgeschlossenen Verträge durch Veröffentlichung im Internet auch Versicherten anderer Krankenkassen zur Verfügung zu stellen.
Absatz 5a (neu) legt die Überwachung der Einhaltung der gesetzlichen und vertraglichen Pflichten der Leistungserbringer durch die Krankenkassen mittels Auffälligkeits- und Stichprobenprüfungen fest.
Absatz 5b (neu) sieht Rahmenempfehlungen des GKV-Spitzenverbandes zur Qualitätssicherung der Hilfsmittelversorgung bis zum 30. Juni 2017 vor, die u.a. Angaben zum Umfang der Stichprobe, mögliche weitere Überwachungsinstrumente sowie Kriterien für die Annahme von Auffälligkeiten beinhalten sollen. Als ein Beispiel für Auffälligkeiten wird in der Begründung zum Gesetzentwurf genannt, „dass ein Leistungserbringer in erheblichem Umfang Mehrkostenversorgungen durchführt und kaum Hilfsmittel abgibt, die für den Versicherten kostenfrei sind (…).“
Bewertung
Die Neuregelungen in Absatz 1 stärken die Wahlrechte der Versicherten und tragen damit zu einer verbesserten und der individuellen, konkreten Situation des Versicherten angepassten Versorgung mit Hilfsmitteln bei. Die BAGFW begrüßt, dass neben dem Preis auch qualitätsbezogene Kriterien, wie Zweckmäßigkeit, Zugänglichkeit des Hilfsmittels für Menschen mit Behinderungen, Kundendienst und technische Hilfen etc. mit nicht weniger als 40 Prozent als Zuschlagskriterien berücksichtigt werden müssen. Zugleich ist zu fragen, wer diese Kriterien festlegt und auch, auf welche Weise tatsächlich gesichert werden kann, dass Qualitätsaspekte angemessen berücksichtigt werden und nicht nur als ein Kriterium unter vielen anderen möglichen.
Des Weiteren ist der Begriff der „hinreichenden Auswahl“ zu unbestimmt, um sich als Versicherter darauf berufen zu können. Was hinreichend ist, darf nicht der Krankenkasse bzw. dem Leistungserbringer überlassen werden.
Die BAGFW sieht in der folgenden Formulierung Probleme:
„Die Leistungsbeschreibung oder die Zuschlagskriterien müssen so festgelegt und bestimmt sein, dass qualitative Aspekte angemessen berücksichtigt sind; soweit diese qualitativen Anforderungen der Liefer- oder Dienstleistungen nicht erschöpfend in der Leistungsbeschreibung festgelegt sind, darf die Gewichtung der Zuschlagskriterien, die nicht den Preis oder die Kosten betreffen, 40 Prozent nicht unterschreiten.(…)“
Qualitative Aspekte sollen zwar bei der Leistungsbeschreibung angemessen berücksichtigt werden. Es bleibt jedoch unklar, was eine „erschöpfende“ Darlegung der qualitativen Aspekte in den Anforderungen der Liefer- oder Dienstleistungen konkret bedeutet, denn das Wort „erschöpfend“ ist ein sehr unbestimmter Rechtsbegriff. An diesen knüpfen sich jedoch bedeutsame Folgen, die die Gewichtung der nicht den Preis betreffenden Zuschlagskriterien betreffen.
Absatz 4a (neu) regelt die Beratungspflicht der Leistungserbringer und kann so als ein weiterer Beitrag zur Stärkung der Wahlrechte des Versicherten gesehen werden. Die Beratung trägt zudem zur Transparenz von Leistungen im Rahmen der Hilfsmittelversorgung bei.
Eine Information über die vom Patienten zu tragenden Mehrkosten sollte selbstverständlich sein. Im Gesetzentwurf fehlt aber eine Regelung zu den Folgen einer nicht gesetzeskonformen Patienteninformation.
Kritisch anzumerken ist, dass weder aus Gesetzentwurf noch aus der Begründung hervorgeht, wer im Einzelfall als „Leistungserbringer“ anzusehen ist. Bei vielen Produktgruppen aus dem Hilfsmittelkatalog ist dies sicher eindeutig der Hersteller oder derjenige, der die Hilfsmittel anpasst und vertreibt (z. B. bei Sehhilfen, Prothesen usw.).
Der Hilfsmittelkatalog enthält unter anderem aber auch die Produktgruppen „Inkontinenzhilfen“ (z.B. saugende Inkontinenzhosen, Urinbeutel usw.) und „Pflegehilfsmittel zur Körperpflege/Hygiene“ (z.B. saugende Bettschutzeinlagen, Urinflaschen, Steckbecken) und damit Produkte, die üblicherweise im Rahmen der Leistungserbringung in der stationären und ambulanten Pflege eingesetzt werden: Der Gesetzgeber soll eindeutig klarstellen, wer mit Blick auf diese Produktgruppen „Leistungserbringer“ und damit auch zur Beratung und Dokumentation der Beratung verpflichtet ist. Qualitätsgesichert beraten kann nur der Leistungserbringer, der sowohl differenzierte Kenntnisse über die individuelle Situation des Versicherten als auch über die vorhandene Produktpalette hat.
Gerade auch mit Blick auf die Fortschreibung und Überarbeitung des Hilfsmittelkataloges und eine mögliche Hinzunahme weiterer Produkte/Produktgruppen, die im Rahmen der direkten Pflege eingesetzt werden, sollte dies dringend geklärt werden.
Zu begrüßen ist, dass die Krankenkassen durch die Änderung des Absatz 5 ihre Versicherten künftig regelhaft, und nicht mehr nur „auf Nachfrage“ über die zur Versorgung berechtigten Vertragspartner der Kassen und die wesentlichen Inhalte der Verträge zu informieren haben. Dies sollte in Form von aussagekräftigen und bei Änderungen regelmäßig zu aktualisierenden Informationsschreiben erfolgen.
Allerdings ist in den Gesetzentwurf ein Folgesatz (Satz 2) aufgenommen worden, der die Änderung des Absatz 5a in Teilen wieder zurücknimmt: Wenn Versicherte bereits einen Leistungserbringer gewählt haben oder die Krankenkassen auf die Genehmigung der beantragten Hilfsmittelversorgung verzichtet hat, erfolgt eine Information nur auf Nachfrage. Aus Sicht der in der BAGFW kooperierenden Verbände sollten alle Versicherte – unabhängig von dem vorgenannten Status der Leistungserbringung – gleichberechtigt über ihre Rechte bei der Hilfsmittelversorgung beraten werden, so wie dies auch in der Begründung zum Gesetzentwurf postuliert wird.
Durch die Überwachung der Einhaltung der gesetzlichen und vertraglichen Pflichten der Leistungserbringer mittels Auffälligkeits- und Stichprobenprüfungen durch die Krankenkassen (Absatz 5a, neu) sollen lt. Begründung zum Gesetzentwurf „die umfassenden gesetzlichen Vorschriften zur Sicherung der Struktur- und Prozessqualität der Hilfsmittelversorgung durch Vorgaben zur Sicherung der Ergebnisqualität ergänzt (werden)“. Dass Aspekte der Ergebnisqualität geprüft werden, erschließt sich aus dem Gesetzestext selbst nicht. Hier und auch im Zusammenhang mit dem neuen Absatz 5b zu den Rahmenempfehlungen zur Qualitätssicherung der Hilfsmittelversorgung sollte unbedingt darauf geachtet werden, dass vor allem in Stichprobenprüfungen relevante Aspekte der Ergebnisqualität einbezogen werden (wie z.B. Zufriedenheit des Versicherten mit der Versorgung, Verbesserung der selbständigen Lebensführung, Passgenauigkeit des Hilfsmittels etc.) und nicht nur eine Überprüfung der Kosten.
Positiv zu bewerten ist, dass die Krankenkassen verpflichtet werden, Informationen über die von ihnen abgeschlossenen Verträge durch Veröffentlichung im Internet auch Versicherten anderer Krankenkassen zur Verfügung zu stellen. Auf diese Art und Weise können Versicherte, die besonders auf Hilfsmittel angewiesen sind, ggf. Entscheidungen zur Wahl ihrer Krankenkasse treffen.
Lösungsvorschlag
Zu Absatz 1 Satz 2: Es sollte im Gesetz klar definiert werden, was eine „hinreichende Auswahl“ ist.
Zu Absatz 1b Satz 4: Der dritte Teilsatz sollte gestrichen werden, da er nicht zur Klärung beiträgt. Satz 4 lautet dann:
Die Leistungsbeschreibung oder die Zuschlagskriterien müssen so festgelegt und bestimmt sein, dass qualitative Aspekte angemessen berücksichtigt sind; <s>soweit diese qualitativen Anforderungen der Liefer- oder Dienstleistungen nicht erschöpfend in der Leistungsbeschreibung festgelegt sind, darf </s>die Gewichtung der Zuschlagskriterien, die nicht den Preis oder die Kosten betreffen, darf 40 Prozent nicht unterschreiten.“
Zu Absatz 4: Es sollte klargestellt werden, wer im Einzelfall und hier insbesondere mit Blick auf o.g. Produktgruppen „Leistungserbringer“ ist.
Zu Absatz 4a Satz 4:
In das Gesetz sollte folgende Formulierung eingefügt werden:
„… Sollte der Leistungserbringer den Versicherten nicht schriftlich über die Mehrkosten aufklären, so muss er das Hilfsmittel dem Versicherten ohne Berechnung der Mehrkosten bereitstellen.“
Absatz 5a Satz 2 ist ersatzlos zu streichen.
Zu Absatz 5b: Es sollte sichergestellt werden, dass die Rahmenempfehlungen des GKV-Spitzenverbandes zur Qualitätssicherung in der Versorgung mit Hilfsmitteln relevante Aspekte der Ergebnisqualität enthalten. Um die Versorgungsqualität tatsächlich zu verbessern, ist neben dem Vorhandensein ausreichender Wahlmöglichkeiten (Struktur) sowie einer unterstützenden Beratung der Versicherten (Prozess) vor allem auch zu prüfen, inwiefern dadurch eine Verbesserung der Lebensqualität der Versicherten in den jeweils relevanten Bereichen erreicht wird (Ergebnis).
§ 128 – Unzulässige Zusammenarbeit zwischen Leistungserbringern und Vertragsärzten
Gesetzentwurf
Der § 128 SGB V regelt die Zusammenarbeit zwischen Leistungserbringern von Hilfsmitteln und Vertragsärzteschaft. Die Leistungserbringung darf nicht über Depots von Hilfsmitteln in medizinischen Einrichtungen erfolgen (Abs. 1), Leistungserbringer von Hilfsmitteln dürfen den behandelnden Ärztinnen und Ärzten bzw. Einrichtungen keine wirtschaftlichen Vorteile verschaffen (Abs. 2) und Verstöße gegen diese Gebote müssen geahndet werden (Abs. 3).
Der Absatz 6 regelt bisher, dass diese Absätze 1-3 auch für die Erbringung von Leistungen im Bereich der Arznei- und Verbandmittel und der ambulanten spezialfachärztlichen Versorgung gelten.
Durch das HHVG soll dem § 128, Abs. 6 neu der Satz hinzugefügt werden, dass diese Regelungen auch bei Leistungen zur Versorgung von chronisch und schwer heilenden Wunden gegenüber den diese Leistungen erbringenden Leistungserbringern nach § 37 Abs. 7 gelten sollen.
Bewertung
Die BAGFW begrüßt die Ausweitung der Regelungen auf die Wundzentren. Sie lehnt die Ergänzung der leistungsrechtlichen Regelung zur Häuslichen Krankenpflege in § 37 SGB V um den neuen Absatz 7 ab, denn der Gemeinsame Bundesausschuss kann auf der Rechtsgrundlage von § 37 Absatz 6 SGB V auch heute schon festlegen, dass Wundzentren geeignete Orte für die Leistungserbringung sein können. Der neue Satz in Absatz 6 muss sich deshalb auf § 37 Absatz 6 beziehen.
Lösungsvorschlag
§ 128 Absatz 6 ist folgender Satz anzufügen:
„Die Sätze 1 und 2 gelten bei Leistungen zur Versorgung von chronisch und schwer heilenden Wunden (§ 37 Absatz 6) auch gegenüber den diese Leistungen erbringenden Leistungserbringern.“
§ 131 Absatz 4 – Rahmenverträge mit pharmazeutischen Unternehmern
Gesetzentwurf
§ 131 Absatz 4 regelt die Informations- und Auskunftspflichten pharmazeutischer Unternehmer sowie die Weitergabe von Daten, die zur Herstellung der pharmakologisch–therapeutischen und preislichen Transparenz erforderlich sind. In Satz 2 werden die Pharmazeutischen Unternehmer bisher schon verpflichtet, die für die Abrechnung von Fertigarzneimitteln erforderlichen Preis- und Produktangaben an den Spitzenverband Bund der Krankenkassen, die für die Wahrnehmung der wirtschaftlichen Interessen gebildete maßgebliche Spitzenorganisation der Apotheker, die Kassenärztliche Bundesvereinigung und den Gemeinsamen Bundesausschuss zu übermitteln.
Der Gesetzentwurf sieht nun vor, dass die Hersteller von Medizinprodukten, die gemäß der Richtlinien nach § 92 Absatz 1 Satz 2 Nummer 6 zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung verordnet werden können, ebenfalls verpflichtet werden, die für die Abrechnung nach § 300 erforderlichen Preis- und Produktangaben einschließlich der Rabatte nach § 130a zu übermitteln. Darüber hinaus soll für die Produkte nach § 31 Absatz 1 Satz 2 ein Kennzeichen zur Verordnungsfähigkeit zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung angegeben werden. Im Kabinettsentwurf wird diese Regelung nun auch auf Produkte nach § 31 Absatz 1a Satz 1 und 4 erweitert.
Bewertung
Die in Absatz 4 Satz 2 geregelten Informations- und Auskunftspflichten werden im Referentenentwurf auch auf die Hersteller von Medizinprodukten angewandt, die nach den Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses gemäß § 92 Absatz 1 Satz 2 Nummer 6 zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung verordnet werden können. Diese arzneimittel- und verbandähnlichen Produkte, die nicht unter die Definition der Verbandmittel nach § 31 Absatz 1a fallen, sind bisher aufgrund der fehlenden gesetzlichen Meldeverpflichtung nicht ausreichend gelistet. Die Abgrenzung von erstattungsfähigen und nicht-erstattungsfähigen Medizinprodukten hat in der Vergangenheit immer wieder zu Abgrenzungsproblemen geführt. Zudem wird die Anerkennung durch den Gemeinsamen Bundesausschuss zur Aufnahme in die Arzneimittelversorgung befristet ausgesprochen und derzeit in der Anlage V der Arzneimittel-Richtlinie geführt. Für die Sicherung einer zweckmäßigen und wirtschaftlichen Versorgung ist die regelmäßige Aktualisierung der entsprechenden Listen von großer Bedeutung. Die BAGFW begrüßt daher die Erweiterung der Informations- und Auskunftspflichten auf die Hersteller von Medizinprodukten, die in die Arzneimittelversorgung aufgenommen werden,
Zudem wird die Vorgabe als sachgerecht bewertet, dass für Produkte nach § 31 Absatz 1 Satz 2 und Absatz 1 a Satz 1 und 4 zusätzlich ein Kennzeichen zur Verordnungsfähigkeit zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung übermittelt werden muss. Auf diese Weise wird für Vertragsärzte und –ärztinnen die Transparenz und Rechtsicherheit erhöht, ob ein Produkt zu Lasten der GKV verordnet werden kann. Zudem wird auf diese Weise ein bundesweit einheitliches Vorgehen gewährleistet.
§ 132a – Versorgung mit Häuslicher Krankenpflege
Gesetzentwurf
Die auf der Bundesebene zu vereinbarenden Rahmenempfehlungen über die einheitliche Versorgung mit Häuslicher Krankenpflege sollen zukünftig auch das Erfordernis einer flächendeckenden Versorgung berücksichtigen. Des Weiteren sollen in den Rahmenempfehlungen nach § 132a Absatz 1 SGB V Anforderungen an die Eignung zur Versorgung nach § 37 Absatz 7 innerhalb von sechs Monaten nach Inkrafttreten der Richtlinienregelungen nach § 37 Absatz 7 abgegeben werden.
Bewertung
Insbesondere in der Häuslichen Krankenpflege für psychisch kranke Menschen und in der Kinderkrankenpflege gibt es nur vereinzelt Verträge nach § 132a Absatz 2 SGB V. Wir begrüßen deshalb die Erweiterung der Regelungsinhalte der Rahmenempfehlungen nach § 132a Absatz 1 SGB V um das Erfordernis einer flächendeckenden Versorgung.
Die in § 132a Absatz 1 Satz 4 und Satz 5 SGB V vorgesehenen Änderungen korrespondieren mit dem neuen § 37 Absatz 7 SGB V. Da die Ergänzung der leistungsrechtlichen Regelung zur Häuslichen Krankenpflege in § 37 SGB V abgelehnt wird, werden folgerichtig auch die damit korrespondierenden Regelungen in § 132a Absatz 1 Satz 4 und Satz 5 SGB V abgelehnt
Lösungsvorschlag
Ersatzlose Streichung von Nr. 13 b) und c), d. h. der Änderungen in § 132a Absatz 1 Satz 4 und Satz 5 SGB V.
§ 139 – Hilfsmittelverzeichnis, Qualitätssicherung bei Hilfsmitteln
Gesetzentwurf
In § 139 legt der Referentenentwurf verschiedene Maßgaben zu Qualitätsanforderungen und Fortschreibungen des Hilfsmittelverzeichnisses fest. So ist es künftig nicht mehr im Ermessen des GKV-Spitzenverbands, indikations- oder einsatzbezogen besondere Qualitätsanforderungen an Hilfsmittel festzulegen, sondern wird möglichst für alle Produktgruppen verpflichtend. Künftig sind Hilfsmittel in das Hilfsmittelverzeichnis nur aufzunehmen, wenn der Hersteller die Funktionstauglichkeit und Sicherheit sowie die Erfüllung der Qualitätsanforderungen des jeweiligen Hilfsmittels nachweist. Der Spitzenverband Bund der Krankenkassen muss bis zum 31.12.2017eine Verfahrensordnung beschließen, in der das Nähere zur Aufnahme von Hilfsmitteln in das Hilfsmittelverzeichnis, zur deren Streichung und zu dessen Fortschreibung geregelt wird. In der Verfahrensordnung sind insbesondere Fristen für die regelmäßige Fortschreibung des Verzeichnisses festzulegen. In § 139 Absatz 8 wird für die Fortschreibung des Hilfsmittelverzeichnisses gesetzlich festgelegt, dass sämtliche Produktgruppen, die bis zum 30. Juni 2015 nicht mehr grundlegend aktualisiert wurden, einer systematischen Prüfung unterzogen und fortgeschrieben werden müssen. Dem Gesundheitsausschuss des Bundestags ist einmal jährlich zum 1. März ein Bericht über diese Fortschreibung vorzulegen.
Bewertung
Die BAGFW begrüßt die neuen Vorschriften zur regelmäßigen Fortschreibung und Aktualisierung des Hilfsmittelverzeichnisses nachdrücklich. So hat der GKV-Spitzenver-band kürzlich eine Vielzahl von Hilfsmitteln im Bereich der Inkontinenz aus dem Hilfsmittelverzeichnis entfernt, die es seit Jahren gar nicht mehr gab. Dies macht deutlich, wie dringlich eine regelmäßige Aktualisierung und Fortschreibung des Hilfsmittelverzeichnisses ist. Der Gesetzgeber darf es nicht der Verfahrensordnung des GKV-Spitzenverbands überlassen, sich selbst Regelungen über seine Aufgabe der Fortschreibung des Hilfsmittelverzeichnisses zu geben, wie in § 139 Absatz 7 Satz 1 vorgesehen, sondern muss die in § 139 Absatz 8 Satz 1 vorgesehene regelmäßige Fortschreibung mit einer konkreten gesetzlichen Frist versehen. Die Verbände der BAGFW schlagen hierfür eine jährliche Frist vor. Die jetzt im Referentenentwurf für die Beseitigung der seit Jahren aufgelaufenen Mängel vorgesehene einmalige Frist des 31.12.2017, bis zu der alle seit dem 30. Juni 2015 nicht mehr grundlegend aktualisierten Produktgruppen einer Prüfung zu unterziehen und im erforderlichen Maße fortzuschreiben sind, ist zu weit bemessen. Die BAGFW schlägt als Frist den 30. Juni 2017 vor. Eine regelmäßige Unterrichtung des Gesundheitsausschusses über die vorgenommenen sowie die begonnenen Fortschreibungen erachtet die BAGFW als sinnvoll und geboten.
§ 140f - Beteiligung von Interessenvertretungen der Patientinnen und Patienten
Gesetzentwurf
Durch die Ergänzung der Aufzählung in Abs. 4 werden in Zukunft die Interessenvertretungen der Patientinnen und Patienten auch an den Rahmenempfehlungen zur Qualitätssicherung in der Versorgung mit Hilfsmitteln beteiligt, die der Spitzenverband der Kassen nach § 127 Abs. 5b SGB V (neu) zu erstellen hat.
Durch den neu eingefügten § 140f Abs. 8 SGB V soll der Koordinationsaufwand der Patientenvertreter u.a. im Gemeinsamen Bundesausschuss vergütet werden.
Bewertung
Die BAGFW begrüßt die vorgesehene Beteiligung der Interessenvertretung der Patientinnen und Patienten. Auch die Absicht, die Patientenorganisationen finanziell zu stärken, wird ausdrücklich begrüßt.
Die vorgesehene, an die Benennung gebundene, Regelung ist nach Auffassung der BAGFW allerdings bei weitem nicht ausreichend, um eine strukturelle Unterstützung für die Verbände zu ermöglichen, die sich in der Organisation der Patientenbeteiligung engagieren. Der Aufwand für die Unterstützung der Arbeit der benannten Patientenvertreterinnen und –vertreter ist nicht auf die Benennung beschränkt.
Als erster Schritt sollte daher vor allem eine Erstattung von Aufwandsentschädigungen und Verdienstausfall für die Koordinierungs- und Abstimmungstreffen auch auf der Bundesebene erfolgen, wie dies in § 140f Abs. 7 für die Patientenvertretung auf Landesebene bereits geregelt ist. Zudem muss die Pauschale nicht nur neu ins Gremium aufgenommenen Mitgliedern gewährt werden, sondern auch den bereits im Gremium vertretenen Mitgliedern.
§ 217f – Aufgaben des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen
Gesetzentwurf
Durch den neuen Abs. 4b wird bestimmt, dass der GKV-Spitzenverband in einer Richtlinie Maßnahmen zum Schutz von Sozialdaten der Versicherten festlegen soll.
Bewertung
Die BAGFW begrüßt das Ansinnen grundsätzlich, den Datenschutz für die Versicherten zu verbessern und gleichzeitig die elektronische Kommunikation zwischen Krankenkasse und Versicherten zu erleichtern. Diesen Prozess über eine Richtlinie der Krankenkassen einzuleiten, lehnt die BAGFW jedoch aufgrund von möglichen Eigeninteressen der Kassen ab. Dieses Argument wiegt umso schwerer, da die Krankenkassen externe Hilfsmittelberater einsetzen (dürfen), die im Unterschied zum Medizinischen Dienst der Kassen in einem direkten Abhängigkeitsverhältnis zu ihrem Auftraggeber stehen und die Zugang zu vertraulichen Patientendaten haben.
Lösungsvorschlag
Vor dem Hintergrund der skizzierten Problemlage plädieren die in der BAGFW kooperierenden Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege für eine Regelung des Sozialdatenschutzes auf dem Verordnungswege.
§ 284 – Sozialdaten bei den Krankenkassen
Gesetzentwurf
Der § 128 Abs. 1 SGB V wird ergänzt um einen neuen Punkt 17.: „die Überwachung der Einhaltung der vertraglichen und gesetzlichen Pflichten der Leistungserbringer von Heilmitteln (§ 127 Abs. 5a). Auch zu diesem Zweck dürfen die Krankenkassen nun Sozialdaten erheben und speichern.
Bewertung
Diese Ergänzung ist eine Folgeänderung zur Neuregelung des § 127 Abs. 5a, mit der die Krankenkassen neu die Aufgabe erhalten, die Einhaltung der vertraglichen und gesetzlichen Pflichten der Leistungserbringer zu überwachen. Die BAGFW begrüßt die Erweiterung dieser Regelung und die damit verbundene stärkere Kontrollfunktion der Krankenkassen.
§ 302 Abs. 1 – Abrechnung der sonstigen Leistungserbringer
Gesetzentwurf
Der Gesetzentwurf verlangt im Bereich der Heil- und Hilfsmittel, die vom Leistungserbringer erbrachten Leistungen im Wege elektronischer Datenübertragung oder maschinell verwertbar auf Datenträgern mit der Krankenkasse des Versicherten abzurechnen. Die mit der Abrechnung verbundenen Informationspflichten des Leistungserbringers sind aufgeführt. Mit dem Ziel, den bürokratischen Aufwand für alle Beteiligten zu reduzieren, sollten die Krankenkassen auf die Übermittlung einzelner Daten verzichten können.
Durch das HHVG werden die Informationspflichten des Leistungserbringers in § 302 Abs. 1 SGB V um die Angabe der mit dem Versicherten abgerechneten Mehrkosten erweitert.
Bewertung
Die Informationspflichten der Leistungserbringer gegenüber den Krankenkassen sind umfangreich. Die Erhebung, Eingabe und Übermittlung der Daten erfordert von den Leistungserbringern hohe bürokratische Aufwendungen, die durch das HHVG noch einmal erweitert werden.
Die Erweiterung der Informationspflichten der Leistungserbringer ermöglicht eine Transparenz über die Zuzahlungen in Folge von Mehrkosten, die vom Versicherten geleistet werden und die die Zuzahlungsverpflichtungen des § 61 SGB V übersteigen. Gegenwärtig werden bei der Inkontinenzversorgung pflegebedürftiger Menschen in der eigenen Häuslichkeit von diesen erhebliche Zuzahlungen an die Leistungserbringer geleistet.
§ 305 – Auskünfte an Versicherte
Gesetzentwurf
Die Krankenkasse hat die Versicherten zu unterrichten, sofern sie im Rahmen von Ausschreibungen im Hilfsmittelbereich mehreren Leistungserbringern den Zuschlag für bestimmte Hilfsmittel im Losverfahren erteilt haben. In diesem Fall kann der Versicherte unter diesen Leistungserbringern wählen.
Bewertung
Die BAGFW hält diese Regelung für sachgerecht.
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Die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege bedanken sich für die Möglichkeit der Stellungnahme zur Anpassung der Betreuungskräfte-RL und nehmen dieses Recht gemeinsam wahr. Aufgrund der grundsätzlichen Bedeutung, nutzen wir eingangs die Gelegenheit für eine wichtige allgemeine Anmerkung, welche die Regelung der zusätzlichen Betreuung und Aktivierung im PSG III betrifft: Bei der stationären Pflege, deren Inhalte in § 65 SGB XII neu geregelt werden sollen, ist weiterhin der Anspruch auf die zusätzliche Betreuung und Aktivierung in stationären Pflegeeinrichtungen nach § 43b SGB XI neu in der ab dem 1.1.2017 geltenden Fassung (§ 87b SGB XI in der gegenwärtig geltenden Fassung) für Nichtversicherte nicht enthalten. Dies wird von der BAGFW scharf kritisiert, da somit nichtversicherte Sozialhilfeempfänger in den vollstationären Pflegeeinrichtungen von dieser Leistung weiterhin ausgeschlossen bleiben.
A) Redaktionelle Anpassung
Entwurf
Die Anpassung beruht auf der Grundlage des zweiten Pflegestärkungsgesetzes (PSG). Danach sind die Richtlinien nach § 53c für die Leistungen der zusätzlichen Betreuung und Aktivierung in stationären Pflegeeinrichtungen, die von § 87b in § 43b i.V. mit § 84 Absatz 8 und § 85 Absatz 8 überführt wurden, durch den Spitzenverband Bund der Pflegekassen zu beschließen. Die Änderungen im Entwurf zur Anpassung der Richtlinien beziehen sich an verschiedenen Stellen auf entsprechende redaktionelle Anpassungen der Terminologie.
Bewertung
Die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege begrüßen, dass die zusätzliche Betreuung und Aktivierung in stationären Pflegeeinrichtungen mit dem PSG II zu einem Rechtsanspruch erhoben wurde und begrüßen die terminologischen Anpassungen.
Änderungsvorschlag
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B) § 2 Abs. 2: Grundsätze der Arbeit und Aufgaben der zusätzlichen Betreuungskräfte
Entwurf
Nach dem vorliegenden Entwurf ist die Aufgabe der zusätzlichen Betreuungskräfte, die Pflegebedürftigen bei den beispielhaft genannten Alltagsaktivitäten zu motivieren und sie dabei zu betreuen und zu begleiten.
Bewertung
Eine strikte Vorgabe von überwiegend rein „beschäftigungsorientierten“ Maßnahmen bzw. verrichtungsorientierten Aufgaben und Tätigkeiten entspricht nicht dem Geist des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs und der damit verbundenen Ausrichtung des PSG II zur Förderung und Erhaltung der Selbständigkeit. Neben dem „zu motivieren“ und „zu begleiten“ gehört unserer Auffassung auch die Anleitung bei den hier beispielhaft genannten Tätigkeiten zu den Aufgaben der zusätzlichen Betreuungskräfte.
Änderungsvorschlag
Die Aufgabe der zusätzlichen Betreuungskräfte ist es, die Pflegebedürftigen zum Beispiel zu folgenden Alltagsaktivitäten zu motivieren und sie dabei zu betreuen, <s>und</s> zu begleiten sowie anzuleiten:
D) § 4 Abs. 3: Qualifizierungsmaßnahme
Bewertung
Angesichts des ab 2017 zu deckenden Neubedarfs sowie der bisherigen Erfahrungen der Träger fehlt in den Richtlinien die Eröffnung der Möglichkeit, die Qualifizierungsmaßnahme auch berufsbegleitend durchzuführen.
Änderungsvorschlag
Die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege schlagen folgende Ergänzung in
§ 4 Abs. 3 vor:
Die Qualifizierungsmaßnahme besteht aus drei Modulen (Basiskurs, Betreuungspraktikum und Aufbaukurs) und hat einen Gesamtumfang von mindestens 160 Unterrichtsstunden sowie einem zweiwöchigen Betreuungspraktikum, das auch berufsbegleitend durchgeführt werden kann.
F) § 5 Abs. 2: Anerkennung erworbener Qualifikationen
Entwurf
Qualifizierungen auf der Grundlage früherer RL-Fassungen sollen im Sinne eines Bestandsschutzes weiterhin anerkannt bleiben. Neu aufgenommen wurden die examinierten Ergotherapeutinnen und Ergotherapeuten. Unerwähnt bleibt dagegen der Umgang mit Personen, die eine Ausbildung als Pflegefach- oder -hilfskraft absolviert haben.
Bewertung
Die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege begrüßen diese Anerkennung der bisherigen Qualifizierungen auch nach der neuen RL und die explizite Erwähnung der Ergotherapeutinnen und Ergotherapeuten. Hinsichtlich der Anerkennung von Ausbildungen als Pflegefach- oder -hilfskraft sollte mit Blick auf ein bundeseinheitliches Vorgehen und den Bürokratieabbau klargestellt werden, dass auch die nach Landesrecht geregelte Ausbildung zu Pflegehelfern (z. B. Altenpflegehelfer, Krankenpflegehelfer) explizit genannt werden und diese automatisch und in vollem Umfang anerkannt werden. Analoges fordern wir auch für die nach Landesrecht geregelte Ausbildung zur Heilerziehungspflege.
Änderungsvorschlag
Die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege schlagen folgende Ergänzung in
§ 5 Abs. 2 vor:
Soweit die Qualifikationsanforderungen nach § 4 Abs. 3 vollständig oder teilweise in einer Berufsausbildung, bei der Berufsausübung oder in Fortbildungsmaßnahmen nachweislich erworben wurden, gelten diese insoweit als erfüllt. Insbesondere bei examinierten Altenpflegerinnen und Altenpflegern sowie bei examinierten Gesundheits- und Krankenpflegerinnen und Gesundheits- und Krankenpflegern sowie examinierten Ergotherapeutinnen und Ergotherapeuten gelten die Qualifikationsan-forderungen nach § 4 Abs. 3 grundsätzlich als erfüllt. Als grundsätzlich erfüllt gelten ebenfalls die Anforderungen bei Personen, die eine Ausbildung als (Alten-) Pflegehelfer/-in oder zur Heilerziehungspflege mit nach Landesgesetz geregelter Ausbildung und staatlicher Anerkennung, abgeschlossen haben.
G) § 6 Übergangsregelung
Entwurf
Der Entwurf sieht eine Streichung von § 6 Übergangsregelungen vor.
Bewertung
Aus Sicht der Pflegeeinrichtungen ist diese Streichung nicht sachgerecht. Die bisherige Regelung ist beizubehalten und die Frist ist entsprechend zu aktualisieren, um den Bedarf an neuen Betreuungskräften zu realisieren. Der hohe Bedarf an neuen Betreuungskräften ab dem 01.01.2017 ergibt sich daraus, dass nunmehr alle stationären Einrichtungen diese Kräfte vorhalten bzw. das bestehende Angebot ausweiten müssen. Schätzungsweise 15 % der Einrichtungen setzen § 87b SGB XI bisher aber nicht um. Die Frist ist daher bis zum Jahresende zu verlängern.
Änderungsvorschlag
Die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege schlagen eine Beibehaltung des bisherigen § 6 Übergangsregelung mit folgender Neufassung von § 6 vor: ... die im § 4 Abs. 3 in den Modulen 1 und 3 beschriebenen Qualifikationen bis 31.12.2017 abschließen werden und …
]]>Aufgabe der Grundsicherung für Arbeitsuchende und der sozialhilferechtlichen Grundsicherung ist es, den Leistungsberechtigten eine menschenwürdige Lebensführung und gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen (vgl. § 1 Abs. 1 SGB I und Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts). Die Aufgabe des SGB II und des 3. sowie 4. Kapitels des SGB XII konkretisiert damit das Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes. Die in der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege zusammengeschlossenen Verbände bewerten die aktuelle Bemessung der Regelbedarfe im SGB II nach wie vor als nicht ausreichend. Die Wohlfahrtsverbände fordern dringend, eine bedarfsgerechte Erhöhung der Regelbedarfe vorzunehmen.
Dies hat im Wege einer Neubemessung zu erfolgen, bei der insbesondere die Bedarfe von Kindern und Jugendlichen auf anderem, sachgerechterem Wege ermittelt werden. Zudem ist ein umgangsbedingter Mehrbedarf zur Existenzsicherung von Kindern einzuführen, die sich in den Haushalten ihrer getrennt lebenden Eltern aufhalten. Verdeckt Arme – also an sich Leistungsberechtigte, die aber keinen Antrag auf Sozialleistungen gestellt haben – sind aus der Berechnung auszunehmen.
Das soziokulturelle Existenzminimum muss bedarfsgerecht abgesichert werden. Die notwendigen finanziellen Mittel müssen bereitgestellt werden.
Neben der Bemessung der Regelbedarfsstufen umfasst das Regelbedarfsermittlungsgesetz Kürzungen des Anspruchs auf Übernahme der Unterkunftskosten. Die Wohlfahrtsverbände sprechen sich entschieden gegen diese Kürzungen aus.
Im Einzelnen sprechen sich die Wohlfahrtsverbände für folgende Veränderungen aus:
Regelbedarfsbemessung für Kinder und Jugendliche
Die Verbände bekräftigen das Anliegen, das Bemessungsverfahren der Regelbedarfe für Kinder und Jugendliche zu korrigieren und sachgerechtere, aktuellere Berechnungsmöglichkeiten zu nutzen.
Nach dem aktuellen Gesetzentwurf steigen die Regelbedarfe für Kinder im Alter von 6 bis 13 Jahren zwar um 21 Euro. Die Bedarfe von 0 bis 5-Jährigen bleiben nach den Ergebnissen der EVS 2013 nach dem nominellen Betrag aber gleich (was aufgrund der Kaufkraftverluste im Erhebungszeitraum eine Realkürzung bedeutet). Die Wohlfahrtsverbände bekräftigen ihre Feststellung, dass viele der für Kinder und Jugendliche als relevant festgeschriebenen Verbrauchsausgaben aufgrund der geringen Stichprobengröße der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe statistisch nicht hinreichend aussagefähig sind. Der Deutsche Kinderschutzbund etwa hat in seiner Stellungnahme nachgewiesen, dass der Anteil statistisch unsicherer Einzelpositionen an allen regelbedarfsrelevanten Positionen bei Kindern je Altersgruppe zwischen 60 Prozent (bei den 0 bis 5-Jährigen) bis hin zu 89 Prozent (bei den 14 bis 17-Jährigen) liegt. In allen Fällen lagen verlässliche Angaben von weniger als 100 Haushalten vor. Bei den 14 bis 17-Jährigen lag die Anzahl der entsprechenden Haushalte in 44 von 78 Fällen bei unter 25. Vor diesem Hintergrund muss zukünftig eine ausreichend große Stichprobe gewählt werden, um statistisch relevante Daten zu erhalten.
Die Bemessung muss sich an kindgerechten Bedarfen orientieren und transparent ausgestaltet sein. Einzelpositionen wie Ernährung und Kleidung sollten auch im Sinne des Kindeswohls dahingehend überprüft werden, ob hier nicht schon in der statistischen Vergleichsgruppe ein so deutlicher Mangel abgebildet wird, dass etwa ausreichende Bekleidung oder gesunde Ernährung mit diesen Beträgen gar nicht gewährleistet werden kann. Das ist mit dem RBEG-E 2017 an vielen Stellen nicht erfolgt. Ein Beispiel dafür sind die berücksichtigten Ausgaben für Pflege- und Hygieneartikel bei den 0 bis 5-Jährigen. Hier werden monatlich 7,21 Euro anerkannt.
Die Streichung von Positionen bei Kindern mit Verweis auf Leistungen nach dem Bildungs- und Teilhabepaket (BuT) ist nicht sachgerecht, da auch die in der Referenzgruppe enthaltenen Kinder, die den Kinderzuschlag erhalten, ebenfalls BuT-Leistungen erhalten; zudem sind die BuT-Leistungen nicht bedarfsdeckend, sondern ihre Höhe wurde frei festgelegt und auch nicht an Preissteigerungen angepasst.
Für die verlässliche Existenzsicherung von Kindern, die sich bei getrennt lebenden Eltern in zwei Haushalten aufhalten, soll nach Auffassung der Wohlfahrtsverbände ein umgangsbedingter Mehrbedarf eingeführt werden. So wird dem Umstand Rechnung getragen, dass mehr finanzielle Mittel benötigt werden, um die Aufwendungen für den Aufenthalt im zweiten Haushalt, etwa für Möbel, Bettwäsche oder Kinderspielzeug, zu decken. Sachgerecht ist es dafür auch, dass der volle Regelbedarf des Kindes dem Haushalt zugeordnet wird, in dem der Lebensmittelpunkt des Kindes liegt.
Für Kinder und Jugendliche bestehen insbesondere nach vielen Jahren im Leistungsbezug massive Benachteiligungen bei ihrer gesellschaftlichen Teilhabe und einer chancengerechten Bildung. Die Umsetzung des Bildungs- und Teilhabepakets hat diese Situation nicht grundlegend verbessert. Die Leistungen zur Bildung und Teilhabe werden in der Praxis viel zu bürokratisch umgesetzt und erreichen zu wenig Kinder und Jugendliche. Die Verfahren müssen deshalb vereinfacht und für Familien besser zugänglich gemacht werden. Dort, wo die Teilhabeleistungen zu niedrig sind, müssen sie angepasst werden, z. B. beim Schulbedarfspaket. Die tatsächlichen Kosten liegen hier seit einigen Jahren mehr als doppelt so hoch
(siehe:<link http: www.gerechter-schulbedarf.de pages information___materialien studie index.html>www.gerechter-schulbedarf.de/pages/information___materialien/studie/index.html).
Die im Zuge des Neunten Gesetzes zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch (Rechtsvereinfachung) vorgenommene Flexibilisierung der Stichtagsregelungen zur Bewilligung des Schulbedarfspakets (gem. § 28 Absatz 3 SGB II) stellt zwar eine sinnvolle Neuerung dar, weitergehende Reformen müssen jedoch folgen (siehe ausführlich: Positionspapier „Botschaften und zentrale Anliegen der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) zur Reform des Bildungs- und Teilhabepakets“ vom 18.04.2016).
Unterdeckungen
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf ist es nicht zufriedenstellend gelungen, die vom Bundesverfassungsgericht getroffenen kritischen Bewertungen zu den expliziten Gefahren einer Unterdeckung der Regelbedarfe (siehe BVerfG, Beschluss vom 23.07.2014 – 1 BvL 10/12, 1 BvL 12/12, 1 BvR 1691/13) auszuräumen. Durch die zahlreichen Herausnahmen und Kürzungen von Verbrauchspositionen bestehen Zweifel daran, dass mit den monatlichen Regelbedarfen noch ein interner Ausgleich möglich ist.
Der Gesetzentwurf verweist etwa vor dem Hintergrund der vom Bundesverfassungsgericht aufgezeigten Gefahr einer Unterschreitung des Existenzminimums bei der Anschaffung von existenznotwendigen und zugleich langlebigen Konsumgütern (wie z. B. Haushaltsgeräte / Kühlschrank, Waschmaschine, Herd) auf die Möglichkeit, ein Darlehen aufzunehmen. Die bestehende gesetzliche Möglichkeit, ein Darlehen zur Beschaffung aufzunehmen und dieses über den Regelbedarf in den Folgemonaten bzw. Jahren wieder zurückzahlen, ist aus Sicht der Wohlfahrtsverbände in vielerlei Hinsicht problematisch. Aus der Beratungspraxis wird immer wieder berichtet, dass Leistungsberechtigte gar kein neues Darlehen erhalten, etwa weil sie bereits zuvor ein Darlehen in Anspruch genommen haben. Die Rückzahlung von Darlehen kann dazu führen, dass das Existenzminimum für längere Zeit unterschritten wird. Bei Bewilligung und Wiedereintreibung der Darlehen entsteht ein erheblicher Verwaltungsaufwand. Darum schlägt die BAGFW vor, dass die Anschaffungskosten für solche Güter nicht mehr wie bisher im Regelbedarf enthalten sind und angespart werden müssen. Die Problematik kann entweder durch die Einführung einer gesonderten monatlichen Anschaffungspauschale in realistischer Höhe zusätzlich zum Regelbedarf gelöst werden (bei tatsächlichen Anschaffungen wären ggf. auch Darlehensrückzahlungen auf diesen Betrag zu begrenzen) oder durch einen Wechsel vom pauschalierten Modell zur Erstattung der tatsächlichen Kosten im Bedarfsfall.
Das Bundesverfassungsgericht hatte in seinem aktuellen Urteil darauf hingewiesen, dass die Aufwendungen für Mobilität so bemessen sein müssen, dass sie es auch Betroffenen außerhalb von Kernortschaften mit guter öffentlicher Infrastruktur erlauben, ihren täglichen Bedarf zu decken, um am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Die Bundesregierung hat für die aktuelle Regelbedarfsermittlung Sonderauswertungen zu Mobilitätsausgaben vornehmen lassen, die hinsichtlich Methodik und Ergebnis nicht überzeugen. So besteht weiterhin das Problem, dass alle mit dem Besitz eines Autos verbundenen Ausgaben als nicht regelbedarfsrelevant gestrichen werden, weil der Gesetzgeber einen eigenen PKW als nicht existenznotwendig ansieht. Gerade in ländlichen Regionen müssen notwendige Strecken etwa für Arztbesuche, Einkäufe oder Behördengänge bis hin zum Besuch des Jobcenters mit einem PKW zurückgelegt werden, weil sie für die Fahrt mit dem Fahrrad zu weit und die ÖPNV-Angebote nicht ausreichend sind. Nicht plausibel erscheint insbesondere das Ergebnis der Sonderauswertung zu Mobilitätsausgaben von Jugendlichen zwischen 14 und 17 Jahren, das auf der Grundlage von 12 (!) Haushalten beruht und in der Summe mit den anderen Aufwendungen für Mobilität zu regelbedarfsrelevanten Ausgaben von 13,28 Euro führt. Die Wohlfahrtsverbände regen an, zur ausreichenden Deckung der Mobilitätskosten im Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) regionale Maßnahmen umzusetzen. Zu denken ist an die Einführung von Sozialtarifen für den ÖPNV oder die Zahlung von Zuschüssen der Jobcenter zu den ÖPNV-Netzkarten. Darüber hinaus muss die Situation im ländlichen Raum besonders berücksichtigt werden, denn oft gibt es hier keinen öffentlichen Nahverkehr. Hier sind neben dem Bund auch die Länder und Kommunen in der Verantwortung.
Die Wohlfahrtsverbände sehen die derzeitige Ermittlung des Bedarfs für Haushaltsstrom als unzureichend an. Der Anteil für Strom im Regelbedarf ist zu niedrig bemessen. Auf Basis der EVS kommt es zu systematischen Untererfassungen des Bedarfs, insofern in die Berechnung eine größere Anzahl von Haushalten eingeflossen ist, die gar keine Ausgaben für Strom nachgewiesen haben (etwa weil sie die Stromkosten gemeinsam mit der Miete abrechnen). Wie auch der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge in seiner Stellungnahme zum Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen sowie zur Änderung des Zweiten und Zwölften Sozialgesetzbuch vom 27. September 2016 deutlich gemacht hat, war schon bei der Einführung des Statistikmodells vor rund 25 Jahren die EVS als eine für den Energiebedarf ungeeignete Datengrundlage erkannt und eine andere Datenquelle verwendet worden. Zu bedenken ist auch der Umstand, dass viele Leistungsbezieher in schlecht isolierten Wohnungen leben, zum Teil auf zusätzliche elektrische Heizkörper angewiesen sind, eine stromintensive dezentrale Warmwasserbereitung verwenden müssen und sich kaum die Anschaffung von neuen, energieeffizienten Geräten leisten können. Insgesamt sind die Stromkosten in Deutschland durchschnittlich 27 Prozent höher als der im Regelbedarf vorgesehene Anteil für Energie. Im Bundesdurchschnitt muss ein Einpersonenhaushalt bei durchschnittlichem Verbrauch (125 kw/h pro Monat) pro Monat 42,74 Euro für Strom ausgeben. Das sind rund 9 Euro mehr im Monat, als der Regelbedarf aktuell für Strom vorsieht. Im Osten Deutschlands sind die Strompreise im Schnitt höher, sodass die Differenz zwischen den durchschnittlichen Stromkosten und dem Hartz IV-Regelbedarf für Strom dort um 22 Prozent größer ist, als in Westdeutschland. Schon die bestehende Unterdeckung bei den Stromkosten in anderer Weise auszugleichen, gelingt den Leistungsempfängern häufig nicht. Zunehmend mehr Menschen haben erhebliche Stromschulden angehäuft und sind mit Stromsperren konfrontiert.
Die Wohlfahrtsverbände sehen es als erforderlich an, den Bedarf für Haushaltsstrom in einem gesonderten Verfahren sachgerecht zu vermitteln. Das Bundesverfassungsgericht hat bei ungewöhnlichen Preissteigerungen (etwa bei Haushaltsstrom) verlangt, den Fortschreibungsmechanismus für die Regelbedarfe zeitnah zu überprüfen und ggf. anzupassen. Hier sind insbesondere die aktuellen Entwicklungen im Zusammenhang mit der ab 2017 steigenden EEG-Umlage und regional steigenden Netzentgelten zu beobachten.
Des Weiteren regen die Wohlfahrtsverbände an, in Anlehnung an die in § 43 a SGB XII-GE vorgesehenen Neuregelung auch im SGB II eine Regelung zu schaffen, die mit Zustimmung der Leistungsberechtigten eine Direktzahlung für den Haushaltsstrom an die Stromlieferanten erlaubt und so hilft, Stromsperren abzuwenden. Eine solche gesetzliche Grundlage im SGB II fehlt derzeit. Nach Erfahrungen der Wohlfahrtsverbände können Direktzahlungen helfen, drohende oder bereits eingetretene Stromschulden abzuwenden. Diese Maßnahme sollte eingebettet sein in regional abgestimmte Unterstützungsangebote zwischen Jobcentern, Energieversorgern und den Beratungsstellen freier Träger, damit Leistungsberechtigte ihren Energieverbrauch sinnvoll reduzieren, Stromschulden abbauen und tragfähige Abschlagszahlungen mit den Energieversorgern vereinbaren können.
Die Wohlfahrtsverbände fordern, zukünftig keine Eigenanteile z. B. für die gemeinschaftliche Mittagsverpflegung oder die Schülerbeförderung zu erheben und auch für die Vergangenheit auf die Eintreibung von kleinen Geldbeträgen als sog. „Eigenanteile“ zu verzichten. Nach dem vorliegenden Gesetzentwurf sollen die Regelungen zur Berücksichtigung von Eigenanteilen für eine gemeinschaftliche Mittagsverpflegung von Schüler/-innen und Kindern, die eine Kindertagestätte besuchen, beibehalten und ausgeweitet werden: Künftig soll auch für das gemeinschaftliche Mittagessen in Werkstätten für behinderte Menschen ein Eigenanteil in Höhe von 1 EUR berücksichtigt werden (vergleiche § 9 Abs. 2 RBEG-E, § 34 Abs. 2 S. 2 SGB XII-E). Ein zumutbarer Eigenanteil für die Schülerbeförderungskosten in Höhe von 5 EUR wird beibehalten (vergleiche § 9 Abs. 3 RBEG-E in Verbindung mit § 34 Abs. 4 S. 2
SGB XII-E, § 28 Abs. 4 S. 2 SGB II-E). Da die Verwaltungskosten zur Berücksichtigung dieser Eigenbeiträge in keinem Verhältnis zu den in Frage stehenden Finanzbeträgen stehen, fordern die Wohlfahrtsverbände, hierauf vollständig zu verzichten. Der Verzicht auf die Berücksichtigung solcher Eigenanteile ist auch insofern gerechtfertigt, als von einer systematischen Doppelfinanzierung dieser Leistungen keine Rede sein kann. Dies wird besonders deutlich an den im Regelbedarf berücksichtigten Kosten für das Mittagessen eines Kindes bzw. Jugendlichen. Bei der Berechnung geht der Gesetzgeber von Kosten in Höhe von 78,70 Euro für alle Mahlzeiten aus und setzt für das Mittagessen 31 Euro an. Eine gesunde Ernährung ist damit schlicht unmöglich. Vielmehr ist zu vermuten, dass in der Vergleichsgruppe bereits ein massiver Mangel in der Ernährung besteht und hier übertragen wird.
Leistungslücken
Offenkundige Leistungslücken sind zu schließen. Beispielsweise haben ALG II-Empfänger/-innen erhebliche Schwierigkeiten, die Kosten für eine Brille aufzubringen. Von der Gesetzlichen Krankenversicherung wird eine Sehhilfe nur bis zum 18. Lebensjahr und danach nur bei einer sehr schweren Sehbeeinträchtigung übernommen. Die Kosten der Brille werden auch vom Jobcenter grundsätzlich nicht als Zuschuss übernommen. ALG II-Empfänger/-innen können die Brille in der Regel nicht aus dem Regelbedarf bezahlen, der unter der Position „therapeutische Geräte und Mittel“ dafür monatlich einen Betrag in Höhe von 2,26 Euro vorsieht. Vor diesem Hintergrund hat auch das Bundesverfassungsgericht in seiner aktuellen Entscheidung erkannt, dass es zu einer Unterdeckung kommen kann, „wenn Gesundheitsleistungen wie Sehhilfen weder im Rahmen des Regelbedarfs gedeckt werden können, noch anderweitig gesichert sind“ und dem Gesetzgeber aufgetragen, darauf zu achten, dass der existenznotwendige Bedarf insgesamt gedeckt ist. Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege plädiert dafür, dass die Kosten für notwendige Sehhilfen als einmalige Leistungen vom Jobcenter übernommen werden, soweit und solange sie nicht im Rahmen des SGB V als Leistungen der Gesetzlichen Krankenversicherung anerkannt werden.
Neuordnung der Regelbedarfsstufen
Durch die höchstrichterliche Rechtsprechung zu den Regelbedarfsstufen ist der Gesetzgeber gefordert, eine rechtskonforme Neuregelung der Regelbedarfsstufen, insbesondere der Regelbedarfsstufe 3, vorzunehmen. Die Wohlfahrtsverbände begrüßen es, dass erwachsene Menschen mit Behinderung, die auf Leistungen der Grundsicherung angewiesen sind und bei ihren Eltern leben, nun dauerhaft Anspruch auf den vollen Regelsatz haben werden. Das gilt jedoch nicht für alle Wohnformen: Erwachsene Menschen mit Behinderung, die nach den geplanten Regelungen des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) in einer neu einzuführenden Wohnform leben, sollen zukünftig der Regelbedarfsstufe 2 zugeordnet werden. Somit erhalten sie künftig 368 Euro. Die Zuordnung zur Regelbedarfsstufe 2 ist nicht sachgerecht und beruht nicht auf validen Daten, sondern auf einer freihändigen Schätzung. Das Bundesverfassungsgericht hatte in seiner Entscheidung auf die Notwendigkeit einer verlässlichen statistischen Grundlage hingewiesen. Diese liegen für die neuen Wohnformen nicht vor. Die neue Wohnform ist auch nicht mit einer eheähnlichen oder lebenspartnerschaftlichen Gemeinschaft vergleichbar. Ziel des BTHG ist u. a. unabhängig von der Wohnform eine Stärkung der Selbstbestimmung und eine Gleichstellung zu erreichen. Insofern ist dieser Personengruppe aus Sicht der Wohlfahrtsverbände die Regelbedarfsstufe 1 zuzuerkennen.
Bedarfsbemessung bei Asylbewerbern
Gemäß § 3a Abs. 1 Nr. 2 b und Abs. 2 Nr. 2 b und § 2 Abs. 2 Satz 2 AsylbLG-E sollen erwachsene Leistungsberechtigte, die in einer Erstaufnahmeeinrichtung, Gemeinschaftsunterkunft oder vergleichbaren Unterkunft leben, künftig nur noch Leistungen nach der Regelbedarfsstufe 2 erhalten. Dies soll auch dann gelten, wenn gem. § 2 AsylbLG nach 15 Monaten Anspruch auf Leistungen nach SGB XII besteht. Die genannten Personen werden damit Paaren gleichgestellt, bei denen die Reduzierung der Sozialleistungen damit begründet wird, dass das Zusammenleben in der Ehe bzw. in der eheähnlichen Gemeinschaft Einspareffekte mit sich bringt.
Die BAGFW teilt die der Gesetzesbegründung zugrunde liegende Annahme nicht, dass das unfreiwillige Leben mit fremden Menschen in einer gemeinsamen Unterkunft die gleichen Einspareffekte mit sich bringt, wie das Zusammenleben in einer Ehe oder eheähnlichen Gemeinschaft. Den Betroffenen verbleibt zur Deckung individueller Bedarfe aufgrund des Sachleistungsbezugs ohnehin nur ein sehr kleiner Geldbetrag, so dass für Einspareffekte aufgrund gemeinsamen Wirtschaftens kein Raum bleibt. Die Annahme, dass bei Fremden, deren einzige Verbindung es ist, in der Anonymität von Massenunterkünften leben zu müssen, durch eine vermeintliche „Schicksalsgemeinschaft“ (Gesetzesbegründung S. 18) eine Solidarisierung erfolgt, aus der sich für die Bewohner(innen) finanzielle Synergieeffekte ergeben, wird der Realität in Flüchtlingsunterkünften zudem nicht gerecht. Voraussetzung für ein gemeinsames Wirtschaften ist vielmehr ein gefestigtes gegenseitiges Vertrauen. Ob sich dies zwischen Fremden entwickeln kann, ist zweifelhaft. Einen hinreichend fundierten Beleg für quantifizierte Minderausgaben beim Zusammenleben von Asylbewerbern in den genannten Unterkünften enthält der Gesetzentwurf nicht. An anderer Stelle wird in dem Gesetzentwurf zutreffend geschlussfolgert, dass bei nicht als Partnern zusammenlebenden Erwachsenen eine Zuordnung zur Regelbedarfsstufe 1 erfolgt, weil „Haushaltsersparnisse nicht für alle denkbaren Fallkonstellationen hinreichend fundiert quantifiziert werden können“ (RBEG-E, S. 84).
Aus Sicht der BAGFW ist daher eine Zuordnung dieses Personenkreises zur Regelbedarfsstufe 1 notwendig.
Bedarfe für Unterkunft und Heizung im SGB XII
Neben der Neufestsetzung der Regelbedarfe enthält der Gesetzentwurf in § 42a SGB XII-E auch einige Sonderregelungen, betreffend der Kosten der Unterkunft für bestimmte Personenkreise. Diese Neuerungen stehen zum Teil im Zusammenhang mit dem geplanten BTHG: möglicherweise ist bei der Bezeichnung ein redaktioneller Fehler unterlaufen. Art. 13 Nr. 16 Kabinettsentwurf für das Bundesteilhabegesetz (BTHG) lässt vermuten, dass es „§ 42b“ heißen müsste. Die neue Regelung umfasst drei unterschiedliche Regelungsbereiche: Eine Regelung für Bezieher von Grundsicherung, die mit Angehörigen zusammenleben (Abs. 3), eine Regelung für Bezieher von Grundsicherung, die in Wohngemeinschaften leben (Abs. 4) und eine Regelung für Bezieher von Grundsicherung, die in sonstigen Unterkünften wie zum Beispiel Notunterkünften und auf Campingplätzen leben (Abs. 5).
Die Wohlfahrtsverbände lehnen die Neuregelung der Bedarfe für Unterkunft und Heizung gem. § 42a SGB XII ab. Auf den ersten Blick erweckt die Regelung in Abs. 3 zwar den Anschein, dass Familien, in denen ein erwachsenes behindertes Kind lebt, die Kosten der Unterkunft leichter geltend machen können, weil auf die „nachweisbare Tragung von tatsächlichen Aufwendungen“ verzichtet wird. Es muss also kein Mietvertrag mehr vorgelegt werden. Die Wohlfahrtsverbände begrüßen die Klarstellung, mit der die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts bekräftigt wird. Abzulehnen ist jedoch die gleichzeitig neu eingeführte sogenannte Differenzmethode
(§ 42a Abs. 3 SGB XII-E). Diese Regelung stellt diejenigen Eltern schlechter, die ihr erwerbsgemindertes, volljähriges Kind im eigenen Haushalt betreuen. Faktisch wird hier eine indirekte erweiterte Einstandspflicht eingeführt. Dies soll anhand eines Beispiels verdeutlicht werden:
Ein 20-jähriger Mann („A“), der schwer mehrfachbehindert ist, lebt zusammen mit seinen beiden Eltern („B“ und „C“) in einer Mietwohnung mit einer Fläche von 100 qm. Die Warmmiete beträgt 900 Euro. Die grundsicherungsrechtliche Mietobergrenze wird, wie in der überwiegenden Zahl der Fälle, als sogenannte „Angemessenheitsobergrenze“ (BSG) nach § 12 WoGG bestimmt. Es gilt die Mietstufe IV. Der Höchstwert nach § 12 WoGG beträgt damit: 1 Person: 434 Euro, 2 Personen: 526 Euro, 3 Personen 626 Euro. Die Mietobergrenze errechnet sich nach der Rechtsprechung des BSG durch Multiplikation mit dem Faktor 1,1. Dazu kommt noch die Obergrenze der Heizkosten, die unterschiedlich beziffert wird. Sie liegt oft bei einem Wert von 1 Euro/qm, der dann mit der fiktiven Maximalwohnfläche für die Haushaltsgröße, die aus den Richtlinien für den sozialen Wohnungsbau (die vom Bundesland abhängen) abgeleitet, multipliziert wird. Im Beispiel werden folgende Werte als angemessen unterstellt: 45 qm für eine, 60 qm für zwei und 75 qm für drei Personen. Damit ergibt sich für das Beispiel eine Mietobergrenze einschließlich der Heiz- und Warmwasserkosten von 522,40 Euro für eine Person, 638,60 Euro für zwei Personen und 763,60 für drei Personen.
Geltendes Recht: Die Unterkunftskosten werden nach dem Kopfteilprinzip aufgeteilt, bei drei Personen also gedrittelt. A werden also 300 Euro zugeordnet. Für ihn gilt die Mietobergrenze für eine Person (522,40 Euro). Die Miete ist angemessen und wird vom Sozialamt übernommen.
Geplantes Recht: A erhält die Differenz zwischen der Mietobergrenze für drei Personen (763,60 Euro) und der Mietobergrenze für zwei Personen (638,60 Euro), also 125 Euro. A erhält künftig 175 Euro weniger als nach geltendem Recht. Die verbleibenden Kosten müssen von den Angehörigen, in der Regel den Eltern getragen werden.
Wenn die Angehörigen dazu wirtschaftlich nicht in der Lage sind, soll eine Ausnahme gelten. A bekäme dann nicht mehr lediglich die Differenz von 125 Euro zwischen der Mietobergrenze für zwei und für drei Personen. Stattdessen gilt jetzt für ihn ein Drittel der Mietobergrenze für drei Personen als Mietobergrenze, also 245,53 Euro. Den Betrag von 54,47 Euro (300 – 245,53 Euro) monatlich müssen B und C übernehmen. Sind sie dazu nicht in der Lage, müssen sie in eine Wohnung ziehen, die den Standards der wirtschaftlichen Grundsicherung entspricht.
In der Begründung zu dieser Regelung wird auf Rechtsprechung des BSG Bezug genommen, nach der insbesondere in Fällen erwachsener Menschen mit Behinderung, die bei ihren Eltern leben, die Kosten der Unterkunft nur dann akzeptiert würden, wenn der Nachweis geführt werde, dass die Leistungsbezieher rechtlich zur Zahlung der Kosten verpflichtet seien. Der Sozialhilfesenat des BSG hat diese Rechtsprechung jedoch bereits Ende 2015 aufgegeben (BSG, 17.12.2015, B 8 SO 10/14 R, Leitsatz in juris: „Zu den tatsächlichen Aufwendungen für eine Unterkunft gehören auch die Kosten, die dem Leistungsberechtigten durch die Nutzung der Wohnung entstehen und von ihm faktisch (mit-)getragen werden, ohne dass eine entsprechende rechtliche Verpflichtung bestehen muss.“). Der in der Gesetzesbegründung angeführte Grund, nach dem Hürden bei der Inanspruchnahme von Kosten der Unterkunft beseitigt werden sollten, ist damit hinfällig. Statt einer einfacheren Geltendmachung des Anspruchs auf Leistungen für die Unterkunft, bedeutet die neue Regelung vielmehr eine einschneidende Kürzung dieses Anspruchs. Eltern, die ihre erwachsenen behinderten Kinder noch selbst versorgen, würden für den größten Teil der Unterkunftskosten faktisch zum Unterhalt herangezogen. Für Eltern hingegen, deren erwachsene behinderte Kinder in einer Einrichtung leben, soll das nicht gelten. Eine solche Ungleichbehandlung ist weder sachlich gerecht, noch sozialpolitisch sinnvoll. Durch die Regelung würden gerade diejenigen Eltern wirtschaftlich herangezogen, die sich in besonderer Weise für ihre erwachsenen behinderten Kinder
engagieren, während für andere Eltern lediglich die allgemeinen Regeln der Einstandspflicht und der Privilegierung bei der Unterhaltspflicht gelten.
Die Wohlfahrtsverbände lehnen die geplante Regelung ab. Die derzeitige Rechtslage umfasst bessere und gerechtere Regelungen, die allerdings unzureichend umgesetzt werden. Die Praxis der Grundsicherungsträger ist nicht einheitlich. Insbesondere wird die oben genannte Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 17.12.2015 nicht verlässlich umgesetzt. Daher erscheint eine Klarstellung im Gesetz sinnvoll, dass es keines Nachweises der tatsächlichen Zahlungsverpflichtung bedarf.
Auch die Regelungen für Leistungsbezieher, die in Wohngemeinschaften leben, werden geändert (Abs. 4). Künftig orientiert sich die Angemessenheitsgrenze an der Zahl der Bewohner der Wohngemeinschaft. Dieser Wert ist dann durch die Zahl der Bewohner zu dividieren; der sich so ergebende Wert soll künftig als angemessen anerkannt werden.
Beispiel: Drei Menschen mit einer psychischen Erkrankung leben in einer ambulant betreuten Wohngemeinschaft. Jeder der drei hat ein Zimmer mit etwa 15 qm, die übrige Fläche wird gemeinsam genutzt. Die Wohnfläche beträgt 100 qm, die Warmmiete beträgt 900 Euro. Alle drei beziehen Grundsicherung. Die Mietobergrenze aus dem oben stehenden Beispiel gilt auch hier.
Geltendes Recht: Die drei bekommen vom Sozialamt jeweils 300 Euro für die Miete (Mietobergrenze für eine Person warm 522,40 Euro).
Geplantes Recht: Die Mietobergrenze beträgt für jeden der drei ein Drittel der Mietobergrenze für drei Personen (763,60 Euro), also 254,53 Euro. Die drei müssen umziehen, um ihre Miete zu senken. Wenn sie in drei Einzelappartements umziehen, beträgt die Mietobergrenze für jeden 522,40 Euro. Die Kosten können insgesamt also steigen.
Die Regelung würde dazu führen, dass Bezieher von Grundsicherungsleistungen zum Zwecke der Senkung der Unterkunftskosten umziehen müssen – nach dem Umzug wären aber in vielen Fällen höhere Aufwendungen für die Unterkunft vom Grundsicherungsträger zu übernehmen als zuvor. Die vorgesehene doppelte
Ausnahmeregelung ist in der Praxis kaum zu handhaben und in hohem Maße streitanfällig. Die Regelung würde schließlich die Situation für ambulant betreute Wohngemeinschaften deutlich erschweren. Bereits heute haben ambulant betreute Wohngemeinschaften gelegentlich – zum Beispiel für Menschen mit psychischen Krankheiten – große Schwierigkeiten, geeigneten Wohnraum am Wohnungsmarkt zu finden. Wenn für diese Wohngemeinschaften nun die Angemessenheitsgrenze für die Gesamtzahl der Haushaltsangehörigen gelten soll, wird es in vielen Fällen nahezu unmöglich werden, noch Wohnungen zu finden.
Im Ergebnis ist die Vorschrift weder sozialpolitisch sinnvoll, noch gerecht, noch besteht ein Erfordernis für eine Neuregelung. Die BAGFW fordert daher, § 42a (b?) Abs. 4 SGB XII neu ersatzlos zu streichen.
Schließlich soll in Abs. 5 für Leistungsbezieher, die in sonstigen Unterkünften (in der Begründung werden Notunterkünfte für Wohnungslose, Campingplätze, Ferienwohnungen und Zimmer in Pensionen genannt) eine Angemessenheitsgrenze für die Warmmiete eingeführt werden. Wie bei der geplanten Regelung für Wohngemeinschaften, würde auch diese Regelung dazu führen, dass Personen zum Zwecke der Unterkunftskostensenkung umziehen müssen. Finden sie keine günstigere Wohnung, müssen die Kosten der neuen – eventuell teureren Wohnung übernommen werden. Unter fiskalischen Gesichtspunkten wäre die Regelung deshalb nur dann sinnvoll, wenn man davon ausginge, dass die Betroffenen auf dem ersten Wohnungsmarkt ohnehin keine Wohnung finden, so dass sich in der Folge eine Art zweiter Unterkunftsmarkt etabliert, für den dann eine niedrigere Obergrenze durchsetzbar ist. Personen, die ohnehin von einem besonders hohen Exklusionsrisiko betroffen sind, würden so in Bezug auf die zu übernehmenden Unterkunftskosten noch mehr unter Druck gesetzt werden. Nach Auffassung der BAGFW sollte diese Regelung ersatzlos gestrichen werden.
Die BAGFW regt darüber hinaus eine klarstellende Regelung zu unterkunftsbezogenen Mehrbedarfen für Menschen mit Behinderung an. Zwar muss die Angemessenheit der Unterkunftskosten theoretisch bereits heute in jedem Einzelfall geprüft werden, sodass auch behinderungsbedingte Anforderungen an den Wohnraum berücksichtigungsfähig sind. Die im Zuge des BTHG geplanten Neuregelungen (§ 42b Abs. 5 SGB XII-E) führen jedoch zu einer unsicheren Situation. Gemäß § 42b Abs. 5 SGB XII können Kosten anerkannt werden, wenn die tatsächlichen Aufwendungen die Angemessenheitsgrenze für die Kosten der Unterkunft - um bis zu 25 Prozent - überschreiten. Allerdings besteht keine Verpflichtung, diese zu übernehmen. Übersteigen die tatsächlichen Aufwendungen die Angemessenheitsgrenze um mehr als 25 Prozent, sollen diese Leistungen dem SGB IX Teil 2, also der Eingliederungshilfe, zugeordnet werden, so lange eine Senkung der Aufwendungen, insbesondere durch einen Wechsel der Räumlichkeiten, nicht möglich ist. Diese Regelung wird sich präjudizierend auf das Handeln der Grundsicherungsträger bei einem Mehrbedarf an Wohnraum auswirken. Zum einen steht die Übernahme von Mehrleistungen in den neuen Wohnformen nach BTHG im Ermessen und zum anderen müssen diese (bei über 25 Prozent) nur übernommen werden, wenn eine Senkung nicht möglich ist. Die Wohlfahrtsverbände fordern deshalb, klare Regelungen zu treffen, die eine Verpflichtung für die Übernahme von Mehrbedarf an Wohnfläche und Ausstattung umfassen. Diese Regelungen dürfen nicht den Ausführungsbestimmungen der Länder oder den Entscheidungen des jeweiligen Grundsicherungsträgers überlassen werden. Bei der Bewertung kommt erschwerend hinzu, dass mit der durch das BTHG geplanten Trennung der Fachmaßnahme von den existenzsichernden Leistungen der Barbetrag und die Bekleidungspauschale ersatzlos entfallen und keinerlei Erkenntnisse dazu vorliegen, was den Menschen, die heute in Einrichtungen leben, künftig als Betrag zur freien Verwendung zur Verfügung stehen wird. Die Wohlfahrtsverbände fordern deshalb, dass den Menschen mit Behinderung in den neuen Wohnformen nach BTHG nach Abzug der Kosten für die Unterkunft und den Lebensunterhalt mindestens ein Betrag in gleicher Höhe wie bisher zur freien Verwendung zur Verfügung steht.
Berlin, 04.11.2016
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Der Referentenentwurf eines Gesetzes zur Einführung eines familiengerichtlichen Genehmigungsvorbehalts für freiheitsentziehende Maßnahmen reagiert auf einen Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 7. August 2013 (BGHZ FamRZ 2013, S. 1646 ff.), in dem dieser festgestellt hat, dass Eltern für die Entscheidung über die Fixierung ihres minderjährigen autistischen Kindes in einer offenen Heimeinrichtung nach geltendem Recht keiner familiengerichtlichen Genehmigung gemäß § 1631b BGB bedürfen. Dennoch gab das Gericht dem Gesetzgeber einen Prüfauftrag, ob die Anordnung eines Richtervorbehalts in diesen Fällen das geeignete, erforderliche und verhältnismäßige Mittel ist, um Kinder vor ungerechtfertigten unterbringungsähnlichen Maßnahmen zu schützen. Das Ergebnis dieser Prüfung liegt mit dem Referentenentwurf nun vor.
Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) unterstützt das gesetzgeberische Vorhaben. Zukünftig soll nicht nur bei freiheitsentziehenden Maßnahmen durch Unterbringung, sondern auch bei sonstigen freiheitsentziehenden Maßnahmen in offenen Einrichtungen[1] das Familiengericht über die Zulässigkeit entscheiden.
Artikel 1: Änderung § 1631b BGB
Der Referentenentwurf sieht eine Ausweitung des richterlichen Genehmigungsvorbehalts vor, der bisher nur für Unterbringungen von Minderjährigen, die mit Freiheitsentziehungen verbunden sind, galt. Zukünftig muss das Familiengericht auch dann vorab zustimmen, wenn einem Kind, das sich in einer Anstalt, einem Heim oder einer sonstigen Einrichtung aufhält, durch mechanische Vorrichtungen, Medikamente oder auf andere Weise über einen längeren Zeitraum oder regelmäßig in nicht alterstypischer Weise die Freiheit entzogen werden soll.
Für die Zulässigkeit der Maßnahmen gilt die Regelung des Absatzes 1: Voraussetzung der Zustimmung des Gerichts ist, dass die Maßnahme zum Wohl des Kindes, insbesondere zur Abwendung einer erheblichen Selbst- oder Fremdgefährdung, erforderlich ist und der Gefahr nicht auf andere Weise, auch nicht durch andere öffentliche Hilfen, begegnet werden kann.
Kann die Genehmigung nicht rechtzeitig eingeholt werden, ist die sofortige Durchführung der Maßnahme nur zulässig, wenn mit dem Abwarten auf die Entscheidung eine akute Gefahr verbunden ist. In jedem Fall muss die Genehmigung unverzüglich nachgeholt werden.
Bewertung
Die BAGFW befürwortet diese Neuregelung.
Freiheitsentziehende Maßnahmen sind immer ein erheblicher Eingriff in Grundrechte der betroffenen Minderjährigen, wie etwa das allgemeine Persönlichkeitsrecht und das Grundrecht auf Freiheit der Person. Solche Eingriffe dürfen nur unter engen Voraussetzungen zugelassen werden. Nur, wenn die Maßnahme zum Wohl des Kindes, zur Abwehr einer erheblichen Selbst- oder Fremdgefährdung, erforderlich ist und der Gefahr nicht auf andere Weise, auch nicht durch andere öffentliche Hilfen, begegnet werden kann, ist sie zu rechtfertigen. Diese Abwägung zwischen Schutz- und Hilfeinteressen einerseits und dem Eingriff in das Grundrecht andererseits vorzunehmen und eine Entscheidung darüber zu treffen, kann Eltern überfordern.
Dass den Eltern die Entscheidung nicht mehr allein überlassen bleibt, heißt aus unserer Sicht aber nicht, dass sie im Verfahren außen vor sind. Die Eltern (oder ggfls. der Vormund/Pfleger, für den der § 1631b BGB über §§ 1800, 1915 BGB entsprechend gilt) entscheiden, ob das Verfahren eingeleitet wird. Erst dann, wenn sich also der gesetzliche Vertreter für die Anwendung der Maßnahme ausspricht, überprüft das Familiengericht, ob diese Entscheidung rechtlich zulässig ist.
Da das Gesetz bei freiheitsentziehenden Maßnahmen für Erwachsene bereits eine richterliche Genehmigung vorsieht (§ 1906 Abs. 4 BGB), ist es aus unserer Sicht auch deshalb nur folgerichtig, dass nun ein Gleichlauf des Kindesschutzes mit dem Erwachsenschutz erreicht wird.
Artikel 2: Änderung des Verfahrensrechts
Um den verfahrensrechtlichen Gleichlauf zwischen freiheitsentziehender Unterbringung und freiheitsentziehenden Maßnahmen zu erreichen, muss § 151 FamFG, der die Kindschaftssachen listet, für die das Familiengericht zuständig ist, ergänzt werden.
Ebenso wird § 167 Absatz 1 FamFG geändert. Darin ist geregelt, dass an die Stelle des Verfahrenspflegers ein Verfahrensbeistand tritt. Dies gilt nun nicht nur für das Verfahren über die freiheitsentziehende Unterbringung, sondern auch für Verfahren über sonst freiheitsentziehende Maßnahmen.
In allen Verfahren freiheitsentziehender Maßnahmen genügt anstatt eines Sachverständigengutachtens ein ärztliches Zeugnis.
Die Dauer von freiheitsentziehenden Unterbringungen und sonstigen Maßnahmen soll künftig auf 6 Monate beschränkt sein.
Bewertung
Dass dem Kind ein Verfahrensbeistand im Verfahren zur Seite gestellt wird, ist zu begrüßen. Es kann Fälle geben, in denen das Gericht Zweifel hat, ob das Wohl des Kindes gewahrt ist, aber die Eltern eine freiheitsentziehende Maßnahme befürworten und die Einrichtung sie dabei unterstützt. Dadurch wären im Verfahren vor dem Familiengericht die Interessenlagen nur ungleichgewichtig vertreten. Da in Grundrechte des Kindes eingegriffen werden soll, ist insofern die obligatorische Bestellung eines Verfahrensbeistands sinnvoll.
Dass zukünftig ein ärztliches Zeugnis statt eines Sachverständigengutachtens ausreichen soll, sehen wir kritisch. Es muss gewährleistet sein, dass nicht nur eine medizinische Bewertung erfolgt, sondern alle Beteiligten (Kind, Eltern, Einrichtung) im Verfahren persönlich befragt werden. Ein ärztliches Zeugnis allein unterliegt diesen Kriterien nicht.
Wir begrüßen, dass die Höchstdauer der Genehmigung einer freiheitsentziehenden Unterbringung oder Maßnahme einheitlich auf sechs Monate bestimmt ist. Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass eine Maßnahme jederzeit (6 Monate sind nur „Höchstdauer“) wieder aufgehoben werden kann, wenn eine Gefahr für das Wohl des Kindes nicht mehr besteht und die sonstigen Voraussetzungen des Absatzes 1 nicht mehr vorliegen. Das regelt § 1696 Absatz 2 BGB.
[1] Hinweis: Zulässig sind freiheitsentziehende Maßnahmen grundsätzlich nur in solchen Einrichtungen, die einem besonderen Genehmigungs- und Anerkennungsverfahren dafür zugelassen wurden.
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Soweit das Vergaberecht im Bereich sozialer Dienstleistungen außerhalb des sozialrechtlichen Dreiecksverhältnisses und der Zuwendungsfinanzierung zum Tragen kommt, bewegen sich die Aufträge von ihrem Wert her überwiegend im Unterschwellenbereich. Entsprechend messen wir gerade dieser nunmehr vorgeschlagenen Regelung erhebliche Bedeutung bei.
1. Anlehnung am GWB und der VgV:
Dass die Unterschwellenvergabeordnung sich weitgehend in Systematik, Begrifflichkeit und Struktur am Oberschwellenbereich orientiert, halten wir im Sinne einer in sich stimmigen Vergaberechtsordnung für sinnvoll. In Bezug auf den in § 1 Abs. 3 UVgO-E zitierten § 118 GWB verweisen wir auf unser Schreiben an Herrn Staatssekretär Sontowski vom 22. September 2016, das wir unserer Stellungnahme als Anlage beifügen.
Um das Vergabeverfahren unterhalb der Schwellenwerte zu vereinfachen, sind sowohl die in § 130 Abs. 2 GWB als auch die in § 65 Abs. 2 VgV vorgesehenen Regelungen zur freihändigen Ausweitung des Auftrags und zur zulässigen Höchstlaufzeit von Rahmenvereinbarungen nunmehr verallgemeinert worden. Hinsichtlich der Höchstlaufzeit von Rahmenvereinbarungen möchten wir auf folgenden Gesichtspunkt hinweisen:
Eine mögliche Vertragsdauer ist unzweifelhaft für den beauftragten Unternehmer vorteilhaft und bietet nicht allein diesem deutlich größere Bestandssicherheit für die künftige Arbeit. Namentlich im Bereich sozialer Dienstleistungen kommt allerdings einzelnen Anbietern wie der Bundesagentur für Arbeit nicht nur eine erhebliche Nachfrage- und Marktmacht sondern nahezu ein Nachfragemonopol zu. Insoweit bitten wir das für den Wettbewerb, zuständige Bundeswirtschaftsministerium nachdrücklich darum, im Rahmen der Evaluation der Vergaberechtsreform die Folgen dieser langfristig abgeschlossenen Verträge für den Wettbewerb genau im Auge zu behalten. Es kann nicht das Ziel des Vergaberechts sein, dass in diesen Wirtschaftszweigen exklusive Verträge mit langen Laufzeiten gut vernetzte Infrastrukturen wegbrechen lassen und gerade erfahrene aber wegen ihrer Tarifbindung im Durchschnitt teurere Anbieter vom Markt verdrängen.
2. Einführung der Verhandlungsvergabe, § 8 Abs 4 und § 12 UVgO-E
Nicht nachvollziehbar ist für die BAGFW hingegen die Regelung der Verfahrensarten in § 8 und 12 UVgO: Anstatt aus dem Oberschwellenvergaberecht den wettbewerblichen Dialog i. S. v. § 119 Abs. 6 GWB und § 18 VgV und die Innovationspartnerschaft i.S. v. § 119 Abs. 7 GWB und § 19 VgV zu übernehmen sowie die freihändige Vergabe gem. § 3 Abs. 5 VOL/A fortzuschreiben, hat die UVgO-E nunmehr in § 12, die sog. Verhandlungsvergabe in Anlehnung an das Verhandlungsverfahren nach § 17 VgV gestaltet. Dieser Verhandlungsvergabe ordnet der Entwurf in § 8 Abs. 4 UVgO-E Fallgruppen zu, die im Oberschwellenbereich gem. § 14 Abs. 3 VgV als wettbewerblicher Dialog (Fallgruppen Nr. 1 bis 3 und 7, vgl. § 14 Abs. 3 VgV), bzw. bislang im Unterschwellenbereich als freihändige Vergabe gem. § 3 Abs. 5 b, c, e, f, g, j, k und l VOL/A (vgl. Fallgruppen Nr. 6, 8 bis 10, 12, 14 und 15) oder nach Maßgabe der VOF (Fallgruppe Nr. 4) durchzuführen wären. Die BAGFW bedauert insofern, dass der Diskussionsentwurf der UVgO auf eine Begründung verzichtet. Denn insbesondere diese Neugestaltung der Verfahrensmöglichkeiten im Unterschwellenbereich erscheint in keiner Weise nachvollziehbar oder sachgerecht.
a) Diese neue Vergabeart bietet weder für den wettbewerblichen Dialog, für die Innovationspartnerschaft noch für die freihändige Vergabe einen adäquaten Ersatz. § 12 Abs. 4 UVgO-E macht deutlich, dass sich mögliche Verhandlungen zwar auf alle Angebotsaspekte beziehen können, nimmt aber die in den Leistungsbeschreibungen dargelegten Mindestanforderungen und Zuschlagskriterien von diesen Verhandlungen aus. Gerade die Verhandlung über Anforderungen und Zuschlagskriterien ist aber ein wesentliches Element des wettbewerblichen Dialogs, das insbesondere im Bereich der Ausschreibung von sozialen Dienstleistungen wichtig ist.
Die UVgO-E nimmt damit den Auftraggebern eine wichtige Möglichkeit, durch die frühzeitige Einbeziehung des Bieter-Knowhows in ein transparentes, vergabekompatibles Verfahren sachdienliche und ausschreibungsreife Leistungsbeschreibungen zu erstellen, die das Innovationspotential der Leistungserbringer aufgreifen und eine angemessene Berücksichtigung des fachlichen Fortschritts ermöglichen. Diese Möglichkeit muss gerade bei sozialen Dienstleistungen als wenngleich noch zu erprobender aber aussichtsreicher Weg zur effizienten Gestaltung von sachdienlichen Beschaffungsvorgängen gewährleistet sein. Ein Verhandlungsverfahren, in dem die Eckdaten der Leistungsbeschreibung nicht mehr verhandelbar sind, bietet zwar den Auftraggebern mehr Möglichkeiten zur einseitigen Steuerung der Beschaffung. Hingegen verwehrt sie einer Kommune, die z. B. niedrigschwellige Konzepte der präventiven Hilfegewährung im Sozialraum gestalten möchte, die Möglichkeit, im transparenten Dialog mit fachlich erfahrenen Leistungserbringern ein zielführendes Konzept zu erstellen und dabei das gerade bei den Bietern vorhandene Innovationspotential einzubeziehen. Stattdessen ist sie beim Entwurf der erforderlichen Leistungsbeschreibung auf sich selber gestellt. Fehleinschätzungen hierbei kann sie nur im Wege nachträglicher Korrekturen an der Leistungsbeschreibung korrigieren, was sowohl in zeitlicher wie auch finanzieller Hinsicht aufwändig ist.
Mit der von uns geforderten Erweiterung des Verfahrenskatalogs verbinden sich keine besonderen Kosten. Zum einen bleibt es letztlich dem Ermessen der Auftraggeber überlassen, ob sie nach diesem Verfahren ausschreiben. Zum anderen erscheint das Dialogverfahren nach § 18 VgV nicht aufwändiger als ein Verhandlungsverfahren. Da das Dialogverfahren für die Ausschreibung von sozialen Dienstleistungen überwiegend das sachgerechtere Verfahren ist, erweist es sich gerade unter Wirtschaftlichkeitsaspekten als sinnvoll, diese Vergabeart zur Verfügung zu stellen.
Gerade weil nahezu 90 % aller ausgeschriebenen Dienstleistungen unterhalb des Schwellenwertes ausgeschrieben werden, fordert die BAGFW nachdrücklich, die Vergabearten des wettbewerblichen Dialogs und der Innovationspartnerschaft auch unterhalb des Schwellenwertes aufzugreifen und jedenfalls für die Dienstleistungen nach § 49 UVgO-E zur Verfügung zu stellen.
b) Zwar begrüßt es die BAGFW, dass die „günstige Gelegenheit“ (§ 8 Abs. 4 Nr. 13 UVgO-E) wieder als zulässiger Anlass eines weniger formstrengen Vergabeverfahrens (wahrscheinlich als Verhandlungsvergabe ohne Teilnahmewettbewerb) aufgenommen worden ist. Auch hier bietet die Verhandlungsvergabe mit ihrer Bindung an die Vorgaben der Leistungsbeschreibung aber deutlich weniger Gestaltungsspielraum als die künftig entfallende freihändige Vergabe.
Das gleiche gilt bei der Ausschreibung von ausschließlichen Vergaben an Werkstätten für Menschen mit Behinderungen und an Unternehmen, deren Hauptzweck die soziale und berufliche Integration ist (§ 8 Abs. 4 Nr. 15 a und b UVgO-E) und bei der besonderen Dringlichkeitsbeschaffung nach § 8 Abs. 4 Nr. 6 UVgO-E. Diese Fallgruppen sind für Einrichtungen und Dienste der Freien Wohlfahrtspflege besonders relevant. Aber erst die Möglichkeit, fachliche Erfahrungen und Knowhow in die Beschreibung der Leistung einzubringen, sichert in diesen besonderen Fällen eine sachgemäße und damit wirtschaftliche Beschaffung.
In Bezug auf die Fallgruppe Abs. 4 Nr. 15 UVgO-E weisen wir zudem auf die Richtlinien für die Berücksichtigung von Werkstätten für Behinderte und Blindenwerkstätten bei der Vergabe öffentlicher Aufträge vom 10. Mai 2001 (s. Anlage) hin. Die Bestimmungen der UVgO-E dürfen diese nicht unterlaufen. Vielmehr hält die BAGFW es im Hinblick auf die Formulierungen in § 118 GWB und § 8 Abs. 4 Nr. 15 UVgO-E für angezeigt, die Geltung dieser Richtlinie auf andere Sozialunternehmen zu erstrecken, deren Hauptzweck die soziale und berufliche Integration von Menschen mit Behinderung oder benachteiligten Zielgruppen ist.
Schließlich steht es nach dem Wortlaut des § 8 Abs. 4 UVgO-E im Ermessen des Auftraggebers, diese Verhandlungsvergabe mit oder ohne Teilnahmewettbewerb durchzuführen. Auch wenn unterhalb des Schwellenwertes Bieterinteressen nicht unmittelbar geschützt sind, stellt sich die Frage, wie die transparente Entscheidung für und die angemessene Einbeziehung von Bietern in einer solchen Ausschreibung ohne vorherigen Teilnahmewettbewerb abgesichert werden soll.
3. Ungewöhnlich niedrige Angebote, § 44 UVgO-E
Die Regelung in § 44 UVgO-E zu den ungewöhnlich niedrigen Angeboten bewertet die BAGFW als positiv. Im Umkehrschluss fehlt jedoch eine Regelung, die die Verankerung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in § 2 Abs. 1 UVgO-E konkretisiert und es der öffentlichen Hand untersagt, den Auftragnehmern ein ungewöhnliches Wagnis und unangemessene Lasten aufzuerlegen.
4. Sonderregelung für soziale und andere besondere Dienstleistungen, § 49 UVgO-E
Gegenüber den Regelungen für Vergabeverfahren im Oberschwellenbereich umfasst
§ 49 UVgO-E nur noch die weitgehende Freigabe der in § 8 UVgO-E vorgesehenen Vergabearten in Abs. 1 (entspr. § 130 Abs. 1 GWB und § 65 Abs. 1 VgV) und die Bestimmung über die zulässigen Zuschlagskriterien in Abs. 2 (entspr. § 65 Abs. 5 VgV). Die Bestimmungen aus § 130 Abs. 2 und § 65 Abs. 2 gelten nunmehr allgemein für Verfahren im Unterschwellenbereich (§ 15 und § 47 Abs. 2 UVgO-E) und die Abs. 2 und 3 entfallen.
Von den Bedenken gegen die Ersetzung des Wettbewerblichen Dialogs, der Innovationspartnerschaft und der freihändigen Vergabe durch die sog. Verhandlungsvergabe abgesehen, stellt sich in diesem Kontext die Frage, weshalb § 49 Abs. 1 UVgO-E den Auftraggebern allenfalls die Verhandlungsvergabe mit Teilnahmewettbewerb zur freien Auswahl zur Verfügung stellt. Nach dem Wortlaut des § 8 Abs. 4 steht es im Ermessen des Auftraggebers, ob er diese Verhandlungsart mit oder ohne Teilnahmewettbewerb durchführt.
Vor diesem Hintergrund bitten wir dringend um eine Klärung des Verhältnisses zwischen den beiden Bestimmungen. Gerade der Fall der Dringlichkeitsvergabe zeigt deutlich, dass in schwerwiegenden sozialen Notlagen die Verhandlungsvergabe mit Teilnahmewettbewerb viel zu umständlich ist, um der hoheitlichen Verpflichtung zur Gewährleistung zeitnaher und sachdienlicher Versorgung von notleidenden Menschen nachzukommen.
Die BAGFW schlägt deshalb vor, auf die obligatorische Vorgabe eines vorgeschalteten Teilnahmewettbewerbs gerade in diesem Bereich zu verzichten.
5. Rechtsschutz unterhalb des Schwellenwertes
Die dringenden Rechtschutzinteressen sozialer Dienstleister finden nach derzeitiger Rechtslage erst oberhalb des Schwellenwertes Berücksichtigung. Wie ein Rechtsvergleich zeigt, ist die Bundesrepublik das einzige Land in Europa, das im Unterschwellenbereich noch keinen Primärrechtsschutz kennt. Der zurzeit allein mögliche sekundäre Rechtsschutz in Form von Schadenersatz ist für die Bieter mit weitreichenden Darlegungslasten verbunden und vermag zudem nicht in gleicher Weise wie Primärrechtsschutz den eigentlichen Interessen der Bieter in Vergabeverfahren (Chance auf einen rechtmäßigen Zuschlag) Rechnung zu tragen.
Dieses allgemeine Bieteranliegen verschärft sich in besonderer Weise für die Anbieter von sozialen und anderen besonderen Dienstleistungen: Die Vergaberechtsreform hat den Schwellenwert für diese Dienstleistungen mit 750.000 € besonders hoch angesetzt. Faktisch ist damit Primärrechtsschutz und damit das rechtzeitige Hinwirken auf korrekte Vergabeverfahren und rechtmäßige Zuschlagsentscheidungen für in diesem Bereich tätige Bieter nahezu unerreichbar.
Die BAGFW fordert deshalb, insoweit den Anschluss an die übrigen Mitgliedsstaaten der EU zu schaffen und auch unterhalb des Schwellenwertes den Primärrechtsschutz zugänglich zu machen.
Zumindest erscheint es geboten, den Bietern durch eine Informations- und Wartepflicht vor der Zuschlagsentscheidung entsprechend zu § 134 GWB ein Minimum an Schutz und die Chance zur Verhinderung von fehlerhaften Zuschlagsentscheidungen zu verschaffen.
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Insgesamt lässt sich der durch den neuen Pflegebegriff intendierten Paradigmawechsel auf folgende drei Punkte zusammenfassen:
1. Im Fokus der Pflege steht die Förderung der Selbstständigkeit der pflegebedürftigen Menschen.
2. Dabei zählen maßgeblich der Wille und die Selbstbestimmung der Betroffenen.
3. Dies macht eine Stärkung der Fachlichkeit vor Ort notwendig.
Daraus folgt, dass die pflegerischen Konzepte, die Rahmenverträge, die Leistungen, die Vergütungsstrukturen und -vereinbarungen und alles andere inhaltlich diesem Paradigmawechsel folgen und daran angepasst werden müssen.
Dies wird begleitet von weiteren Entwicklungen in der Pflege, die diesen Paradigmawechsel ebenfalls unterstützen:
§ die Umsetzung des neuen Strukturmodells der Pflegedokumentation,
§ die Umstellung der Qualitätsberichterstattung und -darstellung auf indikatorengestützte Verfahren mit den Fokus auf Ergebnisqualität und
§ die Entwicklung eines Instruments zur Personalbemessung nach §113c SGB XI.
Da ein Paradigmawechsel nicht von heute auf morgen vollzogen werden kann, sondern vielmehr Zeit bei der Umsetzung benötigt, bedarf es einer mehrstufigen Strategie. Für die Verhandlung von Rahmenverträgen auf Landesebene bedeutet dies 2016 und 2017 die Weichen für eine Umstellung zu legen und keine Wege für die mittel- bis längerfristige Umsetzung zu verbauen. Daher gibt der Fachausschuss Altenhilfe der BAGFW die folgenden Empfehlungen für die Rahmenvertragsverhandlungen und weitere Vereinbarungen auf Landesebene ab:
Empfehlungen für die Vertragsgestaltung
§ Erläutern Sie in der Präambel oder den Grundsätzen des Vertrags oder der Vereinbarungen dessen Prinzipien, Intentionen und Aufgaben.
§ Verankern Sie in der Präambel oder den Grundsätzen die zentralen Elemente des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs: Die Förderung der Selbstständigkeit, die Selbstbestimmung der pflegebedürftigen Menschen und die Stärkung der Fachlichkeit der Pflegenden.
§ Überprüfen Sie alle zentralen Begriffe auf die Notwendigkeit einer redaktionellen Anpassung an die Begrifflichkeiten des Neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs.
§ Ersetzen Sie den Verrichtungsbezug durch einen problemlösungsorientierten Ansatz, den Verrichtungsbegriff durch den neuen Terminus „Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit“ und Maßnahmen durch Aufgaben.
§ Vereinbaren Sie keine Ziele im Sinne von Versorgungs- oder Pflegeergebnissen in den Verträgen und nichts zur Wirksamkeit der Pflegeleistungen. Dies ist ein Relikt aus alten Tagen und ist heute aber über die Vereinbarungen nach den §§ 113ff. SGB XI bundeseinheitlich geregelt.
§ Treffen Sie keine Vereinbarungen mehr zu Inhalten der Pflegeberatung nach § 37 SGB XI, die künftig (ab 2018) einheitlich über Bundesempfehlungen geregelt werden.
§ Vereinbaren Sie Leistungserweiterungen, die dem neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff folgen. Dies sind neben pflegerischen Betreuungsmaßnahmen und Hilfe zur Haushaltsführung insbesondere:
- Beratung und Edukation,
- Erst- und Folgegespräche,
- Prävention,
- prozesssteuernde Interventionen,
- alltagsbezogene Unterstützung sowie
- Interventionen bei kognitiven und psychischen Problemlagen.
§ Überlegen Sie auch, wie und wo Sie das Thema „pflegefachliche Anleitung“ am besten in den Leistungen verorten können.
§ Überprüfen Sie die Aufgaben der Pflege. Eine Stärkung der Fachlichkeit beinhaltet perspektivisch auch eine Änderung bzw. Erweiterung des pflegerischen Aufgabenspektrums.
Der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff impliziert mit seinen Prämissen eine Verlagerung der Entscheidung zu konkreten Leistungsinhalten auf den Aushandlungsprozess vor Ort, zwischen Pflegeeinrichtungen und –diensten bzw. deren Pflegefachkräften und Pflegebedürftigen, statt pauschalen und zentralen Vorgaben durch die Pflegekassen. Von daher:
§ sollten keine detaillierten Leistungsbeschreibungen in den Rahmenverträgen erfolgen.
§ passen Leistungsmodule oder -einheiten im Sinne von Zeit- oder Sachleistungsbudgets besser zur Idee des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs.
§ sollten Sie im Sinne der Weichenstellung erste Zeitvergütungen (probeweise) vereinbaren, vorzugshalber für neu zu vereinbarende Leistungen (s. o.) und
§ versuchen im Vorgriff auf eine Neugestaltung von Leistungen, bestehende Leistungen entlang der Leistungsarten und Module des NBA zu gruppieren.
Da eine vollständige Umsetzung der Prämissen des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs Zeit benötigt, halten Sie dies in den Rahmenverträgen entsprechend fest und vereinbaren Sie einen Stufenplan zur Umsetzung sowie Revisionsklauseln. Als nächste Stufe bietet sich spätestens das Jahr 2020 an, wenn die Ergebnisse bzgl. der Entwicklung von Personalbemessungsinstrumenten nach §113c SGB XI vorliegen.
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Einleitung
Die in dem Verordnungsentwurf der Bundesregierung beabsichtigten Anpassungen der Pflege-Buchführungsverordnung an das Pflegestärkungsgesetz II waren bereits Inhalt des Referentenentwurfes des Bundesministeriums für Gesundheit für das Pflegestärkungsgesetz III. Im Zuge der Überarbeitung des Referentenentwurfes wurden diese Anpassungen jedoch in den oben genannten Verordnungsentwurf übertragen.
In der Begründung zu dieser Rechtsverordnung wurde als Zielsetzung dargelegt, das mit der Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffes durch das PSG II zum 01. Januar 2017, ebenfalls konsequente Anpassungen in der Pflege-Buchführungs-verordnung, die zeitgleich mit dem Gesetz in Kraft treten müssen, erforderlich sind.
Die BAGFW begrüßt die Anpassungen der PBV im Kontext der PSG II–Umsetzung sowie die hiermit verbundenen, überwiegend redaktionellen Adaptionen. Aufgrund der Erfordernisse der Pflegestärkungsgesetze in Hinblick auf die Pflege-Buchführungsverordnung (PBV), bittet die BAGFW jedoch um eine zügige Anpassung der PBV, da die Träger von Pflegeeinrichtungen alle Buchhaltungs-, Kostenrechnungs- und Abrechnungssysteme umstellen müssen und damit sie, ab dem 01.01.2017 zeitnah, anhand der gültigen Rechtsgrundlagen, arbeiten können.
In der Begründung zu Artikel 1 (Änderung der Pflege-Buchführungsverordnung – PBV) im Verordnungsentwurf, weist der Verordnungsgeber noch einmal auf den unveränderten Regelungsauftrag für die Pflegeselbstverwaltung nach § 75 Absatz 7 SGB XI hin. Grundsätzlich sieht die BAGFW den in § 75 Absatz 7 SGB XI geregelten Auftrag für die Pflegeselbstverwaltung, gemeinsam und einheitlich Grundsätze ordnungsgemäßer Pflegebuchführung für die ambulanten und stationären Pflegeeinrichtungen zu vereinbaren, um dadurch die PBV abzulösen, kritisch, da sich Grundsätze ordnungsgemäßer Pflegebuchführung nicht auf dem Vereinbarungswege erzielen lassen.
Es gilt zu hinterfragen, ob die Vereinbarung gemeinsamer und einheitlicher Grund-sätze ordnungsgemäßer Pflegebuchführung und damit Vorschriften zur Rechnungslegung auf der Basis handelsrechtlicher Bestimmungen überhaupt notwendig ist, gibt es doch bereits an anderer Stelle gesetzliche Vorgaben zu Buchführung, Bilanzierung etc. Die Pflegebuchführungsverordnung kann in keinem Fall per Selbstverwaltungsbeschluss hinter diese gesetzlichen Regelungen und Vorschriften zurück fallen. Andererseits ist auch nicht nachvollziehbar, warum ggf. zusätzliche Auflagen für Pflegebetriebe gelten sollen, die für andere Wirtschaftsbetriebe nicht gelten. Im Sinne der Entbürokratisierung in der Pflege können solche Zusatzauflagen nicht verpflichtend werden, da es in Deutschland gute Standards (HGB) gibt. Diese müssen auch für die Pflegeeinrichtungen ausreichend sein.
Die im Artikel 1 des Verordnungsentwurfes - Änderung der Pflege-Buchführungs-verordnung -, erfolgten redaktionellen Anpassungen sind notwendige Folge des mit dem Pflegestärkungsgesetz II einhergehenden neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffes, den Änderungen des SGB XII sowie der Verordnungsermächtigung gemäß § 83 Absatz 1 Satz 1 Nummer 3 des SGB XI.
Hinsichtlich dieser überwiegend redaktionellen und zu begrüßenden Anpassungen der PBV an die Änderungen im SGB XI im Zuge der PSG II-Umsetzung weist die BAGFW weiterhin auf eindeutig zu benennende, einzelne Kontengruppen sowie auf Umsetzungs- und Datenkonsistenzprobleme in der Praxis hin, die aus den Kontenverschiebungen und -umbenennungen sowie aus Abweichungen vom HGB resultieren. Deshalb empfiehlt die BAGFW dem Gesetzgeber, die erforderliche Änderung der PBV insgesamt zu nutzen, um die Gliederungsvorschriften für Bilanz und GuV an den Standard des HGB anzupassen.
Zu Artikel 1 Änderung der Pflege-Buchführungsverordnung
§ 11 Inkrafttreten und Übergangsvorschriften
Der Verordnungsgeber fügt dem § 11 PBV die Absätze 4 und 5 zu, in welchen die erstmalige Anwendung der Änderungen vorgegeben werden, vgl. auch Begründungstext zu Artikel 1 Nummer 2 (§ 11 Absatz 4 und 5 PBV).
Bewertung
Die BAGFW begrüßt diese Klarstellung und Vorgabe. Gleichfalls möchte sie redaktionell darauf hinweisen, dass im Verordnungsentwurf der Klammerzusatz für § 11 Absatz 4 korrekt mit (4), jedoch der Klammerzusatz zu Absatz 5 mit (6) nicht korrekt beschrieben ist und demzufolge angepasst werden müsste.
Zusätzlich erfolgen weitere Ergänzungen insbesondere in der Anlage 2 zur Gliederung der Gewinn- und Verlustrechnung sowie in der Anlage 4 beim Kontenrahmen für die Buchführung.
Hierzu im Einzelnen:
Anlage 2 zur PBV (Gliederung der Gewinn- und Verlustrechnung)
Neufassung Ziffer 1
„1. Erträge aus ambulanter, teilstationärer und vollstationärer Pflege sowie aus Kurzzeitpflege (KGr. 40 bis 43).“
Bewertung
Die BAGFW begrüßt diese Neuregelung und Differenzierung der Erträge in der Gewinn- und Verlustrechnung (GuV). Auch durch den Wegfall des in der alten Formulierung vorhandenen Zusatzes „gemäß PflegeVG“ wird deutlich, dass nun die Umsatzerlöse aus Pflegeleistungen darzulegen sind, unabhängig davon, welche Leistungsgesetze den Erlösen zugrunde liegen.
Neufassung Ziffer 2
„2. Erträge aus Unterkunft und Verpflegung (KUGr. 416, 426, 436).“
Bewertung
Die hiermit verbundene Belegung der bisher in Anlage 4 zugeordneten Kontengruppen mit neuen Inhalten, wirft grundlegende Probleme auf und es stellt sich die Frage, ob eine Umbenennung bestehender Konten überhaupt den Grundsätzen ordnungsgemäßer Buchführung, insbesondere dem Grundsatz der Klarheit, entspricht.
Die betreffenden Kontenuntergruppen (KUGr.) 416, 426 und 436 in Anlage 4 für Erträge aus Unterkunft und Verpflegung aus teilstationärer Pflege (Kontengruppe (KGr. 41), vollstationärer Pflege (KGr. 42) und Kurzzeitpflege (KGr. 43), waren bislang durch Erträge aus Transportleistungen (KUGr. 416), Erträge aus Zusatzleistungen: Unterkunft und Verpflegung (KUGr. 426) sowie Erträge aufgrund von Regelungen über Pflegehilfsmittel (KUGr. 436) belegt.
Hier weisen die Fachexperten vor Ort auf eine ernstzunehmende, potentielle Problematik hin, welche mit dieser Neubelegung bislang verwendeter KUGr. verbunden sein könnte. Da für viele EDV-Programme für die Finanzbuchhaltung, der Kontenrahmen für mehrere Geschäftsjahre hinterlegt ist, würden gegebenenfalls, ab dem 01.01.2017 bei den Pflegeeinrichtungen nun erforderliche, neue Buchungskreise die Datenkonsistenz zu den Vorjahren gefährden.
Neufassung Ziffer 3
„3. Erträge aus Zusatzleistungen und Transportleistungen (KUGr. 417, 419, 427, 437)“
Bewertung
Aufgrund der inhaltlichen Neubelegung der KUGr. wird auch hier auf die oben geschilderte Problematik der Datenkonsistenz verwiesen. Die mit der Umbenennung einhergehende Korrektur der KUGr 416 in 417 ist zu begrüßen.
Neueinfügung Ziffer 4a
„4a. Umsatzerlöse einer Pflegeeinrichtung nach § 277 des Handelsgesetzbuchs (KUGr. 480 bis 485, 488; KGr. 55), soweit nicht in den Ertragsposten Nummer 1 bis 4 enthalten.“
Bewertung
Die BAGFW begrüßt diese neu eingefügte Position. Hierdurch werden ebenso die durch das Bilanzrichtlinie-Umsetzungsgesetz BilRUG verursachten Änderungen, insbesondere beim Umsatzbegriff des § 277 Absatz 1 HGB berücksichtigt.
Jedoch möchten wir explizit auf die Bezifferung der Positionsnummer 4a hinweisen, welche gegebenenfalls irrtümlich als Unterposten zu Position 4 gesehen werden könnte.
Aufgrund der aktuellen, fachlichen Bewertung durch ein Wirtschaftsprüfungsinstitut, empfiehlt die BAGFW weiterhin, die in der PBV vorgesehenen Positionen 1 – 4a als Umsatzerlöse gesamt zusammenzufassen. Zum einen wird hier mehr dem HGB -Standard nach § 275 Absatz 1 Rechnung getragen, zum anderen erfolgt eine eindeutigere Abgrenzung zu den nachfolgenden Positionen 5 bis 8 in der GuV-Gliederung, welche nicht mehr die Umsatzerlöse umfassen.
Neufassung Ziffer 8
In Nummer 8 wird der Klammerzusatz wie folgt gefasst: „KUGr. 486, 487; KGr. 52, 53“
Bewertung
Die BAGFW begrüßt diese sachgerechte Änderung und die auf diese Weise durchgeführte Anpassung an das BilRUG.
Gesamtbewertung zu Anlage 2 (Gliederung der Gewinn- und Verlustrechnung)
Die BAGFW empfiehlt dem Gesetzgeber, die erforderliche Änderung der PBV insgesamt zu nutzen, die Gliederungsvorschriften für Bilanz und GuV an den Standard des HGB anzupassen. Die rechtlichen Bestimmungen der PBV gelten für alle stationären Pflegeheime und ambulante Pflegedienste. Bis auf Ausnahmen für die Aufstellung der Bilanz und GuV, gelten jedoch für alle Fragen des Ansatzes und der Bewertung die handelsrechtlichen Vorgaben. Die aktuelle Anpassung der PBV sollte deshalb auch als Initiative zu einer Entbürokratisierung der PBV genutzt werden.
Die PBV wird mit ihrer Gliederung in Anlage 2 hinsichtlich der Umsatzerlöse den Anforderungen des PSG II sowie des BilRUG nicht gerecht, hier ist eine Anpassung an das HGB dringend erforderlich.
Weiterhin bemerken Fachexperten seit langem auch, dass bestimmte Aufwandsarten in der Anlage 2 zur PBV nicht dem handelsrechtlichen Aufwandsartenprinzip folgen, zum Beispiel die Position 10b Aufwendungen für Zusatzleistungen, Position 11 Aufwendungen für zentrale Dienstleistungen sowie Position 13 Sachaufwendungen für Hilfs- und Nebenbetriebe, und somit nur mit den Verfahren der Kosten- und Leistungsrechnung sachgerecht dem Gliederungsschema der Gewinn- und Verlustrechnung der Anlage 2 zur PBV zuzuordnen sind. Demzufolge gehören diese Positionen sachlich nicht in die Gliederung der Gewinn- und Verlustrechnung, sondern in den Aufgabenbereich der Kosten- und Leistungsrechnung.
Ebenso wird auch von Experten kritisiert, dass in der Gliederung der Aufwandsarten nach Anlage 2 zur PBV eine Position zum Ausweis der Sachaufwendungen für Pflege und Betreuung seit Beginn der PBV fehlt. Entsprechende Konten fehlen auch im Kontenrahmen nach Anlage 4 zur PBV.
Weitere Anpassungen der Anlage 2 zur PBV an das Gliederungsschema für die Gewinn- und Verlustrechnung gemäß § 275 Abs. 2 HGB
Für die Aufwendungen gemäß der Anlage 4 zur PBV gilt gleichfalls die Empfehlung an den Gesetzgeber, die im Zusammenhang mit dem PSG III erforderliche Änderung der PBV insgesamt zu nutzen, um auch bei den Aufwandskonten eine Angleichung an die Gliederung der GuV nach § 275 Absatz 1 HGB zu erreichen.
So gehört zum Beispiel bei der Gliederung der Aufwendungen nach Anlage 4 und Anlage 2 der PBV, der Wirtschaftsbedarf gemäß Ziffer 10d aus Sicht des HGB § 275 Absatz 1, zum Materialaufwand und der Verwaltungsbedarf gemäß Ziffer 10d zu den sonstigen betrieblichen Aufwendungen.
Anlage 4 zur PBV - Kontenrahmen für die Buchführung (Kontenklassen 0-8) -
Kontenklasse 4 Betriebliche Erträge
In Kontenklasse 4 (Betriebliche Erträge) werden die Kontengruppen 40 bis 43 neu gefasst.
Bewertung
Die Anpassungen in den Kontengruppen 40 bis 43 sind vor dem Hintergrund des Perspektivwechsels in der Pflegeversorgung sowie der gewachsenen Bedeutung der Betreuungsleistungen folgerichtig und werden von der BAGFW begrüßt.
Die Eingliederung der Erträge aus zusätzlicher Betreuung und Aktivierung aus § 43b SGB XI in der KUGr. 425 (KGr. 42) sowie auch in der KUGr. 435 (KGr. 43) entsprechen dieser wachsenden Entwicklung und Gleichstellung der Betreuungsleistungen in der Pflege.
In den Begründungen zum Verordnungsentwurf wird zu Nummer 4 (Anlage 4 zur PBV) auf Seite 15 ausgeführt: „…Weiterhin werden bei den Kontengruppen der ambulanten und teilstationären Pflegeleistungen sowie der Leistungen der Kurzzeitpflege die Erträge aus Angeboten zur Unterstützung im Alltag nach §§ 45a ff. des Elften Buches Sozialgesetzbuch ausdrücklich bei den sonstigen Erträgen aufgenommen.“
Nach der Neudefinition der Umsatzerlöse in § 277 Abs. 1 HGB gehören auch bei ambulanten und teilstationären Pflegeeinrichtungen sowie bei Leistungen der Kurzzeitpflege die Erlöse aus Angeboten zur Unterstützung im Alltag nach §§ 45a ff. SGB XI zu den Umsatzerlösen. Eine Zuordnung zu den sonstigen betrieblichen Erträgen ist sachlich falsch. Es handelt sich aufgrund der ausdrücklichen Regelungsinhalte dieser Leistungen im SGB XI um Erlöse „…aus der Erbringung von typischen Dienstleistungen..:“ der Pflegeeinrichtungen im Sinne von § 277 Abs. 1 HGB, die damit verbindlich unter den Umsatzerlösen auszuweisen sind. Hier sind entsprechende Ergänzungen in den Kontengruppen 40 – 43 erforderlich.
Es zeichnet sich auch bereits jetzt ab, dass ambulante Pflegedienste Angebote zur Unterstützung im Alltag nach §§ 45a ff. SGB XI entwickeln und anbieten werden.
Ergänzend weisen wir darauf hin, dass in den Kontengruppen, die den sonstigen betrieblichen Erträgen zugeordnet werden, aktuell keine entsprechenden Ergänzungen vorgesehen sind. Im Ergebnis besteht hier Ergänzungsbedarf in den Kontengruppen 40 bis 43.
Lösungsvorschlag
Die BAGFW empfiehlt eine dementsprechende Anpassung der Begründung zur Verordnung.
Kontenklasse 6 Aufwendungen
Personalaufwendungen (Kontengruppen 60 – 64)
In der Kontenklasse 6 (Aufwendungen) wird bei den Personalaufwendungen der Kontengruppen 60 – 64 nach der Kontenuntergruppe „601 Pflegedienst“ die Kontenuntergruppe „602 Betreuungsdienst“ eingefügt.
Die bisherigen Kontenuntergruppen 602 bis 605 werden die Kontenuntergruppen 603 bis 606.
In den Kontengruppen 61 bis 64 wird jeweils die Angabe „600 bis 605“ durch die Angabe „600 bis 606“ ersetzt.
Bewertung
Die Ergänzung der Dienstart „Betreuungsdienst“ bei den Personalaufwendungen im Rahmen der Kontengruppe 60 Löhne und Gehälter ist, angesichts der wachsenden Bedeutung dieses Leistungsbereiches, sachlich zu begrüßen. Jedoch lässt sich ohne eine genauere inhaltliche Beschreibung der für die KUGr. 602 neu verwendete Begriff „Betreuungsdienst“ nicht eindeutig zuzuordnen. Sind hier § 43b-Kräfte, der Sozial- und Betreuungsdienst eines Pflegeheimes, Präsenzkräfte und/oder Alltagsbegleiter u.a. gemeint? Auch für die neuverwendete Belegung der KUGr. 602 gilt das an anderer Stelle erläuterte Risiko bezüglich der Datenkonsistenz.
Die Ersetzung der Angabe „600 bis 605“ durch „600 bis 606“ in den KGr. 61-64 ist zu begrüßen und sachgerecht.
Sachaufwendungen (Kontengrupen 65 ff.)
Fachexperten weisen an dieser Stelle nochmals darauf hin, dass eine Kontengruppe bzw. Konten für die Erfassung der pflegerischen und betreuerischen Sachaufwendungen in der PBV vollständig fehlen. Sie waren und sind aber sachlich zwingend erforderlich.
Lösungsvorschlag
Eine inhaltliche Definition zur KUGr. 602 Betreuungsdienst wird in den Gesetzesbegründungstext mit aufgenommen. Die neue Dienstart „Betreuungsdienst“ wird in einer noch nicht belegten KUGr. zum Beispiel 606 ausgewiesen, um die Datenkonsistenz zu gewährleisten.
Die eindeutige Abgrenzung des Wirtschaftsbedarfs (Materialaufwand) vom Verwaltungsbedarf (sonstiger betrieblicher Aufwand), sollte in der PBV eine Berücksichtigung finden.
Die Gleichstellung der Betreuungsleistungen im Pflegeversicherungsrecht und der hiermit verbundene Ausbau dieser Betreuungsleistungen findet jetzt im Bereich der Personalaufwendungen nach Anlage 2 zur PBV durch die neue Dienstart „Betreuungsdienst“ eine Berücksichtigung. In diesem Kontext sollte bei der geplanten Änderung der PBV im Zuge des PSG III, auch für die Sachaufwendungen eine sachgerechte Zuordnung und Neugliederung in den Anlagen 2 und 4 zur PBV erfolgen.
Für die Erfassung der pflegerischen und betreuerischen Sachaufwendungen in der PBV, schlägt die BAGFW in Abstimmung mit Fachexperten vor, hierfür Konten in der Kontengruppe 66 vorzusehen.
Anlage 5 (Muster, Kostenstellenrahmen für die Kosten- und Leistungsrechnung)
In der Anlage 5 werden die bislang nicht belegten Kostenstellen 970 Zusätzliche Betreuung und Aktivierung sowie 971 Unterstützung im Alltag neu gefasst.
Bewertung
Die neuen Kostenstellen zeigen jedoch nicht eindeutig auf, ob es sich hierbei um Leistungen nach § 43b SGB XI im Rahmen der zusätzlichen Betreuung und Aktivierung in stationären Pflegeeinrichtungen oder Leistungen nach § 45b SGB XI im Rahmen von zusätzlichen Betreuungs- und Entlastungsleistungen handelt, so dass eine Präzisierung erforderlich ist.
Lösungsvorschlag
Die hinzugefügte Kostenstellengruppe 97 sollte in zusätzliche Betreuungsleistungen umbenannt werden. Die Kostenstellen 970 und 971 sollten wie folgt ergänzt werden:
- Zusätzliche Betreuung und Aktivierung in stationären Einrichtungen nach
§ 43b SGB XI (Kostenstelle 970)
- Angebote zur Unterstützung im Alltag nach § 45b SGB XI (Kostenstelle 971)
Berlin, 06.09.2016
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Die Änderung der QPR wurde aufgrund der Änderungen des Zweiten Pflegestärkungsgesetzes notwendig. Die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege sind im Rahmen des Beteiligungsverfahrens nach § 114 SGB XI zu einer Stellungnahme berechtigt und bedanken sich beim GKV-Spitzenverband für die Zusendung der Beteiligungsunterlagen. Von ihrem Stellungnahmerecht machen die Verbände gerne Gebrauch und geben eine gemeinsame Stellungnahme im Rahmen der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) ab.
Kernforderungen der BAGFW
Bei der Bewertung der Neufassung der QPR sind vor allem die gesetzlichen Änderungen und Intentionen zu berücksichtigen, die die Überarbeitung notwendig gemacht haben. Dabei ist der Entwurf darauf zu überprüfen, ob diese umgesetzt sind sowie die Frage zu beantworten, welche Verbesserungen mit der Überarbeitung im Vergleich zur bisherigen Version erreicht werden. Daher sind aus unserer Sicht insbesondere folgende Aspekte bei der Bewertung des vorliegenden Entwurfes zu berücksichtigen:
1. Prüfung insbesondere der Ergebnisqualität
2. Prüfung der Tages- und Kurzzeitpflege nach eigenen, angemessenen Kriterien
3. Einheitliche Durchführung der Qualitätsprüfung
4. Beitrag zur Transparenz und zur Vereinfachung der Prüfung und zum Abbau von Bürokratie
5. Durchführung der Abrechnungsprüfung
Bezogen auf diese fünf Bewertungskriterien zur Neufassung der QPR erhebt die BAGFW die im Folgenden dargestellten Kernforderungen:
Zu 1.: Prüfung insbesondere der Ergebnisqualität
Nach § 114 Abs. 2 SGB XI erfasst die Regelprüfung „insbesondere wesentliche Aspekte des Pflegezustandes und die Wirksamkeit der Pflege- und Betreuungsmaßnahmen (Ergebnisqualität). Sie kann auch auf den Ablauf, die Durchführung und die Evaluation der Leistungserbringung (Prozessqualität) sowie die unmittelbaren Rahmenbedingungen der Leistungserbringung (Strukturqualität) erstreckt werden.“ Tatsächlich wird die QPR diesem Auftrag nicht gerecht. Selbst im Teil des Erhebungsbogens der Prüfanleitung (Anlage 1), der mit Prozess- und Ergebnisqualität überschrieben ist (ab Kapitel 9), finden sich tatsächlich kaum Fragen zur Ergebnisqualität im Sinne der gesetzlichen Definition. Diese wenigen Fragen werden dann i. d. R. auch nur als Informationsfragen erhoben und nicht einer Bewertung zugeführt (z. B. 12.1d stationär: Gewichtsverlauf). Stattdessen werden vor allem Teilschritte pflegerischer Versorgung erhoben und bewertet (Werden spezielle Risiken erfasst und entsprechende Maßnahmen durchgeführt etc.), was laut der Definition im SGB XI der Prozessqualität entspricht. In den Richtlinien fehlt also eine Konkretisierung der Prüffragen hinsichtlich der Ergebnisqualität, denn Ergebnisqualität ist nicht das Ergebnis der Dokumentation, sondern muss sich immer am Ergebnis des Pflegeprozesses und somit an dem gepflegten Menschen orientieren. Bei einer Überprüfung der Ergebnisqualität geht es somit um die Erfassung und Bewertung von objektiven Daten und Fakten. Diese Daten und Fakten müssen
- auf den Nutzer / Gepflegten bezogen,
- durch Pflege / Einrichtungen beeinflussbar sowie
- valide und relevant für die Qualitätsmessung sein.
Die Kriterien, die nachweislich, d. h. unter Berücksichtigung allgemein anerkannter wissenschaftlicher Erkenntnisse diese Vorgaben erfüllen, sind in den Erhebungsbögen entsprechend zu kennzeichnen und in einem eigenen Modul zusammenzufassen und bei einer Beschränkung der Prüfung auf die Aspekte der Ergebnisqualität heranzuziehen.
Zu 2.: Prüfung der Tages- und Kurzzeitpflege nach eigenen, angemessenen Kriterien
Teilstationäre Angebote lassen sich nicht einfach unter den stationären Angeboten subsumieren: Sie haben ein anderes Leistungsspektrum als ambulante und stationäre Pflegeeinrichtungen, denen gerecht zu werden ist. Dies ist vor allem am differierenden Setting dieser Angebote bzgl. der Ziele, der Inanspruchnahme der Leistungen sowie der Verweildauer auszurichten. Auch die Stichprobenziehung für vollstationäre Pflegeeinrichtungen ist für Einrichtungen der Tages- und Kurzzeitpflege ungeeignet: Die Pflegestufe III ist in beiden Einrichtungsarten deutlich unterrepräsentiert, wie auch die Daten der Pflegestatistik 2011 zeigen. Der Anteil der pflegebedürftigen Menschen in der Tagespflege mit Pflegestufe III liegt bei ca. 11% und in der Kurzzeitpflege bei nur ca. 7%. Darüber hinaus sind Tages- und Kurzzeitpflegen i. d. R. kleine Einrichtungen mit nur 10 bis 20 Plätzen. Laut Pflegestatistik 2011 haben 58,6% der Kurzzeitpflegeeinrichtungen 11 – 20 Plätze (bundesweit gibt es nur 25 Einrichtungen die mehr Plätze haben) und bei den Tagespflegeeinrichtungen sind es über 80%. Damit wird deutlich, dass die Stichprobe von drei pflegebedürftigen Personen in Pflegegrad 4 und zwei in Pflegegrad 5 regelhaft nicht zu erfüllen sein wird. Hinzu kommt die Unverhältnismäßigkeit: Bei einer Tagespflege mit 10 Gästen würden 90% von ihnen in die Stichprobe einbezogen, bei einer stationären Einrichtung mit 100 Plätzen entspricht die gleiche Zahl einer Quote von nur 9%. Zu bedenken ist, dass sich die Aufwendungen im Zusammenhang mit der Prüfung analog darstellen. Eine Stichprobenbildung analog zum stationären Bereich ist aus unserer Sicht für die teilstationäre Pflege wie auch die Kurzzeitpflege nicht zu verantworten und völlig unverhältnismäßig.
Die BAGFW fordert separate Erhebungsbögen für die Tagespflege, aber auch die Kurzzeitpflege. Die Stichprobe sollte bei 10% der Gäste, aber mindestens bei fünf und max. bei fünfzehn liegen, bis ggf. neue, gesicherte Erkenntnisse zur Stichprobenbildung für die Tages- und Kurzzeitpflege vorliegen.
Zu 3.: Einheitliche Durchführung der Qualitätsprüfung
In all unseren Stellungnahmen zur MDK-Prüfanleitung der Qualität nach § 114 SGB XI von 2005, 2009 und 2013 stellten wir fest, dass die Prüfanleitung eine Vielzahl undefinierter Begrifflichkeiten wie „gezielt“, „regelmäßig“, „ausreichend“, „situationsgerecht“, „sachgerecht“, „geeignet“ enthält. Diese Begriffe sind so unspezifisch, dass sie nicht als Bewertungsmaßstab für eine Prüfung dienen können. Sie eröffnen breite Interpretationsspielräume und bewirken, dass Einrichtungen subjektiven Bewertungen der Prüferinnen und Prüfer ausgesetzt sind.
Aus Sicht der BAGFW sind die Fragen so zu formulieren, dass breite Interpretationsspielräume möglichst ausgeschlossen werden.
Zu 4.: Beitrag zur Transparenz und zur Vereinfachung der Prüfung und zum Abbau von Bürokratie
Bundesweit gibt es derzeit verschiedene Bestrebungen, die Bürokratie in der Pflege abzubauen und die Anerkennung der Fachlichkeit von Pflegefachkräften zu stärken. Neue Vereinbarungen und Richtlinien, wie auch die QPR, dürfen diesen Bestrebungen nicht zuwiderlaufen. Tatsächlich finden sich in dem vorliegenden Entwurf aber weiterhin bürokratiefördernde Regelungen, z. B. zu den Themen „Expertenstandards“ oder „Risikoeinschätzung“. Auch das neue Thema „Abrechnungsprüfung“ birgt aus unserer Sicht die Gefahr die Bürokratie auszuweiten. Die jahrelangen Bemühungen, gemeinsame Standards zur Entbürokratisierung zu entwickeln und umzusetzen, um mehr Zeit für die direkte Pflege zu haben, werden durch die detaillierten und weitgehenden Nachweispflichten gefährdet. Aufgrund der Befürchtung, sich durch kleine Verfehlungen eines Verdachts des Abrechnungsbetrugs auszusetzen, werden die Mitarbeiter wieder auf eine detaillierte lückenlose Dokumentation Wert legen müssen. Die konkreten Fragen bedeuten für die Einrichtungen einen deutlichen Mehraufwand an Dokumentation als bisher, was widersprüchlich zum neuen Strukturmodell der Pflegedokumentation ist. Mit den geplanten Prüfungsfragen wird grundsätzlich das Gefühl vermittelt, unter Generalverdacht zu stehen. Des Weiteren stellt sich die Frage, ob mit solchen Prüfungen tatsächlich großflächigen Abrechnungsbetrügereien entgegengewirkt werden kann.
Die QPR enthält z. B. zu verschiedenen pflegerischen Problemen Fragen, wie „Wird das individuelle Sturzrisiko erfasst?“ und „Wurde bei Bewohnern mit erhöhtem Sturzrisiko erforderliche Prophylaxe gegen Stürze durchgeführt?“, die in der Regel so auch in der PTVS enthalten sind. In der QPR sind zusätzlich zu den Fragen der Risikoeinschätzung und Prophylaxen, Zusatzfragen vorgeschaltet, z. B. die Frage 11.4: Liegt ein erhöhtes Sturzrisiko vor? Neben den Antwortmöglichkeiten „ja“ und „nein“ wird zusätzlich erhoben, ob die Einschätzung von der Prüferin bzw. vom Prüfer oder von der Einrichtung übernommen wurde. Diese Zusatzfragen stellen unnötige Doppelungen zu den schon vorhandenen Fragen dar, in denen ein Pflegeproblem nochmals bewertet wird. Dies stellt nicht nur einen unnötigen Aufwand dar, sondern negiert auch pauschal die fachliche Kompetenz und die berufliche Erfahrung der Pflegefachkräfte der Pflegeeinrichtungen und -dienste durch eine externe Momentaufnahme. Sollte die Prüferin bzw. der Prüfer im Einzelfall Zweifel an der Aktualität oder Richtigkeit einer Risikoeinschätzung haben, besteht bei den verbleibenden Fragen (z. B. bei „Wird das individuelle Sturzrisiko erfasst?“) noch immer die Möglichkeit, die Einschätzung zu hinterfragen. Sollte es hier zu unterschiedlichen Einschätzungen kommen, gibt das Vorwort der Anlage 3 zur PTVS vor, wie zu verfahren ist. („Unter Berücksichtigung der jeweils in den Ausfüllanleitungen genannten Informationsquellen/Nachweisebenen macht sich der Prüfer ein Gesamtbild und entscheidet, ob das jeweilige Kriterium erfüllt ist oder nicht. Eine abweichende Einschätzung der einbezogenen Pflegefachkraft der stationären Pflegeeinrichtung zur Erfüllung des jeweiligen Kriteriums wird als Vermerk ‚abweichende fachliche Einschätzung‘ protokolliert. Das Abschlussgespräch dient auch der Erörterung festgestellter Mängel.“)
Alle Regelungen der QPR sind unter dem Fokus des Bürokratieaufwands auf den Prüfstand zu stellen und ggf. zu überarbeiten und zu vereinfachen. Aus Sicht der BAGFW ist z. B. auf die o. g. Zusatzfragen grundsätzlich zu verzichten und die Einschätzung der Pflegerisiken durch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Einrichtungen und Dienste prinzipiell zu übernehmen.
Reduzierung des Prüfauftrages
Da der Prüfumfang in angemessener Weise verringert werden soll, wenn Prüfergebnisse der Heimaufsicht, gleichwertige Prüfungen etc. vorliegen, müssen die Prüfinhalte modular aufgebaut sein.
Im Prüfauftrag muss also aus Sicht der BAGFW festgelegt sein, welche Module zu prüfen sind (und zu welchen bereits Erkenntnisse vorliegen). Dazu wäre die Prüfanleitung in Form von deutlich unterscheidbaren Modulen aufzubauen, die zwischen Prozess-, Struktur- und Ergebnisqualität unterscheiden.
Zu 5.: Durchführung der Abrechnungsprüfung
Mit Inkrafttreten des zweiten Pflegestärkungsgesetzes (PSG II) ist eine verpflichtende Regelung zur Prüfung von Abrechnungen der von Pflegeeinrichtungen erbrachten pflegerischen Leistungen eingeführt worden, die die bisherige „Kann-Vorschrift“ ersetzt. Nach § 114 Abs. 2 Satz 6 SGB XI sind nun im Rahmen regelhaft stattfindender Qualitätsprüfungen die abgerechneten Leistungen zu prüfen. Der Prüfauftrag einschließlich des Auftrags zur Abrechnungsprüfung wird von Landesverbänden der Pflegekassen erteilt, dieser muss klar und eindeutig sein. Der hier vorgeschlagene Absatz 2 bietet den Prüferinnen und Prüfern einen zu großen Entscheidungsspielraum. Wenn die Abrechnungsprüfung für die sieben abrechnungsrelevanten Tage einschließlich ggf. zweier Feiertage erfolgt ist und keine eindeutige Klärung der Sachverhalte möglich war, dann kann die zuständige Pflegekasse entweder den ambulanten Pflegedienst um eine Stellungnahme und Aufklärung des Sachverhalt bitten
oder eine abrechnungsbezogene Anlassprüfung in Auftrag geben. Eine Regelprüfung kann unserer Auffassung nach aber nicht in eine Anlassprüfung umgewandelt werden. Hierfür hat der zuständige Landesverband der Pflegekassen einen neuen Prüfauftrag zu erteilen und die Prüfung findet dann aufgrund des neuen anlassbezogenen Prüfauftrags als Anlassprüfung statt. Des Weiteren darf die Abrechnungsprüfung nicht dazu führen, dass die Pflegedienste dazu übergehen müssen, verstärkt Routinedaten und -handlungen zu dokumentieren und die in den letzten Jahren erfolgten Entbürokratisierungsbemühungen konterkariert werden. Es muss sorgsam zwischen den Schutzinteressen der Pflegebedürftigen und der Solidargemeinschaft der Versicherten und den bürokratischen Erfordernissen abgewogen werden.
Im Folgenden nimmt die BAGFW zu einzelnen Punkten im Richtlinientext und in den Anlagen dezidiert Stellung:
Teil 1 Ambulante Pflege
Präambel
Abs. 3, Z. 34 -36: „Die Qualitätsprüfung des medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) sowie des PKV-Prüfdienstes wird weiterhin ein umfassenderes Spektrum abbilden, wobei der Schwerpunkt auf der Ergebnisqualität liegt.“
Bewertung:
In der Tat hat der Prüfkatalog einen größeren Umfang als die PTVA, nicht nur weil – wie hier im Text suggeriert wird – ein breiteres Spektrum abgedeckt wird, sondern weil zu einzelnen Themen auch weitere Prüffragen vorliegen. Ob die weiteren Themen und weiteren Fragen zu einzelnen Themen geeignet sind, über die PTVA hinaus relevante Erkenntnisse zu generieren, konnte bisher nirgends belegt werden.
Die Aussage, dass der Schwerpunkt dieses erweiterten Spektrums in der Ergebnisqualität liegt, ist dagegen falsch. Ganz überwiegend wird hier die Struktur- und Prozessqualität geprüft, max. Prozess-Outcomes. Aber keinesfalls wird Ergebnisqualität als Pflegezustand, geschweige denn als Wirksamkeit der Pflege- und Betreuungsmaßnahmen im Sinne der Definition von Ergebnisqualität des § 114 SGB XI abgebildet.
Lösung:
1. Im Sinne einer der Kernforderungen der BAGFW nach Entbürokratisierung auch der Qualitätsprüfungen, wäre der Umfang des Prüfkatalogs daher zu hinterfragen.
2. Wir schlagen vor, den Halbsatz in den Zeile 32-33: „…, <s>wobei der Schwerpunkt auf der Ergebnisqualität liegt.</s>“ ersatzlos zu streichen.
1. Ziel der Richtlinien
Abs. 1, S. 3, Z. 51-52: „Teil 1 der QPR dient als verbindliche Grundlage für eine Erfassung der Qualität in den ambulanten Pflegediensten nach einheitlichen Kriterien.“
Bewertung:
Lt. § 114 SGB XI ist es der Auftrag der MDK- und PKV-Prüfdienste zu prüfen, ob Qualitätsanforderungen des SGB XI sowie die auf dessen Grundlage geschlossenen vertraglichen Vereinbarungen erfüllt sind. Damit ist der Auftrag bzgl. dessen, was an Qualität zu prüfen ist, klar umrissen und bezieht sich nicht auf Qualitätsfragen im Allgemeinen. Von daher ist die Formulierung in den Zeilen 51-52 „…eine Erfassung der Qualität…“ irreführend und müsste entweder entsprechend der o. g. Ausführungen analog § 114 konkretisiert oder anderweitig umformuliert werden.
Lösung:
Der Satz 3 in Zeile 51-52 sollte insgesamt wie folgt geändert werden: „Teil 1 der QPR dient als verbindliche Grundlage für <s>eine Erfassung der</s> die Durchführung der Qualitätsprüfungen in den ambulanten Pflegediensten nach einheitlichen Kriterien.“
3. Prüfauftrag
Abs. 2, S. 4, Z. 28-39
Bewertung:
In der Praxis hat sich bewährt, dass die Prüfer bei einer Anlassprüfung der Einrichtungen den Anlass nennen und zum Abschluss der Prüfung eine Aussage treffen, ob der Prüfanlass ausgeräumt ist. Es wäre für den grundsätzlichen Umgang mit der zu prüfenden Einrichtung wichtig, wenn diese Art des Vorgehens auch für alle anderen Prüfungen (Regelprüfung, Wiederholungsprüfung) in den Richtlinien beschrieben würde. Auch vor dem Hintergrund der gesetzlichen Regelung grundsätzlich unangemeldeter Prüfungen erscheint es nur angemessen, dass die Prüfer, unabhängig von der Art der Prüfung, den Prüfauftrag der Einrichtung vor Prüfungsbeginn schriftlich aushändigen.
Lösung:
In den Richtlinien ist aufzunehmen, dass der Prüfauftrag der zu prüfenden Einrichtung vorgelegt wird. Dies wäre auch eine Maßnahme im Sinne der Kernforderung 4 der BAGFW zur Transparenz.
Abs. 3, S. 4, Z. 41- 47
Bewertung:
In Abs. 3 ist geregelt, dass die Pflegekassen dem MDK bzw. dem PKV-Prüfdienst mit dem Prüfauftrag die erforderlichen Informationen und Unterlagen für die Qualitätsprüfung zur Verfügung stellen müssen. Neben dem eventuellen Maßnahmenbescheid nach § 115 Abs. 2 SGB XI sind dem MDK bzw. dem Prüfdienst der PKV weitere im Zusammenhang mit dem Maßnahmenbescheid von ambulanten Diensten an die Pflegekassen versandte Unterlagen von diesen zur Verfügung zu stellen.
Lösung:
Die Aufzählung der Unterlagen wäre entsprechend zu erweitern.
4. Prüfverständnis und Durchführung der Prüfung
Abs. 2, S. 5, Z. 12-14
Bewertung:
Die Qualitätsprüfungen in ambulanten Pflegediensten sind grundsätzlich am Tag zuvor anzukündigen. Es ist nicht klar, wie diese Ankündigung erfolgen soll, wenn eine Prüfung für Montag oder den Tag nach einem Feiertag bzw. Feiertagen geplant ist.
Lösung:
Es sollte eine Regelung dafür getroffen werden, wie im Falle von geplanten Regelprüfungen an Werktagen nach Wochenenden oder Feiertagen zu verfahren ist, um sicherzustellen, dass die Ankündigung der Prüfung die Leitung des Pflegedienstes rechtzeitig erreicht und das Büro des Pflegedienstes am Prüfungstag besetzt ist. Die Anmeldung sollte daher am vorangehenden Arbeitstag zu üblichen Bürozeiten (bis 12.00 Uhr) erfolgen (s. a. Klie/Krahmer/Plantholz: Sozialgesetzbuch XI – Lehr- und Praxiskommentar; 4. Aufl., 2014).
Abs. 2, S. 5, Z. 19-25
Bewertung:
Die Qualitätsprüfung ist grundsätzlich eine Stichtags- und Vor-Ort-Prüfung. Unterlagen in Form von Kopien sollten daher nur in Ausnahmefällen und/oder zu Nachweiszwecken angefertigt und mitgenommen werden. Daher bedarf es in Zeile 20 einer genaueren Definition des Begriffs „erforderlich“.
Lösung:
Der Satz in Zeile 2 ist wie folgt zu fassen: „In Ausnahmefällen und/oder für Nachweiszwecke sind ggf. Kopien in angemessenem Umfang anzufertigen.“
Abs. 5, S. 5 f., Z. 43 ff.
Bewertung:
Das Abschlussgespräch dient auch der Erörterung festgestellter Mängel. In der Vergangenheit stellten die Pflegedienste oft eine Differenz zwischen der Prüfung und dem schriftlichen Prüfergebnis fest und konnten diese nicht nachvollziehen. In der Richtlinie ist deshalb festzulegen, dass im Abschlussgespräch keine Kritikpunkte im Abschlussbericht erscheinen dürfen, die an dieser Stelle nicht angesprochen worden sind. Auch evtl. abweichende Einschätzungen zwischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der ambulanten Pflegedienste und der Prüfdienste müssen dabei als Vermerk „abweichende fachliche Einschätzung“ protokolliert werden.
Lösung:
In Zeile 50 wird folgender Satz eingefügt: „…von der Prüferin/vom Prüfer dargelegt. Das Abschlussgespräch ist von der Prüferin/vom Prüfer zu protokollieren, einschließlich der Darlegung aller festgestellter Qualitätsmängel sowie evtl. abweichender Meinungen durch die Einrichtung dazu. [neu: Absatz]
Ein umfassendes Bild…“
5. Eignung der Prüferinnen und Prüfer (S. 5, Z. 6-16)
Bewertung:
Derzeit ist nicht ausgeschlossen, dass ehemalige Mitarbeitende einer Einrichtung zum MDK wechseln und kurze Zeit später in eben der Einrichtung als MDK-Prüfer erscheinen. Das sollte ausgeschlossen werden, um eine neutrale und unvoreingenommene Sicht der Prüfenden auf die Einrichtung bzw. die Prüfsituation selbst zu gewährleisten. Dazu bietet sich eine Karenzzeit-Regelung an.
Lösung:
Es wird ein neuer Abs. 3 eingefügt:
(3) Mitglieder des Prüfteams dürfen in den letzten fünf Jahren in keinerlei Abhängigkeitsverhältnis zur geprüften Einrichtung gestanden haben, weder als angestellte Mitarbeiterin/angestellter Mitarbeiter noch als Beraterin/Berater o. ä.
6. Prüfinhalte und Umfang der Prüfung (S. 7ff.)
Abs. 7, ab S. 9, Z. 5ff
Bewertung:
Wenn sich bei einer Regel- oder Wiederholungsprüfung konkrete und begründete Anhaltspunkte für eine nicht fachgerechte Pflege ergeben, die nicht von der in der PTVA vereinbarten zufallsgesteuerten Auswahl (Stichprobe) erfasst werden, erfolgt die Prüfung insgesamt als Anlassprüfung. Im Richtlinienentwurf wird dazu eine Reihe von „Pflegesituationen“ genannt, auf die dies insbesondere zutreffen könnte. Es wird nicht klar und begründet, warum gerade diese Pflegesituationen speziell geprüft werden sollen. Zudem gibt es für einige der genannten Erkrankungen und Einschränkungen keine eindeutigen und evidenzbasierten Leitlinien und Handlungsempfehlungen. Dies gilt vor allem für die Einschätzung von Kontrakturen.
Zudem sollte in Fällen, in denen eine Regelprüfung aus den in Absatz 7 beschriebenen Gründen in eine Anlassprüfung umgewandelt wird, dies auch unverzüglich dem Pflegedienst mitgeteilt werden.
Lösung:
Die entsprechende Aufzählung auf Seite 9 (Zeilen 10-16) ist zu streichen. Der Satz würde dann ab Zeile 7 wie folgt lauten: „…erfasst werden, <s>insbesondere bei folgenden Pflegesituationen:</s>
<s>- </s><s>freiheitsentziehende Maßnahmen,</s>
<s>- </s><s>Dekubitus oder andere chronische Wunden,</s>
<s>- </s><s>Ernährungsdefizite,</s>
<s>- </s><s>chronische Schmerzen,</s>
<s>- </s><s>Kontakturen,</s>
<s>- </s><s>Person mit Anlage einer PEG-Sonde,</s>
<s>- </s><s>Person mit Blasenkatheder,</s>
erfolgt die Prüfung insgesamt als Anlassprüfung. …“
Auf Seite 9 ist in Zeile 21 folgender Satz ergänzt: „Hierüber ist auch der ambulante Pflegedienst unverzüglich zu informieren.“
7. Einwilligung
Abs. 2, S. 21, ab Z. 21
Bewertung:
Es wird im Entwurf klar formuliert, für welche Tätigkeiten eine Einwilligung erforderlich ist und von wem die Einwilligung erteilt werden muss. Dies entspricht den gesetzlichen Vorgaben in § 114a SGB XI. Aus dem Wortlaut der Richtlinie lässt sich aber nicht erkennen, wer die Einwilligung einholen muss. Da aber der Prüfdienst bzw. seine Prüferinnen und Prüfer in den geschützten Rechtsbereich des pflegebedürftigen Menschen eindringen (z. B. durch Betreten seiner Wohnung, Einsicht in die Pflegeunterlagen usw.), was i. Gr. einem Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung entspricht, liegt es nahe, dass sich die Prüfdienste um die erforderlichen Genehmigungen bemühen.
Lösung:
Die QPR ist hier hinsichtlich der Frage, wer die Einwilligung einholt, zu ergänzen, um klarzustellen, dass dies durch den MDK bzw. den Prüfdienst der PKV zu erfolgen hat.
Darüber hinaus ist zu regeln, dass der Pflegeeinrichtung die Einwilligung zu Kenntnis gegeben wird, damit für die Prüfung Klarheit besteht, welche Pflegebedürftigen in die Stichprobe einbezogen werden können.
8. Abrechnungsprüfung (S. 10 f.)
Abs. 1, S. 10, ab Z. 47
Bewertung:
Um Missverständnissen in der Praxis vorzubeugen, sollte klargestellt werden, dass es sich bei den Leistungen nach § 36 SGB XI auch um den Pflegesachleistungsanteil bei Kombinationsleistungen im Sinne des § 38 SGB XI handeln kann und dass es sich nur um bereits abgerechnete Leistungen handeln darf.
Lösung:
Absatz 1 ist wie folgt zu formulieren:
Es werden abgerechnete Leistungen nach § 36 SGB XI (einschließlich der teilweise in Anspruch genommenen Pflegesachleistungen nach § 36 SGB XI im Rahmen der Kombinationsleistung nach § 38 SGB XI) und nach § 37 SGB V in die Abrechnungsprüfung einbezogen.
Abs. 2, S. 10, ab Z. 50 ff.
Bewertung:
Der Prüfauftrag einschließlich des Auftrags zur Abrechnungsprüfung wird von Landesverbänden der Pflegekassen erteilt, dieser muss klar und eindeutig sein. Der hier vorgeschlagene Absatz 2 bietet den Prüferinnen und Prüfern einen zu hohen Entscheidungsspielraum. Da es sich um eine Abrechnungsprüfung handelt, müssen an den hier benannten Tagen Leistungen nach § 36 SGB XI erbracht worden sein. Dies muss in Satz 1 präzisiert werden.
Der Satz: „Die Prüferin/der Prüfer kann eigenständig weitere Tage zur Sicherstellung des festgestellten Sachverhaltes/zur eindeutigen Klärung des Abrechnungsverhaltens in die Abrechnungsprüfung einbeziehen.“ ist zu weit gefasst. Wenn die Abrechnungsprüfung für die sieben abrechnungsrelevanten Tage einschließlich ggf. zweier Feiertage erfolgt ist und keine eindeutige Klärung der Sachverhalte möglich war, dann kann die zuständige Pflegekasse entweder den ambulanten Pflegedienst um eine Stellungnahme und Aufklärung des Sachverhalts bitten oder eine abrechnungsbezogene Anlassprüfung in Auftrag geben. Wir plädieren deshalb für eine Streichung dieses Satzes.
Eine Regelprüfung kann unserer Auffassung nach nicht in eine Anlassprüfung umgewandelt werden. Hierfür hat der zuständige Landesverband der Pflegekassen einen neuen Prüfauftrag zu erteilen und die Prüfung findet aufgrund des neuen anlassbezogenen Prüfauftrags als Anlassprüfung statt.
Um die Abrechnungsprüfung auch für die ambulanten Pflegedienste praktikabel und mit einem vernünftigen Ressourceneinsatz zu gestalten, sollte auch definiert werden, welcher zeitlichen Periode die sieben Tage zugeordnet werden. Es sind in der Regel nur die jeweils aktuellen Unterlagen vor Ort (beim Versicherten) und auch beim Pflegedienst vorhanden. Abgeschlossene Abrechnungsunterlagen werden archiviert und das Archiv befindet sich nicht immer in der Dienststelle des ambulanten Pflegedienstes, sondern häufig auch in der Zentrale des Trägers. Eine Begrenzung auf einen bestimmten Zeitraum würde ermöglichen, dass der Dienst sich darauf einstellen kann und die Unterlagen dann auch beim ambulanten Pflegedienst am Prüfungstag verfügbar wären. Wir schlagen vor, hier auf die letzten sechs Monate vor dem Prüfungsdatum bei Regelprüfungen zurückzugreifen, analog der Pilotierungsphase.
Lösung:
Satz 1 ist wie folgt zu fassen:
Die Abrechnungsprüfung erfolgt für mindestens sieben Tage, an denen Pflegesachleistungen erbracht wurden, davon nach Möglichkeit einschließlich eines Wochenendes oder zweier Feiertage, innerhalb von 6 Monaten vor dem Prüfungsdatum bei einer Regelprüfung.
Satz 2 „Die Prüferin/der Prüfer kann eigenständig weitere Tage zur Sicherstellung des festgestellten Sachverhaltes/zur eindeutigen Klärung des Abrechnungsverhaltens in die Abrechnungsprüfung einbeziehen.“ ist zu streichen.
Satz 3 ist wie folgt zu formulieren:
Stellt der MDK oder der PKV-Prüfdienst im Rahmen einer Qualitätsprüfung Auffälligkeiten in der Abrechnung fest und können diese nicht im Rahmen der Regelprüfung oder durch Stellungnahme des Pflegedienstes geklärt werden, erteilen die Landesverbände der Pflegekassen unverzüglich einen neuen Prüfauftrag für eine abrechnungsbezogene Anlassprüfung.
Abs. 3, S. 11, Z. 5-6
Bewertung:
Die Abrechnungsprüfung kann sich unserer Ansicht nach nur auf die Personenstichprobe gemäß Ziffer 6 Absatz 7 und 8 dieser Richtlinien in der korrigierten Version beziehen. Wir verweisen hier auf unsere Anmerkung zu Kapitel 6, Absatz 7 und 8.
Abs. 4, S. 11, Z. 14-16
Bewertung:
Der letzte Satz in Absatz 4 schafft eine eindeutige Prüfgrundlage (Wenn für privat versicherte Pflegebedürftige keine entsprechenden Vertragsunterlagen zur Verfügung stehen, ist bei diesen Personen eine Prüfung der vertragskonformen Abrechnung der Leistungen nicht möglich), die Regelung ist deshalb zu begrüßen.
Abs. 5, S. 11, Z. 18-30
Bewertung:
Die Abrechnungsprüfung ist grundsätzlich eine Stichtags- und Vor-Ort-Prüfung. Unterlagen in Form von Kopien sollten daher nur in Ausnahmefällen und/oder zu Nachweiszwecken angefertigt und mitgenommen werden. Kostenvoranschläge können von Pflegeverträgen abweichen. Ein Kostenvoranschlag wird vor Rechnungsstellung erstellt und ist daher auch nicht abrechnungsrelevant. Daher sind die Kostenvoranschläge aus der Aufzählung der abweichungsrelevanten Abrechnungsdaten zu streichen. Darüber hinaus wird die Rechnungsstellung oftmals in einer Zentrale bzw. am Hauptsitz des Trägers des ambulanten Pflegedienstes vorgenommen, so dass Rechnungen in den Einrichtungen nicht vorliegen und auch nicht mit angemessenem Aufwand vorgelegt werden können.
Zu definieren ist der Begriff der relevanten Unterlagen. Da abrechnungsrelevante Unterlagen auch sensible krankheitsbezogene Versichertendaten beinhalten, muss bei der Weitergabe der Unterlagen vom MDK bzw. PKV-Prüfdienste an den zuständigen Landesverband der Pflegekassen die Einhaltung der Datenschutzbestimmungen gewährleistet sein.
Lösung:
Streichung des Wortes „Kostenvoranschläge“ in Satz 1.
Zusätzliche Aufnahme des Satzes: Die Datenschutzbestimmungen müssen eingehalten werden.
Des Weiteren ist eine Definition des Begriffs der relevanten Unterlagen aufzunehmen.
Anlage 1 zu Teil 1: Erhebungsbogen zur Prüfung der Qualität nach den §§ 114 ff. SGB XI in der ambulanten Pflege
Da die Kriterien der Anlage 1 auch Bestandteil der Prüfanleitung (Anlage 2) sind, wird im Folgenden zu beiden Anlagen gemeinsam Stellung genommen.
Anlage 2 zu Teil 1: Prüfanleitung zum Erhebungsbogen zur Prüfung der Qualität nach §§ 114 ff. SGB XI in der ambulanten Pflege
1. Angaben zur Prüfung und zum Pflegedienst (ab S. 3, Z. 1)
Bewertung:
Zunächst ist festzustellen, dass alle Angaben unter 1. mit M/Info gekennzeichnet sind. Wenn die Angaben nur einen informativen Charakter haben, ist zu hinterfragen, warum sie dann darüber hinaus auch mit M gekennzeichnet sind, was den Hinweisen auf dem Deckblatt zufolge Mindestangabe bedeutet. Letztendlich soll in den Qualitätsprüfungen die Qualität der Leistungserbringung überprüft werden. Viele der abgefragten Angaben sind den Pflegekassen aus den Verträgen mit den ambulanten Diensten und regelmäßig einzureichenden Strukturerhebungsbögen bekannt. Auch ist in der QPR unter 3. Prüfauftrag Abs. 3 ausgeführt, dass dem MDK bzw. dem Prüfdienst der PKV mit dem Prüfauftrag die erforderlichen Informationen und Unterlagen für die Qualitätsprüfung, insbesondere Institutionskennzeichen, Versorgungsverträge, Strukturdaten, festgelegte Leistungs- und Qualitätsmerkmale nach § 84 Abs. 5 SGB XI etc. von den Pflegekassen zur Verfügung gestellt werden.
Lösung:
Die umfangreichen Informationsfragen unter 1. sollten auf ein sinnvolles und angemessenes Maß reduziert werden. Damit würde auch der Kernforderung 4 der BAGFW zu Transparenz, Vereinfachung der Prüfung und Abbau von Bürokratie entsprochen.
1.6 Nach Angabe des Pflegedienstes Anzahl Pflegebedürftige mit (S. 8, Z. 5)
Bewertung:
Die Zusammenstellung der genannten Diagnosen bzw. besonderen Pflegesituationen ist nicht nachvollziehbar und nicht vollständig. Uns erschließt sich auch der Mehrwert, der sich aus der quantitativen Aufstellung ergeben soll, nicht. Des Weiteren ist nicht nachvollziehbar, warum diese Tabelle als Hintergrundinformation für die Beantwortung weiterer Prüffragen dient.
Lösung:
Gerade vor dem Hintergrund einer Stichprobenprüfung, wie sie von der Schiedsstelle nach
§ 113b SGB XI in der Pflege-Transparenzvereinbarung ambulant festgelegt wurde, ist aus unserer Sicht der ganze Punkt entbehrlich. (Im Übrigen sei zu diesem Sachverhalt auch auf unsere einleitenden Ausführungen zu Kernforderung 4 verwiesen.)
1.8 Wenn schwerpunktmäßig besondere Personengruppen versorgt werden: Werden die diesbezüglichen Anforderungen erfüllt? (S. 8, ab Z. 20)
Bewertung:
Unter 1.8 wird abgefragt, ob die diesbezüglichen Anforderungen erfüllt werden, wenn schwerpunktmäßig besondere Personengruppen versorgt werden. Hier kann nur das abgeprüft werden, was vertraglich mit dem Pflegedienst vereinbart wurde.
Lösung:
Unseres Erachtens muss bei jedem der vier Items (a bis d) das Feld „trifft nicht zu“ ankreuzbar sein, wenn der entsprechende Inhalt vertraglich nicht vereinbart wurde.
1.9 Werden Leistungen ganz oder teilweise durch andere Anbieter erbracht? (S. 9, Z. 1)
Bewertung:
Unter 1.9 wird erfragt, ob Leistungen ganz oder teilweise durch andere Anbieter erbracht werden und wenn ja, welche. Leider erschließt sich die Relevanz der Frage im Rahmen der Überprüfung der Qualität der Leistungen des ambulanten Pflegedienstes nicht, wenn er doch für die Erbringung der Leistungen verantwortlich zeichnet.
Lösung:
Frage 1.9 ist ersatzlos zu streichen. Damit würde auch der Kernforderung 4 der BAGFW zur Vereinfachung der Prüfung und zum Abbau von Bürokratie entsprochen.
3. Aufbauorganisation Personal (S. 11 ff.)
3.4 Wie groß ist der Umfang der wöchentlichen Arbeitszeit der verantwortlichen Pflegefachkraft? (S. 12, ab Z. 6)
3.5 Ist die verantwortliche Pflegefachkraft in der direkten Pflege tätig? (S. 12, ab Z. 12)
Bewertung:
Unklar ist die Interpretation der so genannten Informationsfragen 3.4 und 3.5. In der Prüfanleitung werden die Fragen damit begründet, dass ihre Beantwortung Hinweise darüber gibt, in welchem Umfang die verantwortliche Pflegefachkraft ihren Leitungsaufgaben nachkommen kann. Dies deutet darauf hin, dass aus Informationsfragen Bewertungen abgeleitet werden. Wie diese Bewertungen vorzunehmen sind, bleibt offen und damit der persönlichen Auffassung der jeweiligen Prüferinnen und Prüfer überlassen. Inwieweit eine verantwortliche Pflegefachkraft in der direkten Pflege tätig wird, hängt von vielen Faktoren ab, nicht zuletzt von der Größe des Pflegedienstes oder auch bestimmten fachlichen Aspekten. Ob die verantwortliche Pflegefachkraft ihren Leitungsaufgaben nachkommt, zeigt sich an den Ergebnissen ihrer Arbeit und ist ausschließlich danach zu bewerten.
Lösung:
Die Fragen 3.4 und 3.5 sind ersatzlos zu streichen. Damit würde auch der Kernforderung 4 der BAGFW zur Vereinfachung der Prüfung und zum Abbau von Bürokratie entsprochen.
3.8 Zusammensetzung Personal (S. 13)
Bewertung:
Hier soll eine sehr umfangreiche und detaillierte Tabelle im Erhebungsbogen einen Überblick über die Personalzusammensetzung des Pflegedienstes geben. Es gibt keine gesetzliche oder vertragliche Grundlage, welche die Erhebung der gesamten Personalstruktur im Rahmen einer Qualitätsprüfung nach § 114 SGB XI in einem ambulanten Dienst rechtfertigen könnte.
Lösung:
Auf eine Erfassung der Zusammensetzung des Personals ist, auch vor dem Hintergrund des ausschließlich informativen Charakters der Frage, im Rahmen der QPR-Prüfung zu verzichten. Damit würde auch der Kernforderung 4 der BAGFW zur Vereinfachung der Prüfung und zum Abbau von Bürokratie entsprochen.
4. Ablauforganisation (S. 14 f.)
4.1 Ist die Pflege im Sinne der Bezugspflege organisiert? (S. 14, Z. 23)
Bewertung:
Die Vertragspartner nach § 113 SGB XI haben sich bewusst dagegen entschieden, die Pflegedienste auf Bezugspflege zu verpflichten - wohl wissend, dass die Organisation von Bezugspflege kostenrelevant ist. Es ist deshalb nicht zulässig, dass der MDK die Bezugspflege als Qualitätskriterium prüft. Auch die Frage nach der personellen Kontinuität passt nicht zur Versorgungssituation in der häuslichen Pflege. Es muss als fachgerecht gelten, pflegerische Leistungen nach SGB V und SGB XI sowie hauswirtschaftliche Leistungen in der ambulanten Pflege durch wechselndes Personal erbringen zu lassen.
Lösung:
Frage 4.1 ist ersatzlos zu streichen. Damit würde auch der Kernforderung 4 der BAGFW zur Vereinfachung der Prüfung und zum Abbau von Bürokratie entsprochen.
4.2 Hat die verantwortliche Pflegefachkraft ausreichend Zeit für ihre Leitungsaufgaben? (S. 14, Z. 25)
Bewertung:
Unklar ist, nach welchen Kriterien bewertet werden soll, ob die verantwortliche Pflegefachkraft ausreichend Zeit für ihre Leitungsaufgaben hat. Der Begriff „ausreichend“ ist zu unbestimmt. Maßstab ist damit eine subjektive Einschätzung der Prüferin/des Prüfers, die zudem auf einer Momentaufnahme beruht (s. dazu auch unseren Kommentar zu den Fragen 3.4 und 3.5)
Lösung:
Frage 4.2 ist ersatzlos zu streichen. Damit würde auch der Kernforderung 4 der BAGFW zur Vereinfachung der Prüfung und zum Abbau von Bürokratie entsprochen.
4.3 Ist die fachliche Anleitung und Überprüfung grundpflegerischer Tätigkeiten von Mitarbeitern ohne pflegerische Ausbildung nachvollziehbar gewährleistet? (S. 14, Z. 35)
Bewertung:
Die fachliche Anleitung soll auch anhand der Überprüfung von mitarbeiterbezogenen Pflegevisiten erfolgen. Pflegevisiten sind stets auf den/die Pflegebedürftige/n bezogen und nicht auf Mitarbeiter.
Lösung:
Diese Frage ist zu streichen. Alternativ könnte in den Erläuterungen zur Prüffrage die „mitarbeiterbezogene Pflegevisite“ durch „Dokumente des Qualitätsmanagements“ ersetzt werden. Gleichzeitig möchten wir darauf hinweisen, dass es sich nach der neuen Terminologie im PSG II nicht mehr um „grundpflegerische Tätigkeiten“ sondern um „körperbezogene Pflegemaßnahmen“ handelt.
4.4 Liegen geeignete Dienstpläne für die Pflege vor? (S. 15)
Bewertung:
Bei der Prüfung wird auch nach dem Umfang des Beschäftigungsverhältnisses (Wochen- oder Monatsarbeitszeit) gefragt. Diese Frage ist für die Eignung der Dienstpläne irrelevant; es ist unklar, welchem Zweck sie dient. Dasselbe gilt für Soll-, Ist- und Ausfallzeiten. Es gehört nicht zu den Aufgaben des MDK bzw. des Prüfdienstes der PKV, die Einhaltung der Arbeitszeitbestimmungen zu überprüfen.
Lösung:
Die Kriterien sind entsprechend zu streichen. Damit würde auch der Kernforderung 4 der BAGFW zur Vereinfachung der Prüfung und zum Abbau von Bürokratie entsprochen. Des Weiteren ist hier zu berücksichtigen, dass die Dienstpläne auch in elektronischer Form in der EDV geführt werden können.
5. Qualitätsmanagement (S. 16 ff.)
Bewertung:
Das bisherige Kapitel 5 „Konzeptionelle Grundlagen“ wurde bis auf die Frage 5.1 gestrichen. Diese Streichung war längst fällig und ist uneingeschränkt zu begrüßen.
5.1 Liegt die Zuständigkeit für das Qualitätsmanagement auf der Leitungsebene und werden die Aufgaben von dieser wahrgenommen? (S. 16, Z. 2)
Bewertung:
In den Erläuterungen zur Prüffrage wird Bezug zu den Maßstäben und Grundsätzen für die Qualität und die Qualitätssicherung sowie für die Entwicklung eines einrichtungsinternen Qualitätsmanagements nach § 113 SGB XI in der ambulanten Pflege vom 27. Mai 2011 genommen und ausgeführt, dass die Verantwortung für die Umsetzung des Qualitätsmanagements auf der Leitungsebene des ambulanten Pflegedienstes liegen muss. Wir regen deshalb an, die Fragestellung entsprechend anzupassen.
Lösung:
In der Fragestellung ist der Begriff Zuständigkeit durch Verantwortung zu ersetzen.
5.2 Setzt der ambulante Pflegedienst die folgenden zwei per Zufallsauswahl ausgewählten Expertenstandards um? (S. 16, ab Zeile 18)
Bewertung:
Unter 5.2 soll erhoben werden, ob zwei per Zufall ausgewählte Expertenstandards vollständig im internen Qualitätsmanagement implementiert sind. Die Nationalen Expertenstandards des Deutschen Netzwerks für Qualitätsentwicklung in der Pflege (DNPQ) sind pflegefachliche Instrumente und keine Instrumente des Qualitätsmanagements (QM). Insofern geht es nicht darum, ob die Instrumente als solche im QM verankert sind, sondern vielmehr darum, ob die Pflege nach den im Standard aufbereiteten aktuellen fachlichen Wissensstand erbracht wird. Ziel der Expertenstandards ist dabei, den Pflegenden vor Ort ein Instrument an die Hand zu geben, mit dessen Hilfe sie dies erreichen können. Ggf. ist dies aber auch durch andere Instrumente und Methoden zu erreichen. Ein Nachweis für die Wirksamkeit der Umsetzung von Expertenstandards fehlt bisher.
Zwar gibt das DNQP Empfehlungen zur Implementierung der Expertenstandards; diese beruhen aber auf dem Vorgehen bei der modellhaften Implementierung im Rahmen der Standardentwicklung. Eine Eins-zu-eins-Übertragung dieser Methode ist gerade für kleine Einrichtungen und ambulante Dienste häufig nicht leistbar und es spricht nichts dagegen, andere Formen der Implementierung zu wählen. Der Verweis auf die gerichtliche Einordnung der Expertenstandards als vorweggenommene Sachverständigengutachten ist nicht zielführend und ist daher zu entfernen. Denn die Implementierung der Expertenstandards setzt eine gesetzliche oder vertragliche Verbindlichkeit voraus, die Expertenstandards einzuhalten. Nur dann ist eine vollständige Umsetzung und demzufolge auch Überprüfbarkeit zu fordern.
Fraglich ist auch, ob die Auswahl der Expertenstandards tatschlich per Zufall erfolgt, oder eher im freien Ermessen des Prüfers steht. Ob dieser seine Entscheidung „aus dem Bauch heraus“ oder mit einer bestimmten Zielrichtung bzw. aus bestimmten Erwägungen heraus auswählt, bleibt ihm überlassen. Eine Zufallsauswahl wird daher in seltenen Fällen vorliegen.
Lösung:
Diese Prüffrage ist weder rechtlich noch fachlich gedeckt und daher ersatzlos zu streichen. Damit würde auch der Kernforderung 4 der BAGFW zur Vereinfachung der Prüfung und zum Abbau von Bürokratie entsprochen.
Prüfanleitung zum Erhebungsbogen zur Prüfung beim Pflegebedürftigen (Prozess- und Ergebnisqualität) (ab S. 20)
Bewertung:
Wir verweisen auf unsere Ausführungen zur Ergebnisqualität unter unseren Kernforderungen der BAGFW: Hier wird keine Ergebnisqualität geprüft.
Lösung:
Der Titel des Erhebungsbogens ist in Erhebungsbogen zur Prüfung beim Pflegebedürftigen (Struktur- und Prozessqualität) umzubenennen.
Den Ausführungen zum Erhebungsbogen zur Prüfung beim Pflegebedürftigen ist im Weiteren voranzustellen, dass eine angemessene Bewertung des Pflegedienstes nur dann möglich ist, wenn die Qualitätsprüfung auf die von ihm erbrachten Leistungen eingegrenzt wird. In dem Entwurf der Prüfanleitung fehlt bei der Ist-Erhebung der Pflegesituation eine Eingrenzung auf die im Rahmen von Leistungsvereinbarungen mit dem/der Pflegebedürftigen abgestimmten erforderlichen Leistungen bzw. auf die vom Arzt verordneten behandlungspflegerischen Maßnahmen auch unter Berücksichtigung des Selbstbestimmungsrechts des/der Pflegebedürftigen.
8. Behandlungspflege (ab S. 22)
8.5 Wird mit Blasenspülungen sachgerecht umgegangen? (S. 25, Z. 8)
Bewertung:
Lt. Prüfanleitung ist diese Frage u.a. dann mit „ja“ zu beantworten, wenn die Maßnahme nach dem aktuellen Stand des Wissens erfolgt. Dazu ist festzustellen, dass Blasenspülungen – früher bei Infektionen der Harnblase oder auch zur Infektionsprophylaxe üblich – seit geraumer Zeit nicht mehr dem State of the Art entsprechen. (Siehe dazu z.B. folgenden Textausschnitt aus dem Artikel „Katheterdrainage der Harnblase heute, Deutsches Ärzteblatt 2000/97 (4): „Die für eine Blasenspülung erforderliche Diskonnektion eines geschlossenen Harnableitungssystems leistet der Entstehung nosokomialer Harnwegsinfektionen Vorschub und sollte schon aus diesem Grunde auf ein Minimum beschränkt werden. Die Gefährdung wird, wegen des fremdkörperinduzierten entzündlichen Ödems der Blasenschleimhaut durch manuelle Spülung mit unkontrollierbarem, intravesikalem Druck verstärkt. Eine relevante Keimreduktion oder gar -elimination kann durch die früher üblichen routinemäßigen Spülungen mit indifferenten Medien (zum Beispiel Kochsalzlösung 0,9-prozentig, Ringerlösung) nicht erreicht werden. Auch Katheterinkrustationen lassen sich so nicht vermeiden. Die Irrigation der Harnblase mit Antiseptika (zum Beispiel Chlorhexidin, wässrige PVP-Jod-Lösung) kann schon aus toxikologischen Gründen nicht empfohlen werden, und die topische Applikation systemisch anwendbarer Antibiotika ist obsolet. Lediglich bei symptomatischen Pilzinfektionen kann eine Indikation zur Instillation antifungaler Substanzen (zum Beispiel Miconazol, Nystatin) bestehen.“ Quelle: <link http: www.aerzteblatt.de archiv>www.aerzteblatt.de/archiv/20959).
Wenn – wie oben beschrieben – eine Indikation lediglich zur Instillation antifungaler Substanzen angezeigt ist, dann wäre dies unter 8.12 „Wird mit Instillationen sachgerecht umgegangen?“ zu erfassen.
Lösung:
Frage 8.5 ist ersatzlos zu streichen. Damit würde auch der Kernforderung 4 der BAGFW zur Vereinfachung der Prüfung und zum Abbau von Bürokratie entsprochen.
8.14 Wird mit der speziellen Krankenbeobachtung sachgerecht umgegangen?
Bewertung:
Neu ist hier die Erläuterung zur Prüffrage: „Grundsätzlich sind alle behandlungspflegerischen Maßnahmen unter der entsprechenden Fragestellung in Kapitel 8 zu bewerten. Bei dem Kriterium zur speziellen Krankenbeobachtung sind die Interventionsbereitschaft, die Vitalzeichenkontrolle und deren Dokumentation einschließlich aller in diesem Zeitraum anfallenden medizinisch-pflegerischen Maßnahmen, die anderweitig nicht erfasst werden können, zu bewerten.“
Diese Erläuterung trägt unserer Ansicht nach wenig zur Klärung der Frage bei, ob mit der speziellen Krankenbeobachtung „sachgerecht“ umgegangen wird. Die Inhalte der speziellen Krankenbeobachtung sind zudem nicht präzise und auch nicht vollständig dargestellt.
In der HKP-Richtlinie von März 2016 wird unter Position 24 die spezielle Krankenpflege beschrieben als: „kontinuierliche Beobachtung und Intervention mit den notwendigen medizinisch-pflegerischen Maßnahmen“ und „Dokumentation der Vitalfunktionen wie: Puls, Blutdruck, Temperatur, Haut, Schleimhaut einschließlich aller in diesem Zeitraum anfallenden pflegerischen Maßnahmen“.
Lösung:
Die Erläuterungen zu Prüffrage 8.14 sind zu präzisieren bzw. an eine Definition von spezieller Krankenbeobachtung anzupassen.
8.21 Wird mit s.c. Infusionen sachgerecht umgegangen?
Bewertung:
Diese Prüffrage wurde neu aufgenommen. In der Erläuterung zur Prüffrage steht, dass sich die Hinweise zur sachgerechten Durchführung einer subkutanen Infusion aus der Grundsatzstellungnahme Essen und Trinken im Alter (MDS, 2014) ergeben. Diese Erläuterung trägt unseres Erachtens wenig zur Klärung bei, ob mit einer subkutanen Infusion sachgerecht umgegangen wird, zumal in der Grundsatzstellungnahme selbst auf die unter Position 16a beschriebenen Kriterien für eine subkutane Infusion der die HKP-Richtlinie (Stand 8/2013) verwiesen wird.
Lösung:
Die Erläuterungen zu Prüffrage 8.21 sind zu präzisieren.
8.23 Erhält der Pflegebedürftige bei Leistungen der häuslichen Krankenpflege zur Schmerztherapie ein angemessenes pflegerisches Schmerzmanagement? (S. 29; Z. 1)
Bewertung:
Lt. Prüfanleitung bezieht sich diese Frage auf Medikamentengabe, Injektionen, Richten von Injektionen und das Auflegen von Kälteträgern im Zusammenhang mit Schmerzen. Es ist unklar, was und in welchem Umfang dabei geprüft und bewertet werden soll, zumal die genannten Aspekte ohnedies Teil von Kapitel 8 „Behandlungspflege“ sind. Abgesehen davon ist im Rahmen einer Schmerzbehandlung häufig auch eine Wärmetherapie angezeigt; die Aufzählung wäre demnach unvollständig.
Im Folgetext steht, dass die Frage nach einem „angemessenen pflegerischen Schmerzmanagement“ mit „ja“ zu beantworten sei, wenn eine systematische Schmerzeinschätzung (Befragung, Beobachtung) erfolgt und es werden entsprechende Kriterien zur Schmerzeinschätzung angegeben.
Diese Erläuterung trägt unseres Erachtens wenig zur Klärung bei, ob ein angemessenes pflegerisches Schmerzmanagement erfolgt. Zumal ein pflegerisches Schmerzmanagement mehr beinhalten muss als Schmerzeinschätzung und die Durchführung von Verordnungen (z. B. Medikamentengabe). Vielmehr geht es darum, der Entstehung von Schmerzen vorzubeugen und bestehende Schmerzen zu lindern oder auszuschalten, um so die Lebensqualität des /der Pflegebedürftigen zu erhalten oder zu verbessern. Diese vielfältigen und z. T. sehr verschiedenen Anforderungen an ein pflegerisches Schmerzmanagement sollten in der Erläuterung zur Prüffrage entsprechend berücksichtigt werden
Lösung:
Die Erläuterungen zu Prüffrage 8.23 sind zu präzisieren und so zu gestalten, dass sie den Anforderungen an ein pflegerisches Schmerzmanagement gerecht werden.
8.24 Wird mit Trachealkanülen sachgerecht umgegangen? (S. 29, Z. 18)
Bewertung:
In der Stellungnahme der BAGFW zu den QPR aus dem Jahre 2013 hatten wir darauf hingewiesen, dass bei dieser Frage der fachlich richtige Begriff „Tracheostoma“ verwendet werden sollte. In den Erhebungsbogen stationär wurde dies auch so aufgenommen. Dort steht unter Prüffrage 10.11 „Ist der Umgang mit Tracheostoma/Trachealkanülen/Absaugen sachgerecht?
Lösung:
Die Prüffrage 8.24 wird entsprechend angepasst: „Wird mit Tracheostoma/Trachealkanülen sachgerecht umgegangen?“.
8.33 Wird mit Sanierung von MRSA-Trägern sachgerecht umgegangen? (S. 32, Z. 28)
Bewertung:
Die Prüfanleitung übernimmt die Anforderungen aus Position 26a „Durchführen der Sanierung von MRSA-Trägern mit gesicherter Diagnose“ des Verzeichnisses verordnungsfähiger Maßnahmen der HKP-Richtlinie. Im Weiteren soll hier bewertet werden, ob die Empfehlungen zur Prävention und Kontrolle von Methicillinresistenten Staphylococcus-aureus-Stämmen (MRSA) in medizinischen und pflegerischen Einrichtungen der Kommission für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention beim Robert-Koch-Institut (RKI) bei der Umsetzung der Maßnahme beachtet werden. Besonders zu beachten seien dabei Hinweise zur Basishygiene sowie zur Bekämpfung unter III.1 sowie weitergehende Hinweise.
Dazu ist festzustellen, dass die Empfehlungen des RKI nur zu einem sehr geringen Teil auf die Situation in der ambulanten Pflege Bezug nehmen. Es kann aber davon ausgegangen werden, dass bei Patienten im häuslichen Umfeld eine Reihe von Maßnahmen aus dem Bereich „Basishygiene“ entfällt (so z.B. die Desinfektion von Geschirr, das Sammeln von Abfällen im Zimmer). Letztlich lassen sich die Maßnahmen zur Basishygiene damit auf Händehygiene – die im Übrigen lt. RKI den bedeutendsten Faktor bei der Prävention einer Übertragung von MRSA darstellt – auf das Aufbereiten von Medizinprodukten und ggf. auf das Tragen von Schutzkleidung beschränken.
Da sich die Prüffrage 8.33 aber auf die Sanierung von MRSA-Trägern bezieht, wären hier auch nur jene Maßnahmen aufzuführen, die der Dekolonisierung dienen (vgl. Empfehlungen des RKI, S. 714 ff.) sowie ggf. Hygienemaßnahmen, die in einem direkten Zusammenhang mit einer Dekolonisierung stehen.
Eine Prüfung und Bewertung der Umsetzung der „Allgemeine Empfehlungen für alle Einrichtungen des Gesundheitswesens und der Wohlfahrtspflege“ (Kap. III.1 der Empfehlungen) ist hier nicht angezeigt, sondern sollte primär unter 6. „Hygiene“ erfolgen.
Lösung:
Prüffrage 8.33 ist auf jene Maßnahmen zu begrenzen, die in einem direkten Zusammenhang mit der Sanierung von MRSA-Trägern stehen. Die Umsetzung der allgemeinen Maßnahmen zur Basishygiene sind im Zusammenhang mit der Überprüfung des Bereichs „Hygiene (Kapitel 6) zu erheben.
9. Mobilität (ab S. 33)
9.1 Pflegebedürftigen angetroffen (S. 33, Z. 2)
Bewertung:
Welchem Zweck die Informationsfrage dienen soll, ob der/die Pflegebedürftige liegend, sitzend, stehend, in Tageskleidung oder Nachtwäsche angetroffen wird, ist nicht klar.
Lösung:
Die Informationssammlung unter 9.1 ist auf das Wesentliche zu begrenzen, gleiches gilt für 9.2. Damit würde auch der Kernforderung 4 der BAGFW zur Vereinfachung der Prüfung und zum Abbau von Bürokratie entsprochen.
9.4 Liegt ein erhöhtes Sturzrisiko vor? (S. 33, Z. 22)
Bewertung:
Hier soll die Prüferin bzw. der Prüfer auf Grundlage der vorliegenden Informationen Stellung dazu beziehen, ob aus ihrer/seiner Sicht Anhaltspunkte für ein erhöhtes Sturzrisiko bestehen. Diese Zusatzfrage stellt eine unnötige Doppelung zu den schon vorhandenen Fragen dar, in denen ein Pflegeproblem nochmals bewertet wird. Dies stellt nicht nur einen unnötigen Aufwand dar, sondern negiert auch pauschal die fachliche Kompetenz und die berufliche Erfahrung der Pflegefachkräfte der Pflegedienste durch eine externe Momentaufnahme.
Sollte die Prüferin bzw. der Prüfer im Einzelfall Zweifel an der Aktualität oder Richtigkeit einer Risikoeinschätzung haben, besteht grundsätzlich die Möglichkeit, die vorhandene Einschätzung zu hinterfragen. Sollte es hier zu unterschiedlichen Einschätzungen kommen, gibt das Vorwort der Anlage 3 zur PTVA vor, wie zu verfahren ist. („Unter Berücksichtigung der jeweils in den Ausfüllanleitungen genannten Informationsquellen/Nachweisebenen macht sich der Prüfer ein Gesamtbild und entscheidet, ob das jeweilige Kriterium erfüllt ist oder nicht. Eine abweichende Einschätzung der einbezogenen Pflegefachkraft der stationären Pflegeeinrichtung zur Erfüllung des jeweiligen Kriteriums wird als Vermerk ‚abweichende fachliche Einschätzung‘ protokolliert. Das Abschlussgespräch dient auch der Erörterung festgestellter Mängel.“)
Lösung:
Aus Sicht der BAGFW ist daher auf diese Zusatzfrage grundsätzlich zu verzichten und die Einschätzung der Pflegerisiken durch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Einrichtungen prinzipiell zu übernehmen. Damit würde auch der Kernforderung 4 der BAGFW zur Vereinfachung der Prüfung und zum Abbau von Bürokratie entsprochen.
9.5 Werden bei Pflegebedürftigen mit einem erhöhten Sturzrisiko Pflegebedürftige/Pflegepersonen über Risiken und geeignete Maßnahmen zur Vermeidung eines Sturzes beraten? (S. 34, Z. 1)
Bewertung:
Im Erhebungsbogen ambulant ist festzustellen, dass bei verschiedenen Fragen Beratungsleistungen der Pflegeeinrichtungen gegenüber pflegebedürftigen Menschen und Angehörigen abgefragt werden. Dies sind die Fragen 9.5/ 9.7 /11.3/12.2. Zur Erhebung wird folgendes Fragenschema verwandt: "Werden Pflegebedürftige/ Pflegepersonen über Risiken und geeignete Maßnahmen zur .... beraten (z. B. ....)? mit dichotomen Antwortvorgaben (ja/nein). Mit den Fragen 9.5/ 9.7/11.3/12.2. wird dem ambulanten Pflegedienst eine Beratungspflicht zugeschrieben, die aus dem Leistungserbringungsrecht nicht ableitbar und begründbar ist. Dafür gibt es keine Finanzierung. Es handelt sich hier um eine unzulässige Ausweitung der Beratungsverpflichtung für ambulante Pflegedienste, so lange keine Finanzierung hinterlegt ist.
Darüber hinaus können ambulante Pflegedienste Beratung nur erbringen als verordnete Leistung gem. § 37 SGB V oder gem. Vereinbarungen zu Schulungen in der Häuslichkeit nach § 45 SGB XI oder im Kontext der Beratungsbesuche nach § 37 Abs. 3 SGB XI bei den Pflegegeldbeziehern.
Lösung:
Die hier angeführten Beispiele verdeutlichen, dass der GKV-Spitzenverband bzw. MDS - unabhängig von den auf Landesebene vereinbarten Leistungsbeschreibungen und Vergütungsregelungen - Leistungen definieren, die er von ambulanten Pflegediensten erwartet. Dies ist nicht zulässig, die genannten Fragen 9.5/ 9.7 /11.3/12.2. sind deshalb ersatzlos zu streichen.
9.6 Liegt ein Dekubitusrisiko vor? (S. 34, Z. 8)
Bewertung:
Hier soll die Prüferin bzw. der Prüfer auf Grundlage der vorliegenden Informationen Stellung dazu beziehen, ob aus ihrer/seiner Sicht Anhaltspunkte für ein Dekubitusrisiko bestehen. Diese Zusatzfrage stellt eine unnötige Doppelung zu den schon vorhandenen Fragen dar, in denen ein Pflegeproblem nochmals bewertet wird. Dies stellt nicht nur einen unnötigen Aufwand dar, sondern negiert auch pauschal die fachliche Kompetenz und die berufliche Erfahrung der Pflegefachkräfte des ambulanten Dienstes durch eine externe Momentaufnahme.
Sollte die Prüferin bzw. der Prüfer im Einzelfall Zweifel an der Aktualität oder Richtigkeit einer Risikoeinschätzung haben, besteht bei den verbleibenden Fragen (z. B. bei „Wird das individuelle Dekubitusrisiko erfasst?“) noch immer die Möglichkeit die Einschätzung zu hinterfragen. Sollte es hier zu unterschiedlichen Einschätzungen kommen, gibt das Vorwort der Anlage 3 zur PTVA vor, wie zu verfahren ist. („Unter Berücksichtigung der jeweils in den Ausfüllanleitungen genannten Informationsquellen/Nachweisebenen macht sich der Prüfer ein Gesamtbild und entscheidet, ob das jeweilige Kriterium erfüllt ist oder nicht. Eine abweichende Einschätzung der einbezogenen Pflegefachkraft des Pflegedienstes zur Erfüllung des jeweiligen Kriteriums wird als Vermerk ‚abweichende fachliche Einschätzung‘ protokolliert und inhaltlich zusammenfassend dargestellt. Das Abschlussgespräch dient auch der Erörterung festgestellter Mängel.“)
Lösung:
Aus Sicht der BAGFW ist daher auf diese Zusatzfrage grundsätzlich zu verzichten und die Einschätzung der Pflegerisiken durch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der ambulanten Pflegedienste prinzipiell zu übernehmen. Damit würde auch der Kernforderung 4 der BAGFW zur Vereinfachung der Prüfung und zum Abbau von Bürokratie entsprochen.
9.7 Werden Pflegebedürftige/Pflegepersonen über Risiken und geeignete Maßnahmen zur Vermeidung eines Druckgeschwüres beraten (z. B. Bewegungsplan, Einsatz von Hilfsmitteln, Hautinspektion)? (S. 34, Z. 13)
Bewertung:
Im Erhebungsbogen ambulant ist festzustellen, dass bei verschiedenen Fragen Beratungsleistungen der Pflegeeinrichtungen gegenüber pflegebedürftigen Menschen und Angehörigen abgefragt werden. Dies sind die Fragen 9.5/ 9.7 /11.3/12.2. Zur Erhebung wird folgendes Fragenschema verwandt: "Werden Pflegebedürftige/ Pflegepersonen über Risiken und geeignete Maßnahmen zur .... beraten (z. B. ....)? mit dichotomen Antwortvorgaben (ja/nein). Mit den Fragen 9.5/ 9.7/11.3/12.2. wird dem ambulanten Pflegedienst eine Beratungspflicht zugeschrieben, die aus dem Leistungserbringungsrecht nicht ableitbar und begründbar ist. Dafür gibt es keine Finanzierung. Es handelt sich hier um eine unzulässige Ausweitung der Beratungsverpflichtung für ambulante Pflegedienste, so lange keine Finanzierung hinterlegt ist.
Darüber hinaus können ambulante Pflegedienste Beratung nur erbringen als verordnete Leistung gem. § 37 SGB V oder gem. Vereinbarungen zu Schulungen in der Häuslichkeit nach § 45 SGB XI oder im Kontext der Beratungsbesuche nach § 37 Abs. 3 SGB XI bei den Pflegegeldbeziehern.
Lösung:
Die hier angeführten Beispiele verdeutlichen, dass der GKV-Spitzenverband bzw. MDS - unabhängig von den auf Landesebene vereinbarten Leistungsbeschreibungen und Vergütungsregelungen - Leistungen definieren, die er von ambulanten Pflegediensten erwartet. Dies ist nicht zulässig, die genannten Fragen 9.5/ 9.7 /11.3/12.2. sind deshalb ersatzlos zu streichen.
10. Ernährungs- und Flüssigkeitsversorgung (S. 35 ff.)
10.1 Gewicht, Größe, …(S. 35, Z. 6)
Bewertung:
Die regelmäßige und unbegründete Erhebung von Gewicht und Größe ist abzulehnen. Die Bedeutung, die hier dem BMI zugemessen wird, entspricht keineswegs dem allgemein anerkannten Stand medizinisch-pflegerischer Erkenntnisse. Unabhängig davon ist eine differenzierte Erhebung des Gewichts im häuslichen Umfeld oftmals gar nicht möglich, da u.a. keine geeigneten Waagen vorhanden sind oder aber der Pflegebedürftige dies nicht wünscht. Wenn tatsächlich eine relevante Gewichtsabnahme vorliegt, lässt sich das über andere geeignete Indikatoren wie z.B. zu weit gewordene Kleidung und schlecht sitzende Zahnprothesen feststellen.
Lösung:
Die Prüfpraxis des MDK bzw. des Prüfdienstes der PKV muss an dieser Stelle eine Korrektur erfahren, da das unreflektierte regelmäßige Wiegen der Pflegebedürftigen – und dies möglicherweise zudem auf dafür ungeeigneten Haushaltswaagen – aus unserer Sicht einen Eingriff in die Persönlichkeitsrechte der pflegebedürftigen Menschen darstellt und unnötig ist. Diesbezüglich sei auch nochmals auf unsere einleitenden Ausführungen zum Erhebungsbogen zur Prüfung beim Pflegebedürftigen verwiesen.
10.2 Der Pflegebedürftige ist versorgt mit…(S. 36, Z. 1)
s. dazu unsere Anmerkungen unter 9.1
10.3 Bestehen Risiken/Einschränkungen im Bereich der Ernährung? (S. 36, Z. 2)
Bewertung:
Hier soll die Prüferin bzw. der Prüfer auf Grundlage der vorliegenden Informationen Stellung dazu beziehen, ob aus seiner Sicht Anhaltspunkte Risiken/Einschränkungen im Bereich der Ernährung vorliegen. Diese Zusatzfragen stellen unnötige Doppelungen zu den schon vorhandenen Fragen dar, in denen ein Pflegeproblem nochmals bewertet wird. Dies stellt nicht nur einen unnötigen Aufwand dar, sondern negiert auch pauschal die fachliche Kompetenz und die berufliche Erfahrung der Pflegefachkräfte des ambulanten Dienstes durch eine externe Momentaufnahme.
Sollte die Prüferin bzw. der Prüfer im Einzelfall Zweifel an der Aktualität oder Richtigkeit einer Risikoeinschätzung haben, besteht bei den verbleibenden Fragen (z. B. bei „Werden individuelle Ernährungsrisiken erfasst?“) noch immer die Möglichkeit die Einschätzung zu hinterfragen. Sollte es hier zu unterschiedlichen Einschätzungen kommen, gibt das Vorwort der Anlage 3 zur PTVS vor, wie zu verfahren ist. („Unter Berücksichtigung der jeweils in den Ausfüllanleitungen genannten Informationsquellen/Nachweisebenen macht sich der Prüfer ein Gesamtbild und entscheidet, ob das jeweilige Kriterium erfüllt ist oder nicht. Eine abweichende Einschätzung der einbezogenen Pflegefachkraft des ambulanten Pflegedienstes zur Erfüllung des jeweiligen Kriteriums wird als Vermerk ‚abweichende fachliche Einschätzung‘ protokolliert und inhaltlich zusammenfassend dargestellt. Das Abschlussgespräch dient auch der Erörterung festgestellter Mängel.“)
Lösung:
Aus Sicht der BAGFW ist daher auf diese Zusatzfrage grundsätzlich zu verzichten und die Einschätzung der Pflegerisiken durch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der ambulanten Pflegedienste prinzipiell zu übernehmen. Damit würde auch der Kernforderung 4 der BAGFW zur Vereinfachung der Prüfung und zum Abbau von Bürokratie entsprochen.
10.4 Bestehen Risiken/Einschränkungen im Bereich der Flüssigkeitsversorgung? (S. 36, Z. 19)
Bewertung:
Hier soll die Prüferin bzw. der Prüfer auf Grundlage der vorliegenden Informationen Stellung dazu beziehen, ob aus ihrer/seiner Sicht Anhaltspunkte für Risiken/Einschränkungen im Bereich der Flüssigkeitsversorgung vorliegen. Diese Zusatzfrage stellt eine unnötige Doppelung zu den schon vorhandenen Fragen dar, in denen ein Pflegeproblem nochmals bewertet wird. Dies stellt nicht nur einen unnötigen Aufwand dar, sondern negiert auch pauschal die fachliche Kompetenz und die berufliche Erfahrung der Pflegefachkräfte der ambulanten Dienste durch eine externe Momentaufnahme.
Sollte die Prüferin bzw. der Prüfer im Einzelfall Zweifel an der Aktualität oder Richtigkeit einer Risikoeinschätzung haben, besteht bei den verbleibenden Fragen (z. B. bei „Werden individuelle Risiken bei der Flüssigkeitsversorgung erfasst?“) noch immer die Möglichkeit die Einschätzung zu hinterfragen. Sollte es hier zu unterschiedlichen Einschätzungen kommen, gibt das Vorwort der Anlage 3 zur PTVS vor, wie zu verfahren ist. („Unter Berücksichtigung der jeweils in den Ausfüllanleitungen genannten Informationsquellen/Nachweisebenen macht sich der Prüfer ein Gesamtbild und entscheidet, ob das jeweilige Kriterium erfüllt ist oder nicht. Eine abweichende Einschätzung der einbezogenen Pflegefachkraft des ambulanten Pflegedienstes zur Erfüllung des jeweiligen Kriteriums wird als Vermerk ‚abweichende fachliche Einschätzung‘ protokolliert und inhaltlich zusammenfassend dargestellt. Das Abschlussgespräch dient auch der Erörterung festgestellter Mängel.“)
Lösung:
Aus Sicht der BAGFW ist daher auf diese Zusatzfrage grundsätzlich zu verzichten und die Einschätzung der Pflegerisiken durch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der ambulanten Pflegedienste prinzipiell zu übernehmen. Damit würde auch der Kernforderung 4 der BAGFW zur Vereinfachung der Prüfung und zum Abbau von Bürokratie entsprochen.
11. Ausscheidung (S. 39 f.)
Bewertung:
Bezüglich der Informationssammlung unter 11.1 und 11.2 verweisen wir auf die einleitenden Ausführungen zum Erhebungsbogen zur Prüfung beim Pflegebedürftigen sowie die Kommentare zu den Prüffragen 9.1 und 10.2.
11.2 Bestehen Einschränkungen im Bereich der Kontinenz bzw. bei der selbständigen Versorgung einer bestehenden Inkontinenz? (S. 39, Z. 4)
Bewertung:
Hier soll die Prüferin/der Prüfer auf Grundlage der vorliegenden Informationen Stellung dazu beziehen, ob aus ihrer/seiner Sicht Einschränkungen der Kontinenz sowie Hilfebedarf bei einer bestehenden Inkontinenz vorliegen. Diese Zusatzfrage stellt eine unnötige Doppelung zu den schon vorhandenen Fragen dar, in denen ein Pflegeproblem nochmals bewertet wird. Dies stellt nicht nur einen unnötigen Aufwand dar, sondern negiert auch pauschal die fachliche Kompetenz und die berufliche Erfahrung der Pflegefachkräfte der ambulanten Dienste durch eine externe Momentaufnahme.
Sollte die Prüferin bzw. der Prüfer im Einzelfall Zweifel an der Aktualität oder Richtigkeit einer Risikoeinschätzung haben, besteht bei den verbleibenden Fragen (z. B. bei „Werden bei Bewohnern mit Harninkontinenz bzw. mit Blasenkatheter die individuellen Risiken und Ressourcen erfasst?“) noch immer die Möglichkeit die Einschätzung zu hinterfragen. Sollte es hier zu unterschiedlichen Einschätzungen kommen, gibt das Vorwort der Anlage 3 zur PTVA vor, wie zu verfahren ist. („Unter Berücksichtigung der jeweils in den Ausfüllanleitungen genannten Informationsquellen/Nachweisebenen macht sich der Prüfer ein Gesamtbild und entscheidet, ob das jeweilige Kriterium erfüllt ist oder nicht. Eine abweichende Einschätzung der einbezogenen Pflegefachkraft des ambulanten Pflegedienstes zur Erfüllung des jeweiligen Kriteriums wird als Vermerk ‚abweichende fachliche Einschätzung‘ protokolliert und inhaltlich zusammenfassend dargestellt. Das Abschlussgespräch dient auch der Erörterung festgestellter Mängel.“)
Lösung:
Aus Sicht der BAGFW ist daher auf diese Zusatzfrage grundsätzlich zu verzichten und die Einschätzung der Pflegerisiken durch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der ambulanten Pflegedienste prinzipiell zu übernehmen. Damit würde auch der Kernforderung 4 der BAGFW zur Vereinfachung der Prüfung und zum Abbau von Bürokratie entsprochen.
11.3 Werden Pflegebedürftige/Pflegepersonen über erforderliche Maßnahmen beraten (z. B. Kontinenztrainingsplan, Miktionsprotokoll, Einsatz von Hilfsmitteln, personeller Hilfebedarf z. B. beim Aufsuchen der Toilette, Hautinspektion)? (S. 39, Z. 15)
Bewertung:
Im Erhebungsbogen ambulant ist festzustellen, dass bei verschiedenen Fragen Beratungsleistungen der Pflegeeinrichtungen gegenüber pflegebedürftigen Menschen und Angehörigen abgefragt werden. Dies sind die Fragen 9.5/ 9.7 /11.3/12.2. Zur Erhebung wird folgendes Fragenschema verwandt: "Werden Pflegebedürftige/ Pflegepersonen über Risiken und geeignete Maßnahmen zur .... beraten (z. B. ....)? mit dichotomen Antwortvorgaben (ja/nein). Mit den Fragen 9.5/ 9.7/11.3/12.2. wird dem ambulanten Pflegedienst eine Beratungspflicht zugeschrieben, die aus dem Leistungserbringungsrecht nicht ableitbar und begründbar ist. Dafür gibt es keine Finanzierung. Es handelt sich hier um eine unzulässige Ausweitung der Beratungsverpflichtung für ambulante Pflegedienste, so lange keine Finanzierung hinterlegt ist.
Darüber hinaus können ambulante Pflegedienste Beratung nur erbringen als verordnete Leistung gem. § 37 SGB V oder gem. Vereinbarungen zu Schulungen in der Häuslichkeit nach § 45 SGB XI oder im Kontext der Beratungsbesuche nach § 37 Abs. 3 SGB XI bei den Pflegegeldbeziehern.
Lösung:
Die hier angeführten Beispiele verdeutlichen, dass der GKV-Spitzenverband bzw. MDS - unabhängig von den auf Landesebene vereinbarten Leistungsbeschreibungen und Vergütungsregelungen - Leistungen definieren, die er von ambulanten Pflegediensten erwartet. Dies ist nicht zulässig, die genannten Fragen 9.5/ 9.7 /11.3/12.2. sind deshalb ersatzlos zu streichen.
12.2 Werden Pflegebedürftige/Pflegepersonen bei einer vorliegenden Demenz über Risiken und erforderliche Maßnahmen beraten (z. B. Selbstgefährdung, adäquate Beschäftigungsmöglichkeiten, Tagesstrukturierung)? (S. 40, Z. 20)
Bewertung:
Im Erhebungsbogen ambulant ist festzustellen, dass bei verschiedenen Fragen Beratungsleistungen der Pflegeeinrichtungen gegenüber pflegebedürftigen Menschen und Angehörigen abgefragt werden. Dies sind die Fragen 9.5/ 9.7 /11.3/12.2. Zur Erhebung wird folgendes Fragenschema verwandt: "Werden Pflegebedürftige/ Pflegepersonen über Risiken und geeignete Maßnahmen zur .... beraten (z. B. ....)? mit dichotomen Antwortvorgaben (ja/nein). Mit den Fragen 9.5/ 9.7/11.3/12.2. wird dem ambulanten Pflegedienst eine Beratungspflicht zugeschrieben, die aus dem Leistungserbringungsrecht nicht ableitbar und begründbar ist. Dafür gibt es keine Finanzierung. Es handelt sich hier um eine unzulässige Ausweitung der Beratungsverpflichtung für ambulante Pflegedienste, so lange keine Finanzierung hinterlegt ist.
Darüber hinaus können ambulante Pflegedienste Beratung nur erbringen als verordnete Leistung gem. § 37 SGB V oder gem. Vereinbarungen zu Schulungen in der Häuslichkeit nach § 45 SGB XI oder im Kontext der Beratungsbesuche nach § 37 Abs. 3 SGB XI bei den Pflegegeldbeziehern.
Lösung:
Die hier angeführten Beispiele verdeutlichen, dass der GKV-Spitzenverband bzw. MDS - unabhängig von den auf Landesebene vereinbarten Leistungsbeschreibungen und Vergütungsregelungen - Leistungen definieren, die er von ambulanten Pflegediensten erwartet. Dies ist nicht zulässig, die genannten Fragen 9.5/ 9.7 /11.3/12.2. sind deshalb ersatzlos zu streichen.
13. Körperpflege und sonstige Aspekte der Ergebnisqualität
13.6 Sind die Mitarbeiter entsprechend ihrer fachlichen Qualifikation
eingesetzt worden? (S. 42, Z. 32)
Bewertung:
Die Frage ist nach den gegenwärtigen Erläuterungen mit „ja“ zu beantworten, wenn die eingesetzten Mitarbeiter die formale Qualifikation haben oder für eingesetzte Mitarbeiter ohne formale Qualifikation der Nachweis der materiellen Qualifikation (z. B. Fortbildung, Anleitung) vorliegt. Wie dies im Rahmen der Ist-Erhebung beim Pflegebedürftigen erhoben werden kann, erschließt sich nicht. Der Einsatz der Mitarbeiter liegt in der Verantwortung der verantwortlichen Pflegefachkraft.
Lösung:
Frage 13.6 ist ersatzlos zu streichen. Damit würde auch der Kernforderung 4 der BAGFW zur Vereinfachung der Prüfung und zum Abbau von Bürokratie entsprochen.
14. Abrechnungsprüfung (S. 43 ff.)
Kapitel 14. wurde neu eingefügt und enthält eine Reihe von Prüffragen zur Abrechnung von Leistungen nach SGB XI (14.1), Leistungen der häuslichen Krankenpflege nach SGB V (14.2) sowie sonstige Hinweise zur Abrechnungsprüfung (14.3). Zu den einzelnen Unterpunkten innerhalb dieser Themenkomplexe nehmen wir im Folgenden Stellung:
14.1 Abrechnungsprüfung von Leistungen nach dem SGB XI (S. 43 ff.)
14.1.2 Abrechnungszeitraum für körperbezogene Pflegemaßnahmen (S. 43, Z. 17-21)
Bewertung:
Die Abrechnungsprüfung für körperbezogene Pflegemaßnahmen erfolgt für mindestens 7 Tage, davon nach Möglichkeit einschließlich eines Wochenendes oder 2 Feiertage. Um die Abrechnungsprüfung auch für die ambulanten Pflegedienste praktikabel und mit einem vernünftigen Ressourceneinsatz zu gestalten, sollte auch definiert werden, welcher zeitlichen Periode die sieben Tage zugeordnet werden. Wir schlagen vor, hier auf die letzten sechs Monate vor dem Prüfungsdatum bei Regelprüfungen zurückzugreifen.
Lösung:
Die Erläuterung zur Prüffrage ist wie folgt zu fassen: „Die Abrechnungsprüfung erfolgt für mindestens 7 Tage, davon nach Möglichkeit einschließlich eines Wochenendes oder 2 Feiertage, innerhalb der letzten sechs Monate vor dem Prüfungsdatum bei Regelprüfungen.“
14.1.3 Vereinbarte Leistungen innerhalb des geprüften Abrechnungszeitraums (S. 43, Z. 23-28)
Bewertung:
Diese Prüffrage bezieht sich auf die Abrechnung der Leistungen von körperbezogenen Pflegemaßnahmen. Die Leistungen der körperbezogenen Pflegemaßnahmen können erst ab dem Jahr 2017 erbracht werden, deshalb sollte klargestellt werden, dass diese Prüffrage erst 2017 zu Anwendung kommen kann.
Lösung:
Die Erläuterungen sollten um den folgenden Satz ergänzt werden: „Die Prüffrage 14.1.3 kann erst im Jahr 2017 zur Anwendung kommen“.
14.1.4 Leistungen, die im Abrechnungszeitraum in Rechnung gestellt wurden (S. 43, Z. 30-33)
Bewertung:
Es fehlt ein Hinweis darauf, dass es sich bei den Leistungen um Leistungskomplexe, Einzelleistungen oder auch um Zeiteinheiten handeln kann.
Lösung:
Hier sollte in die Erläuterung aufgenommen werden, dass es sich hierbei um Leistungskomplexe, Einzelleistungen oder auch um Zeiteinheiten handeln kann.
14.1.5 Nachvollziehbarkeit der Leistungserbringung im Abrechnungszeitraum (S. 43 f., ab Zeile 35)
Bewertung:
1. Das Kriterium 14.1.5 ist mit „ja“ zu beantworten, wenn auf der Grundlage der heranzuziehenden abrechnungsprüfungsrelevanten Unterlagen bzw. Informationen die Durchführung der in Rechnung gestellten Leistungen nachvollziehbar ist.
2. Alternativ dazu wird formuliert, dass das Kriterium 4.1.6 mit „nein“ zu beantworten ist, wenn insbesondere verschiedene Items gegeben sind. Diese Items sind teilweise klar formuliert wie z.B. „Leistung häufiger in Rechnung gestellt als erbracht“, teilweise mit einem hohen Ausmaß an Interpretationsmöglichkeiten versehen. So ist u.a. anzukreuzen, ob Diskrepanzen zwischen Handzeichenliste, Durchführungsnachweis, Leistungsnachweis, Einsatz- /Tourenplanung und Dienstplan bestehen. Daneben wird auch geprüft, ob Diskrepanzen zwischen Pflegedokumentation, Auskunft des Pflegebedürftigen, der Pflegeperson bzw. der Angehörigen bestehen. Diese beiden Items lassen zu viel an Interpretationsspielraum offen, dem ist durch Definitionen zu begegnen. Hier fehlt bei den Erläuterungen eine Definition von Diskrepanz.
Es wird auch nicht ausgeführt, in welchen Verhältnis die einzelnen Items zueinander stehen (Über-/Unterordnung) und wie viele Items erfüllt sein müssen, damit ein „nein“ angekreuzt wird.
3. Einzelne fehlende Handzeichen dürfen nach unserer Ansicht nicht zu einer negativen Antwort führen. Hierbei verweisen wir auch auf das Vorwort zur Anlage 3 der PTVA: „Offensichtliche Ausnahmefehler in der Planung oder Dokumentation (z. B. fehlendes Handzeichen, Rechtschreibfehler) führen nicht zu einer negativen Beurteilung des Kriteriums oder der Gesamtbeurteilung des Pflegedienstes, da sie beim pflegebedürftigen Menschen keine Auswirkungen haben.“
Lösung:
Zu 1.: Es fehlt hier eine Definition der heranzuziehenden abrechnungsprüfungsrelevanten Unterlagen. Diese ist hier aufzunehmen.
Zu 2.: Es ist eine Definition von Diskrepanzen aufzunehmen. Außerdem fehlen Ausführungen wann, welche Nachweisdokumente zu prüfen sind oder ob immer alle genannten Nachweisdokumente geprüft werden müssen.
Zu 3.: Bei den Erläuterungen ist eine PTVA-konforme Definition von offensichtlichen Ausnahmefehlern aufzunehmen.
14.1.6 Vertragskonformes In-Rechnung-Stellen der vereinbarten Leistungen (S. 44, Z. 18-24)
Bewertung:
Hier soll das Item „Leistung nicht vollständig erbracht“ bewertet werden. Der LK 1 Kleine Morgen-/Abendtoilette beinhaltet beispielsweise insbesondere: „An- und Auskleiden, Teilkörperwaschen, Mundpflege und Zahnpflege, Kämmen, Rasieren“. Im Pflegevertrag wird ausschließlich der LK 1 und nicht die jeweilige im LK 1 enthaltene mögliche Leistung vereinbart. Der LK 1 beinhaltet z. B. auch das Rasieren, dies bedeutet jedoch nicht, dass jede/r Pflegedürftige/r rasiert werden möchte. Ist die Leistung dann nicht vollständig erbracht? Das Kriterium „vollständig erbracht“ kann nur bei individuell vereinbarten Einzelleistungen (jeden Mittwoch für 30 Minuten Spaziergang), jedoch nicht bei Leistungskomplexen geprüft werden.
Wenn die Leistung fachlich nicht korrekt erbracht wurde, ist dies keine Frage der Abrechnungsprüfung, sondern ein Qualitätsmangel. Muss die Leistungserbringung abgebrochen werden, weil der körperliche oder psychische Zustand des/der Pflegegebedürftigen die Fortsetzung der Leistung nicht zulässt, so ist dies vom Pflegedienst im Berichteblatt zu dokumentieren. Aus unserer Sicht gilt die Leistung i.S. einer korrekten Abrechnung dann aber trotzdem als vollständig erbracht.
Lösung:
Streichung des Items „Leistung nicht vollständig erbracht. Damit würde auch der Kernforderung 4 der BAGFW zur Vereinfachung der Prüfung und zum Abbau von Bürokratie entsprochen.
14.1.7 Abrechnungszeitraum für pflegerische Betreuungsmaßnahmen (S. 44, Z. 17-30)
Bewertung:
Die Abrechnungsprüfung für pflegerische Betreuungsmaßnahmen erfolgt für mindestens 7 Tage, davon nach Möglichkeit einschließlich eines Wochenendes oder 2 Feiertage.
Um die Abrechnungsprüfung auch für die ambulanten Pflegedienste praktikabel und mit einem vernünftigen Ressourceneinsatz zu gestalten, sollte auch definiert werden, welcher zeitlichen Periode die sieben Tage zugeordnet werden. Wir schlagen vor, hier auf die letzten sechs Monate vor dem Prüfungsdatum bei Regelprüfungen zurückzugreifen.
Lösung:
Die Erläuterung zur Prüffrage ist wie folgt zu fassen: „Die Abrechnungsprüfung erfolgt für mindestens 7 Tage, davon nach Möglichkeit einschließlich eines Wochenendes oder 2 Feiertage, innerhalb der letzten sechs Monate vor dem Prüfungsdatum bei Regelprüfungen.“
14.1.8 Vereinbarte Leistungen innerhalb des geprüften Abrechnungszeitraums (S. 45, Z. 1-6)
Bewertung:
Diese Prüffrage bezieht sich auf die Abrechnung der Leistungen von pflegerischen Betreuungsmaßnahmen. Die Leistungen der pflegerischen Betreuungsmaßnahmen können erst ab dem Jahr 2017 erbracht werden, deshalb sollte klargestellt werden, dass diese Prüffrage erst im Jahr 2017 zur Anwendung kommen kann.
Lösung:
Die Erläuterungen sollten um den folgenden Satz ergänzt werden: „Die Prüffrage 14.1.8 kann erst im Jahr 2017 zur Anwendung kommen“.
14.1.9 Leistungen, die im Abrechnungszeitraum in Rechnung gestellt wurden (S. 45, Z. 8-11)
Bewertung:
Es fehlt ein Hinweis darauf, dass es sich bei den Leistungen um Leistungskomplexe, Einzelleistungen oder auch um Zeiteinheiten handeln kann.
Lösung:
Hier sollte in die Erläuterung aufgenommen werden, dass es sich hierbei um Leistungskomplexe, Einzelleistungen oder auch um Zeiteinheiten handeln kann.
14.1.10 Nachvollziehbarkeit der Leistungserbringung im Abrechnungszeitraum (S. 45, Z. 13-29)
Bewertung:
1. Das Kriterium 14.1.10 ist mit „ja“ zu beantworten, wenn auf der Grundlage der heranzuziehenden abrechnungsprüfungsrelevanten Unterlagen bzw. Informationen die Durchführung der in Rechnung gestellten Leistungen nachvollziehbar ist.
2. Alternativ dazu wird formuliert, dass das Kriterium 4.1.10 mit „nein“ zu beantworten ist, wenn insbesondere verschiedene Items gegeben sind. Diese Items sind teilweise klar formuliert wie z.B. „Leistung häufiger in Rechnung gestellt als erbracht“, teilweise mit einem hohen Ausmaß an Interpretationsmöglichkeiten versehen. Es wird auch nicht ausgeführt, in welchen Verhältnis die einzelnen Items zueinander stehen (Über-/Unterordnung) und wie viele Items erfüllt sein müssen, damit ein „nein“ angekreuzt wird. Hier ist u.a. anzukreuzen, ob Diskrepanzen zwischen Handzeichenliste, Durchführungsnachweis, Leistungsnachweis, Einsatz- /Tourenplanung und Dienstplan bestehen. Daneben wird auch geprüft, ob Diskrepanzen zwischen Pflegedokumentation, Auskunft des Pflegebedürftigen, der Pflegeperson bzw. der Angehörigen bestehen. Diese beiden Items lassen zu viel an Interpretationsspielraum offen, dem ist durch Definitionen zu begegnen. Hier fehlt bei den Erläuterungen eine Definition von Diskrepanz.
3. Einzelne fehlende Handzeichen dürfen unserer Ansicht nach nicht zu einer negativen Antwort führen. Hierbei verweisen wir auch auf das Vorwort zur Anlage 3 der PTVA: „Offensichtliche Ausnahmefehler in der Planung oder Dokumentation (z. B. fehlendes Handzeichen, Rechtschreibfehler) führen nicht zu einer negativen Beurteilung des Kriteriums oder der Gesamtbeurteilung des Pflegedienstes, da sie beim pflegebedürftigen Menschen keine Auswirkungen haben.“
Lösung:
Zu 1.: Es fehlt hier eine Definition der heranzuziehenden abrechnungsprüfungsrelevanten Unterlagen. Diese ist hier aufzunehmen.
Zu 2.: Es ist eine Definition von Diskrepanzen aufzunehmen. Außerdem fehlen Ausführungen wann, welche Nachweisdokumente zu prüfen sind oder ob immer alle genannten Nachweisdokumente geprüft werden müssen.
Zu 3.: Bei den Erläuterungen ist eine PTVA-konforme Definition von offensichtlichen Ausnahmefehlern aufzunehmen.
14.1.11 Vertragskonformes In-Rechnung-Stellen der vereinbarten Leistungen (S. 45 f., ab Z. 31)
Bewertung:
Hier soll das Item „Leistung nicht vollständig erbracht“ bewertet werden. Das Kriterium „vollständig erbracht“ kann nur bei individuell vereinbarten Einzelleistungen (jeden Mittwoch für 30 Minuten Spaziergang), jedoch nicht bei Leistungskomplexen geprüft werden. Wenn eine Zeiteinheit von 30 Minuten vereinbart wurde und nur 15 Minuten erbracht wurden, dann können unserer Auffassung nach auch nur die 15 Minuten abgerechnet werden, wenn dies in der Verantwortung des Dienstes liegt und die Pflegekraft des Dienstes den Einsatz abbricht.
Wenn die Leistung fachlich nicht korrekt erbracht wurde, ist dies keine Frage der Abrechnungsprüfung, sondern ein Qualitätsmangel. Muss die Leistungserbringung abgebrochen werden, weil der körperliche oder psychische Zustand des/der Pflegegebedürftigen die Fortsetzung der Leistung nicht zulässt, so ist dies vom Pflegedienst im Berichteblatt zu dokumentieren. Aus unserer Sicht gilt die Leistung i.S. einer korrekten Abrechnung dann aber trotzdem als vollständig erbracht.
Lösung:
Streichung des Items „Leistung nicht vollständig erbracht“. Damit würde auch der Kernforderung 4 der BAGFW zur Vereinfachung der Prüfung und zum Abbau von Bürokratie entsprochen.
14.1.12 Abrechnungszeitraum für Hilfen bei der Haushaltsführung (S. 46, Z. 9-13)
Bewertung:
Die Abrechnungsprüfung für Hilfen bei der Haushaltsführung erfolgt für mindestens 7 Tage, davon nach Möglichkeit einschließlich eines Wochenendes oder 2 Feiertage.
Um die Abrechnungsprüfung auch für die ambulanten Pflegedienste praktikabel und mit einem vernünftigen Ressourceneinsatz zu gestalten, sollte auch definiert werden, welcher zeitlichen Periode die sieben Tage zugeordnet werden. Wir schlagen vor, hier auf die letzten sechs Monate vor dem Prüfungsdatum bei Regelprüfungen zurückzugreifen.
Lösung:
Die Erläuterung zur Prüffrage ist wie folgt zu fassen: „Die Abrechnungsprüfung erfolgt für mindestens 7 Tage, davon nach Möglichkeit einschließlich eines Wochenendes oder 2 Feiertage, innerhalb der letzten sechs Monate vor dem Prüfungsdatum bei Regelprüfungen.“
14.1.13 Vereinbarte Leistungen innerhalb des geprüften Abrechnungszeitraums (S. 45, Z. 1-6)
Bewertung:
Diese Prüffrage bezieht sich auf die Abrechnung der Hilfen bei der Haushaltsführung. Die Leistungen der Hilfen bei der Haushaltsführung können erst ab dem Jahr 2017 erbracht werden, deshalb sollte klargestellt werden, dass diese Prüffrage erst im Jahr 2017 zur Anwendung kommen kann.
Lösung:
Die Erläuterungen sollten um den folgenden Satz ergänzt werden: „Die Prüffrage 14.1.13 kann erst im Jahr 2017 zur Anwendung kommen“.
14.1.14 Leistungen, die im Abrechnungszeitraum in Rechnung gestellt wurden (S. 46, Z. 22-25)
Bewertung:
Es fehlt ein Hinweis darauf, dass es sich bei den Leistungen um Leistungskomplexe, Einzelleistungen oder auch um Zeiteinheiten handeln kann.
Lösung:
Hier sollte in die Erläuterung aufgenommen werden, dass es sich hierbei um Leistungskomplexe, Einzelleistungen oder auch um Zeiteinheiten handeln kann.
14.1.15 Nachvollziehbarkeit der Leistungserbringung im Abrechnungszeitraum (S. 47 Z. 1-17)
Bewertung:
1. Das Kriterium 14.1.15 ist mit „ja“ zu beantworten, wenn auf der Grundlage der heranzuziehenden abrechnungsprüfungsrelevanten Unterlagen bzw. Informationen die Durchführung der in Rechnung gestellten Leistungen nachvollziehbar ist.
2. Alternativ dazu wird formuliert, dass das Kriterium 14.1.15 mit nein zu beantworten ist, wenn insbesondere verschiedene Items gegeben sind. Diese Items sind teilweise klar formuliert wie z.B. „Leistung häufiger in Rechnung gestellt als erbracht“, teilweise mit einem hohen Ausmaß an Interpretationsmöglichkeiten versehen. Es wird auch nicht ausgeführt, in welchen Verhältnis die einzelnen Items zueinander stehen (Über-/Unterordnung) und wie viele Items erfüllt sein müssen, damit ein „nein“ angekreuzt wird. Hier ist u.a. anzukreuzen, ob Diskrepanzen zwischen Handzeichenliste, Durchführungsnachweis, Leistungsnachweis, Einsatz- /Tourenplanung und Dienstplan bestehen. Daneben wird auch geprüft, ob Diskrepanzen zwischen Pflegedokumentation, Auskunft des Pflegebedürftigen, der Pflegeperson bzw. der Angehörigen bestehen. Diese beiden Items lassen zu viel an Interpretationsspielraum offen, dem ist durch Definitionen zu begegnen. Hier fehlt bei den Erläuterungen eine Definition von Diskrepanz.
3. Einzelne fehlende Handzeichen dürfen nach unserer Ansicht nicht zu einer negativen Antwort führen. Hierbei verweisen wir auch auf das Vorwort zur Anlage 3 der PTVA: „Offensichtliche Ausnahmefehler in der Planung oder Dokumentation (z. B. fehlendes Handzeichen, Rechtschreibfehler) führen nicht zu einer negativen Beurteilung des Kriteriums oder der Gesamtbeurteilung des Pflegedienstes, da sie beim pflegebedürftigen Menschen keine Auswirkungen haben.“
Lösung:
Zu 1.: Es fehlt hier eine Definition der heranzuziehenden abrechnungsprüfungsrelevanten Unterlagen. Diese ist hier aufzunehmen.
Zu 2.: Es ist eine Definition von Diskrepanzen aufzunehmen. Außerdem fehlen Ausführungen wann, welche Nachweisdokumente zu prüfen sind oder ob immer alle genannten Nachweisdokumente geprüft werden müssen.
Zu 3.: Bei den Erläuterungen ist eine PTVA-konforme Definition von offensichtlichen Ausnahmefehlern aufzunehmen.
14.1.16 Vertragskonformes In-Rechnung-Stellen der vereinbarten Leistungen (S. 47, Z. 18 -25)
Bewertung:
Das Kriterium „vollständig erbracht“ kann nur bei individuell vereinbarten Einzelleistungen (jeden Mittwoch für 30 Minuten Wohnungsreinigung), jedoch nicht bei Leistungskomplexen geprüft werden. Wenn eine Zeiteinheit von 30 Minuten vereinbart wurde und nur 15 Minuten erbracht wurden, dann können unserer Auffassung nach auch nur die 15 Minuten abgerechnet werden, wenn dies in der Verantwortung des Dienstes liegt und die Pflegekraft des Dienstes den Einsatz abbricht.
Wenn die Leistung fachlich nicht korrekt erbracht wurde, ist dies keine Frage der Abrechnungsprüfung, sondern ein Qualitätsmangel. Muss die Leistungserbringung abgebrochen werden, weil der körperliche oder psychische Zustand des/der Pflegegebedürftigen die Fortsetzung der Leistung nicht zulässt, so ist dies vom Pflegedienst im Berichteblatt zu dokumentieren. Aus unserer Sicht gilt die Leistung i.S. einer korrekten Abrechnung dann aber trotzdem als vollständig erbracht.
Lösung:
Streichung des Items „Leistung nicht vollständig erbracht“. Damit würde auch der Kernforderung 4 der BAGFW zur Vereinfachung der Prüfung und zum Abbau von Bürokratie entsprochen.
14.2.2 Abrechnungszeitraum für behandlungspflegerische Maßnahmen (S. 52 f., ab Z. 16)
Bewertung:
Die Abrechnungsprüfung für behandlungspflegerische Maßnahmen erfolgt für mindestens 7 Tage, davon nach Möglichkeit einschließlich eines Wochenendes oder 2 Feiertage.
Um die Abrechnungsprüfung auch für die ambulanten Pflegedienste praktikabel und mit einem vernünftigen Ressourceneinsatz zu gestalten, sollte auch definiert werden, welcher zeitlichen Periode die sieben Tage zugeordnet werden. Wir schlagen vor, hier auf die letzten sechs Monate vor dem Prüfungsdatum bei Regelprüfungen zurückzugreifen.
Lösung:
Die Erläuterung zur Prüffrage ist wie folgt zu fassen: „Die Abrechnungsprüfung erfolgt für mindestens 7 Tage, davon nach Möglichkeit einschließlich eines Wochenendes oder 2 Feiertage, innerhalb der letzten sechs Monate vor dem Prüfungsdatum bei Regelprüfungen.“
14.2.3 Nachvollziehbarkeit der Leistungserbringung im Abrechnungszeitraum (S. 43, Z. 6-28)
Bewertung:
1. Das Kriterium 14.2.3 ist mit „ja“ zu beantworten, wenn auf der Grundlage der heranzuziehenden abrechnungsprüfungsrelevanten Unterlagen bzw. Informationen die Durchführung der in Rechnung gestellten Leistungen nachvollziehbar ist.
2. Alternativ dazu wird formuliert, dass das Kriterium 14.2.4 mit „nein“ zu beantworten ist, wenn insbesondere verschiedene Items gegeben sind. Diese Items sind teilweise klar formuliert wie z.B. „Leistung häufiger in Rechnung gestellt als erbracht“, teilweise mit einem hohen Ausmaß an Interpretationsmöglichkeiten versehen. Es wird auch nicht ausgeführt in welchen Verhältnis die einzelnen Items zueinander stehen (Über-/Unterordnung) und wie viele Items erfüllt sein müssen, damit ein „nein“ angekreuzt wird. Hier ist u.a. anzukreuzen, ob Diskrepanzen zwischen Handzeichenliste, Durchführungsnachweis, Leistungsnachweis, Einsatz- /Tourenplanung und Dienstplan bestehen. Daneben wird auch geprüft, ob Diskrepanzen zwischen Pflegedokumentation, Auskunft des Pflegebedürftigen, der Pflegeperson bzw. der Angehörigen bestehen. Diese beiden Items lassen zu viel an Interpretationsspielraum offen, dem ist durch Definitionen zu begegnen. Hier fehlt bei den Erläuterungen eine Definition von Diskrepanz.
3. Einzelne fehlende Handzeichen dürfen unserer Ansicht nach nicht zu einer negativen Antwort führen. Hierbei verweisen wir auch auf das Vorwort zur Anlage 3 der PTVA: „Offensichtliche Ausnahmefehler in der Planung oder Dokumentation (z. B. fehlendes Handzeichen, Rechtschreibfehler) führen nicht zu einer negativen Beurteilung des Kriteriums oder der Gesamtbeurteilung des Pflegedienstes, da sie beim pflegebedürftigen Menschen keine Auswirkungen haben.“
Lösung:
Zu 1.: Es fehlt hier eine Definition der heranzuziehenden abrechnungsprüfungsrelevanten Unterlagen. Diese ist hier aufzunehmen.
Zu 2.:. Es ist eine Definition von Diskrepanzen aufzunehmen. Außerdem fehlen Ausführungen wann, welche Nachweisdokumente zu prüfen sind oder ob immer alle genannten Nachweisdokumente geprüft werden müssen.
Zu 3.: Bei den Erläuterungen ist eine PTVA-konforme Definition von offensichtlichen Ausnahmefehlern aufzunehmen.
14.2.4 Vertragskonformes, gemäß den HKP-Richtlinien In-Rechnung-Stellen der vereinbarten Leistungen (S. 54, Z. 1-22)
Bewertung:
1. Bindend für die ambulanten Pflegedienste ist unserer Auffassung nach die vertragskonforme Auslegung nach den gültigen Verträgen nach § 132a Absatz 2; die Häusliche-Krankenpflege-Richtlinien sind für die ambulanten Pflegedienste nicht bindend.
2. Problematisch finden wir in 14.2.4 die Beurteilung „Leistung war nicht erforderlich“.
3. Es ist nicht die Aufgabe des MDK bzw. des PKV-Prüfdienstes im Rahmen einer Abrechnungsprüfung zu bewerten, ob eine ärztliche Verordnung Sinn macht oder nicht.<s> </s>Es ist nicht klar, nach welchen Kriterien der MDK bzw. der PKV-Prüfdienst bewertet, ob die Leistung erforderlich war. Durch diese Formulierung könnte der Eindruck entstehen, dass hier die Sinnhaftigkeit der Verordnung in Frage gestellt wird, was nicht Bestandteil der Qualitätsprüfung sein kann, zumal es sich um eine ärztliche Verordnung handelt.
4. Hier soll das Item „Leistung nicht vollständig erbracht“ bewertet werden. Entweder ist unserer Auffassung nach z. B. die Leistung Stomabehandlung erbracht oder nicht. Wenn die Leistung fachlich nicht korrekt erbracht wurde, ist dies keine Frage der Abrechnungsprüfung, sondern ein Qualitätsmangel. Muss die Leistungserbringung abgebrochen werden, weil der körperliche oder psychische Zustand des/der Pflegebedürftigen die Fortsetzung der Leistung nicht zulässt, so ist dies vom Pflegedienst im Berichteblatt zu dokumentieren. Aus unserer Sicht gilt die Leistung i.S. einer korrekten Abrechnung dann aber trotzdem als vollständig erbracht.
Lösung:
Zu 1.: In der Fragestellung ist der Halbsatz „und gemäß den HKP-Richtlinien“ zu streichen.
Zu 2.: Streichung des Items „Leistung war nicht erforderlich“.
Zu 3.: Streichung des Items „Leistung nicht vollständig erbracht“.
Damit würde auch der Kernforderung 4 der BAGFW zur Vereinfachung der Prüfung und zum Abbau von Bürokratie entsprochen.
14.2.5 Abrechnungszeitraum für Leistungen nach § 37a Abs. 1, Abs.1a SGB V (S. 54, Z. 24-28)
Bewertung:
Um die Abrechnungsprüfung auch für die ambulanten Pflegedienste praktikabel und mit einem vernünftigen Ressourceneinsatz zu gestalten, sollte auch definiert werden, welcher zeitlichen Periode die sieben Tage zugeordnet werden. Wir schlagen vor, hier auf die letzten sechs Monate vor dem Prüfungsdatum zurückzugreifen.
Lösung:
Die Erläuterung zur Prüffrage ist wie folgt zu fassen: „Die Abrechnungsprüfung erfolgt für mindestens 7 Tage, davon nach Möglichkeit einschließlich eines Wochenendes oder 2 Feiertage, innerhalb der letzten sechs Monate vor dem Prüfungsdatum.“
14.2.6 Kann nachvollzogen werden, dass alle Maßnahmen der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung nach § 37 Abs. 1, Abs. 1a SGB V erbracht, vertragskonform, gemäß HKP-Richtlinien und nicht parallel zu körperbezogenen Pflegemaßnahmen und Hilfen bei der Haushaltsführung nach § 36 SGB XI in Rechnung gestellt worden sind? (S. 54 f. ab Z. 30)
Bewertung:
1. Bindend für die ambulanten Pflegedienste ist unserer Auffassung nach die vertragskonforme Auslegung nach den gültigen Verträgen nach § 132a Absatz 2, die Häusliche-Krankenpflege-Richtlinien sind für die ambulanten Pflegedienste nicht bindend, deshalb ist der Halbsatz „und gemäß den HKP-Richtlinien“ an verschiedenen Stellen zu streichen.
2. Des Weiteren wird formuliert, dass das Kriterium 14.2.6 mit „nein“ zu beantworten ist, wenn insbesondere verschiedene Items gegeben sind. Diese Items sind teilweise klar formuliert wie z.B. „Leistung häufiger in Rechnung gestellt als erbracht“, teilweise mit einem hohen Ausmaß an Interpretationsmöglichkeiten versehen. Es wird auch nicht ausgeführt, in welchen Verhältnis die einzelnen Items zueinander stehen (Über-/Unterordnung) und wie viele Items erfüllt sein müssen, damit ein „nein“ angekreuzt wird. Hier ist u.a. anzukreuzen, ob Diskrepanzen zwischen Handzeichenliste, Durchführungsnachweis, Leistungsnachweis, Einsatz- /Tourenplanung und Dienstplan bestehen. Daneben wird auch geprüft, ob Diskrepanzen zwischen Pflegedokumentation, Auskunft des Pflegebedürftigen, der Pflegeperson bzw. der Angehörigen bestehen. Diese beiden Items lassen zu viel an Interpretationsspielraum offen, dem ist durch Definitionen zu begegnen. Hier fehlt bei den Erläuterungen eine Definition von Diskrepanz.
3. Einzelne fehlende Handzeichen dürfen nach unserer Ansicht nicht zu einer negativen Antwort führen. Hierbei verweisen wir auch auf das Vorwort zur Anlage 3 der PTVA: „Offensichtliche Ausnahmefehler in der Planung oder Dokumentation (z. B. fehlendes Handzeichen, Rechtschreibfehler) führen nicht zu einer negativen Beurteilung des Kriteriums oder der Gesamtbeurteilung des Pflegedienstes, da sie beim pflegebedürftigen Menschen keine Auswirkungen haben.“
Lösung:
Zu 1.: In der Fragestellung und an verschiedenen Stellen im Text ist der Halbsatz „und gemäß den HKP-Richtlinien“ zu streichen.
Zu 2.: Es ist eine Definition von Diskrepanzen aufzunehmen. Außerdem fehlen Ausführungen wann, welche Nachweisdokumente zu prüfen sind oder ob immer alle genannten Nachweisdokumente geprüft werden müssen.
Zu 3.: Bei den Erläuterungen ist eine PTVA-konforme Definition von offensichtlichen Ausnahmefehlern aufzunehmen.
14.3 Sonstige Hinweise zur Abrechnungsprüfung (S. 55 f., ab Z. 47)
Bewertung:
Hier können der Prüfer/die Prüferin lt. Erläuterung zur Prüffrage sonstige Hinweise zur Abrechnungsprüfung im Freitext geben, die sich nicht den Prüffragen des Kapitels 14 zuordnen lassen.
Lösung:
Frage 14.3 ist zu streichen. Der Erhebungsbogen und die Prüfanleitung zum Erhebungsbogen zur Prüfung der Qualität nach den §§ 114 ff. SGB XI in der ambulanten Pflege haben abschließenden Charakter.
15. Sonstiges (S. 56, ab Z. 6)
Bewertung:
Da unter 15. „Sonstiges“ keine Fragen o. ä. aufgeführt sind, bleibt offen, welche Informationen etc. festgehalten werden sollen. Dies widerspricht dem Erfordernis einer bundeseinheitlichen Qualitätsprüfung mit vergleichbaren Ergebnissen.
Lösung:
Kapitel 15. ist ersatzlos zu streichen. Damit würde auch der Kernforderung 4 der BAGFW zur Vereinfachung der Prüfung und zum Abbau von Bürokratie entsprochen.
16. Zufriedenheit des Leistungsbeziehers (S. 54 ff.)
Befragungsinstruktion für die ambulante Pflege (S. 54, Z. 3 ff.)
Bewertung:
Absatz 1 der Befragungsinstruktionen unterstellt, dass jede positive Aussage von Pflegebedürftigen nicht der Wahrheit entspricht, sondern durch soziale Erwünschtheit verzerrt sei. Dies verkennt die Selbstbestimmung von pflegebedürftigen Menschen und spricht ihnen die Kompetenz ab, über die Zufriedenheit mit der Lebenssituation und der Pflege durch einen ambulanten Pflegedienst ein eigenes Urteil abgeben zu können.
Lösung:
Wir empfehlen deshalb dringend, den ersten Absatz abwägender zu formulieren.
Anwesenheit eines Mitarbeiters (S. 57, Z. 32-33)
Bewertung:
Es gibt Gründe, die die Anwesenheit einer vertrauten Mitarbeiterin/eines vertrauten Mitarbeiters des Pflegedienstes induzieren, so dass die Befragungsinstruktion „Grundsätzlich sollte die Befragung nicht in Anwesenheit eines Mitarbeiters des Pflegedienstes durchgeführt werden, es sei denn der Versicherte wünscht dies.“ fachlich falsch ist.
Lösung:
Der Satz in Zeile 32-33 ist wie folgt zu formulieren: „Die Anwesenheit einer/ eines Mitarbeitenden des Pflegedienstes kann dazu beitragen, dass sich Pflegebedürftige in Anwesenheit fremder Personen (Prüferin/Prüfer) sicherer fühlt. Andererseits kann die Anwesenheit einer Mitarbeiterin/eines Mitarbeiters aber auch dazu führen, dass sich Pflegebedürftige nicht trauen, wahrheitsgemäß zu antworten. Deshalb ist im Vorfeld jeder Befragung für jeden einzelnen zu Befragenden zu klären, ob er/sie die Anwesenheit eines Mitarbeitenden des Pflegedienstes wünscht bzw. nicht wünscht und/oder ob es aus fachlicher Sicht Gründe gibt, die für die Anwesenheit von Mitarbeitenden des Pflegedienstes sprechen.“
Anlage 3 zu Teil 1: Struktur und Inhalte des Prüfberichts in der ambulanten Pflege
Abs. 3 Empfehlungen zur Beseitigung von Qualitätsdefiziten
Bewertung:
Laut Anlage 3 bzw. Anlage 6 werden hier von den Prüfern zu den bestehenden Defiziten konkrete Maßnahmen zur Beseitigung empfohlen. Diese Empfehlungen beschränken sich in der Praxis bei den Feststellungen im Bereich der Prozess- und Ergebnisqualität teilweise auf Standard-/Mustersätze. Diese sind zum einen für die Pflegedienste nicht immer nachvollziehbar, da sie sich nicht auf die konkrete Situation beziehen. Zum anderen können von den Diensten auf der Basis von Standard- und Mustersätzen häufig keine auf die konkrete Situation bezogenen Verbesserungsmaßnahmen abgeleitet werden.
Lösung:
Die Empfehlungen zur Beseitigung der Qualitätsdefizite sind bezogen auf die konkreten Feststellungen und den jeweiligen Einzelfall zu formulieren.
Teil 2 Stationäre Pflege
Präambel
Abs. 3, S.14, Z. 31-33: „Die Qualitätsprüfung des medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) sowie des PKV-Prüfdienstes wird weiterhin ein umfassenderes Spektrum abbilden, wobei der Schwerpunkt auf der Ergebnisqualität liegt.“
Bewertung:
1. In der Tat hat der Prüfkatalog einen größeren Umfang als die PTVS, nicht nur weil – wie hier im Text suggeriert wird – ein breiteres Spektrum abgedeckt wird, sondern weil zu einzelnen Themen auch weitere Prüffragen vorliegen. Ob die weiteren Themen und weiteren Fragen zu einzelnen Themen geeignet sind, über die PTVS hinaus relevante Erkenntnisse zu generieren, konnte bisher nirgends belegt werden.
2. Die Aussage, dass der Schwerpunkt dieses erweiterten Spektrums in der Ergebnisqualität liegt, ist dagegen falsch (s. a. Kernforderung 1 der BAGFW). Ganz überwiegend wird hier die Struktur- und Prozessqualität geprüft, max. Prozess-Outcomes. Aber keinesfalls wird Ergebnisqualität als Pflegezustand oder gar als Wirksamkeit der Pflege- und Betreuungsmaßnahmen im Sinne der Definition von Ergebnisqualität des § 114 SGB XI abgebildet.
Lösung:
1. Im Sinne einer der Kernforderungen der BAGFW nach Entbürokratisierung auch der Qualitätsprüfungen, wäre der Umfang des Prüfkatalogs daher zu hinterfragen.
2. Wir schlagen vor, den Halbsatz in den Zeile 32-33: „…, <s>wobei der Schwerpunkt auf der Ergebnisqualität liegt.</s>“ ersatzlos zu streichen.
1. Ziel der Richtlinien
Abs. 1, Z. 48-49: „Die Teil 2 der QPR dient als verbindliche Grundlage für eine Erfassung der Qualität in den stationären Pflegeeinrichtungen nach einheitlichen Kriterien.“
Bewertung:
1. Grammatikalisch richtig müsste der Satz mit „Der“ statt „Die“ beginnen.
2. Lt. § 114 SGB XI ist es der Auftrag der MDK- und PKV-Prüfdienste zu prüfen, ob Qualitätsanforderungen des SGB XI sowie die auf dessen Grundlage geschlossenen vertraglichen Vereinbarungen erfüllt sind. Damit ist der Auftrag bzgl. dessen, was an Qualität zu prüfen ist, klar umrissen und bezieht sich nicht auf Qualitätsfragen im Allgemeinen. Von daher ist die Formulierung in den Zeilen 48-49 „…eine Erfassung der Qualität…“ irreführend und müsste entweder entsprechend der o. g. Ausführungen analog § 114 konkretisiert werden oder anderweitig umformuliert werden.
Lösung:
Der Satz in Zeile 48-49 sollte insgesamt wie folgt geändert werden: „Der Teil 2 der QPR dient als verbindliche Grundlage für <s>eine Erfassung der</s> die Durchführung der Qualitätsprüfungen in den stationären Pflegeeinrichtungen nach einheitlichen Kriterien.“
3. Prüfauftrag
Abs. 2, S. 15, ab Z. 27:
Bewertung:
In der Praxis hat sich bewährt, dass die Prüfer bei einer Anlassprüfung der Einrichtungen den Anlass nennen und zum Abschluss der Prüfung eine Aussage treffen, ob der Prüfanlass ausgeräumt ist. Auch vor dem Hintergrund der gesetzlichen Regelung grundsätzlich unangemeldeter Prüfungen erscheint es nur angemessen, dass die Prüfer, unabhängig von der Art der Prüfung, den Prüfauftrag der Einrichtung vor Prüfungsbeginn schriftlich aushändigen.
Lösung:
In den Richtlinien ist aufzunehmen, dass der Prüfauftrag der zu prüfenden Einrichtung vorgelegt wird. Dies wäre auch eine Maßnahme im Sinne der Kernforderungen 4 der BAGFW zur Transparenz.
Abs. 3 Unterlagen zur Prüfung, S. 4, ab Z. 41
Bewertung:
In Abs. 3 ist geregelt, dass die Pflegekassen dem MDK bzw. dem PKV-Prüfdienst mit dem Prüfauftrag die erforderlichen Informationen und Unterlagen für die Qualitätsprüfung zur Verfügung stellen müssen. Neben dem eventuellen Maßnahmenbescheid nach § 115 Abs. 2 SGB XI sind dem MDK bzw. dem Prüfdienst der PKV weitere im Zusammenhang mit dem Maßnahmenbescheid von ambulanten Diensten an die Pflegekassen versandte Unterlagen von diesen zur Verfügung zu stellen.
Lösung:
Die Aufzählung der Unterlagen wäre entsprechend zu erweitern.
4. Prüfverständnis und Durchführung der Prüfung
Abs. 2 Kopien, S. 16, Z. 20:
Bewertung:
Die Qualitätsprüfung ist grundsätzlich eine Stichtags- und Vor-Ort-Prüfung. Unterlagen in Form von Kopien sollten daher nur in Ausnahmefällen und/oder zu Nachweiszwecken angefertigt und mitgenommen werden. Daher bedarf es in Zeile 24 einer genaueren Definition des Begriffs „erforderlich“.
Lösung:
Der Satz in Zeile 2 ist wie folgt zu fassen: „In Ausnahmefällen und/oder für Nachweiszwecke sind ggf. Kopien in angemessenem Umfang anzufertigen.“
Abs. 5, S. 17, ab Z. 44: Abschlussgespräch
Bewertung:
Das Abschlussgespräch dient auch der Erörterung festgestellter Mängel. In der Vergangenheit stellten die Pflegeeinrichtungen oft eine Differenz zwischen der Prüfung und dem schriftlichen Prüfergebnis fest und konnten diese nicht nachvollziehen. Es dürfen daher keine Kritikpunkte im Abschlussbericht erscheinen, die an dieser Stelle nicht angesprochen worden sind. Auch evtl. abweichende Einschätzungen zwischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Pflegeeinrichtung und der Prüfdienste im Abschlussgespräch müssen dabei als Vermerk „abweichende fachliche Einschätzung“ protokolliert werden.
Lösung:
In Zeile 47 wird folgender Satz eingefügt: „…von der Prüferin/vom Prüfer dargelegt. Das Abschlussgespräch ist von der Prüferin/vom Prüfer zu protokollieren, einschließlich der Darlegung aller festgestellten Qualitätsmängel sowie evtl. abweichender Meinungen durch die Einrichtung dazu. [neu: Absatz]
Ein umfassendes Bild…“
5. Eignung der Prüferinnen und Prüfer (S. 18, Z. 1-11)
Bewertung:
Derzeit ist nicht ausgeschlossen, dass ehemalige Mitarbeitende einer Einrichtung zum MDK wechseln und kurze Zeit später in eben der Einrichtung als MDK-Prüfer erscheinen. Das sollte ausgeschlossen werden, um eine neutrale und unvoreingenommene Sicht der Prüfenden auf die Einrichtung bzw. die Prüfsituation selbst zu gewährleisten. Dazu bietet sich eine Karenzzeit-Regelung an.
Lösung:
Es wird ein neuer Abs. 3 eingefügt:
(3) Mitglieder des Prüfteams dürfen in den letzten fünf Jahren in keinerlei Abhängigkeitsverhältnis zur geprüften Einrichtung gestanden haben, weder als angestellte Mitarbeiterin/angestellter Mitarbeiter noch als Beraterin/Berater o. ä.
6. Prüfinhalte und Umfang der Prüfung (S. 18 ff.)
Abs. 3, S. 18, Z. 36/37: „Die Regelprüfung bezieht sich in der stationären und teilstationären Pflege auf die Qualität der…“
Bewertung:
Wie schon in der 2. Kernforderung der BAGFW dargelegt, sind die Bewertungskriterien der vollstationären Pflege aufgrund unterschiedlicher Inhalte und Schwerpunkte weder eins-zu-eins auf die Kurzzeitpflege noch auf die Tagespflege übertragbar. Vielmehr müssten für beide Bereiche eigene Prüfkriterien als Anlagen zur QPR beschrieben werden. Dies erfordert nicht zuletzt auch das Gebot einer einheitlichen Prüfung, damit nicht jeweils die Beteiligten vor Ort entscheiden, wie ein vollstationäres Kriterium ggf. in der Kurzzeit- oder Tagespflege zu bewerten ist oder ob es überhaupt zutrifft.
Lösung:
1. In Zeile 36 wird das Wort „stationären“ in „vollstationären“ geändert und die Worte „<s>und teilstationären</s>“ werden gestrichen.
2. Für die Kurzzeit- und Tagespflege werden in Teil 3 und 4 der QPR jeweils ein eigener Erhebungsbogen und eine Prüfanleitung zur Prüfung der Qualität nach den §§ 114 ff. SGB XI eigenständig geregelt.
Abs. 7, S. 19, ab Z. 29: Ausweitung der Stichprobe und Umwandlung von Regelprüfungen in Anlassprüfungen
Bewertung:
1. Es wird nicht klar und begründet, warum gerade die hier beschriebenen Pflegesituationen speziell geprüft werden sollen. Zudem gibt es für einige der hier beschriebenen Pflegesituationen, wie z. B. Kontrakturen, zurzeit kein wissenschaftlich handhabbares und nachgewiesenes Verfahren zur Erhebung in der Pflege. Dies betrifft vor allem die Erhebung von Kontrakturen. Somit würde ein „sachgerechter Umgang“ bei einer Prüfung beurteilt, jedoch gäbe es keine gesicherte wissenschaftliche Grundlage dazu. Deshalb sollte das Thema „Kontrakturen“ bei der Überprüfung bis zu einer Lösung des Problems ausgeklammert werden, wie bei der Neufassung der PTVS vom 17. Dezember 2008 in der Fassung vom 10.06.2013 bereits geschehen.
2. Wird eine Regelprüfung aus den in Abs. 7 beschriebenen Gründen in eine Anlassprüfung umgeändert, muss dies auch der Einrichtung unverzüglich mitgeteilt werden.
Lösung:
1. Die entsprechende Aufzählung auf Seite 20 (Zeilen 10-16) ist zu streichen. Der Satz würde dann ab Zeile 7 wie folgt lauten: „…erfasst werden, <s>insbesondere bei folgenden Pflegesituationen:</s>
<s>- </s><s>freiheitsentziehende Maßnahmen,</s>
<s>- </s><s>Dekubitus oder andere chronische Wunden,</s>
<s>- </s><s>Ernährungsdefizite,</s>
<s>- </s><s>chronische Schmerzen,</s>
<s>- </s><s>Kontakturen,</s>
<s>- </s><s>Person mit Anlage einer PEG-Sonde,</s>
<s>- </s><s>Person mit Blasenkatheder,</s>
erfolgt die Prüfung insgesamt als Anlassprüfung. …“
2. Auf Seite 20 ist in Zeile 21 folgender Satz zu ergänzen: „Hierüber ist auch die Pflegeeinrichtung unverzüglich zu informieren.“
7. Einwilligung
Abs. 2, S. 21, ab Z. 21
Bewertung:
Es wird im Entwurf klar formuliert, für welche Tätigkeiten eine Einwilligung erforderlich ist und von wem die Einwilligung erteilt werden muss. Dies entspricht den gesetzlichen Vorgaben in § 114a SGB XI. Aus dem Wortlaut der Richtlinie lässt sich aber nicht erkennen, wer die Einwilligung einholen muss. Da aber der Prüfdienst bzw. seine Prüferinnen und Prüfer in den geschützten Rechtsbereich des pflegebedürftigen Menschen eindringen (z. B. durch Betreten seines Zimmers, Einsicht in die Pflegeunterlagen usw.), was i. Gr. einem Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung entspricht, liegt es nahe, dass sich die Prüfdienste um die erforderlichen Genehmigungen bemühen.
Lösung:
Die QPR ist hier hinsichtlich der Frage, wer die Einwilligung einholt, zu ergänzen, um klarzustellen, dass dies durch den MDK bzw. den Prüfdienst der PKV zu erfolgen hat.
Darüber hinaus ist zu regeln, dass der Pflegeeinrichtung die Einwilligung zur Kenntnis gegeben wird, damit für die Prüfung Klarheit besteht, welche Bewohnerinnen und Bewohner in die Stichprobe einbezogen werden können.
8. Zusammenarbeit mit den nach heimrechtlichen Vorschriften zuständigen Aufsichtsbehörden
Abs. 1 und 2, S. 22, ab Z. 1: Vermeidung von Doppelprüfungen, Verringerung des Prüfumfangs
Bewertung:
Es fehlen nach wie vor klare Definitionen der Prüfaufgaben von nach heimrechtlichen Vorschriften zuständigen Aufsichtsbehörden und den Prüfungen nach § 114 SGB XI in Abgrenzung voneinander. Solange es hier keine verbindlichen Vorgaben gibt, wer für welche Prüfbereiche zuständig ist, sind alle Appelle an die Absprachen und Zusammenarbeit vom „Goodwill“ einzelner Organisationen und Personen vor Ort abhängig und die Doppelprüfung gleicher Sachverhalte wird die Regel bleiben und so in Teilen weiter nur erkenntnislose Bürokratie produzieren (s. a. Kernforderung 4 der BAGFW zu Transparenz, Vereinfachung der Prüfung und Abbau von Bürokratie).
Lösung:
1. Die Prüfbehörden sollten die Einrichtungen zu Beginn der Prüfung darauf hinweisen, wenn der Prüfumfang aufgrund bereits erfolgter Prüfungen anderer Prüfbehörden reduziert werden kann. Nur so kann die Pflegeeinrichtung ihr Recht auf eine Verringerung des Prüfumfangs geltend machen.
2. Die Art und Weise, wie der Prüfumfang verringert wird, darf nicht im Ermessen des einzelnen Prüfers vor Ort liegen, vielmehr muss im Prüfauftrag dezidiert dargelegt werden, um welche Punkte der Prüfauftrag genau verringert wird. Der Einrichtung ist dies vor der Prüfung zur Kenntnis zu geben (s. a. unsere Anmerkungen zu 3. Abs. 2).
Anlage 1 zu Teil 2: Erhebungsbogen zur Prüfung der Qualität nach den § 114 ff. SGB XI in der stationären Pflege
Da die Kriterien der Anlage 1 auch Bestandteil der Prüfanleitung (Anlage 2) sind, wird im Folgenden gemeinsam zu Anlage 1 und Anlage 2 Teil 2 (stationär) Stellung genommen.
Anlage 2 zu Teil 2: Prüfanleitung zum Erhebungsbogen zur Prüfung der Qualität nach den §§ 114 ff. SGB XI in der stationären Pflege
1. Angaben zur Prüfung und zur Einrichtung (ab S. 3 ff.)
Bewertung:
Zunächst ist festzustellen, dass alle Angaben unter 1. mit M/Info gekennzeichnet sind. Wenn die Angaben nur einen informativen Charakter haben, ist zu hinterfragen, warum sie dann darüber hinaus auch mit M gekennzeichnet sind, was den Hinweisen auf dem Deckblatt zufolge Mindestangabe bedeutet. Letztendlich soll in den Qualitätsprüfungen die Qualität der Leistungserbringung überprüft werden. Viele der abgefragten Angaben sind den Pflegekassen aus den Verträgen mit den Pflegeeinrichtungen und regelmäßig einzureichenden Strukturerhebungsbögen bekannt. Auch ist in der QPR unter 3. Prüfauftrag Abs. 3 ausgeführt, dass dem MDK bzw. dem Prüfdienst der PKV mit dem Prüfauftrag die erforderlichen Informationen und Unterlagen für die Qualitätsprüfung, insbesondere Institutionskennzeichen, Versorgungsverträge, Strukturdaten, festgelegte Leistungs- und Qualitätsmerkmale nach
§ 84 Abs. 5 SGB XI etc. von den Pflegekassen zur Verfügung gestellt werden.
Lösung:
Die umfangreichen Informationsfragen unter 1. sollten auf ein sinnvolles und angemessenes Maß reduziert werden. Damit würde auch Kernforderung 4 der BAGFW zu Transparenz, Vereinfachung der Prüfung und Abbau von Bürokratie entsprochen.
1.2 Daten zur Einrichtung (S. 4 f.)
Bewertung:
Hier ist unter Buchstabe l die Einrichtungsart einzutragen, wobei zwischen stationär, teilstationär und Kurzzeitpflege unterschieden wird. Aus Sicht der BAGFW können teilstationäre Einrichtungen und Einrichtungen der Kurzzeitpflege nicht einer Prüfung mit dem Erhebungsbogen zur Prüfung der Qualität nach § 114 ff. SGB XI in der stationären Pflege unterzogen werden. So sind die Anforderungen an die Räumlichkeiten einer stationären und teilstationären Einrichtung unterschiedlich. Zudem sind die Einwirkungsmöglichkeiten von teilstationären Einrichtungen und Einrichtungen der Kurzzeitpflege aufgrund des zeitlich begrenzten Aufenthaltes der Pflegebedürftigen jeweils nur begrenzt. Dieser Tatsache wurde bzw. wird sowohl bei den Vereinbarungen nach ehemals § 80 SGB XI bzw. § 113 SGB XI Rechnung getragen. Auch im Rahmen der Verhandlungen der Vereinbarungen nach § 115 Abs. 1a SGB XI besteht Konsens über die Notwendigkeit eigenständiger Vereinbarungen für diese Bereiche.
Lösung:
Die BAGFW fordert, für teilstationäre Einrichtungen und Einrichtungen der Kurzzeitpflege gesonderte Erhebungsbögen zu erstellen (s. a. Kernforderungen 2 der BAGFW zur Prüfung der Tages- und Kurzzeitpflege nach eigenen, angemessenen Prüfkriterien).
1.5 Art der Einrichtung und Versorgungssituation (S. 7, Z. 10)
Bewertung:
Hier verweisen wir auf unsere obigen Ausführungen über die Notwendigkeit der Erstellung eigener Erhebungsbögen für den teilstationären Bereich und die Kurzzeitpflege.
Lösung:
Der Begriff „vorgehaltene Plätze“ sollte durch „Plätze laut Versorgungsvertrag“ ersetzt werden.
1.7 Nach Angabe der Pflegeeinrichtung Anzahl der Bewohner mit (S. 9, Z. 11-12)
Bewertung:
Die Zusammenstellung der genannten Diagnosen bzw. besonderen Pflegesituationen ist nicht nachvollziehbar und nicht vollständig. Uns erschließt sich auch der Mehrwert, der sich aus der quantitativen Aufstellung ergeben soll, nicht. Des Weiteren ist nicht nachvollziehbar, warum diese Tabelle als Hintergrundinformation für die Beantwortung weiterer Prüffragen dient.
Lösung:
Gerade vor dem Hintergrund einer Stichprobenprüfung der Bewohner, wie sie von der Schiedsstelle nach § 113b SGB XI in der Pflege-Transparenzvereinbarung stationär festgelegt wurde, ist aus unserer Sicht der ganze Punkt entbehrlich. (Im Übrigen sei zu diesem Sachverhalt auch auf unsere einleitenden Ausführungen zu den Qualitätsprüfungs-Richtlinien bzgl. der Kernforderung 4 verwiesen.)
1.9 Wenn schwerpunktmäßig besondere Personengruppen versorgt werden… (S. 9, ab Z. 21)
Bewertung:
Unter 1.9 wird abgefragt, ob die diesbezüglichen Anforderungen erfüllt werden, wenn schwerpunktmäßig besondere Personengruppen versorgt werden. Hier kann nur das abgeprüft werden, was vertraglich mit der Einrichtung vereinbart wurde.
Lösung:
Unseres Erachtens muss bei jedem von den vier Items (a bis d) das Feld „trifft nicht zu“ ankreuzbar sein, wenn der entsprechende Inhalt vertraglich nicht vereinbart wurde.
1.10 Werden Zusatzleistungen gemäß § 88 SGB XI von der Pflegeeinrichtung angeboten (S. 10)
Bewertung:
Die Information dient keinem erkennbaren Zweck im Rahmen der Qualitätsprüfung. In der Erläuterung zur Prüffrage in den Zeilen 8-9 steht dazu auch explizit: „Die Beurteilung, ob es sich bei den angebotenen Zusatzleistungen im Sinne des Gesetzes um solche Leistungen handelt, ist nicht die Aufgabe des Prüfteams.“
Lösung:
Die Prüffrage 1.10 mit der dazu gehörigen Erläuterung wird ersatzlos gestrichen. Damit würde auch ein Beitrag zur Vereinfachung und Entbürokratisierung der Qualitätsprüfung geleistet werden (s.a. Kernforderung 4 der BAGFW).
1.11 Werden Leistungen ganz oder teilweise durch andere Anbieter erbracht? (S. 10, Z. 11)
Bewertung:
Unter 1.11 wird erfragt, ob Leistungen ganz oder teilweise durch andere Anbieter erbracht werden und wenn ja, welche. Die Relevanz der Frage im Rahmen der Überprüfung der Qualität der Leistungen der Pflegeeinrichtung erschließt sich nicht, da diese doch für die Erbringung der Leistungen verantwortlich zeichnet. Lediglich bei der Wäscheversorgung und Hausreinigung wäre die Aufnahme der Angabe nachvollziehbar, weil hier für Leistungen, die nicht von der Einrichtung selbst erbracht werden, diverse Nachweise nicht zu führen sind. Diese Information ergibt sich aber auch durch Ankreuzen der Kategorie „t. n. z.“.
Lösung:
Es sind die Items a) Körperbezogene Pflegemaßnahmen, b) Behandlungspflege, c) Betreuung und d) Speisen- und Getränkeversorgung ersatzlos zu streichen. Damit würde auch ein Beitrag zur Vereinfachung und Entbürokratisierung der Qualitätsprüfung geleistet werden (s.a. Kernforderung 4 der BAGFW).
2.1 Defizite in der Ausstattung bei… (S. 10, Z. 25)
Bewertung:
Unter 2.1 werden diverse räumliche Ausstattungsmerkmale benannt, welche von den Mitarbeitern des MDK bzw. des PKV-Prüfdienstes dahingehend zu bewerten sind, ob hier Defizite bestehen. Zu prüfen und zu beurteilen sind, ob, um nur zwei Beispiele zu benennen, Handläufe in den Fluren oder Haltegriffe im Sanitärbereich vorhanden sind. Dies fällt in den originären Aufgabenbereich der heimrechtlichen Aufsichtsbehörden nach Landesrecht. Auch haben die Angaben nur informativen Charakter.
Lösung:
Auf die Erfassung ist im Rahmen QPR-Prüfung als Beitrag zur Reduzierung von Doppelprüfungen zu verzichten. Damit würde auch ein Beitrag zur Vereinfachung und Entbürokratisierung der Qualitätsprüfung geleistet werden (s.a. Kernforderung 4 der BAGFW).
2.2 Wird bei der Gestaltung der Wohnräume den Wünschen und Bedürfnissen der Bewohner nach Privatheit und Wohnlichkeit Rechnung getragen? (S. 11, Z. 8)
Bewertung:
Hier sind 3 Bewertungskriterien zusammengefasst. Die Kriterien unter den Buchstaben a. und c. sind aus der Pflege-Transparenzvereinbarung stationär (PTVS). Unter 2.2 Buchstabe b soll überprüft werden, ob den Bewohnern Schubladen und abschließbare Fächer zur Verfügung stehen. Dies widerspricht u. E. der Intention der Frage nach Ausrichtung der Gestaltung der Wohnräume nach Privatheit und Wohnlichkeit, insbesondere dem unter Buchstabe a. zu erfassenden Sachverhalt, ob die Gestaltung der Bewohnerzimmer z. B. mit eigenen Möbeln, persönlichen Gegenständen und Erinnerungsstücken sowie die Entscheidung über ihre Platzierung möglich ist. Des Weiteren werden hier Anforderungen gestellt, die über die Vereinbarung nach § 113 SGB XI bzw. die Landesrahmenverträge nach § 75 SGB XI und die qualitätsrelevanten Inhalte der Verträge der Pflege- und der Krankenkassen mit der jeweiligen Einrichtung hinausgehen.
Lösung:
Das Kriterium unter Buchstabe b. zu 2.2 ist ersatzlos zu streichen. Damit würde auch ein Beitrag zur Vereinfachung und Entbürokratisierung der Qualitätsprüfung geleistet werden (s.a. Kernforderung 4 der BAGFW).
3.4 Wie groß ist der Umfang der wöchentlichen Arbeitszeit der verantwortlichen Pflegefachkraft? (S. 13, Z. 4)
3.5 Ist die verantwortliche Pflegefachkraft in der direkten Pflege tätig? (S. 13, ab Z. 6)
Bewertung:
Unklar ist die Interpretation der so genannten Informationsfragen 3.4 und 3.5. In der Prüfanleitung werden die Fragen damit begründet, dass ihre Beantwortung Hinweise darüber gibt, in welchem Umfang die verantwortliche Pflegefachkraft ihren Leitungsaufgaben nachkommen kann. Dies deutet darauf hin, dass aus Informationsfragen Bewertungen abgeleitet werden. Wie diese Bewertungen vorzunehmen sind, bleibt offen und damit der persönlichen Auffassung der jeweiligen Prüferinnen und Prüfer überlassen. Inwieweit eine verantwortliche Pflegefachkraft in der direkten Pflege tätig wird, hängt von vielen Faktoren ab, nicht zuletzt von der Größe der Einrichtung. Ob die verantwortliche Pflegefachkraft ihren Leitungsaufgaben nachkommt, zeigt sich an den Ergebnissen ihrer Arbeit und ist ausschließlich danach zu bewerten.
Lösung:
Diese beiden Fragen sind ersatzlos zu streichen. Damit würde auch ein Beitrag zur Vereinfachung und Entbürokratisierung der Qualitätsprüfung geleistet werden (s.a. Kernforderung 4 der BAGFW).
3.8 Zusammensetzung Personal (S. 14)
Bewertung:
Hier soll eine sehr umfangreiche und detaillierte Tabelle im Erhebungsbogen einen Überblick über die Personalzusammensetzung in der Einrichtung geben. Es gibt keine gesetzliche oder vertragliche Grundlage, welche die Erhebung der gesamten Personalstruktur im Rahmen einer Qualitätsprüfung nach § 114 SGB XI in einer stationären Einrichtung rechtfertigen könnte. Eine Überprüfung der Fachkraftquote fällt in den originären Aufgabenbereich der heimrechtlichen Aufsichtsbehörden nach Landesrecht.
Lösung:
Auf eine Erfassung der Zusammensetzung des Personals ist, auch vor dem Hintergrund des ausschließlich informativen Charakters der Frage, im Rahmen der QPR-Prüfung zu verzichten. Damit würde auch ein Beitrag zur Vereinfachung und Entbürokratisierung der Qualitätsprüfung geleistet werden (s.a. Kernforderung 4 der BAGFW).
4.2 Nimmt die verantwortliche Pflegefachkraft ihre Aufgaben wahr? (S. 15, ab Z. 33)
Bewertung:
1. Hier werden sechs Bewertungskriterien zusammengefasst. Als ein Bewertungskriterium wird die Umsetzung des Pflegekonzeptes benannt (4.2 Buchstabe b.). Aus der Fragestellung erschließt sich jedoch nicht, wie der Nachweis geführt werden könnte und wann die Frage mit „ja“ oder „nein“ zu beantworten ist. Diese Feststellung gilt im Übrigen für alle Bewertungskriterien, die unter der o. g. Frage zusammengefasst sind. So ist z. B. zu hinterfragen, ob die verantwortliche Pflegefachkraft regelmäßig - ein eher unbestimmter Begriff - innerhalb des Pflegebereichs Dienstbesprechungen durchführt. Gerade in großen Einrichtungen werden solche Tätigkeiten von der verantwortlichen Pflegefachkraft punktuell wahrgenommen und ansonsten delegiert. Dies gilt auch für die Dienstplanung. Insofern hat die verantwortliche Pflegefachkraft auch in diesen Bereichen eher eine organisierende und koordinierende Funktion.
2. Unter Buchstabe f. wird abschließend erfragt, ob die verantwortliche Pflegefachkraft ausreichend Zeit für ihre Leitungsaufgaben hat. Auch hier ist nicht definiert, was in diesem Zusammenhang „ausreichend“ heißt. Hier wird die subjektive Einschätzung des Prüfers als Maßstab herangezogen, indem bewertet wird, ob die Pflegefachkraft „ausreichende Zeit“ für ihre Aufgaben hat. Solche unklaren Kriterien, die auf der Basis subjektiver Bewertungen zu positiven oder negativen Urteilen führen, sind nicht hinnehmbar. Dies führt zu einer unterschiedlichen Bewertung und bildet keine Grundlage für ein objektives Erhebungsinstrument. Darüber hinaus gibt es hierzu in den Rahmenverträgen vorgegebene Personalschlüssel, die von dieser Frage berührt werden und die wirtschaftlichen Möglichkeiten der Einrichtungen betreffen. Letztlich liegt es im Verantwortungsbereich des Trägers der Einrichtung, die entsprechenden und ausreichenden Ressourcen zur Verfügung zu stellen. Es kann nicht sein, dass die Ablauforganisation dann positive Wertung erfährt, wenn sie den subjektiven Vorstellungen des jeweiligen Prüfers bzw. der jeweiligen Prüferin entspricht.
Lösung:
1. In der Erläuterung ist klären, wann die Frage 4.2 b. mit „ja“ oder „nein“ zu beantworten ist. In Frage 4.2.d. ist zu erfragen, ob es Regelungen zur Dienstplanung gibt. Analog dazu ist 4.2.e zu formulieren. Beides ist nicht nur durch die verantwortliche Pflegefachkraft selbst umzusetzen, sie kann dies auch delegieren.
2. Frage 4.2 f ist ersatzlos zu streichen. Damit würde auch ein Beitrag zur Vereinfachung und Entbürokratisierung der Qualitätsprüfung geleistet werden (s.a. Kernforderung 4 der BAGFW).
4.3 Ist die fachliche Anleitung und Überprüfung körperbezogener Pflegemaßnahmen gewährleistet? (S. 16, ab Z. 12)
Bewertung:
Die fachliche Anleitung soll auch anhand der Überprüfung von mitarbeiterbezogenen Pflegevisiten erfolgen. Pflegevisiten sind stets bewohnerbezogen und nicht mitarbeiterbezogen.
Lösung:
Diese Frage ist zu streichen. Alternativ könnte in den Erläuterungen zur Prüffrage die „mitarbeiterbezogene Pflegevisite“ durch „Dokumente des Qualitätsmanagements“ ersetzt werden. Damit würde auch ein Beitrag zur Transparenz, Vereinfachung und Entbürokratisierung der Qualitätsprüfung geleistet werden (s.a. Kernforderung 4 der BAGFW).
4.4 Liegen geeignete Dienstpläne für die Pflege vor? (S. 16, Z. 23)
Bewertung:
Bei der Prüfung wird auch nach dem Umfang des Beschäftigungsverhältnisses (Wochen- oder Monatsarbeitszeit) gefragt. Diese Frage ist für die Eignung der Dienstpläne irrelevant; es ist unklar, welchem Zweck sie dient. Dasselbe gilt für Soll-, Ist- und Ausfallzeiten. Es gehört nicht zu den Aufgaben des MDK bzw. des Prüfdienstes der PKV, die Einhaltung der Arbeitszeitbestimmungen zu überprüfen.
Lösung:
Die Kriterien sind entsprechend zu streichen. Des Weiteren ist hier zu berücksichtigen, dass die Dienstpläne auch in elektronischer Form in der EDV geführt werden können. Damit würde auch ein Beitrag zur Transparenz, Vereinfachung und Entbürokratisierung der Qualitätsprüfung geleistet werden (s.a. Kernforderung 4 der BAGFW).
4.5 Ist die Personaleinsatzplanung mit Blick auf den Versorgungs- und Pflegebedarf der Bewohner adäquat? (S. 16, ab Z. 25)
Bewertung:
Auch hier ist wieder festzustellen, dass es sich bei dem Begriff „adäquat“ um einen unbestimmten Begriff handelt, welcher dem Prüfer einen entsprechenden subjektiven Bewertungsspielraum einräumt. Dabei wird nicht berücksichtigt, dass die Personaleinsatzplanung nach dem Versorgungsvertrag zu gestalten ist und es nicht im Ermessen des Prüfers oder der Prüferin liegen kann zu beurteilen, was „adäquat“ ist.
Lösung:
Frage 4.5. ist neu zu formulieren (Entspricht die Personaleinsatzplanung dem Versorgungsvertrag?).
5.2 Setzt die stationäre Pflegeeinrichtung die folgenden zwei per Zufall ausgewählten Expertenstandards um? (S. 17, ab Z. 21)
Bewertung:
Unter 5.2 soll erhoben werden, ob zwei per Zufall ausgewählte Expertenstandards vollständig im internen Qualitätsmanagement implementiert sind. Die Nationalen Expertenstandards des Deutschen Netzwerks für Qualitätsentwicklung in der Pflege (DNPQ) sind pflegefachliche Instrumente und keine Instrumente des Qualitätsmanagements (QM). Insofern geht es nicht darum, ob die Instrumente als solche im QM verankert sind, sondern vielmehr darum, ob die Pflege nach den im Standard aufbereiteten aktuellen fachlichen Wissenstand erbracht wird. Ziel der Expertenstandards ist dabei, den Pflegenden vor Ort ein Instrument an die Hand zu geben, mit dessen Hilfe sie dies erreichen können. Ggf. ist dies aber auch durch andere Instrumente und Methoden zu erreichen. Ein Nachweis für die Wirksamkeit der Umsetzung von Expertenstandards fehlt bisher.
Zwar gibt das DNQP zu den Expertenstandards, wie in der Erläuterung der Prüffrage richtig dargestellt wird, Empfehlungen zur Implementierung von Expertenstandards, diese beruhen aber auf dem Vorgehen bei der modellhaften Implementierung im Rahmen der Standardentwicklung. Eine Eins-zu-eins-Übertragung dieser Methode ist gerade für kleine Einrichtungen und ambulante Dienste häufig nicht leistbar und es spricht nichts dagegen andere Formen der Implementierung zu wählen. Empfehlungen sind naturgemäß auch nicht bindend und ihre Einhaltung kann damit nicht geprüft werden.
Der Verweis auf die gerichtliche Einordnung der Expertenstandards als vorweggenommene Sachverständigengutachten ist nicht zielführend und ist daher zu entfernen. Denn die Implementierung der Expertenstandards setzt eine gesetzliche oder vertragliche Verbindlichkeit voraus, die Expertenstandards einzuhalten. Nur dann ist eine vollständige Umsetzung und demzufolge auch Überprüfbarkeit zu fordern.
Fraglich ist auch, ob die Auswahl der Expertenstandards tatsächlich per Zufall erfolgt, oder eher im freien Ermessen des Prüfers steht. Ob dieser seine Entscheidung „aus dem Bauch heraus“ oder mit einer bestimmten Zielrichtung bzw. aus bestimmten Erwägungen heraus auswählt, bleibt ihm überlassen. Eine Zufallsauswahl wird daher in seltenen Fällen vorliegen.
Lösung:
Diese Prüffrage ist weder rechtlich noch fachlich gedeckt und daher ersatzlos zu streichen. Damit würde auch ein Beitrag zur Transparenz, Vereinfachung und Entbürokratisierung der Qualitätsprüfung geleistet werden (s. a. Kernforderung 4 der BAGFW).
6.2 Gibt es in der stationären Pflegeeinrichtung ein angemessenes Hygienemanagement? (S. 19, ab Z. 27)
6.3 Stehen den Mitarbeitern in erforderlichem Umfang Arbeitshilfen zur Verfügung? (S. 20, ab Z. 16)
6.4 Liegen geeignete Standards/Verfahrensabläufe zum Umgang mit MRSA und zur Sicherstellung entsprechende Hygieneanforderungen vor? (S. 20, ab Z. 24)
Bewertung:
Die unter 6.2 bis 6.4. angeführten Prüfinhalte werden von den Gesundheitsämtern bzw. den zuständigen Gesundheitsbehörden der Länder und in vielen Bundesländern auch noch von den jeweiligen nach den heimrechtlichen Vorschriften der Länder zuständigen Aufsichtsbehörden geprüft, so dass es nicht nur zu Doppelprüfungen, sondern Mehrfachprüfungen der gleichen Prüfinhalte kommt. Darüber hinaus bieten die Fragen nach „ausreichend Handschuhe“, „ausreichend Händedesinfektionsmittel“ und „ausreichend Schutzkleidung“ etc. viel subjektiven Bewertungsspielraum, so dass nicht klar wird, wie diese Fragen zu bewerten sind.
Lösung:
Die Fragen unter 6.2. bis 6.4. sind ersatzlos zu streichen. Damit würde auch ein Beitrag zur Vereinfachung und Entbürokratisierung der Qualitätsprüfung geleistet werden (s.a. Kernforderung 4 der BAGFW).
8.7 Hat die stationäre Pflegeeinrichtung auf der Grundlage des § 84 Abs. 8 i. V. m. § 85 Abs. 8 SGB XI Vergütungszuschläge für zusätzliche Betreuungskräfte vereinbart? (S. 24, ab Z. 16)
Bewertung:
Mit dem Item „Wenn ja, in welchem Stellenumfang?“ steht nach unserer Auffassung das Item 8.8.a „Sind die Stellen der zusätzlichen Betreuungskräfte im vereinbarten Umfang besetzt?“ in einem Sachzusammenhang zu dem hier erhobenen Sachverhalt.
Lösung:
Wir schlagen vor, das Item 8.8.a der Frage 8.7 als weiteres Item zuzuordnen. Damit würde auch ein Beitrag zur Transparenz und Vereinfachung der Qualitätsprüfung geleistet werden (s.a. Kernforderung 4 der BAGFW).
Prüfanleitung zum Erhebungsbogen zur Prüfung beim Bewohner (Prozess- und Ergebnisqualität) (S. 27, Z. 3)
Bewertung:
Es wird auf unsere Ausführungen zur Ergebnisqualität bei den Kernforderungen der BAGFW verwiesen: Hier wird keine Ergebnisqualität geprüft.
Lösung:
Der Titel des Erhebungsbogens ist deshalb in „Prüfanleitung zum Erhebungsbogen zur Prüfung beim Bewohner (Struktur- und Prozessqualität)“ umzubenennen.
Allgemeine Hinweise (S.27, Z. 5)
Bewertung / Lösung:
Den Ausführungen zum Erhebungsbogen zur Prüfung beim Bewohner ist voranzustellen, dass eine angemessene Bewertung der Einrichtung nur dann möglich ist, wenn die Qualitätsprüfung auf die bei ihm erbrachten Leistungen eingegrenzt wird. In dem Entwurf der Prüfanleitung fehlt bei der Ist-Erhebung der Pflegesituation eine Eingrenzung auf die im Rahmen der Pflegeplanung mit dem Bewohner abgestimmten erforderlichen Leistungen bzw. auf die vom Arzt verordneten behandlungspflegerischen Maßnahmen auch unter Berücksichtigung des Selbstbestimmungsrechts des Bewohners.
11.4 Liegt ein erhöhtes Sturzrisiko vor? (S. 36, ab Z. 12)
Bewertung:
Hier soll die Prüferin bzw. der Prüfer auf Grundlage der vorliegenden Informationen Stellung dazu beziehen, ob aus ihrer/seiner Sicht Anhaltspunkte für ein erhöhtes Sturzrisiko bestehen. Diese Zusatzfrage stellt eine unnötige Doppelung zu den schon vorhandenen Fragen dar, in denen ein Pflegeproblem nochmals bewertet wird. Dies stellt nicht nur einen unnötigen Aufwand dar, sondern negiert auch pauschal die fachliche Kompetenz und die berufliche Erfahrung der Pflegefachkräfte der Pflegeeinrichtung durch eine externe Momentaufnahme.
Sollte die Prüferin bzw. der Prüfer im Einzelfall Zweifel an der Aktualität oder Richtigkeit einer Risikoeinschätzung haben, besteht bei den verbleibenden Fragen (z. B. bei „Wird das individuelle Sturzrisiko erfasst?“) noch immer die Möglichkeit, die Einschätzung zu hinterfragen. Sollte es hier zu unterschiedlichen Einschätzungen kommen, gibt das Vorwort der Anlage 3 zur PTVS vor, wie zu verfahren ist. („Unter Berücksichtigung der jeweils in den Ausfüllanleitungen genannten Informationsquellen/Nachweisebenen macht sich der Prüfer ein Gesamtbild und entscheidet, ob das jeweilige Kriterium erfüllt ist oder nicht. Eine abweichende Einschätzung der einbezogenen Pflegefachkraft der stationären Pflegeeinrichtung zur Erfüllung des jeweiligen Kriteriums wird als Vermerk ‚abweichende fachliche Einschätzung‘ protokolliert und inhaltlich zusammenfassend dargestellt. Das Abschlussgespräch dient auch der Erörterung festgestellter Mängel.“)
Lösung:
Aus Sicht der BAGFW ist daher auf diese Zusatzfrage grundsätzlich zu verzichten und die Einschätzung der Pflegerisiken durch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Einrichtungen prinzipiell zu übernehmen. Damit würde auch ein Beitrag zur Transparenz, Vereinfachung und Entbürokratisierung der Qualitätsprüfung geleistet werden (s.a. Kernforderung 4 der BAGFW).
11.6 Liegt ein Dekubitusrisiko vor? (S. 37, ab Z. 24)
Bewertung:
Hier soll die Prüferin bzw. der Prüfer auf Grundlage der vorliegenden Informationen Stellung dazu beziehen, ob aus ihrer/seiner Sicht Anhaltspunkte für ein Dekubitusrisiko bestehen. Diese Zusatzfrage stellt eine unnötige Doppelung zu den schon vorhandenen Fragen dar, in denen ein Pflegeproblem nochmals bewertet wird. Dies stellt nicht nur einen unnötigen Aufwand dar, sondern negiert auch pauschal die fachliche Kompetenz und die berufliche Erfahrung der Pflegefachkräfte der Pflegeeinrichtung durch eine externe Momentaufnahme.
Sollte die Prüferin bzw. der Prüfer im Einzelfall Zweifel an der Aktualität oder Richtigkeit einer Risikoeinschätzung haben, besteht bei den verbleibenden Fragen (z. B. bei „Wird das individuelle Dekubitusrisiko erfasst?“) noch immer die Möglichkeit, die Einschätzung zu hinterfragen. Sollte es hier zu unterschiedlichen Einschätzungen kommen, gibt das Vorwort der Anlage 3 zur PTVS vor, wie zu verfahren ist. („Unter Berücksichtigung der jeweils in den Ausfüllanleitungen genannten Informationsquellen/Nachweisebenen macht sich der Prüfer ein Gesamtbild und entscheidet, ob das jeweilige Kriterium erfüllt ist oder nicht. Eine abweichende Einschätzung der einbezogenen Pflegefachkraft der stationären Pflegeeinrichtung zur Erfüllung des jeweiligen Kriteriums wird als Vermerk ‚abweichende fachliche Einschätzung‘ protokolliert und inhaltlich zusammenfassend dargestellt. Das Abschlussgespräch dient auch der Erörterung festgestellter Mängel.“)
Lösung:
Aus Sicht der BAGFW ist daher auf diese Zusatzfrage grundsätzlich zu verzichten und die Einschätzung der Pflegerisiken durch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Einrichtungen prinzipiell zu übernehmen. Damit würde auch ein Beitrag zur Transparenz, Vereinfachung und Entbürokratisierung der Qualitätsprüfung geleistet werden (s.a. Kernforderung 4 der BAGFW).
12.1 Gewicht, Größe, … (S. 38, ab Z. 26)
Bewertung:
Die regelmäßige und unbegründete Erhebung von Gewicht und Größe, wie unter 12.1a. abgebildet, entspricht nicht mehr dem State-of-the-Art der Pflegedokumentation und wurde insbesondere im Rahmen der Umsetzung des neuen Strukturmodells der Pflegedokumentation als unreflektierte Regelaufgaben abgeschafft. Die Bedeutung, die hier zusätzlich dem BMI zugemessen wird, entspricht keineswegs dem allgemein anerkannten Stand medizinisch-pflegerischer Erkenntnisse. Unabhängig davon ist sowohl bezogen auf Erfassung des BMI unter 12.1c. als auch auf die Erfassung des Gewichtsverlauf festzustellen, dass diese Prüfpraxis dazu geführt hat, dass in den Einrichtungen alle Bewohner regelmäßig gewogen werden, auch dann, wenn offensichtlich keine Ernährungsprobleme vorliegen.
Lösung:
Die Prüfpraxis des MDK bzw. des Prüfdienstes der PKV muss an dieser Stelle eine Korrektur erfahren, da das unreflektierte, verpflichtende regelmäßige Wiegen aller Bewohnerinnen und Bewohnern aus unserer Sicht einen Eingriff in die Persönlichkeitsrechte der Bewohner darstellt und außerdem unnötig ist. Diesbezüglich sei auch nochmals auf unsere einleitenden Ausführungen zum Erhebungsbogen zur Prüfung beim Bewohner verwiesen.
12.3 Bestehen Risiken/Einschränkungen im Bereich der Ernährung? (S. 39, ab Z. 2)
Bewertung:
Hier soll die Prüferin bzw. der Prüfer auf Grundlage der vorliegenden Informationen Stellung dazu beziehen, ob aus ihrer/seiner Sicht Anhaltspunkte für Risiken/Einschränkungen im Bereich der Ernährung vorliegen. Diese Zusatzfrage stellt eine unnötige Doppelung zu den schon vorhandenen Fragen dar, in denen ein Pflegeproblem nochmals bewertet wird. Dies stellt nicht nur einen unnötigen Aufwand dar, sondern negiert auch pauschal die fachliche Kompetenz und die berufliche Erfahrung der Pflegefachkräfte der Pflegeeinrichtung durch eine externe Momentaufnahme.
Sollte die Prüferin bzw. der Prüfer im Einzelfall Zweifel an der Aktualität oder Richtigkeit einer Risikoeinschätzung haben, besteht bei den verbleibenden Fragen (z. B. bei „Werden individuelle Ernährungsrisiken erfasst?“) noch immer die Möglichkeit, die Einschätzung zu hinterfragen. Sollte es hier zu unterschiedlichen Einschätzungen kommen, gibt das Vorwort der Anlage 3 zur PTVS vor, wie zu verfahren ist. („Unter Berücksichtigung der jeweils in den Ausfüllanleitungen genannten Informationsquellen/Nachweisebenen macht sich der Prüfer ein Gesamtbild und entscheidet, ob das jeweilige Kriterium erfüllt ist oder nicht. Eine abweichende Einschätzung der einbezogenen Pflegefachkraft der stationären Pflegeeinrichtung zur Erfüllung des jeweiligen Kriteriums wird als Vermerk ‚abweichende fachliche Einschätzung‘ protokolliert und inhaltlich zusammenfassend dargestellt. Das Abschlussgespräch dient auch der Erörterung festgestellter Mängel.“)
Lösung:
Aus Sicht der BAGFW ist daher auf diese Zusatzfrage grundsätzlich zu verzichten und die Einschätzung der Pflegerisiken durch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Einrichtungen prinzipiell zu übernehmen. Damit würde auch ein Beitrag zur Transparenz, Vereinfachung und Entbürokratisierung der Qualitätsprüfung geleistet werden (s.a. Kernforderung 4 der BAGFW).
12.4 Bestehen Risiken/Einschränkungen im Bereich der Flüssigkeitsversorgung? (S. 40)
Bewertung:
Hier soll die Prüferin bzw. der Prüfer auf Grundlage der vorliegenden Informationen Stellung dazu beziehen, ob aus ihrer/seiner Sicht Anhaltspunkte für Risiken/Einschränkungen im Bereich der Flüssigkeitsversorgung vorliegen. Diese Zusatzfrage stellt eine unnötige Doppe-lungen zu den schon vorhandenen Fragen dar, in denen ein Pflegeproblem nochmals bewertet wird. Dies stellt nicht nur einen unnötigen Aufwand dar, sondern negiert auch pauschal die fachliche Kompetenz und die berufliche Erfahrung der Pflegefachkräfte der Pflegeeinrichtung durch eine externe Momentaufnahme.
Sollte die Prüferin bzw. der Prüfer im Einzelfall Zweifel an der Aktualität oder Richtigkeit einer Risikoeinschätzung haben, besteht bei den verbleibenden Fragen (z. B. bei „Werden individuelle Risiken bei der Flüssigkeitsversorgung erfasst?“) noch immer die Möglichkeit, die Einschätzung zu hinterfragen. Sollte es hier zu unterschiedlichen Einschätzungen kommen, gibt das Vorwort der Anlage 3 zur PTVS vor, wie zu verfahren ist. („Unter Berücksichtigung der jeweils in den Ausfüllanleitungen genannten Informationsquellen/Nachweisebenen macht sich der Prüfer ein Gesamtbild und entscheidet, ob das jeweilige Kriterium erfüllt ist oder nicht. Eine abweichende Einschätzung der einbezogenen Pflegefachkraft der stationären Pflegeeinrichtung zur Erfüllung des jeweiligen Kriteriums wird als Vermerk ‚abweichende fachliche Einschätzung‘ protokolliert und inhaltlich zusammenfassend dargestellt. Das Abschlussgespräch dient auch der Erörterung festgestellter Mängel.“)
Lösung:
Aus Sicht der BAGFW ist daher auf diese Zusatzfrage grundsätzlich zu verzichten und die Einschätzung der Pflegerisiken durch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Einrichtungen prinzipiell zu übernehmen. Damit würde auch ein Beitrag zur Transparenz, Vereinfachung und Entbürokratisierung der Qualitätsprüfung geleistet werden (s.a. Kernforderung 4 der BAGFW).
13.2 Besteht ein Hilfebedarf bei Harninkontinenz? (S. 43, ab Z. 3)
Bewertung:
Hier soll die Prüferin/der Prüfer auf Grundlage der vorliegenden Informationen Stellung dazu beziehen, ob aus ihrer/seiner Sicht Hilfebedarf bei Harninkontinenz vorliegt. Diese Zusatzfrage stellt eine unnötige Doppelung zu den schon vorhandenen Fragen dar, in denen ein Pflegeproblem nochmals bewertet wird. Dies stellt nicht nur einen unnötigen Aufwand dar, sondern negiert auch pauschal die fachliche Kompetenz und die berufliche Erfahrung der Pflegefachkräfte der Pflegeeinrichtung durch eine externe Momentaufnahme.
Sollte die Prüferin bzw. der Prüfer im Einzelfall Zweifel an der Aktualität oder Richtigkeit einer Risikoeinschätzung haben, besteht bei den verbleibenden Fragen (z. B. bei „Werden bei Bewohnern mit Harninkontinenz bzw. mit Blasenkatheter die individuellen Risiken und Ressourcen erfasst?“) noch immer die Möglichkeit, die Einschätzung zu hinterfragen. Sollte es hier zu unterschiedlichen Einschätzungen kommen, gibt das Vorwort der Anlage 3 zur PTVS vor, wie zu verfahren ist. („Unter Berücksichtigung der jeweils in den Ausfüllanleitungen genannten Informationsquellen/Nachweisebenen macht sich der Prüfer ein Gesamtbild und entscheidet, ob das jeweilige Kriterium erfüllt ist oder nicht. Eine abweichende Einschätzung der einbezogenen Pflegefachkraft der stationären Pflegeeinrichtung zur Erfüllung des jeweiligen Kriteriums wird als Vermerk ‚abweichende fachliche Einschätzung‘ protokolliert und inhaltlich zusammenfassend dargestellt. Das Abschlussgespräch dient auch der Erörterung festgestellter Mängel.“)
Lösung:
Aus Sicht der BAGFW ist daher auf diese Zusatzfrage grundsätzlich zu verzichten und die Einschätzung der Pflegerisiken durch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Einrichtungen prinzipiell zu übernehmen. Damit würde auch ein Beitrag zur Transparenz, Vereinfachung und Entbürokratisierung der Qualitätsprüfung geleistet werden (s.a. Kernforderung 4 der BAGFW).
16. Sonstige Aspekte der Ergebnisqualität (S. 48)
Bewertung:
Der Begriff Ergebnisqualität (s. a. Kernforderung 1 der BAGFW) ist hier irreführend, da im Folgenden Struktur- und Prozessqualität abgefragt wird.
Lösung:
Die Überschrift ist wie folgt zu ändern: „16. Sonstige Aspekte der Struktur- und Prozessqualität.“
16.1. Wird beim Pflegeprozess die individuelle Betreuung berücksichtigt? (S. 48, ab Z. 1)
Bewertung:
1. In den Einrichtungen wird dies teilweise von den Sozialen Diensten auf eigenen Erhebungsbögen festgehalten. Diese sind nicht immer in Pflegedokumentationen verortet.
2. Aufgrund der Erläuterung in Zeile 8 („…die geplanten Angebote nachvollziehbar durchgeführt werden.“) werden in der Prüfpraxis vor Ort häufig Leistungsnachweise verlangt. Die Philosophie des neuen Strukturmodells der Pflegedokumentation sieht aber keine regelhaften Leistungsnachweise mehr vor. Vielmehr fungiert der Maßnahmeplan gleichzeitig als Leistungsnachweis, es sei denn es kommt zu Abweichungen.
Lösung:
1. Die Frage ist wie folgt zu formulieren: „Wird die individuelle Betreuung berücksichtigt?“
2. Die Erläuterungen sind ab Zeile 7 umzuformulieren: „… geeignete Angebote gemeinsam mit der Bewohnerin/dem Bewohner geplant und umgesetzt werden.“ Zeile 8 entfällt: „<s>die geplanten Angebote nachvollziehbar durchgeführt werden.</s>“
16.6 Kann dem Pflegebericht situationsgerechtes Handeln der Mitarbeiter der stationären Pflegeeinrichtung bei akuten Ereignissen entnommen werden? (S. 49, ab Z. 1)
Bewertung:
Hierbei handelt es sich wieder um eine Frage mit undefinierten Begriffen (akut, situationsgerecht). Dies bietet für die Prüferinnen und Prüfer zu viel Interpretationsspielraum. Sollte es hier zu unterschiedlichen Einschätzungen kommen, gibt das Vorwort der Anlage 3 zur PTVS vor, wie zu verfahren ist. („Unter Berücksichtigung der jeweils in den Ausfüllanleitungen genannten Informationsquellen/Nachweisebenen macht sich der Prüfer ein Gesamtbild und entscheidet, ob das jeweilige Kriterium erfüllt ist oder nicht. Eine abweichende Einschätzung der einbezogenen Pflegefachkraft der stationären Pflegeeinrichtung zur Erfüllung des jeweiligen Kriteriums wird als Vermerk ‚abweichende fachliche Einschätzung‘ protokolliert und inhaltlich zusammenfassend dargestellt. Das Abschlussgespräch dient auch der Erörterung festgestellter Mängel.“)
Lösung:
Es sind die verschiedenen Nachweisebenen in die Erläuterung aufzunehmen. Des Weiteren ist ein Hinweis auf den entsprechenden Text des Vorworts der Anlage 3 der PTVS aufzunehmen.
17. Sonstiges (S. 49, ab Z. 11)
Bewertung:
Da unter 17. „Sonstiges“ keine Fragen o. ä. aufgeführt sind, bleibt offen, welche Informationen etc. festgehalten werden sollen. Dies widerspricht dem Erfordernis einer bundeseinheitlichen Qualitätsprüfung mit vergleichbaren Ergebnissen.
Lösung:
Kapitel 17. ist ersatzlos zu streichen. Damit würde auch ein Beitrag zur Vereinfachung und Entbürokratisierung der Qualitätsprüfung geleistet werden (s.a. Kernforderung 4 der BAGFW).
Prüfanleitung zum Erhebungsbogen zur Befragung der Bewohner (S. 50 ff.)
18. Befragung der Bewohner, Befragungsinstruktion für die stationäre Pflege (S. 50, ab Z. 4):
Bewertung:
Der Absatz 1 der Befragungsinstruktionen unterstellt, dass jede positive Aussage eines Bewohners bzw. einer Bewohnerin nicht der Wahrheit entspricht, sondern durch soziale Erwünschtheit verzerrt sei. Dies verkennt die Selbstbestimmung der Bewohnerinnen und Bewohner und spricht ihnen die Kompetenz ab, über die Zufriedenheit mit der Lebenssituation und der Pflege in einer stationären Pflegeeinrichtung ein eigenes Urteil abgeben zu können.
Lösung:
Wir empfehlen deshalb dringend, den ersten Absatz abwägender zu formulieren.
S. 50, Z. 31-32: Anwesenheit eines Mitarbeiters…
Bewertung:
Es gibt Gründe, die die Anwesenheit einer vertrauten Mitarbeiterin/eines vertrauten Mitarbeiters der Pflegeeinrichtungen induzieren, so dass die Befragungsinstruktion „Grundsätzlich sollte die Befragung nicht in Anwesenheit eines Mitarbeiters der stationären Pflegeeinrichtung durchgeführt werden, es sei denn der Bewohner wünscht dies.“ fachlich falsch ist.
Lösung:
Der Satz in Zeile 31-32 ist wie folgt zu formulieren: „Die Anwesenheit einer/eines Mitarbeitenden der Pflegeeinrichtung kann dazu beitragen, dass sich die Bewohnerin/der Bewohner in Anwesenheit fremder Personen (Prüferin/Prüfer) sicherer fühlt. Anderseits kann die Anwesenheit einer Mitarbeiterin/eines Mitarbeiters aber auch dazu führen, dass sich die Bewohnerin/der Bewohner nicht traut, wahrheitsgemäß zu antworten. Deshalb ist im Vorfeld jeder Befragung für jeden einzelnen zu Befragenden zu klären, ob er/sie die Anwesenheit eines Mitarbeitenden der Einrichtung wünscht bzw. nicht wünscht und/oder ob es aus fachlicher Sicht Gründe gibt, die für die Anwesenheit von Mitarbeitenden der Einrichtung sprechen.“
Anlage 3 zu Teil 2: Struktur und Inhalte des Prüfberichtes für die stationäre Pflege
2. Zusammenfassende Beurteilung
S. 3, Z. 8:
Bewertung:
Aufgrund der Abschaffung einer Beurteilung zur eingeschränkten Alltagskompetenz im Rahmen der Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs, muss der Begriff der „eingeschränkten Alltagskompetenz“ ersetzt werden. Allerdings ist hier der Terminus aus den Transparenzvereinbarungen zu wählen, wie bspw. auch in den Anlagen 1 und 2 zu Teil 2 der QPR.
Lösung:
Der Satz, der in Zeile 5 beginnt, muss geändert werden und wie folgt lauten: „… Insbesondere ist der Umgang der Pflegeeinrichtung mit Pflegesituationen wie z. B. Ernährung und Flüssigkeitsversorgung, Dekubitusrisiko und Umgang mit Personen mit <s>gerontopsychiatrischen Diagnosen</s> demenzbedingten kognitiven und/oder kommunikativen Einschränkungen darzustellen.
3. Empfehlungen zur Beseitigung von Qualitätsdefiziten
S. 3, ab Z. 19
Bewertung:
Laut Anlage 3 bzw. Anlage 6 werden hier von den Prüfern zu den bestehenden Defiziten konkrete Maßnahmen zur Beseitigung empfohlen. Die Empfehlungen beschränken sich in der Praxis bei den Feststellungen im Bereich der Prozess- und Ergebnisqualität teilweise auf Standard-/Mustersätze. Diese sind zum einen von den Einrichtungen nicht immer nachvollziehbar, da sie sich nicht auf die konkrete Situation beziehen. Zum anderen können von den Einrichtungen auf der Basis von Standard- und Mustersätzen häufig keine auf die konkrete Situation bezogenen Verbesserungsmaßnahmen abgeleitet werden.
Lösung.
Die Empfehlungen zur Beseitigung der Qualitätsdefizite sind bezogen auf die konkreten Feststellungen und den jeweiligen Einzelfall bei den bewohnerbezogenen/ auf den pflegebedürftigen Menschen bezogenen Prüffragen zu formulieren.
Berlin, 18.08.2016
[1] Der GKV-Spitzenverband ist der Spitzenverband Bund der Pflegekassen nach § 53 SGB XI
Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) begrüßt die geplante Einführung eines niedrigschwelligen partizipativen Schlichtungsverfahrens und dass die Bundesregierung die notwendigen Folgeänderungen zum BGG zügig umsetzen will. Die BAGFW nimmt zu den folgenden ausgewählten Punkten Stellung:
Zu Artikel 1
Verordnung über die Schlichtungsstelle nach § 16 des Behindertengleich-stellungsgesetzes und ihr Verfahren (Behindertengleichstellungsschlichtungsverordnung – BGSV)
Die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege unterstützen die zügige Einführung eines Schlichtungsverfahrens und die dafür erforderliche Errichtung einer neutralen Schlichtungsstelle. Die Vorschaltung der Möglichkeit zu einer außergerichtlichen Einigung vor einer Klage wird als sachgerecht angesehen und begrüßt, allerdings wird dies durch die Einschränkung des Geltungsbereichs auf den öffentlich-rechtlichen Bereich eingeengt.
Zu § 2 Schlichtungsstelle
Die BAGFW begrüßt, dass die Schlichtungsstelle bei der beauftragten Person für die Belange behinderter Menschen eingerichtet wird. Wir regen an, die Schlichtungsstelle analog anderer Schlichtungsstellenregelungen mit einer ungeraden Anzahl an schlichtenden Personen, d.h. mindestens drei Personen, zu besetzen.
Zu § 3 Schlichtende Personen
Die Verbände der BAGFW bewerten die Tatsache, dass die schlichtenden Personen unabhängig und nicht an Weisungen gebunden sein werden, positiv. Auch die zusätzlich erforderlichen Qualifikationen im Bereich Mediation werden ausdrücklich begrüßt.
Zu § 3 Abs. 3
Die Bestellung der schlichtenden Personen sollte unter Beteiligung der Interessenverbände behinderter Menschen erfolgen.
Die BAGFW regt an, auch eine Regelung zur Ablehnung oder Niederlegung des Amtes durch die Schiedsperson aufzunehmen.
Zu § 7 Rechtliches Gehör
Zu § 7 Absatz 2
Nur mit Zustimmung des Antragstellers sollte auf eine mündliche Erörterung bei einem Schlichtungstermin verzichtet werden und die Schlichtung auf rein schriftlichem Weg erfolgen.
Zu § 8 Verfahren und Schlichtungsvorschlag
Zu § 8 Abs. 2
Die BAGFW regt an, bei § 8 Abs. 2 einen Satz 3 mit folgendem Inhalt einzufügen: „die Abschlussvereinbarung soll auf Verlangen in Leichter Sprache vorgelegt werden.“
Zu § 8 Abs. 4
Die BAGFW schlägt vor Abs. 4 folgendermaßen zu ergänzen:
„ der Schlichtungsvorschlag soll auf Verlangen in Leichter Sprache vorgelegt werden.“
Zu § 10 Verfahrensdauer
Ein Schlichtungsvorschlag „soll“ in der Regel innerhalb von drei Monaten nach Antragseingang unterbreitet werden. Es wird angeregt, „soll“ durch „darf in der Regel nicht länger als drei Monate nach Antragseingang erfolgen“ zu ersetzen, um so eine größere Verbindlichkeit bezüglich einer zügigen Schlichtung herzustellen.
Zu § 14 Tätigkeitsbericht
Der jährliche Tätigkeitsbericht soll öffentlich und barrierefrei zugänglich sein.
Zu § 15 Information durch die Schlichtungsstelle
Die BAGFW begrüßt, dass die Information über die Schlichtungsstelle u.a. durch eine eigene Internetseite erfolgen soll. Diese sollte barrierefrei sein und insbesondere auch in leichter Sprache verfügbar sein.
Zu Artikel 2
Änderung der Kommunikationshilfenverordnung
Die BAGFW begrüßt die in der Verordnung umgesetzten Verbesserungen für Menschen mit Sinnesbehinderungen, sieht jedoch Ergänzungsbedarf für Menschen mit kognitiven Einschränkungen, so fehlt etwa der Hinweis auf einfache und Leichte Sprache.
Zu Artikel 5
Evaluation
Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege begrüßen die geplante Evaluation der Verordnungen. Sie schlagen vor, diese wie auch das BGG nicht erst nach sechs Jahren, sondern bereits nach zwei Jahren zu evaluieren und bei der Entwicklung des Studiendesign und der Umsetzung der Evaluierung das Wissen und die Erfahrung der Interessenvertretungen von Menschen mit Behinderung von Anfang an einzubeziehen.
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§ 31 Absatz 1 – Arznei- und Verbandmittel
Referentenentwurf
§ 31 SGB V wird dahingehend erweitert, dass eine Legaldefinition für Verbandmittel mit Absatz 1 aufgenommen wird. Durch die Definition soll sichergestellt werden, dass nur jene Medizinprodukte als Verbandmittel anerkannt sind, deren Wirkungen darauf begrenzt sind, oberflächengeschädigte Körperteile zu bedecken oder deren Körperflüssigkeiten aufzusaugen. Hierunter fallen auch Verbandmittel, die Körperteile stabilisieren, immobilisieren oder komprimieren. Das Nähere zur Abgrenzung von Verbandmitteln und Produkten nach Abs. 1 Satz 2 regelt der Gemeinsame Bundesausschuss in den Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6. Hintergrund der Festlegung einer Legaldefinition ist, dass in den letzten Jahren vermehrt Produkte zur Förderung der Wundheilung auf den Markt gekommen sind, die nicht den besagten Eigenschaften entsprechen. Daraus folgt u.a., dass die Erstattung der Produkte in der gesetzlichen Krankenversicherung nicht einheitlich erfolgt.
Bewertung
Die in der BAGFW kooperierenden Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege begrüßen, dass mit dem Gesetz eine Legaldefinition für Verbandmittel aufgenommen wird und damit klar abgrenzbar ist, welche Medizinprodukte hierunter fallen. Zum einen ist eine klare Unterscheidung zwischen Verbandmittel und Arzneimittel notwendig, da für diese Produkte unterschiedliche Zulassungsverfahren gelten, zum anderen ist eine Differenzierung notwendig, um neue Produkte, die auf den Markt kommen, besser zuordnen zu können.
Für Patientinnen und Patienten dürfen aufgrund der gesetzlichen Regelung keine Nachteile in ihrer Versorgung oder durch höhere Zuzahlungen entstehen. Da der Markt der Medizinprodukte und speziell der Produkte für Wundheilung sehr innovativ ist, darf sich diesen Neuerungen nicht verschlossen werden. Im Fokus sollte der Patient sein, der eine qualitativ hohe Versorgung erfährt, aber nicht noch mehr durch Zuzahlungen belastet wird.
§ 33 Absatz 1 Satz 4 – Hilfsmittel
Referentenentwurf
Die erweiterte Formulierung in Satz 4 steht in Verbindung mit den vertraglichen Regelungen für zusätzlich zur Bereitstellung von Hilfsmitteln zu erbringende, notwendige Leistungen gemäß §§ 127 und 149 SGB V-E HHVG. Notwendige Änderungen, Instandsetzung und Ersatzbeschaffung von Hilfsmitteln, die Ausbildung in ihrem Gebrauch sowie notwendige Wartungen und technische Kontrollen werden nun als zusätzlich zu erbringende, notwendige Leistungen bezeichnet. Wenn die Krankenkassen, ihre Landesverbände oder Arbeitsgemeinschaften Verträge mit Leistungserbringern oder zu diesem Zweck gebildeten Zusammenschlüssen der Leistungserbringer über die Lieferung einer bestimmten Menge von Hilfsmitteln, die Durchführung einer bestimmten Anzahl von Versorgungen oder die Versorgung für einen bestimmten Zeitraum schließen, haben sie darin auch die Sicherstellung der zusätzlichen Leistungen zu regeln.
Bewertung
Die notwendige Änderung, Instandsetzung und Ersatzbeschaffung von Hilfsmitteln, die Ausbildung in ihrem Gebrauch sowie Leistungen der Wartung und technischen Kontrolle von Hilfsmitteln sollen nun ausdrücklich vertraglich geregelt werden können. Dies ist als Schritt in die richtige Richtung zu begrüßen, weil dadurch eine passgenaue Versorgung mit Hilfsmitteln, der sachgerechte Umgang mit diesen und das Aufrechterhalten der Sicherheit und Funktionsfähigkeit von Hilfsmitteln erstmals verpflichtend festlegbar wird für den Fall, dass Verträge gemäß § 127 Abs. 1 SGB V-E geschlossen werden.
§ 33 Absatz 6 Satz 4 – Hilfsmittel
Referentenentwurf
Die Ergänzung in § 33 Absatz 6 bezieht sich auf § 127 Absatz 1, Satz 4 und besagt, dass Versicherte für individuell angefertigte Hilfsmittel und Versorgungen mit hohem Dienstleistungsanteil einen Leistungserbringer frei auswählen können. Für individuell angefertigte Hilfsmittel wie z.B. orthopädische Maßschuhe und bei Versorgungen mit hohem Dienstleistungsanteil wie z.B. bei der Versorgung mit einer Trachealkanüle können Versicherte den Leistungserbringer somit frei auswählen.
Bewertung
Es ist zu begrüßen, dass für höchst individuell angepasste Versorgungen die freie Wahl eines Leistungserbringers des Vertrauens gesetzlich festgeschrieben werden soll. Bisher war lediglich festgelegt, dass für Hilfsmittel, die für einen bestimmten Versicherten individuell angefertigt werden, oder bei Versorgungen mit hohem Dienstleistungsanteil Ausschreibungen in der Regel nicht zweckmäßig sind. Mit der neuen ergänzenden Regelung wird für diesen besonders sensiblen Versorgungsbereich Rechtssicherheit geschaffen.
§ 37 – Häusliche Krankenpflege
Referentenentwurf
Nach § 37 Absatz 7 SGB V neu legt der Gemeinsame Bundesausschuss in seinen Richtlinien nach § 92 Absatz 6 explizit das Nähere zur Versorgung von chronischen und schwer heilenden Wunden fest. Des Weiteren soll klargestellt werden, dass die Versorgung von chronischen und schwer heilenden Wunden auch in entsprechend auf die Versorgung dieser Art von Wunden spezialisierten Einrichtungen, außerhalb der Häuslichkeit der Patientin oder des Patienten, erbracht werden kann.
Bewertung
Ausweislich der Gesetzesbegründung soll mit der Änderung die Wundversorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung gestärkt werden, es sollen aktuelle Entwicklungen in der Wundversorgung aufgegriffen werden und durch die Stärkung der ambulanten Wundversorgung nicht notwendige Krankenhausaufenthalte vermieden werden. Des Weiteren wird darauf verwiesen, dass Versicherte einer Wundbehandlung bedürfen, die dem aktuellen Stand der Versorgung entspricht und individuell angepasst ist. Diese Ziele teilen wir uneingeschränkt. Sie gelten bereits jetzt für die Häusliche Krankenpflege.
Die in der BAGFW kooperierenden Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege setzen sich darüber hinaus dafür ein, dass besonders spezialisierte Pflegefachkräfte für das Wundmanagement in weitaus stärkerem Maße für die Wundversorgung im ambulanten Bereich und auch in der vollstationären Pflege eingesetzt werden können. Viele ambulante Pflegedienste haben inzwischen für das Wundmanagement weitergebildete Pflegefachkräfte. Gerade ältere pflegebedürftige Menschen, die beispielsweise an Ulcus cruris oder diabetischem Fußsyndrom oder unter ulzerierenden Tumoren leiden, bedürfen oft einer spezifischen Versorgung durch zu Wundmanagerinnen und Wundmanagern fort-/weitergebildeten Pflegefachkräfte.
Wir erachten es grundsätzlich als sachgerecht, dass auch spezialisierte Einrichtungen, die nicht die Häuslichkeit darstellen, als andere geeignete Orte zur Erbringung von Häuslicher Krankenpflege anerkannt werden sollen. Dies gilt auch für sog. Wundzentren, die Patienten mit chronischen Wunden versorgen und dafür besonders qualifizierte Pflegekräfte für die Wundversorgung beschäftigen.
Eine flächendeckende qualitativ hochwertige Wundversorgung kann durch die Regelversorgung zugelassener Pflegedienste, ggf. in Zusammenarbeit mit Wundzentren, gewährleistet werden.
Aus Sicht der in der BAGFW kooperierenden Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege bildet § 37 Absatz 6 SGB V in der bestehenden Fassung bereits jetzt eine ausreichende Grundlage, um die häusliche Krankenpflege in solchen spezialisierten Einrichtungen zu ermöglichen, denn der Gemeinsame Bundesausschuss kann auf dieser Rechtsgrundlage auch heute schon festlegen, dass Wundzentren geeignete Orte für die Leistungserbringung sein können. Einer Erweiterung um § 37 Absatz 7 SGB V bedarf es deshalb nicht. Auch bereits jetzt bedürfen Versicherte einer Wundbehandlung, die dem aktuellen Stand der Versorgung entspricht und individuell angepasst ist.
Nicht zuletzt weisen wir darauf hin, dass Wundzentren auch Verträge der Integrierten Versorgung nach § 140a SGB V mit den Krankenkassen abschließen können und es hierzu eine Vielzahl funktionierender Beispiele gibt. Dies auch gerade vor dem Hintergrund, dass gerade in Wundzentren in der Regel neben den Pflegekräften auch Ärzte tätig sind.
Aus den vorgenannten Gründen ist die vorgesehene gesetzliche Öffnung und Erweiterung des § 37 Absatz 7 SGB V neu nicht erforderlich.
Lösungsvorschlag
Ersatzlose Streichung
§ 64d – Modellvorhaben zur Heilmittelversorgung
Referentenentwurf
§ 64d regelt die Möglichkeit zur Durchführung von Modellvorhaben im Bereich der Heilmittelerbringung, die alle Gruppen von Heilmittelerbringern erfassen, kassenartenübergreifend sind und sich auf mehrere Bundesländer erstrecken können. Ziel der Modellvorhaben soll die Erprobung einer Blankoverordnung sein, bei der der Heilmittel-erbringer selbst die Auswahl und Dauer der Therapie sowie die Frequenz der Behandlungseinheiten bestimmt. Bei Modellvorhaben nach § 64d soll insbesondere auch die zukünftige Mengenentwicklung und die Anforderung an die Qualifikation berücksichtigt werden. In den Vereinbarungen zu den Modellvorhaben ist zudem festzulegen, inwieweit die Heilmittelerbringer von den Vorgaben der Richtlinie nach § 92 Absatz 1 Satz 2 Nummer 6 abweichen dürfen.
Bewertung
Bereits heute ermöglicht § 63 Absatz 3b in den Sätzen 2 und 3 die Durchführung von Modellvorhaben im Bereich der Physio- und Ergotherapie, in denen die Auswirkungen einer sog. Blankoverordnung erprobt werden können. Dabei können zugelassene Physio- und Ergotherapeuten die Auswahl und Dauer der Therapie sowie die Frequenz der Behandlungseinheiten eigenverantwortlich bestimmen. Im Bereich der Physiotherapie führt die gesetzliche Krankenkasse BIG direkt gesund zusammen mit dem Bundesverband selbständiger Physiotherapeuten (IFK) ein solches Modellvorhaben auf der Grundlage des § 63 Absatz 3b durch. In zwei KV-Regionen (Westfalen-Lippe und Berlin) wird bei 139 Versicherten in 40 teilnehmenden Praxen erprobt, welche Auswirkungen die Blankoverordnung auf die Versorgungsqualität, die Patientenzufriedenheit, Verkürzung der Arbeitsunfähigkeitszeiten und auf Kostenersparnis gegenüber herkömmlicher Heilmittelerbringung hat. Ausgewertet wird das Modellvorhaben durch die Züricher Hochschule für Angewandte Wissenschaft. Ein Zwischenbericht aus dem Jahr 2012 hat erste positive Trends ausgewiesen. Durch die Möglichkeit zur eigenverantwortlichen Auswahl der Therapie wurden mehr Patienten mit Allgemeiner Krankengymnastik und Manueller Therapie in durchschnittlich weniger Behandlungseinheiten erfolgreich behandelt. Der Endbericht dieses Modellvorhabens steht jedoch noch aus und werden von der BAGFW, die sich grundsätzlich für eine eigenverantwortliche Ausübung von Heilkunde durch Angehörige der Pflegeberufe und der Heilmittelerbringer einsetzt, mit Spannung erwartet. Ein weiteres Modellvorhaben zur Blankoverordnung führt die IKK Brandenburg und Berlin zusammen mit dem Verband Physikalische Therapie (VPT) durch. Es wurde 2015 ebenfalls abgeschlossen, die Ergebnisse liegen jedoch noch nicht vor.
Vor diesem Hintergrund erschließt sich den in der BAGFW zusammengeschlossenen Verbänden das Erfordernis eines neuen § 64b nicht. Auch § 63 Absatz 3b i.V. mit § 64 ermöglicht bereits die Durchführung von bundesländerübergreifenden und kassenartenübergreifenden Modellvorhaben. Neu ist, dass durch die Erweiterung des § 64d auf alle Heilmittelerbringer jetzt neben den Physio- und Ergotherapeuten auch die Logopäden künftig Modellvorhaben durchführen können. Diese Ergänzung könnte man jedoch auch in § 63 Absatz 3b vornehmen, analog zu der im GKV-Versorgungsstärkungs-gesetz erfolgten Ausweitung der Modellvorhaben auf die Gruppe der Ergotherapeuten (§ 63 Absatz 3b Satz 3 SGB V). Auch die in § 64d Absatz 2 vorgenommene Definition der Leistungsvoraussetzungen für die Teilnahme von Heilmittelerbringern an den Modellvorhaben übernimmt vollständig die in § 63 Absatz 3b i.V. mit § 64 bzw. § 124 Absatz 2 SGB V bereits definierten Grundbedingungen, sodass sich auch hier aus Sicht der BAGFW kein neuer gesetzgeberischer Handlungsbedarf ergibt.
Generell sei angemerkt, dass Modellvorhaben zur Erzielung einer Aussagekraft mit Blick auf die Übertragung der Modelle in die Regelversorgung sich nicht unbedingt auf mehrere Bundesländer erstrecken müssen, zumal sich unter Umständen Praktiken der ärztlichen Verordnung von Heilmitteln von KV-Bezirk zu KV-Bezirk unterscheiden und diese Effekte dann zu kontrollieren sind. Ausweislich der Begründung soll künftig in jedem Bundesland ein Modellvorhaben durchgeführt werden (S. 27). Aus dem Gesetzestext selbst lässt sich diese Vorgabe nicht ableiten, denn dort wird nur von Modellvor-haben, die sich auf mehrere Bundesländer erstrecken können, gesprochen. Würde die Gesetzesbegründung jedoch in der Praxis umgesetzt und kassenartenübergreifende Vereinbarungen in jedem Bundesland mit Verbänden der Heilmittelerbringer geschlossen, käme dies einer quasi-Übertragung der Modellvorhaben in die Regelversorgung gleich. Ob eine unbestimmte Vielzahl von Modellvorhaben, welche die Blankoverordnung wahrscheinlich auch noch bei unterschiedlichen Indikationen erproben, zum Erkenntnisgewinn beiträgt, ist fraglich.
Den Verbänden der BAGFW erschließt sich zudem noch nicht, wie die in § 64d Absatz 1 Satz 4 in den Modellvorhaben geforderte höhere Verantwortung der Heilmittelerbringer im Hinblick auf die zukünftige Mengenentwicklung umgesetzt werden kann. Im Unterschied zu den Vertragsärzten gibt es bei den Heilmittelerbringern keine Zulassungs-beschränkung sowie keine Budgetbegrenzung. Die Modellvorhaben ermöglichen bisher auch nicht die Erprobung des Direktzugangs der Patienten zum Heilmittelerbringer. Ärztliche Budgets, die durch Regelleistungsvolumina begrenzt sind, werden somit in keiner Weise auf die Heilmittelerbringer übertragen, auch nicht im Rahmen der Modellvorhaben. Sollte mit Mengenentwicklung die Messung der Dauer der Therapie und der Anzahl der Behandlungseinheiten gemeint sein, so wird diese bereits in den laufenden Modellvorhaben erprobt. Einer gesonderten gesetzlichen Grundlage hierfür bedarf es somit ebenfalls nicht.
Die Verbände der BAGFW teilen nachdrücklich das Ziel des Referentenentwurfs, den Angehörigen der Heilmittelerbringer – ebenso wie den Angehörigen der Pflegeberufe – eine stärkere Eigenverantwortung in der Ausübung von Heilkunde zu übertragen, letztlich verbunden mit dem Ziel einer selbständigen Ausübung von Heilkunde. Dennoch empfiehlt die BAGFW, zunächst die Ergebnisse der beiden laufenden Modellvorhaben zu den Physiotherapeuten auszuwerten, um auf dieser Grundlage entscheiden zu können, ob es erweiterter Modellvorhaben bedarf, die eine über § 63 Absatz 3b hinausgehende gesetzliche Grundlage benötigen.
Lösungsvorschlag
Streichung des § 64d in seiner bisherigen Form und Erweiterung der Modellvorhaben nach § 63 Absatz 3b auf die Logopäden. Dazu soll § 63 Absatz 3b Satz 3 entsprechend erweitert werden: „Satz 2 gilt im Bereich ergotherapeutischer Behandlungen entsprechend für Ergotherapeuten mit einer Erlaubnis nach § 1 Absatz 1 des Ergotherapeutengesetzes sowie für logopädische Behandlungen entsprechend für Logopäden mit einer Erlaubnis nach § 2 Absatz 1 des Logopädengesetzes“.
§ 73 Absatz 8 – Kassenärztliche Versorgung
Referentenentwurf
Die in § 73 Absatz 8 geregelten Informationspflichten der Kassenärztlichen Vereinigungen, der Kassenärztlichen Bundesvereinigungen, der Krankenkassen und ihrer Verbände zur Sicherung der wirtschaftlichen Verordnungsweise von Arznei-, Verband- und Heilmittel werden nun in Satz 3 explizit auch auf Produkte erweitert, die gemäß der Richtlinien nach § 92 Absatz 1 Satz 2 Nummer 6 zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung verordnet werden können. Durch die Aufnahme dieser Produkte in die Regelungen des § 73 Absatz 8 gilt auch, dass die Vertragsärzte- und ärztinnen für deren Verordnung nur elektronische Programme nutzen dürfen, welche die vorgegebenen Inhalte - wie schon bei Arzneimitteln - enthalten.
Bewertung
Die Regelungen des § 73 Absatz 8 beziehen sich nun auch auf arznei- und verbandmittelähnliche Medizinprodukte, die aufgrund ihrer Beschaffenheit in medizinisch notwendigen Fällen ausnahmsweise in die Arznei- und Verbandmittelversorgung einbezogen werden können. In den Informationen und Hinweisen der Kassenärztlichen Vereinigungen, der Kassenärztlichen Bundesvereinigungen, der Krankenkassen und ihrer Verbände sind nun auch für diese Produkte Handelsbezeichnungen, Indikationen und Preise sowie weitere für die Verordnung bedeutsame Angaben insbesondere auf Grundlage der Richtlinien nach § 92 Absatz 1 Satz 2 Nummer 6 in einer Weise anzugeben, die unmittelbar einen Vergleich ermöglichen können.
Durch die Aufnahme der arznei- und verbandmittelähnlichen Medizinprodukte in § 73 Absatz 8 wird zudem geregelt, dass Vertragsärzte und -ärztinnen – wie für Arzneimittel und Heilmittel - für die Verordnung dieser arzneimittelähnlichen Medizinprodukte nur elektronische Programme nutzen dürfen, welche die nach Satz 3 erforderlichen Informationen enthalten. In § 131 des Referentenentwurfs werden daher entsprechende Regelungen für die Meldeverpflichtung zu arznei- und verbandmittelähnliche Medizinprodukten aufgenommen; diese müssen auch den Hinweis enthalten, ob ein Produkt nach den Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung verordnungsfähig ist. Diese Klarstellungen erhöhen die Transparenz und Verordnungssicherheit für Vertragsärzte und -ärztinnen und tragen damit auch zur Verbesserung der medizinischen Versorgung bei. Die Regelungen werden daher von der BAGFW ausdrücklich begrüßt.
Lösungsvorschlag
Im Referentenentwurf wird für die Vereinbarung der Verträge nach § 82 Absatz 1 zur Ausgestaltung und Zulassung von elektronischen Programmen für die Verordnung von Heilmitteln in der vertragsärztlichen Versorgung weiterhin die Frist vom 31. Januar 2016 angegeben. Wir schlagen vor, diese Fristsetzung zu aktualisieren.
§ 125 – Rahmenempfehlungen und Verträge
Referentenentwurf
Für die Heilmittelverträge wird die Geltung des Grundsatzes der Beitragssatzstabilität nach § 71 aufgehoben. Des Weiteren wird in § 125 Absatz 2 Satz 5 neu für den Fall, dass die Vergütung von einer unabhängigen Schiedsperson bestimmt werden muss, eine Frist von drei Monaten gesetzt. Für den Fall, dass sich die Vertragspartner nicht auf eine Schiedsperson einigen und diese von der zuständigen Aufsichtsbehörde bestimmt werden muss, wird in § 125 Absatz 2 Satz 6 neu eine Frist von einem Monat vorgegeben.
Bewertung
Es fehlte bisher in der Regelung zu den Heilmittelverträgen an der Nennung einer Frist, innerhalb derer die Schiedsperson bei Nichteinigung der Vertragspartner die Preise festsetzen muss. Die Verbände der BAGFW begrüßen die Fristsetzung und halten eine Frist von drei Monaten für sachgerecht. Auch die Frist von einem Monat, nach Ablauf dessen die zuständige Aufsichtsbehörde bei Nichteinigung der Vertragspartner die Schiedsperson zu bestimmen hat, ist sachgerecht und trägt zu einem effizienten Konfliktlösungsverfahren bei.
Die Fristenregelungen zur Schiedsperson sind § 132a Absatz 2 Satz 6 und 7 nachgebildet. Die Verbände der BAGFW sehen die Notwendigkeit einer Fristsetzung ebenso bei den Verträgen der Versorgung mit Haushaltshilfe nach § 132 und bei den Verträgen zur Spezialisierten Ambulanten Palliativversorgung nach § 132d. Für die Versorgung mit Soziotherapie nach § 132b ist gleichfalls ein Schiedsverfahren vorzusehen und analog zu § 132a auszugestalten.
Im GKV-Versorgungsstärkungsgesetz wurde für die Heilmittelverträge in Absatz 3 neu geregelt, dass die Preise über einen Korridor von 5 Jahren zwischen 2016 und 2021 schrittweise angehoben werden sollen. Dabei darf die Preisanhebung gemäß § 125 Absatz 3 Sätze 4 und 5 das Niveau der Veränderungsrate der beitragspflichtigen Einnahmen aller Mitglieder der Krankenkassen (Grundlohnsumme) nach § 71 Absatz 3 übersteigen, wenn dies erforderlich ist, um die Untergrenze für die zu vereinbarenden Höchstpreise während der fünf Jahre der Preisanpassung zu erreichen. Dies verletze nicht den Grundsatz der Beitragssatzstabilität. Der vorliegende Referentenentwurf justiert an dieser Stelle erneut nach und normiert in Absatz 1 Satz 2, dass für die Verträge und die darin vorgenommene Festsetzung der Höchstpreise der Grundsatz der Beitragssatzstabilität grundsätzlich nicht gilt. Entsprechend entfällt die eben genannte Neuregelung des Versorgungsstärkungsgesetzes, indem der frisch ins Gesetz gekommene Absatz 3 Satz 5 wieder gestrichen wird. Ob diese neue Regelung die Preisverhandlungen in der Heilmittelversorgung im Vergleich zur Regelung des Absatzes 3 aus dem Versorgungsstärkungsgesetz erleichtern wird, ist fraglich. Die Regelung könnte zur Folge haben, dass vermehrt die Schiedspersonen zur Konfliktlösung angerufen werden.
Sowohl durch die Regelung im Versorgungsstärkungsgesetz als auch durch die Neuregelung des Heil- und Hilfsmittelgesetzes wird die absolute Bindungswirkung der Grundlohnsummenorientierung außer Kraft gesetzt. Die bisher geltende Regelung des Versorgungsstärkungsgesetzes hat den Vorteil, dass sie den Grundsatz der Beitragssatzstabilität nicht gänzlich aufhebt, sondern nur den Automatismus von Grundlohnsummenorientierung und Vergütungsverbindung mit Blick auf die Erreichung einer wirtschaftlichen Vergütung durchbricht. Der Grundsatz der Vermeidung des Anstiegs von Beitragssätzen hat auch für die BAGFW eine hohe Bedeutung. Gleichwohl muss es den Leistungserbringern grundsätzlich möglich sein, ihre Leistung wirtschaftlich, zweckmäßig und dem Maß des Notwendigen entsprechend zu erbringen (§ 12 Absatz 1 SGB V). Daher muss die Leistungsvergütung grundsätzlich angemessen sein. Tarife und Tarifbindungen sind nach der Rechtsprechung des BSG grundsätzlich als wirtschaftlich anzuerkennen. Dieser Maßstab soll sowohl für die Preise der Heilmittelerbringung gelten als auch für die Leistungen der Häuslichen Krankenpflege. Dort klafft seit Jahren eine erhebliche Differenz zwischen den von der Krankenkasse angebotenen Vergütungen und den Personalkosten, die aufgrund der tatsächlichen tariflichen Entwicklung zu refinanzieren sind. Dafür setzt sich die BAGFW seit Jahren dafür ein, auch im SGB V den Grundsatz aus § 84 und § 89 des SGB XI zu verankern, wonach die Bezahlung tarifvertraglich vereinbarter Vergütungen sowie entsprechender Vergütungen nach kirchlichen Arbeitsrechtsregelungen nicht als unwirtschaftlich abgelehnt werden kann. Die BAGFW bittet in diesem Zusammenhang, diese Regelung in § 132a aufzunehmen, um auch für die Häusliche Krankenpflege, ebenso wie für den Bereich der Heilmittel, eine Entkopplung von der unbedingten Bindungswirkung des § 71 SGB V zu erreichen.
Lösungsvorschlag
§ 132 Absatz 1 Sätze 2 und 3 und § 132d Absatz 1 Sätze 3 und 4 sind wie folgt neu zu formulieren sowie § 132b Sätze 2 neu sind wie folgt zu ergänzen: „Im Fall einer Nichteinigung wird der Vertragsinhalt durch eine von den Vertragsparteien zu bestimmende Schiedsperson innerhalb von drei Monaten festgelegt. Einigen sich die Vertragsparteien nicht auf eine Schiedsperson, so wird diese von der für die Vertragsschließung zuständigen Aufsichtsbehörde innerhalb eines Monats nach Vorliegen der für die Bestimmung der Schiedsperson notwendigen Informationen bestimmt.“
In § 132a ist die Anerkennung der Tarifbindung aufzunehmen. Nach Absatz 3 Satz 5 ist folgender Satz 6 einzufügen: „Die Vergütung muss dem Leistungserbringer bei wirtschaftlicher Betriebsführung ermöglichen, seine Aufwendungen zu finanzieren. Die Bezahlung tarifvertraglich vereinbarter Vergütungen sowie entsprechender Vergütungen nach kirchlichen Arbeitsrechtsregelungen kann dabei nicht als unwirtschaftlich abgelehnt werden. Der Grundsatz der Beitragssatzstabilität ist zu beachten.
§ 126 – Versorgung durch Vertragspartner
Referentenentwurf
Gemäß § 126 Abs.2 (neu) wird ein neues Akkreditierungsverfahren für die Präqualifizierungsstellen eingeführt. Diese müssen ein Akkreditierungsverfahren vor einer nationalen Akkreditierungsstelle im Sinne der Verordnung (EG Nr. 765/2008), d.h. der Deutschen Akkreditierungsstelle (DAkkS), durchlaufen. Des Weiteren wird in Abs.1 a verbindlich festgelegt, dass der Nachweis der Leistungserbringer für die Erfüllung der Pflichten aus Absatz 1 Satz 2 nur durch Vorlage eines Zertifikates der Präqualifizierungsstelle geführt werden kann. Auf die Erteilung dieses Zertifikates besteht ein Anspruch der Leistungserbringer gegenüber der Präqualifizierungsstelle bei Erfüllung der gesetzlichen Voraussetzungen.
Bewertung
Die gesetzliche Verankerung eines vorgegebenen Akkreditierungsverfahrens wird von der BAGFW begrüßt. Dadurch werden nationale Vorgaben an das Verfahren gemacht, was die Rechtssicherheit erhöht. Die Übertragung der Akkreditierung der Präqualifizierungsstelle an die Deutsche Akkreditierungsstelle, trägt weiterhin zur Neutralität und Unabhängigkeit der Präqualifizierungsstellen bei. Bisher findet die Akkreditierung und Überprüfung der Präqualifizierungsstellen durch den GKV-Spitzenverband unter Zugrundelegung von vereinbarten Grundsätzen statt.
Angesichts der Bandbreite von Hilfsmitteln und dessen Einsatzorte sehen die in der BAGFW zusammen geschlossenen Verbände eine Konkretisierung bzw. Ausweitung der in Betracht kommenden Leistungserbringer im Sinne des § 126 Abs.1 für notwendig. Insbesondere im Hinblick auf Pflegehilfsmittel und Inkontinenzhilfen, die üblicherweise im Rahmen der Leistungserbringung durch ambulante und stationäre Pflegeeinrichtungen erbracht werden, muss eine gesetzliche Klarstellung erfolgen, dass diese auch als Leistungserbringer i.S.d § 126 Abs.1 in Betracht kommen. Dies ist angesichts der bestehenden Beratungspflicht von Bedeutung. Qualitätsgesichert beraten kann nur der Leistungserbringer, der sowohl differenzierte Kenntnisse über die individuelle Situation des Versicherten als auch über die vorhandenen Produktpalette hat. Aufgrund dieses Umstands bestehen bereits heute vereinzelt Verträge mit stationären Pflegeeinrichtungen. Streitpunkt ist jedoch immer wieder, ob ein Anspruch auf Vertragsabschluss seitens der Pflegeeinrichtungen besteht.
Lösungsvorschlag
In Absatz 1 sollte klargestellt werden, wer im Einzelfall und hier insbesondere mit Blick auf o.g. Produktgruppen „Leistungserbringer“ ist.
§ 127 – Verträge
Referentenentwurf
Mit den vorgesehenen Änderungen in Absatz 1 werden die Krankenkassen dazu verpflichtet, Versicherten bei Versorgungen, die auf der Grundlage von Ausschreibungsverträgen erbracht werden, Wahlmöglichkeiten zwischen mehreren Hilfsmitteln einzuräumen. Festgelegt wird im Weiteren, dass Krankenkassen im Rahmen der Ausschreibung auch mit mehreren Leistungserbringern Verträge abschließen können, so dass die Versicherten dann Auswahl zwischen verschiedenen Produkten unterschiedlicher Anbieter haben.
Der neue Absatz 1b legt fest, dass künftig bei der Zuschlagserteilung nicht nur der Preis, sondern auch qualitative Kriterien zu berücksichtigen sind. Einbezogen werden sollen – abgestimmt auf den Gegenstand des Auftrags – qualitative, umweltbezogene oder soziale Aspekte. Die Gewichtung von Kriterien, die sich nicht auf den Preis oder die Kosten beziehen, darf 40 v. H. nicht unterschreiten.
Ebenfalls neu ist Absatz 4a. Hier wird die Beratungspflicht der Leistungserbringer geregelt: Der Leistungserbringer hat die Versicherten künftig vor Inanspruchnahme der Leistung zu beraten, welche Hilfsmittel und welche zusätzliche zur Bereitstellung notwendigen Leistungen, bezogen auf die konkrete, individuelle Situation des Versicherten, geeignet und medizinisch notwendig sind. Des Weiteren hat der Leistungserbringer den Versicherten über Mehrkosten zu informieren, falls sich ein Versicherter für ein Produkt entscheidet, für das Mehrkosten entstehen.
Absatz 5a (neu) legt die Überwachung der Einhaltung der gesetzlichen und vertraglichen Pflichten der Leistungserbringer durch die Krankenkassen mittels Auffälligkeits- und Stichprobenprüfungen fest.
Absatz 5b (neu) sieht Rahmenempfehlungen des GKV-Spitzenverbandes zur Qualitätssicherung der Hilfsmittelversorgung bis zum 30. Juni 2017 vor, die u.a. Angaben zum Umfang der Stichprobe, mögliche weitere Überwachungsinstrumente sowie Kriterien für die Annahme von Auffälligkeiten beinhalten sollen. Als ein Beispiel für Auffälligkeiten wird in der Begründung zum Referentenentwurf genannt, „dass ein Leistungserbringer in erheblichem Umfang Mehrkostenversorgungen durchführt und kaum Hilfsmittel abgibt, die für den Versicherten kostenfrei sind (…).“
Bewertung
Die Neuregelungen in Absatz 1 stärken die Wahlrechte der Versicherten und tragen damit zu einer verbesserten und der individuellen, konkreten Situation des Versicherten angepassten Versorgung mit Hilfsmitteln bei. Die BAGFW begrüßt, dass neben dem Preis auch qualitätsbezogene Kriterien, wie Zweckmäßigkeit, Zugänglichkeit des Hilfsmittels für Menschen mit Behinderungen, Kundendienst und technische Hilfen etc. mit nicht weniger als 40 Prozent als Zuschlagskriterien berücksichtigt werden müssen. Zugleich ist zu fragen, wer diese Kriterien festlegt und auch, auf welche Weise tatsächlich gesichert werden kann, dass Qualitätsaspekte in ausreichendem Umfang berücksichtigt werden und nicht nur als ein Kriterium unter vielen anderen möglichen.
Des Weiteren ist der Begriff der „hinreichenden Auswahl“ zu unbestimmt, um sich als Patient darauf berufen zu können. Was hinreichend ist, darf nicht der Krankenkasse bzw. dem Leistungserbringer überlassen werden.
Absatz 4a (neu) regelt die Beratungspflicht der Leistungserbringer und kann so als ein weiterer Beitrag zur Stärkung der Wahlrechte des Versicherten gesehen werden. Die Beratung trägt zudem zur Transparenz von Leistungen im Rahmen der Hilfsmittelversorgung bei.
Eine Information über die vom Patienten zu tragenden Mehrkosten sollte selbstverständlich sein. Im Referentenentwurf fehlt aber eine Regelung zu den Folgen einer nicht gesetzeskonformen Patienteninformation.
Kritisch anzumerken ist, dass weder aus Referentenentwurf noch aus der Begründung hervorgeht, wer im Einzelfall als „Leistungserbringer“ anzusehen ist. Bei vielen Produktgruppen aus dem Hilfsmittelkatalog ist dies sicher eindeutig der Hersteller oder derjenige, der die Hilfsmittel anpasst und vertreibt (z. B. bei Sehhilfen, Prothesen usw.).
Der Hilfsmittelkatalog enthält unter anderem aber auch die Produktgruppen „Inkontinenzhilfen“ (z.B. saugende Inkontinenzhosen, Urinbeutel usw.) und „Pflegehilfsmittel zur Körperpflege/Hygiene“ (z.B. saugende Bettschutzeinlagen, Urinflaschen, Steckbecken) und damit Produkte, die üblicherweise im Rahmen der Leistungserbringung in der stationären und ambulanten Pflege eingesetzt werden: Der Gesetzgeber soll eindeutig klarstellen, wer mit Blick auf diese Produktgruppen „Leistungserbringer“ und damit auch zur Beratung und Dokumentation der Beratung verpflichtet ist. Qualitätsgesichert beraten kann nur der Leistungserbringer, der sowohl differenzierte Kenntnisse über die individuelle Situation des Versicherten als auch über die vorhandene Produktpalette hat.
Gerade auch mit Blick auf die Fortschreibung und Überarbeitung des Hilfsmittelkataloges und eine mögliche Hinzunahme weiterer Produkte/Produktgruppen, die im Rahmen der direkten Pflege eingesetzt werden, sollte dies dringend geklärt werden.
Zu begrüßen ist, dass die Krankenkassen durch die Änderung des Absatz 5 ihre Versicherten künftig regelhaft, und nicht mehr nur „auf Nachfrage“ über die zur Versorgung berechtigten Vertragspartner der Kassen und die wesentlichen Inhalte der Verträge zu informieren haben. Dies sollte in Form von aussagekräftigen und bei Änderungen regelmäßig zu aktualisierenden Informationsschreiben erfolgen.
Durch die Überwachung der Einhaltung der gesetzlichen und vertraglichen Pflichten der Leistungserbringer mittels Auffälligkeits- und Stichprobenprüfungen durch die Krankenkassen (Absatz 5a, neu) sollen lt. Begründung zum Referentenentwurf „die umfassenden gesetzlichen Vorschriften zur Sicherung der Struktur- und Prozessqualität der Hilfsmittelversorgung durch Vorgaben zur Sicherung der Ergebnisqualität ergänzt (werden)“. Dass Aspekte der Ergebnisqualität geprüft werden, erschließt sich aus dem Gesetzestext selbst nicht. Hier und auch im Zusammenhang mit dem neuen Absatz 5b zu den Rahmenempfehlungen zur Qualitätssicherung der Hilfsmittelversorgung sollte unbedingt darauf geachtet werden, dass vor allem in Stichprobenprüfungen relevante Aspekte der Ergebnisqualität einbezogen werden (wie z.B. Zufriedenheit des Versicherten mit der Versorgung, Verbesserung der selbständigen Lebensführung, Passgenauigkeit des Hilfsmittels etc.) und nicht nur eine Überprüfung der Kosten.
Lösungsvorschlag
Zu Absatz 1 Satz 2: Es sollte im Gesetz klar definiert werden, was eine „hinreichende Auswahl“ ist.
Zu Absatz 4: Es sollte klargestellt werden, wer im Einzelfall und hier insbesondere mit Blick auf o.g. Produktgruppen „Leistungserbringer“ ist.
Zu Absatz 4a Satz 4:
In das Gesetz sollte folgende Formulierung eingefügt werden:
„… Sollte der Leistungserbringer den Versicherten nicht schriftlich über die Mehrkosten aufklären, so muss er das Hilfsmittel dem Versicherten ohne Berechnung der Mehrkosten bereitstellen.“
Zu Absatz 5b: Es sollte sichergestellt werden, dass die Rahmenempfehlungen des GKV-Spitzenverbandes zur Qualitätssicherung in der Versorgung mit Hilfsmitteln relevante Aspekte der Ergebnisqualität enthalten. Um die Versorgungsqualität tatsächlich zu verbessern, ist neben dem Vorhandensein ausreichender Wahlmöglichkeiten (Struktur) sowie einer unterstützenden Beratung der Versicherten (Prozess) vor allem auch zu prüfen, inwiefern dadurch eine Verbesserung der Lebensqualität der Versicherten in den jeweils relevanten Bereichen erreicht wird (Ergebnis).
§ 128 – Unzulässige Zusammenarbeit zwischen Leistungserbringern und Vertragsärzten
Referentenentwurf
Der § 128 SGB V regelt die Zusammenarbeit zwischen Leistungserbringern von Hilfsmitteln und Vertragsärzteschaft. Die Leistungserbringung darf nicht über Depots von Hilfsmitteln in medizinischen Einrichtungen erfolgen (Abs. 1), Leistungserbringer von Hilfsmitteln dürfen den behandelnden Ärztinnen und Ärzten bzw. Einrichtungen keine wirtschaftlichen Vorteile verschaffen (Abs. 2) und Verstöße gegen diese Gebote müssen geahndet werden (Abs. 3).
Der Absatz 6 regelt bisher, dass diese Absätze 1-3 auch für die Erbringung von Leistungen im Bereich der Arznei- und Verbandmittel und der ambulanten spezialfachärztlichen Versorgung gelten.
Durch das HHVG soll dem § 128, Abs. 6 neu der Satz hinzugefügt werden, dass diese Regelungen auch bei Leistungen zur Versorgung von chronisch und schwer heilenden Wunden gegenüber den diese Leistungen erbringenden Leistungserbringern nach § 37 Abs. 7 gelten sollen.
Bewertung
Die BAGFW begrüßt die Ausweitung der Regelungen auf die Wundzentren. Sie lehnt die Ergänzung der leistungsrechtlichen Regelung zur Häuslichen Krankenpflege in § 37 SGB V um den neuen Absatz 7 ab, denn der Gemeinsame Bundesausschuss kann auf der Rechtsgrundlage von § 37 Absatz 6 SGB V auch heute schon festlegen, dass Wundzentren geeignete Orte für die Leistungserbringung sein können. Der neue Satz in Absatz 6 muss sich deshalb auf § 37 Absatz 6 beziehen.
Lösungsvorschlag:
§ 128 Absatz 6 ist folgender Satz anzufügen:
„Die Sätze 1 und 2 gelten bei Leistungen zur Versorgung von chronisch und schwer heilenden Wunden (§ 37 Absatz 6) auch gegenüber den diese Leistungen erbringenden Leistungserbringern.“
§ 131 Absatz 4 – Rahmenverträge mit pharmazeutischen Unternehmern
Referentenentwurf
§ 131 Absatz 4 regelt die Informations- und Auskunftspflichten pharmazeutischer Unternehmer sowie die Weitergabe von Daten, die zur Herstellung der pharmakologisch–therapeutischen und preislichen Transparenz erforderlich sind. In Satz 2 werden die Pharmazeutischen Unternehmer bisher schon verpflichtet, die für die Abrechnung von Fertigarzneimitteln erforderlichen Preis- und Produktangaben an den Spitzenverband Bund der Krankenkassen, die für die Wahrnehmung der wirtschaftlichen Interessen gebildete maßgebliche Spitzenorganisation der Apotheker, die Kassenärztliche Bundesvereinigung und den Gemeinsamen Bundesausschuss zu übermitteln. Der Referentenentwurf sieht nun vor, dass auch für Produkte, die gemäß der Richtlinien nach § 92 Absatz 1 Satz 2 Nummer 6 zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung verordnet werden können, von den entsprechenden Unternehmern die für die Abrechnung nach § 300 erforderlichen Preis- und Produktangaben einschließlich der Rabatte nach § 130a übermittelt werden. Darüber hinaus soll für die Produkte nach § 31 Absatz 1 Satz 2 ein Kennzeichen zur Verordnungsfähigkeit zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung übermittelt werden.
Bewertung
Die in Absatz 4 Satz 2 geregelten Informations- und Auskunftspflichten werden im Referentenentwurf auch auf die Hersteller von Medizinprodukten angewandt, die nach den Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses gemäß § 92 Absatz 1 Satz 2 Nummer 6 zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung verordnet werden können. Diese arzneimittel- und verbandähnlichen Produkte, die nicht unter die Definition der Verbandmittel nach § 31 Absatz 1a fallen, sind bisher aufgrund der fehlenden gesetzlichen Meldeverpflichtung nicht ausreichend gelistet. Die Abgrenzung von erstattungsfähigen und nicht-erstattungsfähigen Medizinprodukten hat in der Vergangenheit immer wieder zu Abgrenzungsproblemen geführt. Zudem wird die Anerkennung durch den Gemeinsamen Bundesausschuss zur Aufnahme in die Arzneimittelversorgung befristet ausgesprochen und derzeit in der Anlage V der Arzneimittel-Richtlinie geführt. Für die Sicherung einer zweckmäßigen und wirtschaftlichen Versorgung ist die regelmäßige Aktualisierung der entsprechenden Listen von großer Bedeutung. Die BAGFW begrüßt daher die Erweiterung der Informations- und Auskunftspflichten auf die Hersteller von Medizinprodukten, die in die Arzneimittelversorgung aufgenommen werden, sowie die Vorgabe, dass für diese Produkte auch ein Kennzeichen zur Verordnungsfähigkeit zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung übermittelt werden muss. Auf diese Weise wird für Vertragsärzte und –ärztinnen die Transparenz und Rechtssicherheit erhöht, ob ein Produkt vom Gemeinsamen Bundesausschuss gemäß der Richtlinien nach § 92 Absatz 1 Satz 2 Nummer 6 in die Liste der verordnungsfähigen Medizinprodukte aufgenommen wurde.
Lösungsvorschlag
Zum besseren Verständnis schlagen wir jedoch folgende redaktionelle Änderung in Absatz 4 Satz 2 vor: „Für die Abrechnung von Fertigarzneimitteln und von Produkten…. übermitteln die pharmazeutischen und sonstigen Unternehmer die für die Abrechnung nach § 300 erforderlichen Preis- und Produktangaben einschließlich der Rabatte nach
§ 130a [an die in § 129 Absatz 2] sowie für Produkte …..zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung an die in § 129 Absatz 2 genannten Verbände sowie….“
§ 132a – Versorgung mit Häuslicher Krankenpflege
Referentenentwurf
Die auf der Bundesebene zu vereinbarenden Rahmenempfehlungen über die einheitliche Versorgung mit Häuslicher Krankenpflege sollen zukünftig auch das Erfordernis einer flächendeckenden Versorgung berücksichtigen. Des Weiteren sollen in den Rahmenempfehlungen nach § 132a Absatz 1 SGB V Anforderungen an die Eignung zur Versorgung nach § 37 Absatz 7 innerhalb von sechs Monaten nach Inkrafttreten der Richtlinienregelungen nach § 37 Absatz 7 abgegeben werden.
Bewertung
Insbesondere in der Häuslichen Krankenpflege für psychisch kranke Menschen und in der Kinderkrankenpflege gibt es nur vereinzelt Verträge nach § 132a Absatz 2 SGB V. Wir begrüßen deshalb die Erweiterung der Regelungsinhalte der Rahmenempfehlungen nach § 132a Absatz 1 SGB V um das Erfordernis einer flächendeckenden Versorgung.
Die in § 132a Absatz 1 Satz 4 und Satz 5 SGB V vorgesehenen Änderungen korrespondieren mit dem neuen § 37 Absatz 7 SGB V. Da die Ergänzung der leistungsrechtlichen Regelung zur Häuslichen Krankenpflege in § 37 SGB V abgelehnt wird, werden folgerichtig auch die damit korrespondierenden Regelungen in § 132a Absatz 1 Satz 4 und Satz 5 SGB V abgelehnt
Lösungsvorschlag
Ersatzlose Streichung von Nr. 13 b) und c), d. h. der Änderungen in § 132a Absatz 1 Satz 4 und Satz 5 SGB V.
§ 139 – Hilfsmittelverzeichnis, Qualitätssicherung bei Hilfsmitteln
Referentenentwurf
In § 139 legt der Referentenentwurf verschiedene Maßgaben zu Qualitätsanforderungen und Fortschreibungen des Hilfsmittelverzeichnisses fest. So ist es künftig nicht mehr im Ermessen des GKV-Spitzenverbands, indikations- oder einsatzbezogen besondere Qualitätsanforderungen an Hilfsmittel festzulegen, sondern wird möglichst für alle Produktgruppen verpflichtend. Künftig sind Hilfsmittel in das Hilfsmittelverzeichnis nur aufzunehmen, wenn der Hersteller die Funktionstauglichkeit und Sicherheit sowie die Erfüllung der Qualitätsanforderungen des jeweiligen Hilfsmittels nachweist. Der Spitzenverband Bund der Krankenkassen muss bis zum 01.01.2018 eine Verfahrensordnung beschließen, in der das Nähere zur Aufnahme von Hilfsmitteln in das Hilfsmittelverzeichnis und zu dessen Fortschreibung geregelt wird. In der Verfahrensordnung sind insbesondere Fristen für die regelmäßige Fortschreibung des Verzeichnisses festzulegen. In § 139 Absatz 8 wird für die Fortschreibung des Hilfsmittelverzeichnisses gesetzlich festgelegt, dass sämtliche Produktgruppen, die bis zum 30. Juni 2015 nicht mehr grundlegend aktualisiert wurden, einer systematischen Prüfung unterzogen und fortgeschrieben werden müssen. Dem Gesundheitsausschuss des Bundestags ist einmal jährlich zum 1. März ein Bericht über diese Fortschreibung vorzulegen.
Bewertung
Die BAGFW begrüßt die neuen Vorschriften zur regelmäßigen Fortschreibung und Aktualisierung des Hilfsmittelverzeichnisses nachdrücklich. So hat der GKV-Spitzenver-band kürzlich eine Vielzahl von Hilfsmitteln im Bereich der Inkontinenz aus dem Hilfsmittelverzeichnis entfernt, die es seit Jahren gar nicht mehr gab. Dies macht deutlich, wie dringlich eine regelmäßige Aktualisierung und Fortschreibung des Hilfsmittelverzeichnisses ist. Der Gesetzgeber darf es nicht der Verfahrensordnung des GKV-Spitzenverbands überlassen, sich selbst Regelungen über seine Aufgabe der Fortschreibung des Hilfsmittelverzeichnisses zu geben, wie in § 139 Absatz 7 Satz 1 vorgesehen, sondern muss die in § 139 Absatz 8 Satz 1 vorgesehene regelmäßige Fortschreibung mit einer konkreten gesetzlichen Frist versehen. Die Verbände der BAGFW schlagen hierfür eine jährliche Frist vor. Die jetzt im Referentenentwurf für die Beseitigung der seit Jahren aufgelaufenen Mängel vorgesehene einmalige Frist des 01.01.2018, bis zu der alle seit dem 30. Juni 2015 nicht mehr grundlegend aktualisierten Produktgruppen einer Prüfung zu unterziehen und im erforderlichen Maße fortzuschreiben sind, ist zu weit bemessen. Die BAGFW schlägt als Frist den 30. Juni 2017 vor. Eine regelmäßige Unterrichtung des Gesundheitsausschusses über die vorgenommenen sowie die begonnenen Fortschreibungen erachtet die BAGFW als sinnvoll und geboten.
§ 140f - Beteiligung von Interessenvertretungen der Patientinnen und Patienten
Referentenentwurf
Durch die Ergänzung der Aufzählung in Abs. 4 werden in Zukunft die Interessenvertretungen der Patientinnen und Patienten auch an den Rahmenempfehlungen zur Qualitätssicherung in der Versorgung mit Hilfsmitteln beteiligt, die der Spitzenverband der Kassen nach § 127 Abs. 5b SGB V (neu) zu erstellen hat.
Durch den neu eingefügten § 140f Abs. 8 SGB V soll der Koordinationsaufwand der Patientenvertreter u.a. im Gemeinsamen Bundesausschuss vergütet werden.
Bewertung
Die BAGFW begrüßt die vorgesehene Beteiligung der Interessenvertretung der Patientinnen und Patienten und zudem ausdrücklich die Absicht, die Patientenorganisationen finanziell zu stärken.
Mit der im neuen Absatz 8 vorgesehenen Regelung wird anerkannt, dass der den Patientenorganisationen bei der Wahrnehmung der Patientenbeteiligungsrechte entstehende Koordinierungsaufwand bisher nicht refinanziert wird. Die BAGFW hält den nun für diesen Aufwand vorgesehenen Betrag angesichts der tatsächlichen Koordinierungsleistungen, die zu erbringen sind, für deutlich zu gering. Da die Finanzierungsform der „Kopfpauschale“ nicht geeignet ist, Kosten für vorzuhaltende Strukturen zu refinanzieren, wird die im Entwurf vorgesehene Regelung in der jetzigen Form abgelehnt.
§ 217f – Aufgaben des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen
Referentenentwurf
Durch den neuen Abs. 4b wird bestimmt, dass der GKV-Spitzenverband in einer Richtlinie Maßnahmen zum Schutz von Sozialdaten der Versicherten festlegen soll.
Bewertung
Die BAGFW begrüßt das Ansinnen grundsätzlich, den Datenschutz für die Versicherten zu verbessern und gleichzeitig die elektronische Kommunikation zwischen Krankenkasse und Versicherten zu erleichtern. Diesen Prozess über eine Richtlinie der Krankenkassen einzuleiten, lehnt die BAGFW jedoch aufgrund von möglichen Eigeninteressen der Kassen ab. Dieses Argument wiegt umso schwerer, da die Krankenkassen externe Hilfsmittelberater einsetzen (dürfen), die im Unterschied zum Medizinischen Dienst der Kassen in einem direkten Abhängigkeitsverhältnis zu ihrem Auftraggeber stehen und die Zugang zu vertraulichen Patientendaten haben.
Lösungsvorschlag
Vor dem Hintergrund der skizzierten Problemlage plädieren die in der BAGFW kooperierenden Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege für eine Regelung des Sozialdatenschutzes auf dem Verordnungswege.
§ 284 – Sozialdaten bei den Krankenkassen
Referentenentwurf
Der § 128 Abs. 1 SGB V wird ergänzt um einen neuen Punkt 17.: „die Überwachung der Einhaltung der vertraglichen und gesetzlichen Pflichten der Leistungserbringer von Heilmitteln (§ 127 Abs. 5a). Auch zu diesem Zweck dürfen die Krankenkassen nun Sozialdaten erheben und speichern.
Bewertung
Diese Ergänzung ist eine Folgeänderung zur Neuregelung des § 127 Abs. 5a, mit der die Krankenkassen neu die Aufgabe erhalten, die Einhaltung der vertraglichen und gesetzlichen Pflichten der Leistungserbringer zu überwachen. Die BAGFW begrüßt die Erweiterung dieser Regelung und die damit verbundene stärkere Kontrollfunktion der Krankenkassen.
§ 302 Abs. 1 – Abrechnung der sonstigen Leistungserbringer
Referentenentwurf
Der Gesetzentwurf verlangt im Bereich der Heil- und Hilfsmittel, die vom Leistungserbringer erbrachten Leistungen im Wege elektronischer Datenübertragung oder maschinell verwertbar auf Datenträgern mit der Krankenkasse des Versicherten abzurechnen. Die mit der Abrechnung verbundenen Informationspflichten des Leistungserbringers sind aufgeführt. Mit dem Ziel, den bürokratischen Aufwand für alle Beteiligten zu reduzieren, sollten die Krankenkassen auf die Übermittlung einzelner Daten verzichten können.
Durch das HHVG werden die Informationspflichten des Leistungserbringers in § 302 Abs. 1 SGB V um die Angabe der mit dem Versicherten abgerechneten Mehrkosten erweitert.
Bewertung
Die Informationspflichten der Leistungserbringer gegenüber den Krankenkassen sind umfangreich. Die Erhebung, Eingabe und Übermittlung der Daten erfordert von den Leistungserbringern hohe bürokratische Aufwendungen, die durch das HHVG noch einmal erweitert werden.
Die Erweiterung der Informationspflichten der Leistungserbringer ermöglicht eine Transparenz über die Zuzahlungen in Folge von Mehrkosten, die vom Versicherten geleistet werden und die die Zuzahlungsverpflichtungen des § 61 SGB V übersteigen. Gegenwärtig werden bei der Inkontinenzversorgung pflegebedürftiger Menschen in der eigenen Häuslichkeit von diesen erhebliche Zuzahlungen an die Leistungserbringer geleistet.
§ 305 – Auskünfte an Versicherte
Referentenentwurf
Die Krankenkasse hat die Versicherten zu unterrichten, sofern sie im Rahmen von Ausschreibungen im Hilfsmittelbereich mehreren Leistungserbringern den Zuschlag für bestimmte Hilfsmittel im Losverfahren erteilt haben. In diesem Fall kann der Versicherte unter diesen Leistungserbringern wählen.
Bewertung
Die BAGFW hält diese Regelung für sachgerecht.
Wir weisen auf ein redaktionelles Versehen hin: In § 305 soll nach der Angabe § 127 Absatz 3“ die Angabe „, 3a“ ersetzt werden. Es gibt jedoch keinen § 127 Absatz 3a.
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Änderungsvorschlag zum § 105 Abs. 2 SGB XI
Die Vertragsparteien nach Satz 1 legen bis zum 1. Januar 2018 die Einzelheiten für eine elektronische Datenübertragung aller für die Abrechnung pflegerischer Leistungen erforderlichen Angaben und Nachweise durch elektronische Dokumente fest. Die geplante Änderung sieht ein zweistufiges Verfahren vor: Neben der qualifizierten elektronischen (durch ITSG zertifizierte) Signatur ist ein anderes sicheres Authentifizierungsverfahren zu entwickeln. Zur Authentifizierung des Datenübermittlers können laut Änderungsvorschlag die Daten des Personalausweises verwendet werden.
Bewertung
Die Möglichkeit, dass die ambulanten Dienste zukünftig den Leistungsnachweis als rechnungsbegründende Unterlage als elektronisches Dokument übermitteln können, kann ein bedeutender Schritt zum Bürokratieabbau und Arbeitserleichterung werden. Um das Ziel des Bürokratieabbaus zu erreichen, müssen sich die Vertragspartner auf ein einfaches, sicheres und praktikables Verfahren verständigen. Die Intention, das Verfahren und die Anforderungen an die elektronische Datenübermittlung einheitlich zu regeln, wird begrüßt.
Die vorgeschlagene Authentifizierung mit den Daten des Personalausweises ist jedoch kritisch zu bewerten. Die Personalausweisdaten des Geschäftsführers oder der Mitarbeiter/-innen zu übermitteln ist aus Datenschutzgründen problematisch.
Notwendiger wäre es stattdessen, die Regelungen zur Vergabe der IK-Nummer zu ändern und bereits bei diesem Schritt die Firmendaten wie bspw. Personalausweisdaten der Geschäftsführung, Führungszeugnisse, einen „Übertragungscode“ zu erfassen. Nach aktueller Regelung kann die IK-Nummer formlos beantragt werden.
Eine digitale Datenbank muss als ein geschlossenes System (gesichert ist derzeit nur „der Weg“ Geschäftsstelle/Kasse nicht aber Patient/Geschäftsstelle) gestaltet werden, dessen Träger der Pflegedienst/die Einrichtung ist.
Wir möchten unsere Stellungnahme zu einem „Gesetz zur Entlastung insbesondere der mittelständischen Wirtschaft von Bürokratie (Bürokratieentlastungsgesetz)“ dazu nutzen, um auf eine ähnliche Problematik im Bereich § 302 SGB V hinzuweisen. Auch hier sind ambulante Pflegeleistungen (HKP-Leistungen) maschinenlesbar mit den Krankenkassen abzurechnen. Die damals angestrebte Verwaltungsvereinfachung kommt jedoch ausschließlich den Krankenkassen zu Gute, während dessen die Pflegedienste weiterhin gezwungen werden, parallel die Abrechnungsunterlagen und Leistungsnachweise in Papierform einzureichen.
Für den Bereich des § 302 SGB V wäre daher ein ähnliches Verfahren, wie in § 105 SGB XI umzusetzen. Die Leistungsnachweise können bei den Pflegediensten aufbewahrt werden. Eine Einsichtnahme ist dort jederzeit möglich.
Darüber hinaus könnten im Rahmen der Bürokratieentlastung weitere Regelungen im SGB V-Bereich aktualisiert und effizierter gestaltet werden. So können bspw. die ambulanten Dienste nach Richtlinie § 302 SGB V nur einmal monatlich abrechnen. Das setzt eine Vorfinanzierung der Leistungen voraus (die Rechnungen werden gesammelt und nach einer bestimmten Frist abgerechnet). Parallel mit dem Übergang zum digitalen System wäre es sinnvoll, Instrumente zu entwickeln, um den Zeitraum zwischen Leistungserbringung, Rechnungsstellung und Zahlungseingang zu verkürzen.
Außerdem ist es aus unserer Sicht wichtig, den Umsetzungsprozess so zu gestalten, dass den Diensten keine finanziellen Nachteile durch die Umstellung entstehen. Es ist zu berücksichtigen, dass der DTA in der Pflege noch nicht überall bzw. nicht durch alle Pflege- und Krankenkassen umgesetzt wird. Die Dienste sind besorgt, dass sie durch die Änderungen gezwungen werden, ein teures Verfahren alternativlos anwenden zu müssen. Wahlmöglichkeiten, wie die Abrechnungsunterlagen übermittelt werden, sollten erhalten bleiben.
Neben der elektronischen Übermittlung des Leistungsnachweises muss weiterhin die Möglichkeit bestehen, im Landesrahmenvertrag die Vereinbarung zu treffen, dass der Leistungsnachweis beim Pflegedienst verbleibt und dort von Pflegekasse eingesehen werden kann. Dies ist in der Gesetzesbegründung zu präzisieren.
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1) Beachtung des Wunsch- und Wahlrechts
Nach § 14 Abs. 5 SGB IX benennt der Rehabilitationsträger in der Regel drei wohnortnahe Sachverständige. Haben sich Leistungsberechtigte für einen Sachverständigen entschieden, wird diesem Wunsch Rechnung getragen. Ein Hinweis auf diese Regelung fehlt in den Empfehlungen, während andere Verweise auf Vorschriften des SGB IX enthalten sind. Mit Blick auf die Partizipation von Menschen mit Behinderung sollte klargestellt werden, dass auch der Leistungsberechtigte selbst einen Vorschlag für eine/-n Gutachter/-in unterbreiten kann, dem Rechnung zu tragen ist. Daher schlagen wir vor, eine entsprechende Regelung in einem neuen Absatz 1 im § 2 aufzunehmen.
2) Fehlende Empfehlung zu Fristen für Gutachtenerstellung:
Die Praxis hat gezeigt, dass bei der Erstellung von Gutachten die Fristen nach § 14 SGB IX oftmals überschritten werden. Ohne Fristen zur Erstellung eines Gutachtens besteht die Gefahr, dass Verfahren zur Bedarfsermittlung und zur Gewährung von Leistungen zur Rehabilitation aufgrund eines noch ausstehenden Gutachtens für Leistungsberechtigte in unzumutbarer Weise zeitlich gestreckt werden und sich Reha-Bedarfe während dieser Zeit noch erhöhen. Deshalb sollte in § 2 Abs. 6 eine Empfehlung für Fristen zur Erstellung von Gutachten aufgenommen werden.
3) Erstellung durch ärztliche Sachverständige
Das Gutachten soll durch ärztliche Sachverständige erstellt werden. Die relevanten sozialmedizinischen Sachverhalte sollen transparent und der Fragestellung entsprechend dargestellt werden. Mit Blick auf das bio-psychosoziale Modell der ICF sollte die Begutachtung nicht nur von ärztlichen Sachverständigen erfolgen. Für die verschiedenen Belange sind unterschiedliche Berufsgruppen notwendig. Schon heute erfolgt die Diagnostik und Behandlungsplanung in der Frühförderung von unterschiedlichen Berufsgruppen, allerdings unter ärztlicher Verantwortung. Auch in der Pflegeversicherung (auch wenn diese kein Reha-Träger ist) hat sich die Einbeziehung von Krankenschwestern, also nichtärztlichen Berufsgruppen, bewährt. Deshalb schlagen wir vor, auch nichtärztliche Berufsgruppen unter ärztlicher Verantwortung zu beteiligen.
4) Psychologische Diagnostik und Sozialanamnese
§ 4 Abs. 3b empfiehlt die Mitteilung psychischer Auffälligkeiten unabhängig vom jeweiligen Fachgebiet. Psychologische Diagnostik kann jedoch nur durch qualifizierte Fachkräfte erfolgen.
Des Weiteren sollte die Sozialanamnese durch einschlägig qualifiziertes Fachpersonal (Sozialpädagogen) und nicht von medizinischen Fachkräften vorgenommen werden. Die Empfehlungen sind hier entsprechend anzupassen.
5) Habilitation und Rehabilitation
Auffällig ist, dass ausschließlich der Begriff Rehabilitation verwendet wird. Mit Blick auf die Umsetzung des biopsychosozialen Modells und dem Verweis auf Teilhabe gem. § 4 SGB IX, sollte auch das Modell der Befähigung entsprechend dem Artikel 26 UN-Behindertenrechtskonvention Beachtung bei dieser Empfehlung finden.
6) Keine Einschränkung beim Hinzuziehen einer Begleitperson
Laut § 2 Abs. 5 der Empfehlung kann vom Betroffenen eine "Begleitperson" hinzugezogen werden, soweit sie die Begutachtung nicht beeinträchtigt. Für die BAGFW stellt sich die Frage, wer entscheidet, wann eine Beeinträchtigung der Begutachtung vorliegt. Des Weiteren stellt sich die Frage, warum der Begriff "Begleitperson" verwendet wird. Aus Sicht der BAGFW kann es sein, dass der Leistungsberechtigte eine Assistenz und damit eine persönliche Begleitperson zur Unterstützung oder eine Person des Vertrauens hinzuzieht. Allerdings obliegt diese Entscheidung ausschließlich der Person selbst und darf nicht von der begutachtenden Institution getroffen werden. Auch das ist z. B. bei der Begutachtung der Pflegebedürftigkeit durch die Pflegekassen üblich.
Mit der Einbeziehung einer Begleitperson oder Person des Vertrauens wird zum einem Barrierefreiheit sichergestellt, zum anderen wird der Leistungsberechtigte gestärkt und Transparenz in den Begutachtungsverfahren hergestellt. Daher schlagen wir vor, die Formulierung „soweit sie die Begutachtung nicht beeinträchtigt“ zu streichen.
7) Übermittlung von Gutachten an Leistungsberechtigte
Es ist begrüßenswert, dass die gutachterliche Stellungnahme auf Basis der ICF erstellt werden soll. Allerdings dürfen Gutachtenergebnisse nicht ausschließlich in den abstrakten numerischen Kodes der ICF dargestellt werden.
Bedauerlicherweise fehlen in den Ausführungen Empfehlungen zur Art und Weise, wie Gutachten den Leistungsberechtigten in geeigneter Form zugänglich gemacht werden können. Über Inhalte und Ergebnisse von Begutachtungen muss insbesondere gegenüber dem Anspruchsberechtigten große Transparenz herrschen. Anspruchsberechtigte haben ein Recht auf Aushändigung von Inhalten und Ergebnissen der Gutachten. Mit Blick auf die UN-Behindertenrechtskonvention darf das nicht mehr nach dem Motto "ohne uns über uns" geschehen. Deshalb sollte aufgenommen werden, dass dem Leistungsberechtigten das Gutachten auf Wunsch zur Verfügung zu stellen ist und im Rahmen der Begutachtung darüber zu informieren ist.
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Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege bedankt sich für die Möglichkeit der Stellungnahme zu dem Entwurf der Richtlinie für das Arbeitsmarktprogramm Flüchtlingsintegrationsmaßnahmen (FIM) vom 25.05.2016. Die Frist zur Abgabe einer Stellungnahme ist leider sehr kurz, weshalb sich die Verbände auf einige, wenige Aspekte beschränken müssen.
Grundsätzlich ist die BAGFW der Ansicht, dass es im Sinne einer weitgehenden inklusiven Förderung keine Sondermaßnahmen im Bereich Arbeitsmarktintegration für Flüchtlinge geben soll und dass diese so weit wie möglich mit den vorhandenen Regelinstrumenten frühzeitig gefördert werden sollen. Voraussetzung hierfür ist, dass die Flüchtlinge – in erster Linie durch ein qualitativ und quantitativ ausreichendes Angebot an Sprach- und Integrationskursen - darauf vorbereitet werden, an den Regelangeboten der Arbeitsförderung teilzunehmen und die Regelinstrumente bedarfsgerecht weiterentwickelt und flexibilisiert werden. Während des Asylverfahrens können sich auch Arbeitsgelegenheiten nach dem Asylbewerberleistungsgesetz anbieten, weil sie eine Möglichkeit bieten, den häufig monotonen Alltag in der Erstaufnahmeeinrichtung tagesstrukturierend zu gestalten und für die Gemeinschaft sinnvolle Aufgaben zu verrichten. Sich zu engagieren, das eigene Umfeld mitzugestalten und eventuell Kontakt zur einheimischen Bevölkerung zu bekommen, kann eine wichtige psychosoziale Unterstützung für Flüchtlinge darstellen. Die Möglichkeit, mit der dafür gezahlten Aufwandsentschädigung die eigenen finanziellen Mittel etwas aufzubessern, ist nach den Erfahrungen mit der Umsetzung der Arbeitsgelegenheiten gem. Asylbewerberleistungsgesetz für viele Flüchtlinge willkommen, solange das Beschäftigungsverbot besteht (siehe auch das Positionspapier „Arbeitsgelegenheiten für Flüchtlinge“ der BAGFW vom 02.05.2016).
Bei der Umsetzung von Arbeitsgelegenheiten im Rahmen des geplanten Arbeitsmarktprogramms sind den Verbänden diese Punkte besonders wichtig:
· Freiwilligkeit der Arbeitsgelegenheit /keine Pflicht zur Wahrnehmung
Die Pflicht zur Wahrnehmung der Arbeitsgelegenheit lehnt die BAGFW ab. Vielmehr soll den geflüchteten Menschen mit den Arbeitsgelegenheiten eine Betätigung auf freiwilliger Basis angeboten werden. Die Überprüfung der Integrationsbereitschaft mit dem Instrument der Arbeitsgelegenheiten (§ 5 AsylbLG) würde eine Wiederholung der Fehlanwendung der Arbeitsgelegenheiten bedeuten, wie sie bei der Einführung des Instruments im SGB II stattgefunden hat. Damals wurde das Instrument zur Überprüfung der Arbeitswilligkeit von SGB II-Empfängern benutzt. In diesem Zusammenhang sehen es die Verbände auch besonders kritisch, dass die Maßnahmenträger in dem geplanten Arbeitsmarktprogramm vertraglich verpflichtet werden sollen, sanktionsbelastete Informationen unverzüglich weiterzugeben.
Die BAGFW fordert in diesem Zusammenhang die gemäß Asylbewerberleistungsgesetz bestehende Verpflichtung zur Annahme der Arbeitsgelegenheit ebenso abzuschaffen wie die mit einer unbegründeten Ablehnung einhergehenden Sanktionen bzw. Leistungskürzungen.
· Vorrang von Angeboten der Sprachförderung und Arbeitsmarktintegration
sicherstellen
Laut Richtlinienentwurf sollen weiterführende Integrationsmaßnahmen Vorrang vor einer Zuweisung in eine Arbeitsgelegenheit des Programms haben. Die Wohlfahrtsverbände plädieren dringend dafür, dass sichergestellt wird, dass die vorrangigen Angebote schon während des Asylverfahrens tatsächlich verfügbar sind , darunter insbesondere die Integrationskurse und Maßnahmen der Arbeitsförderung wie etwa betriebsnahe Kompetenzfeststellungsverfahren oder die im Zuge des Entwurfs eines Integrationsgesetzes neu zugänglich werdenden Angebote der Ausbildungsförderung und Ausbildungsvorbereitung für junge Menschen. Die vorrangigen Angebote müssen so ausgebaut werden, dass sie dem tatsächlichen Bedarf entsprechend verfügbar sind. Notwendig ist auch, dass die Bundesagentur für Arbeit (ggf. auch in Kooperation mit Dritten) die nötigen Beratungsangebote zur Auswahl der passenden Förderleistungen in Abstimmung mit den geflüchteten Menschen anbieten kann. Insbesondere beim Angebot der Integrationskurse gibt es noch viel zu viele Förderlücken und lange Wartezeiten.
Die BAGFW fordert, dass alle Schutzberechtigten mit Aufenthaltserlaubnis und Geduldete von Anfang an Zugang zur Arbeitsförderung nach SGB II und SGB III und Ausbildungsförderung gemäß BAföG und BAB haben sollten. Für Asylbewerber/innen gilt, dass sie Zugang zu diesen Leistungen erhalten sollten, wenn das Asylverfahren nicht in einer angemessenen Frist von sechs Monaten nach Einreise abgeschlossen wird (siehe „Aktuelle Standortbestimmung der BAGFW zu den Herausforderungen der Aufnahme und Integration von Geflüchteten“ Stand: Dezember 2015).
· Öffnung des Programms für weitere Asylberechtigte
Von einer Teilnahme am Programm sollen nach dem vorliegenden Richtlinienentwurf Personen aus so genannten „sicheren Herkunftsstaaten“ und vollziehbar ausreisepflichtige Personen ausgenommen werden. Die BAGFW plädiert dafür, auch Asylsuchende aus so genannten sicheren Herkunftsstaaten und Geduldeten eine Teilnahmemöglichkeit - auf freiwilliger Basis - zu eröffnen. Das kann helfen, Ausgrenzung und damit einhergehenden Konflikten vorzubeugen.
· Angebote für Eltern unterbreiten
Die individuelle Teilnahmedauer ist mit wöchentlich bis zu 30 Stunden festgelegt. Um den Bedürfnissen von Flüchtlingen mit Kindern besser Rechnung zu tragen, sollten Teilzeitangebote in der Richtlinie explizit berücksichtigt werden. Geflüchtete Kinder sollen vorrangig in den Regelangeboten der Kindertagesbetreuung gefördert werden. Ergänzend dazu müssen jedoch auch Kinderbetreuungsangebote in externen Arbeitsgelegenheiten angeboten und finanziert werden, damit Mütter und Väter einen Zugang zu den Maßnahmen erhalten.
· Programmvorgaben verändern
Das Programm ist verwaltungsaufwändig, weil Vielfachzuständigkeiten und Parallelstrukturen eingezogen werden. Standardisierte Vorgaben und komplizierte Abläufe sind nicht förderlich, um ein sinnstiftendes und arbeitsmarktintegratives Angebot an Arbeitsgelegenheiten bereitzustellen. So ist keine Möglichkeit für gemeinnützige Träger vorgesehen, „externe Flüchtlingsintegrationsmaßnahmen“ direkt bei der Arbeitsagentur zu beantragen; sie können lediglich Vorschläge für einen Antrag der nach dem Asylbewerberleistungsgesetz zuständigen Behörde einreichen, die sich wiederum mit ihrem Antrag an die örtliche Arbeitsagentur wendet. Die für die Umsetzung des Asylbewerberleistungsgesetzes zuständigen Behörden haben im Unterschied zu den Arbeitsagenturen und Jobcentern jedoch nur wenig Erfahrung damit, arbeitsmarktintegrative Beschäftigungsangebote zu planen. Deshalb sollte es für gemeinnützige Träger möglich sein, externe Flüchtlingsintegrationsmaßnahmen direkt bei der Arbeitsagentur zu beantragen. Den freien Trägern sollte zudem die Möglichkeit eröffnet werden, inklusive Arbeitsgelegenheiten anzubieten, d.h. auch Konzepte realisieren zu können, bei denen Flüchtlinge gemeinsam mit Arbeitssuchenden (aus dem Rechtskreis SGB II) an einer Arbeitsgelegenheit teilnehmen und gemeinsam lernen. Die vorgesehenen Maßnahmenkostenpauschalen in Höhe von 85 Euro für Plätze in internen Flüchtlingsintegrationsmaßnahmen bzw. 250 Euro für Plätze in einer externen Flüchtlingsintegrationsmaßnahme sind einheitlich und damit zu wenig flexibel gestaltet. Je nach Trägerkonzept können im Einzelfall höhere Maßnahmenkostenpauschalen notwendig sein, etwa wenn die Arbeitsgelegenheit in kleinen Gruppen mit einer sozialpädagogischen Betreuung ausgestattet oder ein ergänzendes Sprachförderangebot bereitgestellt werden soll. Aufwendungen der Träger zur Ansprache und Vorauswahl der Teilnehmenden sowie die Planung der Arbeitsgelegenheiten sollen gemäß Richtlinienentwurf nicht vergütet werden; dies ist bei der Bemessung der Maßnahmenkostenpauschalen jedoch zu berücksichtigen. Die maximale individuelle Teilnahmedauer beträgt sechs Monate. Wie bei früheren kurzfristigen Arbeitsgelegenheiten gem. SGB II werden die Maßnahmen so wenig Nutzen für die Teilnehmenden bringen. Die individuelle Teilnahmedauer sollte dringend flexibilisiert und verlängert werden können, insbesondere um individuelle Teilnehmerwünsche und die Dauer des Asylverfahrens berücksichtigen zu können. Das Kriterium der Zusätzlichkeit der Arbeiten darf in der Praxis nicht dazu führen, dass die Arbeiten sinnentfremdet werden. Außerdem sollte im Rahmen der Arbeitsgelegenheiten eine sozialpädagogische Begleitung und ergänzende Sprachförderung angeboten werden, damit die Teilnehmenden individuell unterstützt werden können.
· Mehraufwandsentschädigung
Der Entwurf eines Integrationsgesetzes sieht vor, die Mehraufwandsentschädigung von 1,05 Euro je Stunde auf 80 Cent die Stunde abzusenken, um den Mehraufwand, der in Aufnahmeeinrichtungen entsteht, realistischer abzubilden. Zur Umsetzung des Arbeitsmarktprogramms ist jedoch regelhaft auch für externe Arbeitsgelegenheiten vorgesehen, lediglich 80 Cent pro Stunde auszuzahlen und höhere Aufwendungen nur gegen Nachweis zu erstatten. Die Wohlfahrtsverbände plädieren dafür, auch aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung bei dem Betrag von zumindest 1,05 Euro für alle Arbeitsgelegenheiten nach dem Asylbewerberleistungsgesetz und diesem Programm zu bleiben.
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§ 17 Absatz 1b Richtlinien der Pflegekassen i.V. mit § 18 Absatz 1a
Änderungsantrag
Mit dem neuen § 17 Absatz 1b wird der GKV-SV beauftragt, bis zum 30. November 2016 Richtlinien zur Feststellung des Zeitanteils zu entwickeln, für den die Pflegekasse bei ambulant versorgten Pflegebedürftigen, die einen erheblichen Bedarf an behandlungspflegerischen Leistungen haben und Leistungen nach § 36 SGB XI sowie Leistungen der häuslichen Krankenpflege nach § 37 Absatz 2 SGB V beziehen, die hälftigen Kosten für die Grundpflege zu tragen hat. Bei der Ermittlung des Zeitanteils sind nur Maßnahmen der körperbezogenen Pflege zu berücksichtigen. Des Weiteren wird der GKV-SV beauftragt, eine wissenschaftliche Evaluation dieser Richtlinienänderung vorzunehmen und den Bericht über die Ergebnisse der Evaluation bis zum 31. Dezember 2018 zu veröffentlichen. In § 18 Absatz 1a wird normiert, dass die Pflegekassen den Medizinischen Dienst beauftragen können zu prüfen, für welchen Zeitanteil die Pflegeversicherung die hälftigen Kosten zu tragen hat.
Bewertung
Versicherte mit einem besonders hohen Versorgungsbedarf an sogenannter außerklinischer intensivpflegerischer Betreuung und Behandlung (z. B. Wachkomapatienten, Patienten mit Amyotropher Lateralsklerose (ALS) in späten Stadien, dauerbeatmete Patienten), die außerklinisch (ambulant) versorgt werden müssen, erhalten überwiegend zeitgleich grundpflegerische und behandlungspflegerische Versorgung.
Mit dem Bundessozialgerichtsurteil vom 17.06.2010 (Az.: B 3 KR 7/09 R) wurde die Frage nach der leistungsrechtlichen Zuständigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung einerseits und der sozialen Pflegeversicherung andererseits entschieden. Grundlage bildeten dabei bislang die mit MDK-Gutachten erhobenen Zeiten für die grundpfle-gerische Versorgung und zusätzlich erfasste Zeiten für verrichtungsbezogene krankheitsspezifische Pflegemaßnahmen. Das BSG hat dazu im Einzelnen festgestellt: „Zur Abgrenzung beider Bereiche ist wie folgt vorzugehen: Es ist zunächst von dem im MDK-Gutachten festgestellten Gesamtumfang aller Hilfeleistungen bei der Grundpflege die von der Pflegekasse geschuldete „reine“ Grundpflege zu trennen und zeitlich zu erfassen. Der so ermittelte Zeitwert ist aber nicht vollständig, sondern nur zur Hälfte vom Anspruch auf die ärztlich verordnete Rund-um-die-Uhr erforderliche Behandlungspflege abzuziehen, weil während der Durchführung der Grundpflege weiterhin Behandlungspflege – auch als Krankenbeobachtung – stattfindet und beide Leistungsbereiche gleichrangig nebeneinanderstehen. Aus der Differenz zwischen dem verordneten zeitlichen Umfang der häuslichen Krankenpflege und der Hälfte des zeitlichen Umfangs der „reinen“ Grundpflege ergibt sich der zeitliche Umfang für die häusliche Krankenpflege, für den die Krankenkasse einzutreten hat. Die Pflegekasse hat die Kosten der Hälfte des Zeitaufwandes der „reinen“ Grundpflege zu tragen, jedoch begrenzt auf den Höchstbetrag für die Sachleistung der dem Versicherten zuerkannten Pflegestufe.“ (RD Nr. 28)
Mit Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs richtet sich die Einstufung der Pflegebedürftigen ausschließlich nach dem Grad der Selbständigkeit. Zukünftig wird der Zeitaufwand für den Hilfebedarf bei der Grundpflege im Rahmen der Begutachtung zur Feststellung von Pflegebedürftigkeit nicht mehr festgestellt. Folglich kann das Gutachten nicht mehr für eine zeitbezogene Aufteilung der Kostenträgerschaft herangezogen werden.
Der GKV-SV wird zur Umsetzung der Vorgaben des Bundessozialgerichts (BSG) mit Urteil vom 17. Juni 2010 (B 3 KR 7/09 R) verpflichtet, auf pflegefachlicher Grundlage Richtlinien zu entwickeln, mit denen ab dem 1. Januar 2017 eine pauschale und/oder einzelfallbezogene Feststellung des Zeit- und damit Kostenanteils der Pflegeversicherung möglich ist.
Da der Begriff der Grundpflege im Pflegeversicherungsrecht künftig entfällt, ist der Zeitanteil für körperbezogene Pflegemaßnahmen festzustellen, die im Wesentlichen den bisherigen Maßnahmen der Grundpflege entsprechen. Ausweislich der Gesetzesbegründung ist darauf zu achten, dass die bisherige leistungsrechtliche Zuordnung von Maßnahmen zur Pflegeversicherung und Krankenversicherung unverändert bleibt.
Für körperbezogene Pflegemaßnahmen gibt es bisher keine pflegewissenschaftlich begründete Definition. Vielmehr stellen körperbezogene Pflegemaßnahmen eine Begrifflichkeit dar, deren Leistungsinhalte aufgrund der gesetzlichen Vorgaben von den Rahmenvertragsparteien nach § 75 SGB XI zu bestimmen sind. Im Kern werden körperbezogene Pflegemaßnahmen voraussichtlich auf das Leistungsspektrum der durch den alten Pflegebedürftigkeitsbegriff geprägten verrichtungsbezogenen Tätigkeiten zurückgreifen. Nach dem neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff soll anstelle der verrichtungsorientierten Sichtweise eine problemorientierte Sicht auf die Planung und Ausführung von Pflegemaßnahmen treten. Körperbezogene Pflegemaßnahmen korrelieren jedoch nicht einfach mit den Modulen 1 und 4. Auch Beeinträchtigungen innerhalb der Module 2, 3 aber auch des Modul 6 wirken auf die Durchführung körperbezogener Leistungen ein und haben Einfluss auf die Dauer der Leistungserbringung. Mittelfristig sollte auch für den hier genannten Personenkreis eine pflegefachlich wissenschaftlich fundierte Lösung aus dem NBA entwickelt werden, damit die Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffes nicht durch einen veralteten Rückgriff auf Zeitanteile konterkariert wird.
Mit Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs richtet sich die Einstufung der Pflegebedürftigen ausschließlich nach dem Grad der Selbständigkeit. Zukünftig wird der Zeitaufwand für den Hilfebedarf bei der Grundpflege im Rahmen der Begutachtung zur Feststellung von Pflegebedürftigkeit nicht mehr festgestellt. Folglich kann das MDK-Gutachten nicht mehr für eine zeitbezogene Aufteilung der Kostenträgerschaft herangezogen werden.
Kurzfristig halten die in der BAGFW kooperierenden Verbände den Änderungsantrag als Zwischenschritt für geeignet, um für die hier dargelegte Zielgruppe eine Lösung zum 01.01.2017 zu finden. Es ist mit Verweis auf § 17 Abs. 1 SGB XI sicherzustellen, dass die BAGFW bei der Erstellung der Richtlinie qualifiziert zu beteiligen ist.
Lösungsvorschlag
Bei der Ermittlung der Zeitwerte muss nach unserer Auffassung auf die Zeiten, die eine Pflegefachkraft und nicht eine Laienkraft aufwendet, zurückgegriffen werden, denn es handelt sich um Leistungen, die eine pflegefachliche Qualifikation voraussetzen.
Eine wissenschaftliche Evaluation dieser Richtlinienänderung ist unverzichtbar, da es sich um Änderungen an dem neuen Begutachtungsverfahren handelt. Die Auswirkungen der Ergänzungen am neuen Begutachtungsinstrument sind zeitnah zu evaluieren, deshalb schlagen wir eine Berichtspflicht bereits zum 31.03.2018 vor.
Satz 1 des § 17 Absatz 1b neu ist um folgenden Satz zu ergänzen: „§ 17 Absatz 1 Satz 2 gilt entsprechend.“
Im Satz 3 des § 17 Absatz 1b neu sind der „31. Dezember 2018“ durch den „31. März 2018“ zu ersetzen.
§ 18 Absatz 3b
Änderungsantrag
Wenn die Pflegekasse den schriftlichen Bescheid über den Antrag des Versicherten nicht innerhalb von 25 Arbeitstagen nach Eingang des Antrags erteilt, hat sie für jede begonnene Woche der Fristüberschreitung 70 Euro an den Antragsteller zu zahlen. Dies gilt nicht, wenn sich der Antragsteller in vollstationärer Pflege befindet. Diese Frist wurde mit dem PSG II bereits für die Dauer vom 1. Januar 2017 bis zum 31. Dezember 2017 aufgehoben. Mit dem vorliegenden Änderungsantrag wird diese Zahlungspflicht nun bereits ab dem 1. November 2016 ausgesetzt. Ausweislich der Begründung dient die Fristaussetzung dem Ziel, auf ein ggf. erhöhtes Begutachtungsaufkommen im Zuge der Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs flexibel reagieren zu können.
Bewertung
Die in § 18 Absatz 3b Satz 1 vorgesehenen Begutachtungsfristen im ambulanten Bereich werden aus Sicht der BAGFW schon seit längerem eingehalten. Im stationären Bereich wird den Verbänden der BAGFW nach wie vor zurückgemeldet, dass es zu einer Nichteinhaltung der Begutachtungsfristen kommt. Pflegebedürftige Menschen in stationären Einrichtungen erhalten jedoch die Zahlung von 70 Euro pro begonnener Woche nicht. Für eine Ungleichbehandlung von Antragstellern in stationären Einrichtungen gegenüber Antragstellern im ambulanten Bereich nach § 18 Absatz 3 b Satz 2 SGB XI besteht aus Sicht der BAGFW kein sachlicher Grund. Falls der Gesetzgeber für den Zeitraum ab 2017 überhaupt an dieser Regelung festhalten will, sollte künftig also auch der Antragsteller, der sich in einer vollstationären Einrichtung befindet, aus Gründen der Gleichbehandlung 70 Euro für jede begonnene Woche der Fristüberschreitung erhalten.
Um die Umstellung auf das neue Begutachtungsverfahren zu erleichtern, erachtet die BAGFW die im Änderungsantrag vorgesehene Aussetzung der Sanktionszahlung bei Fristüberschreitung für den Zeitraum vom 1. November 2016 bis zum 31. Dezember 2017 für sachgerecht.
§ 84 Absatz 2 Satz 3 i.V. mit §§ 92c Satz 4 und 92e Absatz 3
Änderungsantrag
Die vorgeschlagene Änderung des § 92e Absatz 3 sieht eine Auffangregelung zur Überleitung im Bereich der Kurzzeitpflege vor, sofern die Pflegesatzverhandlungen nicht rechtzeitig zur Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs abgeschlossen sind. Dazu wird in § 84 Absatz 2 Satz 3 und in § 92c Absatz 4 klargestellt, dass die Ermittlung einrichtungseinheitlicher Eigenanteile ausschließlich für die vollstationäre Dauerpflege nach § 43 SGB XI gilt. Unbeschadet dessen ermöglicht die Regelung den Vereinbarungspartnern nach § 85, sich bei eingestreuten Kurzzeitpflegeplätzen an der Vereinbarung der vollstationären Dauerpflege zu orientieren. Mit der Änderung des
§ 92e Absatz 3 wird eine Berechnungsformel für die Überleitung der Pflegesätze in der Kurzzeitpflege eingeführt, welche die Pflegesätze entsprechend der Aufwandsverhältnisse in Beziehung setzt, die in der Studie zur Erfassung von Versorgungsaufwänden in stationären Einrichtungen (EViS) der Universität Bremen ermittelt wurden.
Bewertung
Die Verbände der BAGFW haben im Gremium zur fachlichen und wissenschaftlichen Begleitung der Umstellung des Verfahrens zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit nach § 18c SGB XI darauf hingewiesen, dass die Ermittlung und Festschreibung von einrichtungseinheitlichen Eigenanteilen in der Kurzzeitpflege nicht passend ist. Die Kurzzeitpflege wird in der Regel in Anspruch genommen, wenn die häusliche Pflege zeitweise nicht oder nicht im erforderlichen Umfang erbracht werden kann, z.B. für eine Übergangszeit im Anschluss an eine stationäre Behandlung der Pflegebedürftigen Menschen im Krankenhaus. Die Pflegekasse übernimmt die pflegebedingten Aufwendungen einschließlich der Aufwendungen der sozialen Betreuung und der Aufwendungen für Leistungen der medizinischen Behandlungspflege bis zu dem in § 42 vorgesehenen Gesamtbetrag. Wenn der Gesamtbetrag erschöpft ist, übernimmt der Pflegebedürftige die Kosten für die pflegebedingte Aufwendung selbst oder subsidiär die Sozialhilfe. Es gibt somit - anders als in der vollstationären Pflege - keinen täglichen oder monatlichen Eigenanteil, den der Versicherte selbst trägt. Wir begrüßen deshalb die in § 84 Absatz 2 Satz 3 vorgenommene Präzisierung, dass die Ermittlung einrichtungseinheitlicher Eigenanteile ausschließlich für die vollstationäre Dauerpflege nach § 43 SGB XI gilt.
Für die Pflegesatzüberleitung wurden für den Bereich der eingestreuten Kurzzeitpflegeplätze in den meisten Bundesländern bereits Regelungen getroffen, die sich an der vollstationären Dauerpflege orientieren. Probleme treten jedoch insbesondere im Bereich der solitären Kurzzeitpflegeeinrichtungen auf, da dort aufgrund der kleinen Einheiten mit einem geringeren Auslastungsgrad als im vollstationären Bereich kalkuliert wird. Die im Änderungsantrag vorgesehene Äquivalenzziffer-Formel ist der EViS-Studie entliehen und orientiert sich an den für die vollstationäre Dauerpflege bereits getroffenen Berechnungsregelungen. Diese Formel wird von den Verbänden der BAGFW als ein geeigneter Kompromiss gesehen, um die Überleitung in der Kurzzeitpflege sicherzustellen. Gleichzeitig ist festzustellen, dass es gerade in der Kurzzeitpflege infolge der Erteilung einer nur vorläufigen Pflegestufe nach Krankenhausaufenthalt einen hohen Anteil von Pflegebedürftigen gibt, die trotz hohen Versorgungsaufwands nur einen niedrigen Pflegegrad erlangen. Die Verbände der BAGFW weisen daher darauf hin, dass die der EViS-Studie entliehenen Äquivalenzziffern des Änderungsantrags in der Praxis somit eine zu große Spreizung darstellen könnten. So zeigen Berechnungen unserer Träger, dass eine Spreizung der Pflegesätze in der solitären Kurzzeitpflege analog zur Spreizung in der teilstationären Pflege vorgenommen werden sollte. Wir bitten daher zu prüfen, ob die Auffangregelung des § 92e Absatz 3 auch für die Kurzzeitpflege zur Anwendung kommen kann.
Im Zusammenhang mit diesem Änderungsantrag regt die BAGFW erneut an, auch bei einem verkürzten Einstufungsverfahren, z.B. nach Krankenhausaufenthalt, grundsätzlich den tatsächlichen Pflege-/Hilfebedarf des Versicherten zu ermitteln und die Pflegebedürftigen einem konkreten Pflegegrad zuzuordnen. Dies kann nach § 33 Absatz 1 SGB XI ggf. auch auf einen kürzeren Zeitraum befristet werden, beispielsweise für die Dauer eines anschließenden Kurzzeitpflegeaufenthalts.
Weitergehende Forderung der BAGFW zu § 92c SGB XI - Neuverhandlung der Pflegesätze
Mit der Erklärung des Pflegebevollmächtigten K.-J. Laumann wurde unterstrichen, dass die Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs mit einem höheren Personalaufwand einhergeht:
Zitat aus Laumann-Erklärung von März 2016:
„In der stationären Pflege werden gerade auch an Demenz erkrankte Pflegebedürftige von der neuen Begutachtungssystematik profitieren. Der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff erfordert dort neue Konzepte für die Pflege – der höhere Personalaufwand, der damit in aller Regel einhergeht, ist zukünftig selbstverständlich auch in den Personalschlüsseln abzubilden. Im Klartext bedeutet das: Mit dem neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff werden wir mehr Personal in unseren Pflegeheimen brauchen. Denn Personen mit eingeschränkter Alltagskompetenz können im Sinne der Pflegereform meiner Meinung nach nur dann besser versorgt werden, wenn es mit der Überleitung auch zu Verbesserungen bei der Personalausstattung in den stationären Einrichtungen kommt.“
„Ich erwarte daher von allen Vereinbarungspartnern auf Landesebene, die bisherigen Personalschlüssel in den Landesrahmenverträgen als veraltet anzusehen. Sie orientieren sich an einem defizitbezogenen Pflegebedürftigkeitsbegriff, der Ende 2016 Geschichte sein wird. In den individuellen Pflegesatzverhandlungen und in den Verhandlungen der Landespflegesatzkommissionen für 2017 müssen jetzt neue, angemessene Personalschlüssel vereinbart werden, die dem neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff entsprechen.“
Die in der BAGFW kooperierenden Verbände sehen es daher als erforderlich an, die Neuverhandlung der Pflegesätze entsprechend anzupassen.
Lösungsvorschlag
§ 92c Satz 3 SGB XI ist wie folgt zu ergänzen:
„Für den vorgesehenen Übergang ab dem 1. Januar 2017 sind von den Vereinbarungspartnern nach § 85 unter Berücksichtigung des mit dem neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff einhergehenden höheren Personalaufwandes für die Pflegeheime neue Pflegesätze im Hinblick auf die neuen fünf Pflegegrade zu vereinbaren.“
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Insbesondere begrüßt die BAGFW die Streichung des § 238 StGB aus dem Katalog der Privatklagedelikte (§ 374 StPO).
Derzeit kann die Staatsanwaltschaft Verfahren wegen Nachstellungen mit Verweis auf den Privatklageweg gemäß §§ 170 Abs. 2, 374 StPO einstellen. Mit der Streichung sollen Belastungen für Betroffene reduziert werden und es soll den Opfern erspart werden, selbst ein Verfahren gegen den Täter anstrengen zu müssen. Zudem spricht auch die "Täter-Opfer-Konstellation" gegen den Verweis auf den Privatklageweg, da es den Verletzten nicht weiter zugemutet werden soll, selbst die Verfolgung des Täters anstrengen zu müssen - zumal Betroffene derzeit auch das Kostenrisiko einschließlich der notwendigen Auslagen des Täters, wie beispielsweise Anwaltskosten, tragen.
Darüber hinaus bedarf es aus Sicht der BAGFW bestimmter Ergänzungen bzw. Änderungen des Gesetzentwurfes:
1. Den unbestimmten Rechtsbegriff der objektiven Geeignetheit zu schwerwiegenden Beeinträchtigungen der Lebensgestaltung der Betroffenen konkretisieren.
Derzeit ist § 238 StGB (Nachstellung) als sogenanntes Erfolgsdelikt ausgestaltet und setzt voraus, dass die Handlung des Täters zu einer gravierenden Beeinträchtigung der Lebensgestaltung des Opfers führt. Mit der Reform soll die Strafbarkeit jedoch nicht mehr von einem Erfolgseintritt abhängig gemacht werden, sondern es soll bereits zur Tatbestandsverwirklichung ausreichend sein, dass die Handlung des Täters objektiv dazu geeignet ist, die Lebensgestaltung der Betroffenen gravierend zu beeinträchtigen. Dadurch soll der Opferschutz effektiver gewährleistet und dem Unrechtsgehalt der so genannten Stalking-Fälle besser Rechnung getragen werden.
Die Verbände der BAGFW begrüßen, dass durch die Umgestaltung des Nachstellungstatbestandes von einem Erfolgs- zu einem Eignungsdelikt eine tatsächliche Unterwerfung des Opfers unter den Druck des Täters nicht mehr erforderlich ist, um eine Täter-Handlung strafrechtlich zu verfolgen.
In der Gesetzesbegründung könnte jedoch noch die Geeignetheit genauer ausgelegt werden: Es ist nämlich denkbar, dass der unbestimmte Rechtsbegriff der Geeignetheit in Bezug auf die Beeinträchtigung zu neuen Rechtsunsicherheiten führen könnte. In der Gesetzesbegründung wird auf eine objektive Geeignetheit abgestellt. Maßgeblich ist demnach eine Einschätzung der objektiven Geeignetheit der Tat hinsichtlich der Herbeiführung einer schwerwiegenden Beeinträchtigung der Lebensumstände beim Opfer (S. 1 des Referentenentwurfs). Indizien sollen die Häufigkeit, Kontinuität und Intensität der Handlung sein. Im Rahmen dieser objektivierenden Beurteilung kommt in erster Linie dem Grad des psychischen Drucks, den der Täter mit seinem Verhalten erzeugt, Bedeutung zu (S. 11 des Referentenentwurfs). Dieser Druck kann bei verschiedenen Opfern unterschiedlich ankommen. Es ist also auch zu prüfen, ob das Opfer beispielsweise unter psychischen Beeinträchtigungen leidet und die Tathandlung insoweit eher geeignet ist, die Lebensführung zu beeinträchtigen. Es muss aus unserer Sicht in der Begründung deutlicher zum Ausdruck kommen, dass auch im Rahmen einer objektiven Beurteilung die Spezifität des Einzelfalles und die möglichen psychischen und körperlichen Folgen auf das jeweilige Opfer Berücksichtigung finden. Es ist zwar richtig, dass die Bewertung losgelöst von individuellen Befindlichkeiten stattfinden muss. Gerade deswegen muss es aber auch dann zu einer Strafbarkeit kommen, wenn das Opfer darlegt, dass man sich von einer tatsächlich subjektiven Beeinträchtigung durch das Täterverhalten freihalten konnte. Es geht also um die Objektivierbarkeit einer subjektiven Situation.
Jedoch bleibt das Problem der Nachweisbarkeit nach wie vor bestehen, da sich weder aus dem Gesetzestext noch aus der Gesetzesbegründung objektive Anknüpfungspunkte entnehmen lassen, wann der Tatbestand im Einzelfall verwirklicht sein soll.
2. Keine Streichung der Generalklausel sondern verfassungskonforme Anpassung
Die Generalklausel in § 238 Abs. 1 Nr. 5 StGB ermöglicht die Erweiterung der in den Nummern 1 bis 4 aufgeführten Tatbestände. Um einer zu weit gehenden Strafbarkeit vorzubeugen, soll die Streichung der Generalklausel erfolgen.
Gegen die Streichung bestehen erhebliche Bedenken. Auch die vorliegende Begründung, dass damit einer zu weit gehenden Strafbarkeit vorgebeugt werden soll, kann diese Bedenken nicht ausräumen. Mit der dann eintretenden abschließenden Aufzählung der Tatalternativen innerhalb des § 238 StGB können diverse Straftatbestände, wie z.B. §§ 123, 303 StGB, die erfahrungsgemäß ebenfalls im Rahmen von Stalking-Handlungen einschlägig sind, zukünftig nicht mehr berücksichtigt werden. Diese Einzelstraftaten unterstreichen die Intensität der Nachstellung zu Lasten der Opfer. Es besteht die Gefahr, dass die Bündelung eines zusammenhängenden Sachverhaltes aufgrund der in den verschiedenen Sachgebieten der Kriminalkommissariate und der in den Staatsanwaltschaften vorhandenen einzelnen Dezernate zukünftig erschwert wird.[1] Zusätzlich kann eine abschließende Aufzählung keine neuen Tatsachverhalte aufnehmen. Stalkingtäter zeichnen sich insbesondere darüber aus, immer wieder neue Handlungen zu kreieren, um ihren Opfern nachzustellen. Der „Vielgestaltigkeit des Phänomens“, welches sich einer exakten Bestimmung entzieht, den technischen Entwicklungen und möglichen „neuen Formen“ könnten nicht Rechnung getragen werden.[2]
Die Verbände der BAGFW fordern daher eine Beibehaltung der Generalklausel gemäß § 238 Abs. 1 Nr. 5 StGB, um den Opferschutz umfänglich aufrechtzuerhalten. Verfassungsrechtliche Bedenken (Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG) hinsichtlich der Unbestimmtheit der Generalklausel muss der Gesetzgeber durch entsprechende Anpassungen ausräumen.
3. Regelhafte Prüfung einer möglichen gerichtlichen Bestätigung und Festlegung der Strafbewehrung im Vergleich
Zukünftig sollen auch Vergleiche, die in Gewaltschutzverfahren geschlossen werden, bei Verstößen gemäß § 4 GewSchG strafbewehrt sein. Derzeit trifft dies lediglich auf Verstöße gegen eine gerichtliche Gewaltschutzanordnung zu. Hierzu bedarf es neben der Ergänzung von § 4 GewSchG auch einer Änderung des FamFG, die zukünftig eine Bestätigung des Vergleichs durch das Familiengericht vorsieht (§ 214a FamFG-E). Dies folgt aus dem Bestimmtheitsgebot, da nicht von den Beteiligten selbst festgelegt werden kann, welche Verhaltensweise strafbewehrt sein soll. Allerdings ist dies nur möglich, wenn bestimmte Voraussetzungen, wie die Antragstellung durch die verletzte Person und das Vorliegen einer Tathandlung im Sinne von § 1 Abs. 1 oder § 1 Abs. 2 GewSchG vorliegen. Zudem ist es erforderlich, dass die vom Täter übernommene Verpflichtung aus dem Vergleich hinreichend bestimmt und verhältnismäßig ist.
Die Verbände der BAGFW begrüßen die Einführung der Bestätigung und fordern, dass die Vergleiche regelhaft von Amts wegen hinsichtlich der sonstigen Voraussetzungen für eine Bestätigung gerichtlich geprüft und die Strafbewehrung der geschlossenen Vergleiche somit regelhaft mitgedacht und bei Vorliegen der Voraussetzungen umgesetzt werden.
[1] Vgl. Stellungnahme der LAG der Interventionsstellen gegen häusliche Gewalt und Stalking Mecklenburg-Vorpommern zum Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung des Schutzes gegen Nachstellung, Rostock, 29.03.2016.
[2] vgl. Fischer 61. Aufl. 2014, StGB, § 238, Rn.17.
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Grundsätzlich ist die BAGFW der Ansicht, dass es im Sinne einer weitgehenden inklusiven Förderung keine Sondermaßnahmen im Bereich Arbeitsmarktintegration für Flüchtlinge geben soll und dass diese so weit wie möglich mit den vorhandenen Regelinstrumenten frühzeitig gefördert werden sollen. Voraussetzung hierfür ist, dass die Flüchtlinge – in erster Linie durch ein qualitativ und quantitativ ausreichendes Angebot an Sprach- und Integrationskursen - darauf vorbereitet werden, an den Regelangeboten der Arbeitsförderung teilzunehmen und die Regelinstrumente bedarfsgerecht weiterentwickelt und flexibilisiert werden.
Während des Asylverfahrens können sich auch Arbeitsgelegenheiten nach dem Asylbewerberleistungsgesetz anbieten.
Soweit die Zielgruppe der Flüchtlinge auch zur genuinen Zielgruppe der Arbeitsgelegenheiten (AGH) aus dem SGB II gehört (mehrfache Vermittlungshemmnisse unabhängig von noch nicht vorhandenen Sprachkenntnissen), kann auch eine Förderung über AGH nach SGB II erfolgen.
Nach der gültigen Gesetzeslage ist der Aufenthaltsstatus von Flüchtlingen ausschlaggebend dafür, ob Flüchtlingen eine Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt erlaubt ist und welche Sprach- und Arbeitsmarktförderung für sie in Betracht kommt.
Asylbewerber/innen
Grundsätzlich gilt für Flüchtlinge für die ersten drei Monate des Aufenthalts ein Beschäftigungsverbot auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Für Asylsuchende, die aus sog. sicheren Herkunftsstaaten kommen, gilt einhergehend mit der Verpflichtung, sich für die gesamte Dauer des Asylverfahrens in einer Aufnahmeeinrichtung aufzuhalten, ein generelles Beschäftigungsverbot.
Nach Ansicht der BAGFW muss die Zielsetzung eine zügige Heranführung der Asylbewerber/innen an den Arbeitsmarkt sein. Die Arbeitsverbote für Asylsuchende verhindern, dass die Betroffenen ihre Qualifikationen nutzen (De-Qualifizierung) und/oder neue erwerben können. Asylsuchende sollten unabhängig von ihrer Unterbringung spätestens nach 3 Monaten Zugang zum Arbeitsmarkt haben. Zumindest solange die Asylverfahren in der Praxis nicht in einem angemessenen Zeitraum von wenigen Monaten durchgeführt werden, müssen Asylsuchende nach einer je nach Fördermaßnahme vorzusehenden Frist auch Zugang zu den Maßnahmen der Arbeitsförderung haben.
Nach der aktuellen Gesetzeslage ist es vorgesehen, dass Asylbewerber/-innen während der Phase ihrer Unterbringung in einer Erstaufnahmeeinrichtung im Rahmen einer Arbeitsgelegenheit nach § 5 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) tätig werden: „In Aufnahmeeinrichtungen und vergleichbaren Einrichtungen sollen Arbeitsgelegenheiten insbesondere zur Aufrechterhaltung und Betreibung der Einrichtung zur Verfügung gestellt werden. (…) Im Übrigen sollen soweit wie möglich Arbeitsgelegenheiten bei staatlichen, bei kommunalen und bei gemeinnützigen Trägern zur Verfügung gestellt werden, sofern die zu leistende Arbeit sonst nicht, nicht in diesem Umfang oder nicht zu diesem Zeitpunkt verrichtet werden würde. Es besteht eine Pflicht, die zur Verfügung gestellte Arbeitsgelegenheit wahrzunehmen.“ AGH nach dem AsylbLG unterliegen mithin anderen Voraussetzungen als AGH nach dem SGB II.
Die BAGFW begrüßt grundsätzlich die Möglichkeit der Arbeitsgelegenheiten nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Diese Arbeitsgelegenheiten können eine gute Möglichkeit bieten, den häufig monotonen Alltag in der Erstaufnahmeeinrichtung erträglicher zu gestalten und für die Gemeinschaft sinnvolle Aufgaben zu verrichten. Sich zu engagieren, das eigene Umfeld etwas mitzugestalten, eine Art von Arbeitsroutine zu haben , sinnvolle Arbeiten zu erledigen und eventuell Kontakt zur einheimischen Bevölkerung zu bekommen, kann eine wichtige psychosoziale Unterstützung für Flüchtlinge darstellen. Die Möglichkeit, mit der dafür gezahlten Aufwandsentschädigung die eigenen finanziellen Mittel etwas aufzubessern, ist für viele Flüchtlinge ebenso willkommen, solange das Beschäftigungsverbot besteht.
Die Pflicht zur Wahrnehmung der Arbeitsgelegenheit lehnt die BAGFW jedoch ab. Vielmehr soll den geflüchteten Menschen mit den Arbeitsgelegenheiten eine Betätigung auf freiwilliger Basis angeboten werden. Die Überprüfung der Integrationsbereitschaft mit dem Instrument der Arbeitsgelegenheiten (§ 5 AsylbLG) würde eine Wiederholung der Fehlanwendung der AGH bedeuten, wie sie bei der Einführung des Instruments im SGB II stattgefunden hat. Damals wurde das Instrument zur Überprüfung der Arbeitswilligkeit von SGB II-Empfängern benutzt. Die gemäß Asylbewerberleistungsgesetz bestehende Verpflichtung, eine bereitgestellte Arbeitsgelegenheit anzunehmen und mit einer unbegründeten Ablehnung einhergehende Sanktionierung der Leistung müssen abgeschafft werden.
Bei der zeitlichen Ausgestaltung der Arbeitsgelegenheiten sollte darauf geachtet werden, dass diese im Einklang mit anderen Belangen (etwa der Kindererziehung bzw. Möglichkeiten der Kinderbetreuung) und den Interessen der Teilnehmenden stehen, insbesondere aber auch die Teilnahme an Integrations-Sprachkursen möglich ist.
Anerkannte Flüchtlinge (Asylberechtigte)
Für Asylberechtigte stehen die Angebote aus dem Rechtskreis des SGB II offen. Die Herausforderung besteht darin, den Flüchtlingen den theoretischen Anspruch auf die Leistungen auch praktisch zugänglich zu machen.
Hierzu sind Informations- und Beratungsangebote notwendig, um die vorrangigen Angebote der Arbeitsförderung in Anspruch nehmen zu können. In der Praxis der Einrichtungen der Wohlfahrtsverbände zeigt sich, dass für viele Neuzugewanderte zunächst der Aufbau einer Existenz bzw. die Unterstützung von Verwandten in den Herkunftsländern im Vordergrund steht. Dennoch ist es wichtig, auf die Bedeutung von formalen Qualifikationen in Deutschland hinzuweisen und insbesondere für jüngere Menschen zunächst Angebote der Aus- und Weiterbildung (verknüpft mit langfristigen und besseren Verdienstmöglichkeiten) vorzuhalten.
Vorrang zu Arbeitsgelegenheiten sollten stets reguläre Beschäftigungsverhältnisse, Angebote der Aus- und Weiterbildung (bzw. der Anerkennung vorhandener Qualifikationen) sowie andere vorrangige Eingliederungsleistungen haben.
Arbeitsgelegenheiten nach dem SGB II sollen für geflüchtete Menschen genauso wie für andere Leistungsberechtigte als nachrangige Förderleistung bereitgestellt werden, soweit für sie eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung noch nicht in Frage kommt und sie zu ihrer Integration in die Gesellschaft und in den Arbeitsmarkt vor allem Tagesstrukturierung, soziale Teilhabe und sinnvolle Beschäftigung brauchen.
Als Besonderheit für die Zielgruppe der geflüchteten Menschen sollte der Übergang in eine AGH so gestaltet werden, dass zunächst ein Kompetenzfeststellungsverfahren und ausführliche Beratung erfolgen. Hierbei sollte die Möglichkeit bestehen, Kompetenzen auch anders als durch zertifizierte Dokumente nachzuweisen.
Die Jobcenter sollten möglichst keine gesonderten Arbeitsgelegenheiten schaffen, in denen sich ausschließlich Flüchtlinge betätigen, alleine schon um drohenden Diskriminierungen entgegenzuwirken. Diejenigen Flüchtlinge, die weit entfernt vom Arbeitsmarkt sind, können mit anderen Arbeitssuchenden gemeinsam an einer Arbeitsgelegenheit teilnehmen, um ihre Beschäftigungsfähigkeit zu verbessern. Bei der Ausgestaltung der Arbeitsgelegenheit sind eine sinnvolle Betätigung und die nötige Begleitung und Förderung (z. B. Sprachförderung, sozialpädagogische Begleitung und Qualifizierung) sicherzustellen.
Jüngere Menschen (unter 25 Jahre) ohne abgeschlossene Ausbildung sollten vorrangig in Ausbildung vermittelt werden bzw. mit den Maßnahmen der Ausbildungsförderung auf dem Weg zu einem Berufsabschluss unterstützt werden.
Darüber hinaus ist es dringend erforderlich, die Arbeitsgelegenheiten im SGB II weiterzuentwickeln. Die BAGFW hat hierzu bereits Vorschläge erarbeitet.[1]
Wohlfahrtspflege als Partner: Die Einrichtungen und Dienste der Freien Wohlfahrtspflege sehen sich als wichtigen Akteur sowohl bei der allgemeinen Integration als auch bei der arbeitsmarktlichen Integration von Flüchtlingen. Mit ihren Aufnahmeeinrichtungen, Beratungsstellen und Integrationsprojekten ist sie von Beginn des Eingliederungsprozesses nah an den Geflüchteten. Sie ist auch eine erfahrene Akteurin bei der Förderung von Menschen auf dem Weg ins Arbeitsleben. Sie hat jahrelange Erfahrung mit Arbeitsgelegenheiten und Arbeitsverhältnissen nach dem SGB II sowie begleitender und unterstützender Angebote nach dem SGB III.
Darüber hinaus bieten die Dienste und Einrichtungen der Freien Wohlfahrtspflege zahlreiche Beschäftigungsmöglichkeiten in den unterschiedlichsten Feldern für Flüchtlinge, so dass sie auch nach entsprechender Vorbereitung der Personen als Arbeitgeberin auftreten kann.
[1] Positionierung der BAGFW zum Konzept der Bundesarbeitsministerin „Chancen eröffnen – soziale Teilhabe sichern. Konzept zum Abbau der Langzeitarbeitslosigkeit“ vom 05.12.2014
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Die Wohlfahrtsverbände sehen es als dringlich an, die Leistungen des Bildungs- und Teilhabepakets bedarfsgerecht weiterzuentwickeln und bürokratische Hürden abzubauen, damit die Leistungen besser bei Kindern und Jugendlichen ankommen.
Es werden insbesondere folgende konkrete Ansatzpunkte gesehen:
· Bundesweiten Globalantrag einführen
Zur Verwaltungsvereinfachung und einfacheren Gewährleistung von Bildungs- und Teilhabeleistungen wäre es sehr sinnvoll, dass diese gleichzeitig mit der Beantragung von Arbeitslosengeld II (Alg II) bundeseinheitlich durch einen sogenannten Globalantrag dem Grunde nach beantragt werden. Bisher werden nur die Leistungen für den Schulbedarf ohne gesonderten Antrag gewährt. Von der Möglichkeit, Globalanträge oder ähnliche Ansätze zu verfolgen, machen manche Kommunen Gebrauch, andere nicht. Die Einführung eines Globalantrags trägt nach Erfahrung aus Kommunen, die entsprechende Regelungen bereits getroffen haben, deutlich dazu bei, den ungleichen Nutzungsgrad bei den einzelnen BuT-Leistungen abzubauen und Bildung und Teilhabe aller Kinder sicherzustellen. Auch junge Flüchtlinge könnten von dieser Regelung besonders profitieren, weil es für sie besonders schwierig ist, von dem in der Regel antragsabhängigen Ansprüchen, Kenntnis zu erhalten und diese geltend zu machen.
· Antragserfordernis auf persönlichen Schulbedarf bei Kinderzuschlag und Wohngeld (§ 9 Abs. 3 BKKG)
Die Ausstattung mit persönlichem Schulbedarf sollte auch für Leistungsberechtigte von Kinderzuschlag und Wohngeld ohne gesonderten Antrag erbracht werden. Es ist nicht sachgerecht, dass Bezieher/-innen von Kinderzuschlag und Wohngeld die Leistungen für die Ausstattung mit persönlichem Schulbedarf – anders als bei den Leistungsberechtigten nach SGB II und XII – gesondert beantragen müssen.
· Die Höhe des Schulbedarfspaketes ist unzureichend und muss korrigiert werden
Die Höhe des Schulbedarfspaketes ist mit derzeit 100 Euro deutlich zu niedrig angesetzt, wie u. a. eine aktuelle Studie des Sozialwissenschaftlichen Institutes der Evangelischen Kirche im Auftrag der niedersächsischen Diakonie und der hannoverschen Landeskirche zeigt. Pro Schuljahr fielen im Durchschnitt Kosten in Höhe von mindestens 150 Euro an. Je nach Jahrgangsstufe schwanken die durchschnittlichen Schulbedarfskosten pro Schuljahr stark. Am höchsten sind die Kosten im Einschulungsjahr, weil dann z. B. Ranzen, Hefte und Schreibsachen erstmals angeschafft werden müssen. Dafür fallen den Berechnungen zufolge 300 Euro an. Wechselt das Kind nach der fünften Klasse an eine weiterführende Schule, wird es mit rund 350 Euro sogar noch etwas teurer. (siehe <link https: www.landeskirche-hannovers.de evlka-de presse-und-medien nachrichten>www.landeskirche-hannovers.de/evlka-de/presse-und-medien/nachrichten/2016/01/2016_01_25_2)
· Flüchtlingskinder nicht von der Ausstattung mit persönlichem Schulbedarf ausschließen
Die Regelungen über den Pauschbetrag für die Ausstattung mit persönlichem Schulbedarf sind stichtagsbezogen. Nach herrschender Auffassung ist hier keine Ausnahme vorgesehen. Flüchtlingskinder mit Anspruch auf SGB II-Leistungen, die nach diesen Stichtagen erstmals in Schulklassen integriert werden, können somit nicht den Pauschbetrag erhalten. Es wird angeregt, die Regelung in § 28 Absatz 3 SGB II mit einer Öffnungsklausel entsprechend § 34 Absatz 3 SGB XII zu versehen.
· Gesetzliche Verankerung der Fahrkosten zu den Teilhabeleistungen
Die Erstattung der Fahrkosten zur Inanspruchnahme der Leistungen zur Bildung und Teilhabe sollte gesetzlich geregelt werden. Das Bundesverfassungsgericht hatte bereits in seinem Urteil vom 23. Juli 2014 klargemacht, dass Bildungs- und Teilhabeangebote für die Bedürftigen auch tatsächlich ohne weitere Kosten erreichbar sein müssen. Die Norm des § 28 Abs. 7 Satz 2 SGB II berücksichtigt auch weitere mit dem Bildungspaket zusammenhängende tatsächliche Aufwendungen. Sie ist als Ermessensvorschrift ausgestaltet und zielt vorrangig auf die Finanzierung der nötigen Ausrüstung ab. Die Vorschrift ist jedoch einer verfassungskonformen Auslegung zugänglich, wonach auch ein Anspruch auf Fahrkosten zu derartigen Angeboten besteht.
· Die Teilhabeleistungen sind der Höhe nach an sich zu niedrig bemessen und müssen deshalb angepasst werden. Sie sollten nicht in einem abschließenden Katalog geregelt werden.
Die Leistungsart Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben geht mit 10 Euro monatlich völlig an der Realität vorbei und entfaltet entsprechend begrenzt Wirkung. So haben nach dem Zweiten Zwischenbericht zur Evaluation der bundesweiten Inanspruchnahme und Umsetzung der Leistungen für Bildung und Teilhabe vom Juli 2015 nur 12 % der in die Längsschnittbefragung PASS einbezogenen Kinder und Jugendlichen unter 18 im Jahr 2013 ihren Anspruch auf diese Leistung realisiert. Die jährliche Bereitstellung von bis zu 120 Euro ist nicht ausreichend, wenn ein Kind z. B. in mehr als einem Verein Mitglied ist, oder Sportbekleidung und Ausrüstungsgegenstände finanziert werden müssen. Von Ferienfreizeiten werden Kinder tageweise abgemeldet, wenn kostenpflichtige Ausflüge stattfinden, individuelle Freizeitaktivitäten, wie ein Schwimmbadbesuch mit der Familie, werden nicht abgedeckt. Die Problematik entsteht dadurch, dass der 10-Euro-Pauschale für die Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben keine Bedarfsermittlung zugrunde liegt. Tatsächlich lassen sich diese Bedarfe auch schwer pauschalieren, sodass immer auch Einzelfallentscheidungen möglich sein sollten, um tatsächliche Kosten zu decken. Hierfür sollte dann nachgewiesen werden, dass ansonsten keine Teilnahme möglich ist, etwa, wenn neben dem Vereinsbeitrag die Ausrüstung anfällt.
· Ausweitung der Schüler-Lernförderung (Nachhilfe)
Ein Anspruch auf Lernförderung besteht derzeit nur, sofern absehbar ist, dass das wesentliche Lernziel (in der Regel die Versetzung) nach Bestätigung der Schule erreicht werden kann. In der Praxis führt das mancherorts zu der paradoxen Situation, dass Lernförderung nur im 2. Halbjahr gewährt wird. Sowohl eine frühzeitige Lernförderung sowie eine Nachhilfe mit dem Ziel der Notenverbesserung oder zum Erreichen eines bestimmten Schulabschlusses für eine bessere Schulartempfehlung scheiden damit aus. Ebenfalls nicht möglich ist eine Förderung in solchen Fällen, in denen eine Versetzung unrealistisch erscheint. Nach Ansicht der BAGFW darf der Zugang zu Nachhilfeunterricht nicht an die Bedingung einer Versetzungsgefährdung gebunden sein. Die Voraussetzungen für eine außerschulische Förderung durch Nachhilfe müssen vielmehr deutlich gelockert werden, damit o. g. Lernziele mit der Nachhilfe unterstützt werden können. Gerade bei Schülern mit Migrationshintergrund und aus bildungsfernen Schichten ist eine weitergehende Bildungsunterstützung unabdingbar.
· Streichung des Eigenanteils von einem Euro je Schultag bei der gemeinschaftlichen Mittagsverpflegung
Die Wohlfahrtsverbände fordern den Eigenanteil von einem Euro je Schultag bei der gemeinschaftlichen Mittagsverpflegung zu streichen (§ 5a Nr. 3 ALG II-V i.V.m.
§§ 6, 9 RBEG) Bei der Teilnahme an einer gemeinschaftlichen Mittagsverpflegung wird derzeit ein Eigenanteil von einem Euro je Schultag berücksichtigt. In der Praxis entsteht ein sehr hoher Verwaltungsaufwand zur Abrechnung des Eigenanteils. Die damit verbundenen Verwaltungskosten zur Geltendmachung und Einziehung stehen in keinem mehr sinnvoll zu begründenden Verhältnis zu dem geringen Betrag.
Best Practice Beispiele aus den Regionen, hier das Modellprojekt des Lübecker Bildungsfonds:
Gemeinsam mit dem Jobcenter konnte die Hansestadt Lübeck eine unkomplizierte Struktur aufbauen, um Kindern und Jugendlichen unbürokratisch Unterstützung anzubieten. Einen einfachen, einseitigen Antrag auf Unterstützung stellen die Eltern in der Schule oder der Kita ihrer Kinder. Schulleitung bzw. Kita-Leitung entscheiden über den Antrag.
Das gelingt dadurch, dass jede Kita / jede Schule über ein Budget verfügt, dies als Vorschuss eingesetzt wird und die benötigte Leistung vorfinanziert. Leistungen, die aus dem BuT refinanziert werden können, rechnet die Stadt mit dem Jobcenter und dem Bereich Soziale Sicherung ab.
Dort, wo das BuT nicht greift, zahlt der Bildungsfonds die benötigten Gelder. So können z. B. auch ein Musikinstrument oder Kosten für die Sportausstattung abgerechnet werden.
Seit 2008 tragen Kommune, Land, Wirtschaftsunternehmen sowie ein Lübecker Stiftungsverbund gemeinsam den Lübecker Bildungsfonds. Im Jahr 2013 wurden insgesamt rund 3,7 Millionen Euro in den Fonds eingezahlt.
Unterstützung beantragen können Familien, die Arbeitslosengeld II oder Sozialhilfe beziehen, ein ermäßigtes Betreuungsentgelt in Kitas bezahlen, Wohngeld erhalten, oder ihren Kindern wichtige Bildungsangebote finanziell nicht ermöglichen können.
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Während einige der Änderungen den Bedürfnissen der Freien Wohlfahrtspflege entsprechen und ihre Arbeit erleichtern, führen insbesondere die Vorgaben der Finanzverwaltung zur Gewinnerzielung und Gewinnverrechnung bei Zweckbetrieben nach § 66 AO zu einer deutlichen Verschärfung und Verkomplizierung der Rechtslage.
Zu den wesentlichen, die Freie Wohlfahrtspflege betreffenden Änderungen nehmen wir im Einzelnen wie folgt Stellung:
Zu Nr. 2 Satz 2 und 3 des AEAO zu § 66 AO –
Kein Gewinnstreben über den konkreten Finanzierungsbedarf hinaus
Zur Abgrenzung von Einrichtungen der Wohlfahrtspflege, die nicht zum Wohle der Allgemeinheit, sondern „des Erwerbs wegen“ betrieben werden, werden in Nummer 2 des AEAO zu § 66 AO Vorgaben zur Gewinnkalkulation formuliert. Mit Bezug auf das BFH-Urteil vom 27.11.2013 (Aktenzeichen I R 17/12) können danach lediglich Gewinne angestrebt werden, die den konkreten Finanzierungsbedarf des jeweiligen wirtschaftlichen Geschäftsbetriebes nicht übersteigen.
Nach § 55 AO darf die Tätigkeit einer steuerbegünstigten Körperschaft nicht darauf gerichtet sein, in erster Linie eigenwirtschaftliche Zwecke zu verfolgen. Der steuerbegünstigten Körperschaft darf es deshalb nicht vorrangig und als treibende Motivation darauf ankommen, Einnahmen und Vermögen zu mehren. Folgt man diesem Gedanken, dann werden im Umkehrschluss die Einnahmenerzielung und die Mehrung des Vermögens einer gemeinnützigen Körperschaft nicht grundsätzlich verwehrt, solange die Verfolgung der gemeinnützigen, satzungsgemäßen Aufgaben im Vordergrund steht.
Bei der aktuellen Formulierung der Nummer 2 des AEAO zu § 66 AO werden nach Auffassung der in der BAGFW zusammenarbeitenden Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege die Leitsätze des zugrunde liegenden BFH-Urteils vom 27.11.2013 aus dem Zusammenhang gerissen. Stehen kommunale Trägerkörperschaft und Eigengesellschaft in vertraglichen Leistungsbeziehungen, ist es nach dem BFH als begünstigungsschädliche Gewinnausschüttung im Sinne von § 55 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 AO anzusehen, wenn die Eigengesellschaft für die von ihr zu erbringenden Leistungen ein Entgelt erhält, das einem Fremdvergleich (in Gestalt des Kostenausgleichs zzgl. eines marktüblichen Gewinnaufschlags) nicht standhält. D.h. der BFH fordert im selben Urteil selbst einen marktüblichen Gewinnaufschlag. Dieser liegt grundsätzlich über einem lnflationsausgleich und über der Finanzierung von betrieblichen Erhaltungs- und Modernisierungsmaßnahmen.
Die aktuelle Formulierung des AEAO zu § 66 AO verkennt zudem, dass im Bereich der Freien Wohlfahrtspflege die Zunahme der Bilanzsumme kein Selbstzweck ist, sondern lediglich die notwendigen Ressourcen für die Hilfen zugunsten notleidender und hilfebedürftiger Menschen abbildet. Die Motivation des BFH, dass die Wohlfahrtspflege nicht als Vorwand dienen könne, um das eigene Vermögen zu mehren, wird von den Verbänden der Freien Wohlfahrtspflege geteilt. Dem BFH ging es in dem zitierten Urteil jedoch eindeutig nur darum, eine Abgrenzung zwischen reiner Erwerbsorientierung von unschädlichem steuerbegünstigtem Handeln vorzunehmen und nicht darum, die gemeinnützige Tätigkeit zu erschweren und mit unkalkulierbaren Risiken zu überfrachten. Dieser wesentliche Aspekt ist bei der Neuformulierung des Anwendungserlasses völlig außer Acht gelassen worden.
In der vorliegenden Formulierung des AEAO zu § 66 AO wird der konkrete Finanzierungsbedarf einer Einrichtung der Wohlfahrtspflege insoweit präzisiert, als dass die Erzielung von Gewinnen in gewissem Umfang z.B. zum Inflationsausgleich oder zur Finanzierung von betrieblichen Erhaltungs- und Modernisierungsmaßnahmen gemeinnützigkeitsunschädlich sein soll. Sofern jedoch zukünftig ein Gewinnaufschlag nur noch zum Inflationsausgleich oder für Instandhaltung und Modernisierung erfolgen darf, wird eine – z.B. im Hinblick auf die demographische Entwicklung oder die aktuelle Flüchtlingskrise – gebotene Ausweitung sozialer Dienstleistungen durch eine Innenfinanzierung systematisch unterbunden.
Notwendige Kapazitätsanpassungen können dann, unter den Rahmenbedingungen des AEAO nur noch durch Geld von außen, entweder durch eine Kreditaufnahme, was bereits durch die Not-for-profit-Ausrichtung erschwert ist, oder durch öffentliche Zuwendungen finanziert werden. Dies schränkt die Handlungsfähigkeit von Zweckbetrieben der Wohlfahrtspflege signifikant ein und benachteiligt sie in nicht nachvollziehbarer Weise. Der Sinn einer solchen Verschärfung der Rechtslage erschließt sich uns nicht, gibt es doch bereits durch die Mittelbindung an den Satzungszweck sowie die Vorgaben zur zeitnahen Mittelverwendung und zur Rücklagenbildung in §§ 51 ff. AO ausreichende Regelungen, um den Mitteleinsatz für das Allgemeinwohl und die Vermeidung von Missbrauchsfällen sicherzustellen.
Zudem wird verkannt, dass auch gemeinnützige Dienste und Einrichtungen über Risikoaufschläge eine Absicherung der Betriebsrisiken vornehmen müssen. Risikoaufschläge erfolgen bereits bei der Preiskalkulation, also im Vorfeld der zukünftigen bzw. geplanten Tätigkeit. Je nach Verlauf einer Maßnahme, der immer auch von nicht vorhersehbaren Umständen geprägt ist, sind niedrigere oder auch höhere Überschüsse oder eventuell auch Verluste der Normalfall. D.h. die tatsächlichen Ist-Ergebnisse lassen sich nicht so detailliert steuern, wie dies bei enger Auslegung des AEAO zukünftig notwendig wäre, um die Gemeinnützigkeit zu erhalten.
Ferner würde nach den Vorgaben des § 55 AO der konkrete Finanzierungsbedarf auch einen Risikozuschlag umfassen, denn auch bei einem Risikozuschlag würden die Einnahmen nicht per se der Mehrung des Vermögens dienen, sondern in einem unsicheren wirtschaftlichen Umfeld die angebotenen Hilfen stabilisieren und mittelfristig sichern.
Des Weiteren sind in der aktuellen Fassung des AEAO zu § 66 AO keine Vorgaben zu einem zulässigen Gewinn- und Verlustausgleich über mehrere Veranlagungsjahre formuliert. Dadurch wird außer Acht gelassen, dass bei Diensten und Einrichtungen der Wohlfahrtspflege nicht über Jahre gleichmäßige Ergebnisse erzielt werden, sondern auf Jahre mit Gewinnen auch defizitäre Jahre folgen. Bei strenger Auslegung der derzeitigen Formulierung des AEAO zu § 66 AO können jedoch bereits einzelne, mit Gewinn kalkulierte Jahre gemeinnützigkeitsschädlich sein, auch wenn die Gewinne allein dazu dienen, bereits entstandene Verluste eines Zweckbetriebs nach § 66 AO auszugleichen.
Darüber hinaus möchten die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege zudem entschieden auf den sich aus der vorliegenden Änderung vorprogrammierten Verwaltungsaufwand und die Verunsicherung bei zukünftigen Betriebsprüfungen hinweisen. Es werden detaillierte und aufwändige Prüfungen der Preisgestaltung für jeden einzelnen Zweckbetrieb folgen. In diese ausführlichen und arbeitsaufwändigen Nachweise zur Preiskalkulation werden die Dienste und Einrichtungen wiederum Ressourcen binden müssen, die die Verwaltungskosten weiter erhöhen. Und auch für die Finanzverwaltung wird sich der Prüfaufwand signifikant erhöhen.
An folgenden Beispielen möchten wir die sich aus dem geänderten AEAO ergebenden Konsequenzen für die Praxis der Freien Wohlfahrtspflege verdeutlichen:
1. Beispiel: Zweckbetriebe benötigen bei Investitionen trotz Fremdfinanzierung immer auch einen Mindestanteil an Eigenmitteln. Oft sind neben Ersatzinvestitionen auch Erweiterungsinvestitionen notwendig, um eine betriebswirtschaftlich sinnvolle Größe zu erhalten. Beispielsweise muss eine gemeinnützige Körperschaft in ländlicher Region einen weiteren ambulanten Pflegedienst ausrüsten, weil der Versorgungsbedarf pflegebedürftiger Menschen aufgrund der demographischen Entwicklung angestiegen ist und kein anderer Anbieter zur Verfügung steht. Um diese Investition realisieren zu können, müssen im Vorfeld durch einen Gewinnaufschlag die notwendigen Eigenmittel angespart worden sein.
2. Beispiel: In öffentlichen Vergabeverfahren im Bereich Rettungsdienst wird regelmäßig verlangt, dass der (gemeinnützige) Bewerber eine Mindestliquidität von zwei Monatsumsätzen vorzuhalten hat. Wenn diese Mindestliquidität langfristig nicht in den Entgelten einkalkuliert werden darf, muss die Körperschaft dauerhaft zusätzliches Vermögen in diesen Zweckbetrieb der Wohlfahrtspflege binden. Dieses Vermögen kann nur durch einen Gewinnaufschlag gebildet werden.
3. Beispiel: Im Bereich der Vergabeverfahren Rettungsdienst wird in vielen Fällen vom Auftraggeber gefordert, dass der Auftragnehmer sich mit seinem Preisangebot für einen Zeitraum von fünf und mehr Jahren bindet. Eine Nachverhandlung wird nur dann als zulässig erachtet, sofern die tatsächlichen Kosten mehr als 10% der ursprünglich kalkulierten Summe übersteigen. Eine sorgfältige Preiskalkulation wird die Unwägbarkeiten der kommenden Jahre vorsichtig abschätzen müssen und letztendlich auch die potentiellen 10% Mehrkosten berücksichtigen müssen, um Vermögensschädigungen der gemeinnützigen Körperschaft oder gar eine Insolvenz zu vermeiden. Treten die getroffenen Annahmen jedoch nicht ein, weil sich z.B. die Kraftstoffkosten wie in jüngster Vergangenheit unerwartet gegenläufig entwickeln, entstehen Gewinne. Dieses Prognoserisiko besteht nicht nur beim Rettungsdienst, sondern ist auch auf andere Bereiche, etwa auf Pflegesatzverhandlungen, übertragbar.
4. Beispiel: Gemäß § 89 Sozialgesetzbuch XI muss die Vergütung einem Pflegedienst bei wirtschaftlicher Betriebsführung ermöglichen, seine Aufwendungen zu finanzieren. Es muss daher geklärt werden, bis zu welcher Höhe ein angestrebter Überschuss betriebswirtschaftlich sinnvoll und notwendig ist.
5. Beispiel: In der aktuellen Flüchtlingskrise sind die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege regelmäßig gefordert, kurzfristig Hilfen und soziale Dienstleistungen bereit zu stellen. Dieses spontane Tätigwerden und Ausweiten von Kapazitäten ist u.a. möglich, weil die Regelungen zur satzungsmäßigen Vermögensbindung sowie zur zeitnahen Mittelverwendung und zur Rücklagenbildung bisher ausreichend Spielraum für die notwendige Eigenmittel gelassen haben.
Vor diesem Hintergrund fordern die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege ausdrücklich, dass die Vorgaben zur Zulässigkeit von Gewinnaufschlägen im AEAO zu § 66 AO gestrichen werden. Das Gemeinnützigkeitsrecht (§§ 51 ff. AO) beinhaltet durch die Mittelbindung an den Satzungszweck sowie die Vorgaben zur zeitnahen Mittelverwendung und zur Rücklagenbildung bereits ausreichende Regelungen, um ein Handeln allein „des Erwerbs“ wegen zu unterbinden und den Mitteleinsatz für das Allgemeinwohl sicherzustellen.
Zu Nr. 2 Satz 4 des AEAO zu § 66 AO –
Keine Mittelverwendung in anderen Zweckbetrieben oder für andere ideelle Tätigkeiten
In Nummer 2 Satz 4 des AEAO zu § 66 AO wird unangekündigt und losgelöst von dem BFH-Urteil vom 27.11.2013 – I R 17/12 angenommen, dass ein Handeln „des Erwerbs wegen“ bereits dann vorliegt, wenn aus den Gewinnen der Dienste und Einrichtungen der Wohlfahrtspflege nach § 66 AO andere Zweckbetriebe nach §§ 65, 67, 67 a und 68 AO bzw. die übrigen ideellen Tätigkeiten finanziert werden. Die Mitfinanzierung eines anderen Zweckbetriebes i.S.d. § 66 AO soll dagegen unschädlich sein.
Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege begrüßen ausdrücklich, dass zumindest Zweckbetriebe i.S.d. § 66 AO als wirtschaftliche Gesamtheit gesehen werden. Jedoch ist nach ihrer Auffassung kein Grund dafür ersichtlich, dass die anderen Zweckbetriebe nach §§ 65, 67 und 68 AO und auch die übrigen ideellen Tätigkeiten zu Zweckbetrieben nach § 66 AO isoliert betrachtet werden. Nicht nachvollziehbar ist, warum die Gewinne innerhalb der Zweckbetriebe nach § 66 AO genutzt werden können, während die Gewinne aus dem Zweckbetrieb nach § 66 AO nicht den anderen Zweckbetrieben insbesondere nach § 68 AO zugutekommen können. Es leuchtet zudem nicht ein, warum eine Querfinanzierung zwischen einem Hausnotruf und einer ambulanten Pflegeleistung möglich ist, jedoch eine Querfinanzierung von stationärer Altenpflege (Pflegeheim) durch einen ambulanten Pflegedienst zur Aberkennung der Gemeinnützigkeit für den ambulanten Pflegedienst führt. Aus der sozialen Arbeit oder dem gemeinnützigen Auftrag heraus lässt sich diese Ungleichbehandlung nicht begründen.
Gravierende und ebenfalls nicht nachvollziehbare Auswirkungen ergeben sich aus der nun gemeinnützigkeitsschädlichen Verwendung von Überschüssen aus Zweckbetrieben nach § 66 AO für die übrigen ideellen Tätigkeiten einer gemeinnützigen Körperschaft. Warum soll es steuerschädlich sein, Überschüsse aus Tafeln oder Kleiderkammern für eine Weihnachtsfeier für Kinder aus benachteiligten Familien zu verwenden? Es kann nicht sein, dass zukünftig allein steuerrechtliche Erwägungen bzw. die Definition von steuerbegünstigten Zweckbetrieben in unterschiedlichen Paragraphen ausschlaggebend dafür sind, für welche sozialen Aufgaben und Tätigkeiten mögliche Überschüsse eingesetzt werden dürfen.
Bevor zur Ertragskraft von Einrichtungen der Wohlfahrtspflege nach § 66 AO ein falscher Eindruck entsteht, möchten wir klar stellen, dass insbesondere die mildtätigen Zweckbetriebe nach § 66 AO (Obdachloseneinrichtungen, Kleiderkammern, Tafeln oder Sozialkaufhäuser) in der Regel keine „Cashcows“ sind. Problematisch ist, dass nach der derzeitigen Formulierung der Nummer 2 des AEAO zu § 66 AO bereits geringfügige Überschussverwendungen in anderen Zweckbetrieben oder für ideelle Tätigkeiten zum Verlust der Gemeinnützigkeit führen. Eine Bagatell- oder Nicht-Aufgriffs-Grenze ist nicht vorgesehen. Darüber hinaus werden gerade diese Zweckbetriebe oft von ehrenamtlich Tätigen betreut und/oder organisiert. Die nun geltenden komplizierten und im Detail nur sehr schwer nachvollziehbaren steuerlichen Vorgaben zur Gewinnentstehung und –verwendung werden hier voraussichtlich nur sehr schwer umsetzbar sein.
An den folgenden Beispielen möchten wir die nicht tragbaren, praktischen Auswirkungen einer solchen Einschränkung der Mittelverwendung darstellen:
1. Beispiel: Angesichts des Fachkräftemangels in der Pflege möchte ein im Bereich der ambulanten Pflege oder im Rettungsdienst tätiger, gemeinnütziger Träger (§ 66 AO) eine Schule für Pflegeberufe (§ 68 AO) einrichten. Wegen akutem Personalmangel musste die Betreuung von pflegebedürftigen Menschen bereits abgelehnt werden. Private Schulen werden in den ersten drei Jahren nicht staatlich finanziert. Die Finanzierung durch Schulgeld der Auszubildenden ist aufgrund des Einkommensgefüges in den Pflegeberufen nicht darstellbar. Eine Mitfinanzierung aus den Überschüssen des Zweckbetriebs „Pflegeleistungen“, dem die Schule letztendlich ja auch nützen wird, scheidet nach der derzeitigen Formulierung des AEAO jedoch aus, weil die Schule kein Zweckbetrieb im Sinne des § 66 AO ist. Gleiches gilt für den Bereich Rettungsdienst / Krankentransport (z. B. Notfallsanitäter-Ausbildung).
2. Beispiel: Sinkende Mitgliederzahlen bzw. –beiträge sowie eine deutlich abnehmende allgemeine Spendenbereitschaft (nur noch in Katastrophen- oder anderen außergewöhnlichen Krisen- und Notfällen) führen dazu, dass diese nicht mehr für eine angemessene Ausrüstung, beispielsweise der ehrenamtlichen Wasserwacht und Bergwacht, ausreichen. Beide Gemeinschaften werden von Staat und Bevölkerung in Bedarfsfällen gerne in Anspruch genommen (Hochwasser, Bergrettung). Die Mitfinanzierung durch Zweckbetriebe i.S.d. § 66 AO ermöglichte den Gemeinschaften bisher – unabhängig vom tatsächlichen Rettungseinsatz - eine angemessene Ausrüstung. Auch die Finanzierung ideeller Aufgaben (u.a. Verbreitung und Jugendarbeit) war hierdurch möglich. Entfällt diese Möglichkeit würde die Ausrüstung, die für die Rettung unabdingbar ist, erst angeschafft werden können, wenn der Einsatz vorbei ist.
Vor diesem Hintergrund fordern die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege ausdrücklich, dass Satz 4 in Nummer 2 des AEAO zu § 66 AO ebenfalls ersatzlos gestrichen wird. Die aktuellen Regelungen zur Gewinnverwendung in Zweckbetrieben sowie für andere ideelle Tätigkeiten lassen sich nicht mit dem Rettungsdienst-Urteil des BFH vom 27.11.2003 begründen. Darüber hinaus enthält die Abgabenordnung – wie oben bereits ausgeführt – ausreichende Regelungen, um ein missbräuchliches Handeln zu unterbinden.
Zu Nr. 3 des AEAO zu § 66 AO –
Neuausrichtung der Unmittelbarkeit
Ein Zweckbetrieb der Wohlfahrtspflege ist nach § 66 AO dann gegeben, wenn mindestens zwei Drittel der Leistungen hilfsbedürftigen Menschen im Sinne des § 53 AO zugutekommen. Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege begrüßen ausdrücklich, dass in Nr. 3 des AEAO zu § 66 das „Zugutekommen“ gem. § 66 Abs. 3 Satz 1 AO an der Sorge für notleidende oder gefährdete Menschen ausgerichtet wird. Bei der Zweckbetriebsvoraussetzung der Unmittelbarkeit kommt es somit nicht mehr darauf an, mit wem die leistende gemeinnützige Körperschaft vertragliche Leistungsbeziehungen eingegangen ist, es kommt vielmehr darauf an, dass die Leistung zumindest faktisch unmittelbar gegenüber den Hilfsbedürftigen erbracht werden.
Zudem begrüßen die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege ausdrücklich die Aufnahme des dritten Absatzes in Nummer 3 des AEAO zu § 66. Danach wird klargestellt, dass die Entsendung von Personal durch eine Körperschaft zur Erfüllung der steuerbegünstigten Zwecke an einen Vertragspartner dem Zweckbetrieb nach § 66 AO zuzuordnen ist. Als Beispiel wird die Entsendung von Pflegepersonal genannt. Die Zuordnung zur Zweckbetriebseigenschaft umfasst auch das Erledigen von Verwaltungsaufgaben durch die entsendeten Personen, soweit diese zur Organisation des eigentlichen Zweckbetriebs dazugehören. Diese Klarstellung entspricht den Bedürfnissen der Dienste und Einrichtungen der Freien Wohlfahrtspflege und erleichtert ihnen die Erfüllung ihrer gemeinnützigen Aufgaben.
FAZIT:
Die Ausrichtung des Begriffs „zugute kommen“ in § 66 Abs. 3 AO an der tatsächlichen Hilfe zugunsten notleidender und hilfebedürftiger Menschen entspricht den Bedürfnissen gemeinnütziger Organisationen im Bereich der Freien Wohlfahrtspflege und ist ausdrücklich zu begrüßen.
Die Vorgaben zur Gewinnerzielung und –verrechnung in Nr. 2 des AEAO zu § 66 AO sind hingegen abzulehnen. Sie entsprechen weder den gesetzlichen Vorgaben in § 66 AO noch den Rechtsgrundsätzen, die der BFH im sog. Rettungsdiensturteil vorgegeben hat. Die Umsetzung dieser Vorgaben in die Praxis schränkt die Dienste und
Einrichtungen der Freien Wohlfahrtspflege in ihrem Handeln ungerechtfertigt ein. Die Regelungen der Finanzverwaltung führen zu ganz erheblicher zusätzlicher Bürokratie und gefährden schnelle und wirksame Hilfen zu Gunsten von notleidenden und hilfebedürftigen Menschen.
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Die BAGFW begrüßt die Zielsetzung des Gesetzentwurfs, Verbesserungen bei der Weiterbildung von gering qualifizierten Arbeitnehmer/-innen und Arbeitslosen zu erreichen, indem u. a. Grundkompetenzen in der Fort- und Weiterbildung gefördert und Motivationsprämien bereitgestellt werden sollen. Der Handlungsbedarf ist enorm: Im Jahresdurchschnitt 2014 nahmen nur 65.860 der Arbeitslosen oder rund 5 % der Arbeitslosen ohne Berufsabschluss an einer Fort- und Weiterbildung teil, die zu einem Berufsabschluss führte.
Kritisch anzumerken ist allerdings die Absicht, die Stärkung der beruflichen Weiterbildung ohne zusätzliche Finanzmittel in der Grundsicherung für Arbeitsuchende erreichen zu wollen. Notwendig wäre vielmehr, die Mittelansätze signifikant zu erhöhen. Dies gilt umso mehr, als in den letzten Jahren (2009-2014) die Ausgaben für die berufliche Weiterbildung für Leistungsberechtigte im SGB II um 26 % von 923 Millionen auf 681 Millionen Euro gekürzt wurden. Den Jobcentern müssen außerdem in größerem Umfang mehrjährige Verpflichtungsermächtigungen zugeteilt werden, damit sie längerfristige Fort- und Weiterbildungen finanzieren können.
Mehr als die Hälfte der Arbeitslosen (55,5 %) in der Grundsicherung für Arbeitsuchende kann aktuell keinen Berufsabschluss nachweisen. Allerdings sind nur 16 % aller Arbeitsstellen, die bei den Arbeitsagenturen und Jobcentern gemeldet sind, für Helfer- oder Anlerntätigkeiten ausgeschrieben. Nötig sind neue Bildungsinstrumente, die auf benachteiligte Personengruppen bzw. Personen mit mehreren Vermittlungshemmnissen zugeschnitten sind. So bedarf es z. B. modularer Angebote, die den Interessierten die Möglichkeit eröffnen, eine Ausbildung nach Bedarf zu unterbrechen oder zu verlängern. Auch während einer längeren Fortbildung muss der Lebensunterhalt verlässlich gesichert sein; was sich insbesondere für Leistungsberechtigte im SGB II derzeit als sehr schwierig gestaltet. Damit Arbeitslose ihr Wunsch- und Wahlrecht über die Einlösung von Gutscheinen zur Fort- und Weiterbildung wahrnehmen können, müssen sie von den Jobcentern und Arbeitsagenturen umfassend, verständlich und transparent über die Angebote informiert und zu den damit verbundenen Perspektiven beraten werden.
Die BAGFW plädiert dafür, in der Zielgruppenbestimmung des Gesetzentwurfs Flüchtlinge aufzunehmen. Ein Großteil der Menschen, die nach Deutschland kommen, verfügt über keinen (anerkannten) Berufsabschluss und braucht voraussichtlich mehrere Jahre, um auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Die Wohlfahrtsverbände regen deshalb dringend an, nicht nur in die Berufsausbildung von jungen Flüchtlingen zu investieren, sondern auch Angebote der (abschlussbezogenen) Nachqualifizierung für jene Flüchtlinge zu machen, denen es zumindest in einem ersten Schritt gelingt, in einer (ungelernten) Beschäftigung in den deutschen Arbeitsmarkt einzumünden.
Die BAGFW begrüßt ausdrücklich die Verlängerung der dreijährigen Finanzierung von Altenpflegeumschulungen bis Ende 2017, die der Bundestag mit dem „Gesetz zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor den Gefahren des Konsums von elektronischen Zigaretten und elektronischen Shishas" entschieden hat. Angesichts des Fachkräftebedarfs in diesem Bereich und des Erfolgs der Maßnahme setzen sich die Wohlfahrtsverbände weiterhin für eine Verstetigung ein.
Die BAGFW nimmt zu ausgewählten Regelungen des Gesetzentwurfs Stellung:
Grundsätze der Weiterbildungsförderung, § 4 Abs. 2 SGB III-E
Es wird ergänzend klargestellt, dass eine berufliche Weiterbildung für die dauerhafte berufliche Eingliederung von Arbeitnehmer/-innen mit fehlendem Berufsabschluss nötig sein kann. In diesen Fällen gilt der Vorrang der Vermittlung in Ausbildung und Arbeit nicht.
Bewertung:
Die BAGFW begrüßt die Klarstellung, dass eine Weiterbildung vorrangig gegenüber der Vermittlung ist, wenn dies für die dauerhafte berufliche Eingliederung nötig ist, was insbesondere für Arbeitnehmer/-innen mit fehlendem Berufsabschluss angenommen wird. Notwendig ist dabei, dass der Zugang zur beruflichen Weiterbildung auch für Erwerbslose verbessert wird, die zwar über einen Berufsabschluss verfügen, aber z. B. aufgrund von Unterbrechungen ihrer Erwerbsbiographie hierfür keine aktuelle Verwendung am Arbeitsmarkt finden. Eine betriebsnahe Fort- und Weiterbildung zur Auffrischung der beruflichen Qualifikationen würde – insbesondere in nicht nur kurzfristiger Perspektive – deutlich bessere Integrationschancen bieten. Jedoch werden insbesondere ältere Erwerbslose (ab 45 Jahren!) in der Praxis der Jobcenter eher an niederschwellige Maßnahmen, wie z. B. Maßnahmen zur Aktivierung und beruflichen Eingliederung (ohne expliziten Bezug zum vorhandenen Berufsabschluss) oder an Arbeitsgelegenheiten verwiesen. Die Fördervoraussetzungen zur Notwendigkeit einer Weiterbildung sollten diesbezüglich geöffnet werden.
Versicherungspflicht von Strafgefangenen, § 26 Abs. 1 Nr. 4 SGB III-E
Zukünftig werden arbeitsfreie Samstage, Sonntage und gesetzliche Feiertage bei der Erfüllung der Anwartschaftszeiten für die Versicherung in der Arbeitslosenversicherung berücksichtigt, soweit sie innerhalb zusammenhängender Arbeits- oder Ausbildungsabschnitte liegen.
Bewertung:
Die Wohlfahrtsverbände begrüßen die Regelung ausdrücklich. Mit dieser Klarstellung wird die seit 2012 bestehende Schlechterstellung von Strafgefangenen gegenüber anderen Arbeitnehmer/-innen in einem Beschäftigungsverhältnis aufgehoben. Seit Juli 2012 kamen Gefangene, wenn sie ein Jahr lang fünf Tage die Woche arbeiteten und die Samstage, Sonntage und Feiertage unberücksichtigt blieben, nur auf rund 250 Tage eines Versicherungspflichtverhältnisses. Sie mussten dann noch 110 Tage für die Erfüllung der Anwartschaftszeit von 360 Kalendertagen nacharbeiten. Die Wohlfahrtsverbände haben diese Ungleichbehandlung gegenüber anderen Erwerbs-tätigen schon seit längerer Zeit angemahnt und eine Gleichstellung in der Arbeitslosenversicherung gefordert. Die Rückkehr zu der bis 2012 geübten Rechtspraxis wird daher ausdrücklich begrüßt.
Ausbau des Versicherungsschutzes während der Elternzeit, § 28a SGB III-E
Es wird eine neue Möglichkeit der freiwilligen Weiterversicherung in der Arbeitslosenversicherung für die Inanspruchnahme der Elternzeit nach dem dritten Lebensjahr des Kindes geschaffen.
Bewertung:
Die Regelung ist vor dem Hintergrund der Ausweitung der Elternzeit mit dem ElterngeldPlus folgerichtig und für die Familien, die diese Leistung nutzen können, ein Beitrag für mehr Flexibilität.
Gesonderte Regeln für betriebliche Phasen in den Maßnahmen zur Aktivierung und beruflichen Eingliederung bei Langzeitarbeitslosen und anderen besonders unterstützungsbedürftigen Personen, § 45 Abs. 8 SGB III-E
Bei Maßnahmen zur Aktivierung und beruflichen Eingliederung sollen betriebliche Phasen statt sechs Wochen bis zu zwölf Wochen dauern dürfen, um die Eingliederung von Langzeitarbeitslosen und Arbeitslosen mit schwerwiegenden Vermittlungshemmnissen zu verbessern, worunter auch Asylsuchende gefasst werden, die noch von den Arbeitsagenturen betreut werden. Über § 16 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II gilt diese Regelung auch für Menschen im SGB II-Leistungsbezug. Die inhaltsgleiche Regelung des § 16 Abs. 3 Satz 2 SGB II entfällt deshalb.
Bewertung:
Eine entsprechende Regelung im SGB II für Langzeitarbeitslose und Jugendliche bzw. junge Erwachsene unter 25 Jahren mit schwerwiegenden Vermittlungshemmnissen hat sich im Grundsatz bewährt. Durch die Verortung im SGB III und die Ausweitung der Zielgruppe kann sie von den Arbeitsagenturen künftig z. B. auch zur frühen Förderung von Asylsuchenden eingesetzt werden.
Erwerb von Grundkompetenzen in der beruflichen Weiterbildung,
§§ 81 Abs. 3a, 131a, 180 SGB III-E
Die berufliche Weiterbildungsförderung wird erweitert um Förderangebote zum Erwerb von Grundkompetenzen in den Bereichen Schreiben, Lesen, Rechnen und digitalen Grundkompetenzen, soweit damit eine abschlussbezogene Weiterbildung begonnen und erfolgreich absolviert werden kann. Gem. § 131a SGB III-E soll der Vergabeweg zukünftig eröffnet werden, um den Arbeitsagenturen die Möglichkeit zu geben, dass sie Maßnahmen zum Erwerb von Grundkompetenzen und Maßnahmen zum Nachholen von Berufsabschlüssen kombiniert ausschreiben können. Weiterbildungsmaßnahmen zum Erwerb von Grundkompetenzen werden wie auch umschulungsbegleitende Hilfen in das Regularium der Träger- und Maßnahmenzulassung einbezogen.
Bewertung:
Die Neuerung wird grundsätzlich begrüßt, insofern gering Qualifizierte, insbesondere Personen mit Lese-Rechtschreib-Schwäche, neben der bestehenden Fördermöglichkeit in den Maßnahmen zur Aktivierung und beruflichen Eingliederung auch in der beruflichen Weiterbildung ein Grundbildungsangebot erhalten. Von der Neuregelung könnten z. B. Arbeitnehmer profitieren, die aufgrund geringer Grundkompetenzen von Arbeitslosigkeit bedroht sind. Allerdings sind die Zugangsvoraussetzungen gerade für Arbeitnehmer/-innen, die zum Personenkreis der funktionalen Analphabeten zählen, zu hochschwellig. Ein grundständiger Förderbedarf im Bereich Lesen und Schreiben (Alpha Level 1 und 2) sollte nicht nur in den Fällen aufgegriffen werden, in denen die Personen mit einer guten Erfolgsaussicht in naher Zukunft auch eine abschlussbezogene Weiterbildung absolvieren werden.
Ergänzend weisen die Wohlfahrtsverbände darauf hin, dass für eine große Zahl von Arbeitslosen mit mehreren Vermittlungshemmnissen niederschwellige Angebote zum Erwerb von Grundkompetenzen dringend ausgebaut werden müssen. Hierfür sollten auch niederschwellige Zugänge genutzt werden, die etwa Stadtteilzentren, Nachbarschaftsheime, Mehrgenerationenhäuser oder Migrantenorganisationen bieten können, um Hürden (z. B. Schamgefühle, Ängste überfordert zu werden) aus dem Weg zu räumen und zielgruppengerechte Angebote zu schaffen. Von dem Erfordernis der Träger- und Maßnahmenzulassung müsste hierfür abgesehen werden. Der Weg der Leistungserbringung muss sorgfältig gewählt werden (siehe auch unten).
Gründungszuschuss für Menschen mit Behinderung, § 116 Abs. 6 SGB III-E
Menschen mit Behinderung sollen auch dann mit dem Gründungszuschuss gefördert werden können, wenn sie keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld haben oder ein Anspruch von weniger als 150 Tagen besteht. Damit sollen die Regelungen zur Gründungsförderung im Zuständigkeitsbereich der BA und der Deutschen Rentenversicherung angeglichen werden.
Bewertung:
Menschen mit Behinderung sind besonders am Arbeitsmarkt benachteiligt und deshalb auch mit besonderen Hürden beim Aufbau von Anwartschaften in der Arbeitslosenversicherung konfrontiert. Die Erleichterungen beim Zugang zur Förderung mit Gründungszuschuss werden deshalb begrüßt.
Neuregelungen zur beruflichen Weiterbildung in kleineren und mittleren Unternehmen (KMU), § 131a SGB III-E
Die Möglichkeiten der Arbeitsagenturen bei der Fort- und Weiterbildung von Beschäftigten in KMU wird um die Alternative erweitert, die Fort- und Weiterbildung auch dann fördern zu können, soweit die Arbeitnehmer/-innen außerhalb der Arbeitszeit in ihre berufliche Weiterbildung investieren und der Arbeitgeber die hälftigen Lehrgangskosten trägt. Bislang waren nur Fortbildungen während der Arbeitszeit förderfähig.
Zur Motivationssteigerung und Stärkung des Durchhaltevermögens der Teilnehmenden einer abschlussbezogenen Weiterbildung werden Erfolgsprämien eingeführt, die jeweils nach dem Bestehen einer Zwischenprüfung und der Abschlussprüfung verbindlich ausgezahlt werden.
Zukünftig sollen umschulungsbegleitende Hilfen auch auf dem Vergabeweg ausgeschrieben werden können. Auch für Angebote zum Erwerb von Grundkompetenzen wird neben dem Gutscheinmodell der Vergabeweg eröffnet.
Bewertung:
Die Notwendigkeit, den Arbeitnehmer für die Dauer der Fortbildung freizustellen, stellt in der Praxis oft ein Hemmnis für die Inanspruchnahme der Weiterbildungsförderung dar. Es stellt sich die Frage, ob Arbeitgeber aufgrund der flexibilisierten Fördermöglichkeiten ihre Beschäftigten zukünftig drängen werden, ihre Freizeit für eine Weiterbildung zu investieren, anstatt sie während der Arbeitszeit hierfür freizustellen.
Die Auszahlung von Motivationsprämien zur Begleitung einer abschlussbezogenen Nachqualifizierung von ungelernten Beschäftigten oder Arbeitslosen hat sich nach Modellversuchen grundsätzlich als hilfreich erwiesen. Allerdings wäre es für die Wohlfahrtsverbände vorrangig wichtig, die Lebensunterhaltssicherung von Arbeitslosen während einer länger dauernden Fortbildung besser abzusichern.
Hinsichtlich der neu geschaffenen Möglichkeit, Angebote zum Erwerb von Grundkompetenzen und umschulungsbegleitende Hilfen auch auf dem Vergabeweg zu beschaffen, bestehen grundsätzliche Bedenken. Die umschulungsbegleitenden Hilfen sind Einzelfallhilfen, die bedarfsgerecht auf den/die Umschulungsteilnehmende/n und die betrieblichen Erfordernisse abgestimmt werden müssen. Vor diesem Hintergrund erschließt es sich nicht, wie eine effiziente und bedarfsgerechte Beschaffung auf dem Vergabeweg gelingen kann. Die öffentliche Auftragsvergabe kann neben dem Gutscheinmodell ein Weg sein, um die neuen Angebote zum Erwerb von Grundkompetenzen mit den Maßnahmen zum Nachholen von Berufsabschlüssen zu verzahnen. Nach den Erfahrungen mit den Ausschreibungen der Bundesagentur für Arbeit sind die Leistungsbeschreibungen häufig bundesweit so stark standardisiert, dass die Angebote zu wenig auf die regionalen Bedarfe der örtlichen Arbeitgeber und zu fördernden Zielgruppen abgestimmt sind.
Bemessung des Arbeitslosengeldes nach einer außerbetrieblichen Berufsausbildung, § 151 Abs. 3 SGB III E
Bei der Bemessung des Arbeitslosengeldes im Anschluss an eine außerbetriebliche Berufsausbildung wird zukünftig die erzielte Ausbildungsvergütung zugrunde gelegt und nicht mehr ein höheres, fiktives Arbeitsentgelt. Dies wird mit einer Gleichstellung von Absolventen einer betrieblichen Berufsausbildung begründet.
Bewertung:
Die Neuregelung wird abgelehnt. Die besonderen Schwierigkeiten von benachteiligten oder lernbehinderten Jugendlichen als Zielgruppe einer außerbetrieblichen Ausbildung bei der Absolvierung einer Berufsausbildung und Einmündung in ein Beschäftigungsverhältnis („2. Schwelle“) rechtfertigen die erhöhte finanzielle Absicherung des Arbeitslosenrisikos. Das erzielte Arbeitslosengeld liegt in vielen Fällen ohnehin meist nur knapp oberhalb der Grundsicherung für Arbeitsuchende.
Ergänzend weist die BAGFW auf diese drängenden Handlungsbedarfe hin:
Möglichkeit der Verlängerung einer Fort- und Weiterbildung
Bei der Förderung der beruflichen Weiterbildung nach § 16 Abs. 1 SGB II i. V. m. §§ 81 ff. SGB III sollten längere Lernzeiten berücksichtigt werden können. Aus § 180 Abs. 4 SGB III folgt für Vollzeitmaßnahmen, die zu einem Abschluss in einem allgemein anerkannten Ausbildungsberuf führen, eine Verkürzung der Ausbildungsdauer. Die Dauer einer solchen Vollzeitmaßnahme ist demnach angemessen, wenn sie gegenüber einer entsprechenden Berufsausbildung um mindestens ein Drittel der Ausbildungszeit verkürzt ist. Eine verkürzte Ausbildung geht einher mit höheren Leistungsanforderungen. Personen mit mehreren Vermittlungshemmnissen werden häufiger Beeinträchtigungen des Lernens (Lernbehinderung) oder psychische Erkrankungen aufweisen. Sie können diese Anforderungen ggf. nicht erfüllen und benötigen anstelle einer zwingend verkürzten Ausbildungsdauer die Option einer längeren Lernzeit. Deshalb sollte die Dauer der Ausbildungszeit generell flexibilisiert und auch eine Verlängerung der Ausbildungszeit ermöglicht werden. Die verlängerte Fort- und Weiterbildung ist idealerweise mit einem modularen Aufbau der Angebote zu verknüpfen.
Fort- und Weiterbildung in Teilzeit
Ausbildungen sowie Fort- und Weiterbildungen müssen insbesondere auch in Teilzeit ermöglicht bzw. ausgebaut werden. Dies ist besonders relevant, um den Personenkreis der Alleinerziehenden bei der Integration in den Arbeitsmarkt frühzeitig und umfassend zu unterstützen. Insbesondere muss es Alleinerziehenden ermöglicht werden, Qualifikationen nach einer Familienpause aufzufrischen, einen fehlenden Schul- oder Berufsabschluss nachzuholen oder sich in betrieblichen Trainingsmaßnahmen in der Arbeitswelt zu beweisen. Die betrieblichen Trainingsmaßnahmen und Qualifizierungsphasen sind so auszugestalten, dass berufliche Ziele mit der familiären Situation in Einklang gebracht werden können. Dringend notwendig ist der Ausbau von Möglichkeiten zur Teilzeitausbildung. Dafür sollten Arbeitgeber gezielt geworben werden.
Damit die berufliche Wiedereingliederung Alleinerziehender nicht an finanziellen Mitteln scheitert, sollte die finanzielle Absicherung Alleinerziehender und ihrer Kinder insbesondere an den Schnittstellen zwischen SGB II, Wohngeldgesetz, Bundeskindergeldgesetz, Berufsausbildungsförderungsgesetz (BAföG) und Berufsausbildungsbeihilfe (BAB) gewährleistet sein.
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Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege e. V. (BAGFW) begrüßt, dass das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) die partnerschaftliche Einbeziehung der Wohlfahrtsverbände im Rahmen des Europäischen Semesters kontinuierlich fortsetzt. Gerne nutzt die BAGFW die Gelegenheit für eine gemeinsame Stellungnahme zum vorgelegten NRP-Entwurf 2016. Sie weist jedoch erneut und nachdrücklich darauf hin, dass die Fristsetzung im Hinblick auf eine ausreichende Beteiligung der Zivilgesellschaft, von der in Ziffer 127 des NRP-Entwurfes die Rede ist, zu knapp bemessen ist. Der Entwurf des NRP wurde vom BMAS am 4. März 2016 mit Rückmeldefrist bis zum 11. März 2016 versandt.
Zur inhaltlichen Ergänzung verweist die BAGFW in diesem Zusammenhang sowohl auf ihre Stellungnahmen zum Entwurf des Nationalen Reformprogramms 2015 und zum Entwurf des Nationalen Sozialberichts 2016 als auch auf die Anmerkungen und Hinweise der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege e.V. (BAGFW) zur Fortschreibung des Nationalen Sozialberichts 2016.
Im Folgenden nimmt die BAGFW zur Umsetzung der sozialpolitischen Ziele der Strategie Europa 2020 im Entwurf des Nationalen Reformprogramms 2016 Stellung.
Wir gehen dabei insbesondere auf „II. Maßnahmen zur Bewältigung wesentlicher gesamtwirtschaftlicher Herausforderungen, Punkt B. „Flüchtlinge bestmöglich in den Arbeitsmarkt integrieren“ ein.
Ferner widmen wir uns insbesondere den drei sozialpolitischen Kernzielen
- A. Beschäftigung fördern
- D. Bildungsniveau verbessern
- E. Soziale Eingliederung vor allem durch die Verringerung von Armut fördern
und den länderspezifischen Empfehlungen des Rates zum NRP Deutschlands 2015.
Da die Ausführungen im Entwurf des NRP 2016 unter Punkt C. „Wettbewerb stärken“ insbesondere die öffentliche Auftragsvergabe und den Wettbewerb im Dienstleistungssektor betreffen, nimmt die BAGFW ebenfalls dazu Stellung.
1. „II. B. Erwerbsbeteiligung erhöhen, Flüchtlinge bestmöglich integrieren“
Kapitel "Flüchtlinge bestmöglich in den Arbeitsmarkt integrieren" S. 29ff.
Der Bericht widmet sich in einem gesonderten Teil dem Thema „Flüchtlinge bestmöglich in den Arbeitsmarkt integrieren“. In den Blick genommen wird dabei neben der Ausbildung auch die aktive Arbeitsmarktpolitik. Es wird die hohe Bedeutung des Spracherwerbs hervorgehoben und die Bereitstellung von Bundesmitteln für BAMF Sprachkurse betont. Vernachlässigt wird hierbei, dass für eine erfolgreiche Integration in Arbeit und Ausbildung auch eine stärkere Förderung von berufsorientierten Sprachkursen dringend notwendig ist. Problematisch ist auch, dass die Bleiberechtsperspektive an das Kriterium Staatsangehörigkeit (konkret sichere Herkunftsstaaten) gekoppelt wird. Darüber hinaus gibt es noch eine Reihe von ausländerrechtlichen Hürden, die eine schnelle Integration in die Gesellschaft durch Ausbildung, Studium und Arbeit verhindern, in dem Nationalen Reformprogramm aber keine Berücksichtigung finden. Die BAGFW sieht es u.a. als kritisch an, dass Personen mit bestimmten Aufenthaltserlaubnissen, unter anderem solche mit nationalem subsidiären Schutz sowie Familienangehörige von anerkannten Flüchtlingen (§ 36 AufenthG), nach wie vor von einer Ausbildungsförderung und ausbildungsfördernden Instrumenten - hier den berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahmen und der Förderung einer außerbetrieblichen Berufsbildung - für lange Zeit ausgeschlossen bleiben.
Asylsuchende sollten unabhängig von der Unterbringung spätestens nach 3 Monaten Zugang zum Arbeitsmarkt haben. Die Nachrangigkeitsprüfung sollte entfallen. Sie führt zu unnötiger Bürokratie und häufig zu einem faktischen Ausschluss vom Arbeitsmarkt.
Die Bundesregierung betont, dass der Zugang von Geduldeten in Ausbildung erleichtert wurde, durch eine jährlich verlängerbare Duldung für junge Geduldete, damit diese eine begonnene Ausbildung beenden können. Sinnvoller für Geduldete sowie für Arbeitgeber wäre es, für die Dauer der Ausbildung eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen und nach Abschluss eine dauerhafte Perspektive zu eröffnen.
Die BAGFW begrüßt die zusätzlichen Maßnahmen zur Integration von Geflüchteten in den Arbeitsmarkt. Die BAGFW fordert dafür ebenfalls eine deutliche finanzielle Aufstockung der bereits bestehenden Instrumente. Die Ausweitung der Zielgruppe darf nicht zu Lasten der bereits bestehenden Zielgruppen erfolgen.
Seit Jahren steigt die Zahl der Erwerbsfähigen in Deutschland auch durch eine zunehmende Zuwanderung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern aus dem EU-Ausland, die durch das Recht auf Freizügigkeit ermöglicht wird.
Die BAGFW zählt die Mobilität der EU-Bürger/innen zu den großen Errungenschaften der EU. Dieses Recht darf nicht einfach in Frage gestellt werden, wenn Bürgerinnen und Bürger aus EU-Mitgliedstaaten es aktiv nutzen, um ihre soziale und Erwerbsituation zu verbessern. Schließlich profitiert Deutschland erheblich von vielen Fachkräften aus EU-Ländern, wie z.B. der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration in seinem Jahresbericht 2013 bestätigt.
Auch wenn der Zugang zum Arbeitsmarkt für EU-Bürger gesetzlich unbeschränkt ist, gibt es dennoch viele Hürden auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Für Menschen, die beispielsweise nicht oder kaum Deutsch sprechen, die keine Berufsausbildung haben oder deren Ausbildung in Deutschland nicht anerkannt wird, ist es schwer, eine Anstellung zu finden.
Die konkrete Situation mancher prekär Beschäftigter oder Arbeitsuchender wird in Einrichtungen und Diensten der Wohnungslosenhilfe, der Migrationsfachdienste, in Stadtteilprojekten, in medizinischen Notdiensten und der Bahnhofsmission offenbar: Es kommen Menschen, darunter auch Familien mit Kindern, die weder Unterkunft haben noch ersichtlich krankenversichert sind. Die existentielle Notlage der Betroffenen kann durch deutsche Unternehmen leicht ausgenutzt werden. Nicht selten geraten arbeitsuchende EU-Bürgerinnen und EU-Bürger dadurch in ausbeuterische Arbeitsverhältnisse, die bisweilen in schwere Formen von Arbeitsausbeutung bis hin zu Menschenhandel eskalieren.
Insgesamt zeigt sich, dass Menschen mit Migrationshintergrund am deutschen Arbeitsmarkt immer noch benachteiligt sind. Sie partizipieren an der positiven Entwicklungsdynamik des Arbeitsmarktes nach wie vor nicht in gleichem Maße wie Menschen ohne Migrationshintergrund. Auch die Einkommenssituation ist deutlich prekärer. Personen mit Migrationshintergrund sind überdurchschnittlich oft von Erwerbslosigkeit betroffen (siehe 9. Bericht der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration über die Lage der Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland, Juni 2012).
Die Bundesregierung ist aufgefordert, ihre Anstrengungen bei der Beseitigung migrationsspezifischer Benachteiligung am Arbeitsmarkt und im Bildungssystem zu verstärken.
Kapitel "Arbeitsmarkt fair und flexibel ausgestalten" S. 45 ff.
(Ziffern 90 - 93)
In diesem Kapitel wird ausführlich auf den Mindestlohn, das Gesetz zu Werkverträgen und Arbeitnehmerüberlassung, Gleichstellung und Entgeltstruktur eingegangen. Nicht erwähnt wird hier, dass es eine große Zahl an Langzeitarbeitslosen gibt, denen der Zugang zum Arbeitsmarkt versperrt bleibt. Im Kapitel werden die beiden Bundeskonzepte des BMAS erwähnt. Die beiden befristeten Konzepte sind für eine kleine Zahl von Personen ausgelegt. Im Rahmen des Programms „Chancen eröffnen - soziale Teilhabe sichern" sollen 10.000 Menschen befristet gefördert werden, im ESF-Programm bis zu 33.000. Ein umfassendes Arbeitsmarktkonzept, welches eine passgenaue und langfristige Förderstrategie beinhaltet, fehlt weiterhin. Langzeitarbeitslose mit schweren Vermittlungshemmnissen sind allerdings weiterhin nicht im Fokus der Arbeitsmarktintegration.
Kapitel "Wohnraum bezahlbar halten"
Erstmalig wird im NRP das Thema bezahlbarer Wohnraum aufgegriffen, die BAGFW begrüßt das. Der Bericht hebt die Bedeutung des Wohngelds zur Entlastung der Haushalte mit niedrigem Einkommen hervor. Die durch die Bundesregierung vorgenommene Wohngelderhöhung zum Januar 2016 war dringend erforderlich, da die letzte Erhöhung sechs Jahre zurücklag. Die BAGFW kritisiert jedoch, dass die Reform erneut nicht nachhaltig ist, da versäumt wurde, einen Dynamisierungsfaktor einzubauen, der eine regelmäßige Anpassung des Wohngelds gesetzlich normiert. Damit besteht die Gefahr, dass tausende Haushalte bald wieder ins SGB II fallen werden und bei den Jobcentern Grundsicherungsleistungen beantragen müssen. Die BAGFW verweist in diesem Zusammenhang auch auf ihre Forderung der Wiedereinführung einer Heizkostenpauschale
2. „III. Europa 2020-Kernziele: Erzielte Fortschritte und Maßnahmen
„A. Beschäftigung fördern“
(Ziffern 79 - 93)
Bewertung:
Deutschland (DE) hat sich in seinem NRP zu den drei sozialpolitischen EU 2020-Kernzielen mit den folgenden nationalen Zielen (abweichend von den EU-weiten Zielen) verpflichtet:
- Erwerbstätigenquote für 20- bis 64-Jährige: 77%
- Erwerbstätigenquote für Ältere zwischen 55 und 64 Jahren: 60%
- Erwerbstätigenquote für Frauen: 73%
Alle drei Ziele hat DE im 3. Quartal 2015 (über-)erfüllt.
Die Sozialwirtschaft kann aufgrund des demografischen Wandels und des zusätzlichen Bedarfs an Personal einen signifikanten Beitrag zur Stabilisierung der Erwerbstätigenquote erbringen. Für die weitere Steigerung der Erwerbstätigenquote der Frauen ist es wichtig, dass die Ganztagsangebote zur Bildung, Erziehung und Betreuung für Kinder in der Fläche ausreichend und qualitativ hochwertig ausgebaut werden.
Die BAGFW regt für das NRP 2016 an, perspektivisch berufliche Förderangebote für Frauen verstärkt in den Blick zu nehmen, um sie weiter zu entwickeln, indem auch das Angebot für Teilzeitqualifizierungen ausgebaut wird.
In den länderspezifischen Empfehlungen 2015 wird nach wie vor empfohlen, dass Deutschland „die fiskalische Behandlung von Minijobs überprüft, um den Übergang in andere Beschäftigungsformen zu erleichtern“. Die länderspezifischen Empfehlungen konstatieren bisher ebenfalls nur begrenzte Fortschritte bei der Anhebung des Bildungsniveaus benachteiligter Gruppen (COM(2015) 256 final vom 13.05.2015)
Rund 1 Mio. oder 38,6% der offiziell gemeldeten Arbeitslosen in Deutschland im September 2015 waren nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit langzeitarbeitslos und hatten damit deutlich geringere Chancen auf eine dauerhafte Integration in den Arbeitsmarkt als kurzzeitig Arbeitslose. Aufgrund der insgesamt sinkenden Arbeitslosenzahlen steigt damit der prozentuale Anteil der Langzeitarbeitslosen. In absoluten Zahlen ist nur ein geringer Rückgang der Zahl der Langzeitarbeitslosen zu verzeichnen, wobei der Anteil der Arbeitslosen, die seit 24 Monaten oder länger arbeitslos sind, signifikant steigt. Besondere Risikofaktoren sind insbesondere höheres Alter (55+), eine fehlende Berufsausbildung und eine Frau zu sein mit einem Kind unter drei Jahren. Langzeitarbeitslose mit vier und mehr sogenannten Vermittlungshemmnissen haben derzeit kaum eine Chance auf eine Arbeitsmarktintegration. Langzeitarbeitslose sind vom rückläufigen Einsatz arbeitsmarktpolitischer Instrumente besonders betroffen. Nach Angaben aus dem Eingliederungsbericht 2014 der Bundesagentur für Arbeit waren sie nur mit einem Anteil von 19% an Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik beteiligt.
Die Problematik des Ausmaßes des verfestigten Langzeitleistungsbezugs in der Grundsicherung für Arbeitsuchende bleibt im NRP weitgehend unerwähnt, obwohl die damit verbundenen Probleme im Berichtszeitraum bundespolitisch und in der Öffentlichkeit intensiv diskutiert worden sind. Im Arbeitsdokument der Europäischen Kommission zum Länderbericht Deutschland 2015 wird auf das besorgniserregende Problem der Langzeitarbeitslosigkeit in Deutschland verwiesen:
„While the unemployment rate is overall low (5.0 % in 2014), it exceeds 10 % in several federal states and long-term unemployment is an increasing concern.“ (s. SWD (2015) 25 final, S. 63) … „Long-term unemployment is an increasing concern and it is still at a high level.“ (s. SWD(2015) 25 final, S. 64)
Als erwerbsfähig gelten derzeit über 3 Mio. Langzeitleistungsbeziehende. Die Hälfte von diesen lebt mit weiteren Personen, die nicht erwerbsfähig sind (zu 95 Prozent Kinder), in Bedarfsgemeinschaften. Besonders kritisch ist auch der Umstand zu werten, dass Ende 2012 zwei Drittel der mehr als 4 Mio. erwerbsfähigen Leistungsberechtigten bereits über zwei Jahre im Leistungsbezug waren; jede(r) vierte sogar durchgängig seit 2005. Zudem gibt es nach wie vor eine strukturelle Arbeitslosigkeit.
Die BAGFW spricht sich dafür aus, die schwerpunktmäßige Ausrichtung der Arbeitsmarktförderung auf Personen und Förderleistungen mit großer Arbeitsmarktnähe aufzugeben und Langzeitleistungsbeziehenden und ihren Familien deutlich mehr Förderung anzubieten.
Um langfristige Arbeitslosigkeit und Armut zu überwinden, müssen Eingliederungsinstrumente zur Verfügung stehen, die für die Förderung der Beschäftigung arbeitsmarktferner Menschen auch wirksam genutzt werden können. Die BAGFW regt langfristige, gezielte und kleinschrittige Hilfen für Menschen mit mehrfachen Vermittlungshemmnissen an. Die BAGFW betont erneut, dass es über das ESF-Programm zur Wiedereingliederung von 33.000 Langzeitarbeitslosen in den Arbeitsmarkt weiterer nationaler Anstrengungen bedarf.
Für einen Teil derjenigen Menschen, die trotz intensiver Förderung ohne Chance auf Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt sind, sollen über öffentlich geförderte sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsangebote Möglichkeiten der sozialen Teilhabe eröffnet werden (s. dazu auch die Ausführungen zum Thema “Soziale Eingliederung vor allem durch Armutsbekämpfung fördern“). Vor dem Hintergrund der verfestigten und hohen Langzeitarbeitslosigkeit und des andauernden Hilfebezugs im SGB II sieht die BAGFW die Initiative der Bundesarbeitsministerin „Chancen eröffnen – soziale Teilhabe sichern“ positiv. Die Verbände loben ausdrücklich das Vorhaben, ein Angebot zur sozialen Teilhabe durch Erwerbsarbeit für ansonsten vom Arbeitsmarkt ausgeschlossene Personen mit öffentlich geförderter sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung zu unterbreiten. Das Programm kann dazu ein erster wichtiger Schritt sein. Da die tatsächlichen Unterstützungsbedarfe weit über die angedachte Förderung von 10.000 Personen hinausgehen, fordert die BAGFW zusätzliche Mittel bereitzustellen und das Programm mit einer Erprobung des sog. Passiv- Aktiv-Transfers (PAT) zu verknüpfen.
Im Zuge der Rechtsvereinfachung des SGB II soll mit dem § 16h SGB II ein neuer Fördertatbestand in das SGB II aufgenommen werden, der sich an die Zielgruppe der schwer zu erreichenden jungen Menschen unter 25 Jahren richtet. Diesen jungen Menschen, die von den Angeboten der Sozialleistungssysteme derzeit mindestens zeitweise nicht erreicht werden, können passgenaue Betreuungs- und Unterstützungsleistungen in Abstimmung mit dem Träger der öffentlichen Jugendhilfe angeboten werden.
Die BAGFW begrüßt, dass sich das SGB II endlich der Zielgruppe der schwer erreichbaren, vom System entkoppelten Jugendlichen und jungen Erwachsenen in enger Abstimmung mit der Kinder- und Jugendhilfe zuwendet. Der neue § 16h SGB II ist jedoch lediglich als Kann-Regelung ausgestaltet. Damit die Zielgruppe tatsächlich gezielt in ihrer schwierigen Lebenssituation unterstützt wird, ist die Regelung sowohl in Absatz 1 als auch in Absatz 2 verbindlicher als Soll-Vorschrift auszugestalten.
In den länderspezifischen Empfehlungen 2015 hat der Europäische Rat erneut empfohlen, die Umwandlung von Minijobs in voll sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsformen zu erleichtern. Die BAGFW empfiehlt, sich im NRP 2016 gezielter mit dem Thema atypische Beschäftigung insgesamt auseinanderzusetzen und dabei insbesondere Auswirkungen für die Beschäftigten in den Blick zu nehmen.
4. „D. Bildungsniveau verbessern“
(Ziffern 113 - 118)
Bewertung:
Deutschland hat sich in seinem NRP zum Erreichen des folgenden EU-weiten Kernziels verpflichtet:
- Bildungsniveau verbessern, insbesondere den Anteil der frühzeitigen Schul- und Ausbildungsabgänger auf unter 10% senken
Obwohl der Anteil der frühzeitigen Schul- und Ausbildungsabgänger 2014 mit 9,5 Prozent insgesamt unter der Zielmarke von 10 Prozent lag, gibt es signifikante regionale Unterschiede. Außerdem stellt die Europäische Kommission fest: „Bei der Verbesserung der Bildungsergebnisse benachteiligter Gruppen wurden begrenzte Fortschritte erzielt. Die Wahrscheinlichkeit eines frühen Schulabgangs verdoppelt sich bei jungen Menschen mit Migrationshintergrund.“ (COM(2015) 256 final vom 13.05.2015).
Die BAGFW verweist auf ihre kritischen Anmerkungen zum NRP 2015.
In den Erhebungen der Statistischen Ämter des Bundes und der Länder auf Basis des Mikrozensus 2013 wird festgestellt, dass der Anteil der Jugendlichen ohne Hauptschulabschluss in Ostdeutschland fast doppelt so hoch ausfällt wie in Westdeutschland. Hier besucht auch ein weitaus höherer Anteil der Schüler/innen als in Westdeutschland eine Förderschule und erwirbt dort häufig höchstens einen Förderabschluss. Betrachtet man hingegen den Anteil der frühen Schul- und Ausbildungsabgänger/innen, also das EU-2020 Kernziel im Bildungsbereich, zeigt sich das umgekehrte Bild. Dies liegt vor allem daran, dass in Westdeutschland weniger junge Menschen einen beruflichen Abschluss erwerben als in Ostdeutschland. Der Caritas-Studie “Bildungschancen vor Ort“ aus dem Jahr 2014 zufolge ist die Quote der Schulabgänger/innen ohne Hauptschulabschluss zwar deutschlandweit von rund 7% im Jahr 2009 auf rund 6% im Jahr 2012 gesunken. Es bestehen aber starke regionale Streuungen der Quoten: zwischen 4,6 % in Bayern und 11,1 % in Sachsen-Anhalt (s. dazu <link http: www.caritas.de bildungschancen>www.caritas.de/bildungschancen), s. auch „Bildung in Deutschland 2014“).
Außerdem besteht nach wie vor ein negativer Zusammenhang zwischen der sozialen Herkunft und dem Bildungserfolg: je geringer die sozialen Ressourcen eines Kindes oder Jugendlichen sind, desto höher ist das Risiko des Scheiterns im Bildungssystem.
Die BAGFW sieht hier weiterhin großen Handlungsbedarf. Kinder und Jugendliche brauchen eine gezielte Förderung in einer chancengerechten Schule, die flexibel, individuell, inklusiv und ganzheitlich Kinder begleitet und die Kooperation mit Eltern und Bezugspersonen pflegt. Kinder und Jugendliche mit multiplen Problemlagen brauchen eine niedrigschwellige Förderung, in deren Rahmen Angebote zur Förderung von Lern- und Leistungskompetenzen mit Maßnahmen zur Überwindung persönlicher und sozialer Problemlagen kombiniert werden. Hier haben sich Angebote der Schulsozialarbeit als besonders wirksam erwiesen, um insbesondere junge Menschen in sozial benachteiligten Lebenslagen frühzeitig zu erreichen.
Auch in diesem Zusammenhang betont die BAGFW die Notwendigkeit des weiteren Ausbaus einer qualitativ hochwertigen Ganztagsbetreuung für Kinder.
Die BAGFW erachtet noch stärkere Anstrengungen für notwendig, um den Zusammenhang von Bildung und sozialer Herkunft zu durchbrechen.
5. „Soziale Eingliederung vor allem durch die Verringerung von Armut fördern“
(Ziffern 119 – 125)
Bewertung:
Deutschland hat sich in seinem NRP dem folgenden nationalen Indikator zur Bemessung des Erfolgs bei der Armutsbekämpfung verpflichtet:
- Anzahl der Langzeitarbeitslosen bis 2020 um 20% gegenüber 2008 verringern
Laut dem NRP-Entwurf 2016 hat sich die Zahl der Langzeitarbeitslosen zwischen 2008 und 2014 um 43,5 % verringert, d.h. Deutschland hat sein Europa-2020
Armutsziel erreicht.
Der absolute Rückgang der Langzeiterwerbslosigkeit ist zwar positiv zu sehen, jedoch nicht deckungsgleich mit der Reduzierung von Armutsrisiken in Deutschland.
Sorge bereitet die Entwicklung des Armutsrisikos. Gesamtwirtschaftlicher Erfolg und die Zunahme privaten Reichtums führen nicht mehr dazu, dass das Armutsrisiko in Deutschland geringer wird, sondern das Armutsrisiko und Ungleichheit nehmen zu.
Der Ausschuss für Sozialschutz hat den Nationalstaaten zur Erstellung ihrer Strategischen Sozialberichterstattung empfohlen, Daten zur sozialen Situation heranzuziehen, die aktueller als die der EU-SILC sind. Nach der Auswertung des Mikrozensus ergibt sich dieses Bild: Die Armutsrisikoquote ist seit dem Jahr 2006 – mit Unterbrechungen in den Jahren 2010 und 2012 – auf einen Wert von 15,5 Prozent im Jahr 2013 angestiegen. Rund 12,5 Millionen Menschen waren damit in diesem Jahr in Deutschland vom Risiko der Einkommensarmut betroffen. Dabei haben sich die Arbeitslosenzahlen und Armutsrisikoquoten in ihrer Entwicklung nicht nur abgekoppelt, sondern sich entgegengesetzt entwickelt. Während die Armutsrisikoquote seit 2006 relativ kontinuierlich um 10,7 Prozent angestiegen ist – von 14 Prozent auf 15,5 Prozent – ist die Arbeitslosenquote mit Ausnahme des Krisenjahres 2009 ebenso kontinuierlich um 36,1 Prozent (von 10,8 Prozent auf 6,9 Prozent) gesunken.
Die Bundesregierung erklärt, dass die Altersarmut trotz eines leichten Anstiegs in den letzten Jahren nach wie vor klein sei und kein verbreitetes Problem darstellt. Die BAGFW weist dagegen darauf hin, dass die 65-jährigen und Älteren in 2014 mit einer Quote von 14,4 Prozent zwar unterdurchschnittlich vom Armutsrisiko betroffen waren, die Gruppe der Rentner/innen und Pensionär/innen mit einer Armutsrisikoquote von 15,6 Prozent allerdings bereits ein überdurchschnittliches Armutsrisiko hatte. Zudem gibt es starke Zuwächse seit 2006. Seitdem nahm das Armutsrisiko unter den 65-jährigen und Älteren um 37,6 Prozent und das der Rentner und Pensionäre um sogar 51,5 Prozent zu. Dabei ist die Armutsrisikoquote von Frauen im Seniorenalter um einige Prozentpunkte höher als die von Männern. Sie sind besonders von Armut bedroht. Es gibt derzeit keinerlei Anzeichen dafür, dass dieser Trend gestoppt wird. Die BAGFW merkt kritisch an, dass im vorliegenden Bericht keine Pläne der Bundesregierung zur Bekämpfung von Altersarmut dargestellt werden.
Angesichts dieser Lagebeschreibung fordert die BAGFW die deutsche Bundesregierung dazu auf, im Bereich der Armutsbekämpfung ihre Aktivitäten neu auszurichten, um eine umfassende Bekämpfung der zunehmenden Armutsgefährdung von Personen zu gewährleisten.
Die BAGFW regt erneut an, dass neben dem national gewählten Armutsindikator: niedrige Erwerbsbeteiligung (gemessen am Prozentsatz von Menschen, die in einem Haushalt mit sehr geringer Erwerbsbeteiligung leben) die beiden anderen Indikatoren: die relative Einkommensarmut (gemessen wie bisher an der sog. Armutsgefährdungsrate) und die materielle Armut (gemessen am Index der materiellen Deprivation) bei der Ausrichtung einer umfassenden Armutsbekämpfungsstrategie berücksichtigt werden.
Die Armutsbekämpfung sollte sich nicht primär an kurzfristigen arbeitsmarktpolitischen Zielen orientieren. Der langfristige Bezug von SGB-II-Leistungen erklärt sich nicht allein aus Arbeitslosigkeit, sondern auch aus Sachverhalten wie Teilzeitarbeit, prekäre Soloselbständigkeit und niedrigen Löhnen trotz der Einführung des Mindestlohnes (rund 1,2 Millionen Aufstockende im SGB II). Das Arbeitseinkommen und/oder dem SGB II vorgelagerte familienpolitische und andere Leistungen reichen oft nicht aus, um den Leistungsbezug zu verhindern (600.000 Alleinerziehende und über 1,5 Millionen Kinder beziehen SGB-II-Leistungen).
Nach Berechnungen der Bundesagentur für Arbeit im Methodenbericht aus dem Juni 2013 bezogen 18,5 % der erwerbsfähigen Bevölkerung in den Jahren 2008 bis 2011 dauerhaft oder zeitweilig Leistungen nach dem SGB II. Trotzdem galten nur 1/3 der Leistungsbeziehenden im SGB II als arbeitslos. Teilnehmende an Maßnahmen, Zuverdienende, ältere Erwerbslose und weitere Personengruppen werden in der Arbeitslosenstatistik nicht mitgezählt. Maßnahmen zur nachhaltigen Verbesserung der sozialen Situation von Langzeit-Leistungsbeziehenden müssen mit einer Stärkung der dem Grundsicherungsbezug vorgelagerten Systeme einhergehen. Die BAGFW schlägt vor, weitere sozialpolitische Schwerpunkte zu setzen.
Die Wohlfahrtsverbände begrüßen die Einrichtung des Europäischen Hilfsfonds für die am stärksten benachteiligten Personen (EHAP) und die partnerschaftliche Zusammenarbeit mit der Freien Wohlfahrtspflege bei seiner Ausgestaltung. Der Hilfsfonds ist auf die Zielgruppen EU-Zuwanderer, deren Kinder im Vorschulalter sowie auf Wohnungslose fokussiert. Die BAGFW setzt sich für den Ausbau dieses Hilfsfonds und weiterer Maßnahmen zur Bekämpfung der Armut der am stärksten benachteiligten Personen mit dem Ziel der sozialen Inklusion ein.
Die BAGFW spricht sich dafür aus, dass die Armutspolitik im NRP weiter behandelt wird und Ansätze einer umfassenden Strategie der Armutsverringerung für betroffene Zielgruppen entwickelt werden. Sie verweist ihrerseits auf die Stellungnahme der BAGFW zum Entwurf des NSB 2016.
6. „Wettbewerb im Dienstleistungssektor weiter beleben“
(Ziffern 73 – 75)
Die Bundesregierung bekennt sich zu dem Anliegen, den Binnenmarkt für Dienstleistungen zu stärken und sie betont darüber hinaus die Notwendigkeit, gerechtfertigte und verhältnismäßige Regulierungen zu ergreifen, die z.B. die Qualität einer Dienstleistung, die Bereitstellung von Ausbildungsplätzen oder soziale und gesundheitspolitische Zwecke sichern.
Die BAGFW verweist auf ihre kritischen Anmerkungen zur „Vereinheitlichung der Ausbildung für Krankenpfleger/-schwestern, Gesundheits- und Kinderkrankenpflegerinnen und -pfleger sowie für Altenpflegerinnen und -pfleger“.
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Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege e. V. (BAGFW) begrüßt, dass das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) die partnerschaftliche Einbeziehung der Wohlfahrtsverbände im Rahmen des Europäischen Semesters kontinuierlich fortsetzt. Gerne nutzt die BAGFW die Gelegenheit für eine gemeinsame Stellungnahme zum vorgelegten NRP-Entwurf 2016. Sie weist jedoch erneut und nachdrücklich darauf hin, dass die Fristsetzung im Hinblick auf eine ausreichende Beteiligung der Zivilgesellschaft, von der in Ziffer 127 des NRP-Entwurfes die Rede ist, zu knapp bemessen ist. Der Entwurf des NRP wurde vom BMAS am 4. März 2016 mit Rückmeldefrist bis zum 11. März 2016 versandt.
Zur inhaltlichen Ergänzung verweist die BAGFW in diesem Zusammenhang sowohl auf ihre Stellungnahmen zum Entwurf des Nationalen Reformprogramms 2015 und zum Entwurf des Nationalen Sozialberichts 2016 als auch auf die Anmerkungen und Hinweise der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege e.V. (BAGFW) zur Fortschreibung des Nationalen Sozialberichts 2016.
Im Folgenden nimmt die BAGFW zur Umsetzung der sozialpolitischen Ziele der Strategie Europa 2020 im Entwurf des Nationalen Reformprogramms 2016 Stellung.
Wir gehen dabei insbesondere auf „II. Maßnahmen zur Bewältigung wesentlicher gesamtwirtschaftlicher Herausforderungen, Punkt B. „Flüchtlinge bestmöglich in den Arbeitsmarkt integrieren“ ein.
Ferner widmen wir uns insbesondere den drei sozialpolitischen Kernzielen
- A. Beschäftigung fördern
- D. Bildungsniveau verbessern
- E. Soziale Eingliederung vor allem durch die Verringerung von Armut fördern
und den länderspezifischen Empfehlungen des Rates zum NRP Deutschlands 2015.
Da die Ausführungen im Entwurf des NRP 2016 unter Punkt C. „Wettbewerb stärken“ insbesondere die öffentliche Auftragsvergabe und den Wettbewerb im Dienstleistungssektor betreffen, nimmt die BAGFW ebenfalls dazu Stellung.
1. „II. B. Erwerbsbeteiligung erhöhen, Flüchtlinge bestmöglich integrieren“
Kapitel "Flüchtlinge bestmöglich in den Arbeitsmarkt integrieren" S. 29ff.
Der Bericht widmet sich in einem gesonderten Teil dem Thema „Flüchtlinge bestmöglich in den Arbeitsmarkt integrieren“. In den Blick genommen wird dabei neben der Ausbildung auch die aktive Arbeitsmarktpolitik. Es wird die hohe Bedeutung des Spracherwerbs hervorgehoben und die Bereitstellung von Bundesmitteln für BAMF Sprachkurse betont. Vernachlässigt wird hierbei, dass für eine erfolgreiche Integration in Arbeit und Ausbildung auch eine stärkere Förderung von berufsorientierten Sprachkursen dringend notwendig ist. Problematisch ist auch, dass die Bleiberechtsperspektive an das Kriterium Staatsangehörigkeit (konkret sichere Herkunftsstaaten) gekoppelt wird. Darüber hinaus gibt es noch eine Reihe von ausländerrechtlichen Hürden, die eine schnelle Integration in die Gesellschaft durch Ausbildung, Studium und Arbeit verhindern, in dem Nationalen Reformprogramm aber keine Berücksichtigung finden. Die BAGFW sieht es u.a. als kritisch an, dass Personen mit bestimmten Aufenthaltserlaubnissen, unter anderem solche mit nationalem subsidiären Schutz sowie Familienangehörige von anerkannten Flüchtlingen (§ 36 AufenthG), nach wie vor von einer Ausbildungsförderung und ausbildungsfördernden Instrumenten - hier den berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahmen und der Förderung einer außerbetrieblichen Berufsbildung - für lange Zeit ausgeschlossen bleiben.
Asylsuchende sollten unabhängig von der Unterbringung spätestens nach 3 Monaten Zugang zum Arbeitsmarkt haben. Die Nachrangigkeitsprüfung sollte entfallen. Sie führt zu unnötiger Bürokratie und häufig zu einem faktischen Ausschluss vom Arbeitsmarkt.
Die Bundesregierung betont, dass der Zugang von Geduldeten in Ausbildung erleichtert wurde, durch eine jährlich verlängerbare Duldung für junge Geduldete, damit diese eine begonnene Ausbildung beenden können. Sinnvoller für Geduldete sowie für Arbeitgeber wäre es, für die Dauer der Ausbildung eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen und nach Abschluss eine dauerhafte Perspektive zu eröffnen.
Die BAGFW begrüßt die zusätzlichen Maßnahmen zur Integration von Geflüchteten in den Arbeitsmarkt. Die BAGFW fordert dafür ebenfalls eine deutliche finanzielle Aufstockung der bereits bestehenden Instrumente. Die Ausweitung der Zielgruppe darf nicht zu Lasten der bereits bestehenden Zielgruppen erfolgen.
Seit Jahren steigt die Zahl der Erwerbsfähigen in Deutschland auch durch eine zunehmende Zuwanderung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern aus dem EU-Ausland, die durch das Recht auf Freizügigkeit ermöglicht wird.
Die BAGFW zählt die Mobilität der EU-Bürger/innen zu den großen Errungenschaften der EU. Dieses Recht darf nicht einfach in Frage gestellt werden, wenn Bürgerinnen und Bürger aus EU-Mitgliedstaaten es aktiv nutzen, um ihre soziale und Erwerbsituation zu verbessern. Schließlich profitiert Deutschland erheblich von vielen Fachkräften aus EU-Ländern, wie z.B. der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration in seinem Jahresbericht 2013 bestätigt.
Auch wenn der Zugang zum Arbeitsmarkt für EU-Bürger gesetzlich unbeschränkt ist, gibt es dennoch viele Hürden auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Für Menschen, die beispielsweise nicht oder kaum Deutsch sprechen, die keine Berufsausbildung haben oder deren Ausbildung in Deutschland nicht anerkannt wird, ist es schwer, eine Anstellung zu finden.
Die konkrete Situation mancher prekär Beschäftigter oder Arbeitsuchender wird in Einrichtungen und Diensten der Wohnungslosenhilfe, der Migrationsfachdienste, in Stadtteilprojekten, in medizinischen Notdiensten und der Bahnhofsmission offenbar: Es kommen Menschen, darunter auch Familien mit Kindern, die weder Unterkunft haben noch ersichtlich krankenversichert sind. Die existentielle Notlage der Betroffenen kann durch deutsche Unternehmen leicht ausgenutzt werden. Nicht selten geraten arbeitsuchende EU-Bürgerinnen und EU-Bürger dadurch in ausbeuterische Arbeitsverhältnisse, die bisweilen in schwere Formen von Arbeitsausbeutung bis hin zu Menschenhandel eskalieren.
Insgesamt zeigt sich, dass Menschen mit Migrationshintergrund am deutschen Arbeitsmarkt immer noch benachteiligt sind. Sie partizipieren an der positiven Entwicklungsdynamik des Arbeitsmarktes nach wie vor nicht in gleichem Maße wie Menschen ohne Migrationshintergrund. Auch die Einkommenssituation ist deutlich prekärer. Personen mit Migrationshintergrund sind überdurchschnittlich oft von Erwerbslosigkeit betroffen (siehe 9. Bericht der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration über die Lage der Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland, Juni 2012).
Die Bundesregierung ist aufgefordert, ihre Anstrengungen bei der Beseitigung migrationsspezifischer Benachteiligung am Arbeitsmarkt und im Bildungssystem zu verstärken.
Kapitel "Arbeitsmarkt fair und flexibel ausgestalten" S. 45 ff.
(Ziffern 90 - 93)
In diesem Kapitel wird ausführlich auf den Mindestlohn, das Gesetz zu Werkverträgen und Arbeitnehmerüberlassung, Gleichstellung und Entgeltstruktur eingegangen. Nicht erwähnt wird hier, dass es eine große Zahl an Langzeitarbeitslosen gibt, denen der Zugang zum Arbeitsmarkt versperrt bleibt. Im Kapitel werden die beiden Bundeskonzepte des BMAS erwähnt. Die beiden befristeten Konzepte sind für eine kleine Zahl von Personen ausgelegt. Im Rahmen des Programms „Chancen eröffnen - soziale Teilhabe sichern" sollen 10.000 Menschen befristet gefördert werden, im ESF-Programm bis zu 33.000. Ein umfassendes Arbeitsmarktkonzept, welches eine passgenaue und langfristige Förderstrategie beinhaltet, fehlt weiterhin. Langzeitarbeitslose mit schweren Vermittlungshemmnissen sind allerdings weiterhin nicht im Fokus der Arbeitsmarktintegration.
Kapitel "Wohnraum bezahlbar halten"
Erstmalig wird im NRP das Thema bezahlbarer Wohnraum aufgegriffen, die BAGFW begrüßt das. Der Bericht hebt die Bedeutung des Wohngelds zur Entlastung der Haushalte mit niedrigem Einkommen hervor. Die durch die Bundesregierung vorgenommene Wohngelderhöhung zum Januar 2016 war dringend erforderlich, da die letzte Erhöhung sechs Jahre zurücklag. Die BAGFW kritisiert jedoch, dass die Reform erneut nicht nachhaltig ist, da versäumt wurde, einen Dynamisierungsfaktor einzubauen, der eine regelmäßige Anpassung des Wohngelds gesetzlich normiert. Damit besteht die Gefahr, dass tausende Haushalte bald wieder ins SGB II fallen werden und bei den Jobcentern Grundsicherungsleistungen beantragen müssen. Die BAGFW verweist in diesem Zusammenhang auch auf ihre Forderung der Wiedereinführung einer Heizkostenpauschale
2. „III. Europa 2020-Kernziele: Erzielte Fortschritte und Maßnahmen
„A. Beschäftigung fördern“
(Ziffern 79 - 93)
Bewertung:
Deutschland (DE) hat sich in seinem NRP zu den drei sozialpolitischen EU 2020-Kernzielen mit den folgenden nationalen Zielen (abweichend von den EU-weiten Zielen) verpflichtet:
- Erwerbstätigenquote für 20- bis 64-Jährige: 77%
- Erwerbstätigenquote für Ältere zwischen 55 und 64 Jahren: 60%
- Erwerbstätigenquote für Frauen: 73%
Alle drei Ziele hat DE im 3. Quartal 2015 (über-)erfüllt.
Die Sozialwirtschaft kann aufgrund des demografischen Wandels und des zusätzlichen Bedarfs an Personal einen signifikanten Beitrag zur Stabilisierung der Erwerbstätigenquote erbringen. Für die weitere Steigerung der Erwerbstätigenquote der Frauen ist es wichtig, dass die Ganztagsangebote zur Bildung, Erziehung und Betreuung für Kinder in der Fläche ausreichend und qualitativ hochwertig ausgebaut werden.
Die BAGFW regt für das NRP 2016 an, perspektivisch berufliche Förderangebote für Frauen verstärkt in den Blick zu nehmen, um sie weiter zu entwickeln, indem auch das Angebot für Teilzeitqualifizierungen ausgebaut wird.
In den länderspezifischen Empfehlungen 2015 wird nach wie vor empfohlen, dass Deutschland „die fiskalische Behandlung von Minijobs überprüft, um den Übergang in andere Beschäftigungsformen zu erleichtern“. Die länderspezifischen Empfehlungen konstatieren bisher ebenfalls nur begrenzte Fortschritte bei der Anhebung des Bildungsniveaus benachteiligter Gruppen (COM(2015) 256 final vom 13.05.2015)
Rund 1 Mio. oder 38,6% der offiziell gemeldeten Arbeitslosen in Deutschland im September 2015 waren nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit langzeitarbeitslos und hatten damit deutlich geringere Chancen auf eine dauerhafte Integration in den Arbeitsmarkt als kurzzeitig Arbeitslose. Aufgrund der insgesamt sinkenden Arbeitslosenzahlen steigt damit der prozentuale Anteil der Langzeitarbeitslosen. In absoluten Zahlen ist nur ein geringer Rückgang der Zahl der Langzeitarbeitslosen zu verzeichnen, wobei der Anteil der Arbeitslosen, die seit 24 Monaten oder länger arbeitslos sind, signifikant steigt. Besondere Risikofaktoren sind insbesondere höheres Alter (55+), eine fehlende Berufsausbildung und eine Frau zu sein mit einem Kind unter drei Jahren. Langzeitarbeitslose mit vier und mehr sogenannten Vermittlungshemmnissen haben derzeit kaum eine Chance auf eine Arbeitsmarktintegration. Langzeitarbeitslose sind vom rückläufigen Einsatz arbeitsmarktpolitischer Instrumente besonders betroffen. Nach Angaben aus dem Eingliederungsbericht 2014 der Bundesagentur für Arbeit waren sie nur mit einem Anteil von 19% an Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik beteiligt.
Die Problematik des Ausmaßes des verfestigten Langzeitleistungsbezugs in der Grundsicherung für Arbeitsuchende bleibt im NRP weitgehend unerwähnt, obwohl die damit verbundenen Probleme im Berichtszeitraum bundespolitisch und in der Öffentlichkeit intensiv diskutiert worden sind. Im Arbeitsdokument der Europäischen Kommission zum Länderbericht Deutschland 2015 wird auf das besorgniserregende Problem der Langzeitarbeitslosigkeit in Deutschland verwiesen:
„While the unemployment rate is overall low (5.0 % in 2014), it exceeds 10 % in several federal states and long-term unemployment is an increasing concern.“ (s. SWD (2015) 25 final, S. 63) … „Long-term unemployment is an increasing concern and it is still at a high level.“ (s. SWD(2015) 25 final, S. 64)
Als erwerbsfähig gelten derzeit über 3 Mio. Langzeitleistungsbeziehende. Die Hälfte von diesen lebt mit weiteren Personen, die nicht erwerbsfähig sind (zu 95 Prozent Kinder), in Bedarfsgemeinschaften. Besonders kritisch ist auch der Umstand zu werten, dass Ende 2012 zwei Drittel der mehr als 4 Mio. erwerbsfähigen Leistungsberechtigten bereits über zwei Jahre im Leistungsbezug waren; jede(r) vierte sogar durchgängig seit 2005. Zudem gibt es nach wie vor eine strukturelle Arbeitslosigkeit.
Die BAGFW spricht sich dafür aus, die schwerpunktmäßige Ausrichtung der Arbeitsmarktförderung auf Personen und Förderleistungen mit großer Arbeitsmarktnähe aufzugeben und Langzeitleistungsbeziehenden und ihren Familien deutlich mehr Förderung anzubieten.
Um langfristige Arbeitslosigkeit und Armut zu überwinden, müssen Eingliederungsinstrumente zur Verfügung stehen, die für die Förderung der Beschäftigung arbeitsmarktferner Menschen auch wirksam genutzt werden können. Die BAGFW regt langfristige, gezielte und kleinschrittige Hilfen für Menschen mit mehrfachen Vermittlungshemmnissen an. Die BAGFW betont erneut, dass es über das ESF-Programm zur Wiedereingliederung von 33.000 Langzeitarbeitslosen in den Arbeitsmarkt weiterer nationaler Anstrengungen bedarf.
Für einen Teil derjenigen Menschen, die trotz intensiver Förderung ohne Chance auf Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt sind, sollen über öffentlich geförderte sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsangebote Möglichkeiten der sozialen Teilhabe eröffnet werden (s. dazu auch die Ausführungen zum Thema “Soziale Eingliederung vor allem durch Armutsbekämpfung fördern“). Vor dem Hintergrund der verfestigten und hohen Langzeitarbeitslosigkeit und des andauernden Hilfebezugs im SGB II sieht die BAGFW die Initiative der Bundesarbeitsministerin „Chancen eröffnen – soziale Teilhabe sichern“ positiv. Die Verbände loben ausdrücklich das Vorhaben, ein Angebot zur sozialen Teilhabe durch Erwerbsarbeit für ansonsten vom Arbeitsmarkt ausgeschlossene Personen mit öffentlich geförderter sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung zu unterbreiten. Das Programm kann dazu ein erster wichtiger Schritt sein. Da die tatsächlichen Unterstützungsbedarfe weit über die angedachte Förderung von 10.000 Personen hinausgehen, fordert die BAGFW zusätzliche Mittel bereitzustellen und das Programm mit einer Erprobung des sog. Passiv- Aktiv-Transfers (PAT) zu verknüpfen.
Im Zuge der Rechtsvereinfachung des SGB II soll mit dem § 16h SGB II ein neuer Fördertatbestand in das SGB II aufgenommen werden, der sich an die Zielgruppe der schwer zu erreichenden jungen Menschen unter 25 Jahren richtet. Diesen jungen Menschen, die von den Angeboten der Sozialleistungssysteme derzeit mindestens zeitweise nicht erreicht werden, können passgenaue Betreuungs- und Unterstützungsleistungen in Abstimmung mit dem Träger der öffentlichen Jugendhilfe angeboten werden.
Die BAGFW begrüßt, dass sich das SGB II endlich der Zielgruppe der schwer erreichbaren, vom System entkoppelten Jugendlichen und jungen Erwachsenen in enger Abstimmung mit der Kinder- und Jugendhilfe zuwendet. Der neue § 16h SGB II ist jedoch lediglich als Kann-Regelung ausgestaltet. Damit die Zielgruppe tatsächlich gezielt in ihrer schwierigen Lebenssituation unterstützt wird, ist die Regelung sowohl in Absatz 1 als auch in Absatz 2 verbindlicher als Soll-Vorschrift auszugestalten.
In den länderspezifischen Empfehlungen 2015 hat der Europäische Rat erneut empfohlen, die Umwandlung von Minijobs in voll sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsformen zu erleichtern. Die BAGFW empfiehlt, sich im NRP 2016 gezielter mit dem Thema atypische Beschäftigung insgesamt auseinanderzusetzen und dabei insbesondere Auswirkungen für die Beschäftigten in den Blick zu nehmen.
4. „D. Bildungsniveau verbessern“
(Ziffern 113 - 118)
Bewertung:
Deutschland hat sich in seinem NRP zum Erreichen des folgenden EU-weiten Kernziels verpflichtet:
- Bildungsniveau verbessern, insbesondere den Anteil der frühzeitigen Schul- und Ausbildungsabgänger auf unter 10% senken
Obwohl der Anteil der frühzeitigen Schul- und Ausbildungsabgänger 2014 mit 9,5 Prozent insgesamt unter der Zielmarke von 10 Prozent lag, gibt es signifikante regionale Unterschiede. Außerdem stellt die Europäische Kommission fest: „Bei der Verbesserung der Bildungsergebnisse benachteiligter Gruppen wurden begrenzte Fortschritte erzielt. Die Wahrscheinlichkeit eines frühen Schulabgangs verdoppelt sich bei jungen Menschen mit Migrationshintergrund.“ (COM(2015) 256 final vom 13.05.2015).
Die BAGFW verweist auf ihre kritischen Anmerkungen zum NRP 2015.
In den Erhebungen der Statistischen Ämter des Bundes und der Länder auf Basis des Mikrozensus 2013 wird festgestellt, dass der Anteil der Jugendlichen ohne Hauptschulabschluss in Ostdeutschland fast doppelt so hoch ausfällt wie in Westdeutschland. Hier besucht auch ein weitaus höherer Anteil der Schüler/innen als in Westdeutschland eine Förderschule und erwirbt dort häufig höchstens einen Förderabschluss. Betrachtet man hingegen den Anteil der frühen Schul- und Ausbildungsabgänger/innen, also das EU-2020 Kernziel im Bildungsbereich, zeigt sich das umgekehrte Bild. Dies liegt vor allem daran, dass in Westdeutschland weniger junge Menschen einen beruflichen Abschluss erwerben als in Ostdeutschland. Der Caritas-Studie “Bildungschancen vor Ort“ aus dem Jahr 2014 zufolge ist die Quote der Schulabgänger/innen ohne Hauptschulabschluss zwar deutschlandweit von rund 7% im Jahr 2009 auf rund 6% im Jahr 2012 gesunken. Es bestehen aber starke regionale Streuungen der Quoten: zwischen 4,6 % in Bayern und 11,1 % in Sachsen-Anhalt (s. dazu <link http: www.caritas.de bildungschancen>www.caritas.de/bildungschancen), s. auch „Bildung in Deutschland 2014“).
Außerdem besteht nach wie vor ein negativer Zusammenhang zwischen der sozialen Herkunft und dem Bildungserfolg: je geringer die sozialen Ressourcen eines Kindes oder Jugendlichen sind, desto höher ist das Risiko des Scheiterns im Bildungssystem.
Die BAGFW sieht hier weiterhin großen Handlungsbedarf. Kinder und Jugendliche brauchen eine gezielte Förderung in einer chancengerechten Schule, die flexibel, individuell, inklusiv und ganzheitlich Kinder begleitet und die Kooperation mit Eltern und Bezugspersonen pflegt. Kinder und Jugendliche mit multiplen Problemlagen brauchen eine niedrigschwellige Förderung, in deren Rahmen Angebote zur Förderung von Lern- und Leistungskompetenzen mit Maßnahmen zur Überwindung persönlicher und sozialer Problemlagen kombiniert werden. Hier haben sich Angebote der Schulsozialarbeit als besonders wirksam erwiesen, um insbesondere junge Menschen in sozial benachteiligten Lebenslagen frühzeitig zu erreichen.
Auch in diesem Zusammenhang betont die BAGFW die Notwendigkeit des weiteren Ausbaus einer qualitativ hochwertigen Ganztagsbetreuung für Kinder.
Die BAGFW erachtet noch stärkere Anstrengungen für notwendig, um den Zusammenhang von Bildung und sozialer Herkunft zu durchbrechen.
5. „Soziale Eingliederung vor allem durch die Verringerung von Armut fördern“
(Ziffern 119 – 125)
Bewertung:
Deutschland hat sich in seinem NRP dem folgenden nationalen Indikator zur Bemessung des Erfolgs bei der Armutsbekämpfung verpflichtet:
- Anzahl der Langzeitarbeitslosen bis 2020 um 20% gegenüber 2008 verringern
Laut dem NRP-Entwurf 2016 hat sich die Zahl der Langzeitarbeitslosen zwischen 2008 und 2014 um 43,5 % verringert, d.h. Deutschland hat sein Europa-2020
Armutsziel erreicht.
Der absolute Rückgang der Langzeiterwerbslosigkeit ist zwar positiv zu sehen, jedoch nicht deckungsgleich mit der Reduzierung von Armutsrisiken in Deutschland.
Sorge bereitet die Entwicklung des Armutsrisikos. Gesamtwirtschaftlicher Erfolg und die Zunahme privaten Reichtums führen nicht mehr dazu, dass das Armutsrisiko in Deutschland geringer wird, sondern das Armutsrisiko und Ungleichheit nehmen zu.
Der Ausschuss für Sozialschutz hat den Nationalstaaten zur Erstellung ihrer Strategischen Sozialberichterstattung empfohlen, Daten zur sozialen Situation heranzuziehen, die aktueller als die der EU-SILC sind. Nach der Auswertung des Mikrozensus ergibt sich dieses Bild: Die Armutsrisikoquote ist seit dem Jahr 2006 – mit Unterbrechungen in den Jahren 2010 und 2012 – auf einen Wert von 15,5 Prozent im Jahr 2013 angestiegen. Rund 12,5 Millionen Menschen waren damit in diesem Jahr in Deutschland vom Risiko der Einkommensarmut betroffen. Dabei haben sich die Arbeitslosenzahlen und Armutsrisikoquoten in ihrer Entwicklung nicht nur abgekoppelt, sondern sich entgegengesetzt entwickelt. Während die Armutsrisikoquote seit 2006 relativ kontinuierlich um 10,7 Prozent angestiegen ist – von 14 Prozent auf 15,5 Prozent – ist die Arbeitslosenquote mit Ausnahme des Krisenjahres 2009 ebenso kontinuierlich um 36,1 Prozent (von 10,8 Prozent auf 6,9 Prozent) gesunken.
Die Bundesregierung erklärt, dass die Altersarmut trotz eines leichten Anstiegs in den letzten Jahren nach wie vor klein sei und kein verbreitetes Problem darstellt. Die BAGFW weist dagegen darauf hin, dass die 65-jährigen und Älteren in 2014 mit einer Quote von 14,4 Prozent zwar unterdurchschnittlich vom Armutsrisiko betroffen waren, die Gruppe der Rentner/innen und Pensionär/innen mit einer Armutsrisikoquote von 15,6 Prozent allerdings bereits ein überdurchschnittliches Armutsrisiko hatte. Zudem gibt es starke Zuwächse seit 2006. Seitdem nahm das Armutsrisiko unter den 65-jährigen und Älteren um 37,6 Prozent und das der Rentner und Pensionäre um sogar 51,5 Prozent zu. Dabei ist die Armutsrisikoquote von Frauen im Seniorenalter um einige Prozentpunkte höher als die von Männern. Sie sind besonders von Armut bedroht. Es gibt derzeit keinerlei Anzeichen dafür, dass dieser Trend gestoppt wird. Die BAGFW merkt kritisch an, dass im vorliegenden Bericht keine Pläne der Bundesregierung zur Bekämpfung von Altersarmut dargestellt werden.
Angesichts dieser Lagebeschreibung fordert die BAGFW die deutsche Bundesregierung dazu auf, im Bereich der Armutsbekämpfung ihre Aktivitäten neu auszurichten, um eine umfassende Bekämpfung der zunehmenden Armutsgefährdung von Personen zu gewährleisten.
Die BAGFW regt erneut an, dass neben dem national gewählten Armutsindikator: niedrige Erwerbsbeteiligung (gemessen am Prozentsatz von Menschen, die in einem Haushalt mit sehr geringer Erwerbsbeteiligung leben) die beiden anderen Indikatoren: die relative Einkommensarmut (gemessen wie bisher an der sog. Armutsgefährdungsrate) und die materielle Armut (gemessen am Index der materiellen Deprivation) bei der Ausrichtung einer umfassenden Armutsbekämpfungsstrategie berücksichtigt werden.
Die Armutsbekämpfung sollte sich nicht primär an kurzfristigen arbeitsmarktpolitischen Zielen orientieren. Der langfristige Bezug von SGB-II-Leistungen erklärt sich nicht allein aus Arbeitslosigkeit, sondern auch aus Sachverhalten wie Teilzeitarbeit, prekäre Soloselbständigkeit und niedrigen Löhnen trotz der Einführung des Mindestlohnes (rund 1,2 Millionen Aufstockende im SGB II). Das Arbeitseinkommen und/oder dem SGB II vorgelagerte familienpolitische und andere Leistungen reichen oft nicht aus, um den Leistungsbezug zu verhindern (600.000 Alleinerziehende und über 1,5 Millionen Kinder beziehen SGB-II-Leistungen).
Nach Berechnungen der Bundesagentur für Arbeit im Methodenbericht aus dem Juni 2013 bezogen 18,5 % der erwerbsfähigen Bevölkerung in den Jahren 2008 bis 2011 dauerhaft oder zeitweilig Leistungen nach dem SGB II. Trotzdem galten nur 1/3 der Leistungsbeziehenden im SGB II als arbeitslos. Teilnehmende an Maßnahmen, Zuverdienende, ältere Erwerbslose und weitere Personengruppen werden in der Arbeitslosenstatistik nicht mitgezählt. Maßnahmen zur nachhaltigen Verbesserung der sozialen Situation von Langzeit-Leistungsbeziehenden müssen mit einer Stärkung der dem Grundsicherungsbezug vorgelagerten Systeme einhergehen. Die BAGFW schlägt vor, weitere sozialpolitische Schwerpunkte zu setzen.
Die Wohlfahrtsverbände begrüßen die Einrichtung des Europäischen Hilfsfonds für die am stärksten benachteiligten Personen (EHAP) und die partnerschaftliche Zusammenarbeit mit der Freien Wohlfahrtspflege bei seiner Ausgestaltung. Der Hilfsfonds ist auf die Zielgruppen EU-Zuwanderer, deren Kinder im Vorschulalter sowie auf Wohnungslose fokussiert. Die BAGFW setzt sich für den Ausbau dieses Hilfsfonds und weiterer Maßnahmen zur Bekämpfung der Armut der am stärksten benachteiligten Personen mit dem Ziel der sozialen Inklusion ein.
Die BAGFW spricht sich dafür aus, dass die Armutspolitik im NRP weiter behandelt wird und Ansätze einer umfassenden Strategie der Armutsverringerung für betroffene Zielgruppen entwickelt werden. Sie verweist ihrerseits auf die Stellungnahme der BAGFW zum Entwurf des NSB 2016.
6. „Wettbewerb im Dienstleistungssektor weiter beleben“
(Ziffern 73 – 75)
Die Bundesregierung bekennt sich zu dem Anliegen, den Binnenmarkt für Dienstleistungen zu stärken und sie betont darüber hinaus die Notwendigkeit, gerechtfertigte und verhältnismäßige Regulierungen zu ergreifen, die z.B. die Qualität einer Dienstleistung, die Bereitstellung von Ausbildungsplätzen oder soziale und gesundheitspolitische Zwecke sichern.
Die BAGFW verweist auf ihre kritischen Anmerkungen zur „Vereinheitlichung der Ausbildung für Krankenpfleger/-schwestern, Gesundheits- und Kinderkrankenpflegerinnen und -pfleger sowie für Altenpflegerinnen und -pfleger“.
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Das BAFzA und das BMFSFJ haben in der Monitoringsitzung am 19.01.2016 folgenden Ansatz vorgestellt und den Verbänden die Möglichkeit eingeräumt, diesbezüglich Stellung zu nehmen:
Demnach soll rückwirkend zum 01.01.2016 eine Gewichtung der Kostenerstattung zur pädagogischen Begleitung bei Freiwilligen unter 27 in einem Verhältnis 60% (für die Seminararbeit) und 40% (für die individuelle Begleitung) gelten. Bei Freiwilligen über 27 soll wegen der Besonderheiten in der Dienstgestaltung ein Verhältnis von 40:60 angewandt werden. Werden Seminartage unentschuldigt nicht belegt, wird dieses Verhältnis unter anteiliger Zugrundelegung der fehlenden Seminartage zur Berechnung der Rückzahlungspflicht der Träger/SOE/Einsatzstelle genutzt. Ziel der Regelung soll sein, die gesetzliche Vorgabe der verpflichtenden Teilnahme an den Seminaren bzw. Bildungstagen durchzusetzen bzw. entsprechende Nichtteilnahmen zu sanktionieren.
II. Grundsätzliche Einschätzung des Fachausschusses der BAGFW: der verpflichtende Besuch der Seminar- und Bildungstage ist neben der fachlichen Anleitung der Einsatzstelle und der individuellen Begleitung unverzichtbarer Bestandteil des BFD
Für die Verbände der BAGFW gilt der Grundsatz: Der Bundesfreiwilligendienst ist ein Bildungsdienst. Der Bildungsanteil, also der verpflichtende Besuch der Seminare, die fachliche Anleitung in der Einsatzstelle und die individuelle Begleitung (die drei Bestandteile der pädagogischen Begleitung auch laut „Rahmenrichtlinie für die pädagogische Begleitung im Bundesfreiwilligendienst (BFD) unter besonderer Berücksichtigung der Seminararbeit und des dabei eingesetzten pädagogischen Personals“ Punkt 3), ist Grundbestandteil des Bundesfreiwilligendienstes und somit Grundlage zum Abschluss der Dienstvereinbarung. Die entschuldigte Nichtteilnahme an den Seminaren auf Grund von Krankheit oder höherer Gewalt ist akzeptiert. Die unentschuldigte Nichtteilnahme muss entsprechend sanktioniert werden bzw. führt zur Kündigung des Vertragsverhältnisses.
III. Ablehnung des Ansatzes der Gewichtung der Kostenerstattung der pädagogischen Begleitung
Die Verbände der BAGFW halten den Ansatz der Gewichtung zur Zielerreichung, nämlich der Durchsetzung der Teilnahme an den verpflichtenden Seminar- und Bildungstagen für gänzlich ungeeignet. Darüber hinaus wird grundsätzlich die Notwendigkeit einer Gewichtung zwischen den Kostenanteilen der Seminar- und Bildungstage und der individuellen Begleitung angezweifelt. Ungeachtet der Frage einer Gewichtung der Kostenerstattung für die pädagogische Begleitung halten wir die einseitige Risikoverlagerung auf die Ebene der Träger/SOE/Einsatzstellen für ungerechtfertigt und kontraproduktiv. Der Ansatz der Gewichtung der Kostenerstattung der pädagogischen Begleitung und die intendierte einseitige Risikoverlagerung werden daher von den Verbänden der BAGFW abgelehnt.
1. Gewichtung als ungeeigneter Ansatz zur Durchsetzung der gesetzlichen Teilnahmepflicht an den Seminar- und Bildungstagen
Die Gewichtung bildet die Grundlage zur Rückzahlungspflicht der Träger/SOE/Ein-satzstellen als Empfänger der Kostenerstattung für die pädagogische Begleitung für den Fall, dass Freiwillige unentschuldigt an Seminar- bzw. Bildungstagen nicht teilnehmen. Sanktioniert werden über diesen Ansatz lediglich die Kostenerstattungsempfänger, nicht die Freiwilligen. Die Sanktion selbst führt im Zweifel nicht zur Teilnahme an den Seminaren, aber zur Weiterführung des Dienstes ohne Wahrnehmung der Bildungsangebote. Im schlechtesten Falle, wenn sowohl Freiwillige als auch deren Einsatzstellen kein Interesse an der Wahrnehmung der Bildungsangebote haben, kann der Dienst ohne die Seminartage durchgeführt werden und über die (im Zweifel einkalkulierte) Rückzahlung ein „Freikaufen“ von der Teilnahmepflicht erfolgen. Der Ansatz der Gewichtung ist daher zur Durchsetzung der Teilnahmepflicht ungeeignet.
2. Ungerechtfertigte und einseitige Risikoverlagerung
In dem Falle, dass die Kostenerstattungsempfänger ihren Mitwirkungspflichten (gemäß BFDG, Richtlinien und ÜA-Vertrag) zur Umsetzung der verpflichtenden Teilnahme an den Seminar- und Bildungstagen vollumfänglich nachgekommen sind (Vermittlung des Bildungsansatzes des BFD von Anfang an, Vorbereitung und Buchung der Seminare, Einladungen, nachdrückliches Hinwirken auf die Teilnahme bei Zweifeln an der Motivation durch erneutes Einladen, Gespräche mit den Freiwilligen und ggf. den Einsatzstellen etc.), kann die Verantwortung für die mögliche unentschuldigte Nichtteilnahme der Freiwilligen nicht auf die Träger/SOE/Einsatzstelle abgewälzt werden. Die Kosten sind den Umsetzungsebenen bei Erfüllung der Mitwirkungspflichten auch bei Nichtteilnahme der Freiwilligen entstanden und können entsprechend dokumentiert und nachgewiesen werden. Entsprechende Nachweisverfahren können analog des FSJ vorgehalten werden (Teilnehmerlisten und entsprechende Begründungen zur Nichtteilnahme). Liegt das Verschulden der Nichtteilnahme auf Seiten der Freiwilligen, muss der Bund als Vertragspartner im BFD dieses Risiko in Kauf nehmen und kann sich nicht über Dritte, die ihren Mitwirkungspflichten nachgekommen sind, freihalten.
Darüber hinaus gibt es weitere Konstellationen, die die Nichtteilnahme an Seminaren hervorrufen: beispielsweise kommen Seminarfehltage oft durch vorzeitige Kündigungen/Auflösungen zu Stande. Die Seminartage sind in diesen Fällen in der Regel fest eingeplant gewesen, lagen aber zeitlich zufällig oft hinter dem Kündigungstermin. Hier hat der Träger/SOE/Einsatzstelle keine Möglichkeit, auf den Freiwilligen einzuwirken, die vorgeschriebenen Seminartage wahrzunehmen. Auch in diesen Fällen würde das Risiko einseitig auf die Träger/SOE/Einsatzstelle abgewälzt.
IV. Einführung eines verbindlichen und wirksamen Sanktionssystems
Wie eingangs dargestellt, haben die Verbände der BAGFW ein hohes und originäres Interesse daran, dass der BFD als Bildungsdienst wahrgenommen und auch entsprechend umgesetzt wird.
Werden die Bildungsangebote von Freiwilligen unentschuldigt nicht wahrgenommen, sollte ein Sanktionssystem eingeführt werden, was im äußersten Fall zur Kündigung der Vereinbarung mit den Freiwilligen führen kann.
Dabei ist allerdings zu beachten, dass die Hinwirkung auf die Teilnahme der Freiwilligen an den Bildungsangeboten selbst Teil eines pädagogischen Ansatzes sein kann. Häufig liegen die Gründe der Nichtteilnahme in Faktoren begründet, die die Freiwilligen möglicherweise nicht allein beeinflussen können. So nehmen beispielsweise soziale Phobien, Immobilität, fehlende oder schlechte „Lernerfahrungen“ mit entsprechender Angst vor „Bildungs- und Lernkontexten“, Situationen der ungeklärten Betreuung von Kindern oder zu pflegenden Angehörigen während der Seminarzeit etc. unter den Freiwilligen zu und können über pädagogisches oder sonstiges Einwirken eventuell aufgehoben werden. Diese Chancen sollten wahrgenommen und nicht über pauschale Sanktionssysteme für die Umsetzungsebenen torpediert werden.
Bewirken auch solche Unterstützungsmaßnahmen, die entsprechend dokumentiert und nachgewiesen werden können, nicht die Teilnahme an den Seminaren, muss auf eine zügige Kündigung des Vertrages durch das Bundesamt hingewirkt werden. Damit wird den Freiwilligen plausibel, dass ein Freiwilligendienst in Hinblick auf die individuelle Situation möglicherweise nicht passend ist. Für Einsatzstellen, die die Umsetzung des Bildungsangebotes behindern, ist dies die deutlichste Form der Sanktionierung. Ein „Freikaufen“ ist damit nicht möglich.
Dem Bildungsansatz im BFD wäre mit diesem Sanktionssystem nachhaltig Nachdruck verliehen.
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Um die Wiederherstellung der paritätischen Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung einordnen und bewerten zu können, ist aus Sicht der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege ein Blick auf die Gesetzesänderungen und Reformen der vergangenen Jahre notwendig.
Die paritätische Finanzierung der Krankenversicherungsbeiträge mit der jeweils hälftigen Finanzierung der Beiträge durch Arbeitnehmer und Arbeitgeber wurde 1951 eingeführt und hatte bis zur Einführung eines von den Versicherten zu tragenden Sonderbeitrags in Höhe von 0,9% im Jahr 2005 Bestand. Mit dem GKV-Wettbe-werbsstärkungsgesetz (GKV-WSG) ist im Jahr 2009 ein allgemeiner Beitragssatz für alle Krankenkassen sowie der Gesundheitsfonds eingeführt worden. Zudem erhielten die Kassen die Möglichkeit pauschale und einkommensabhängige Zusatzbeiträge zu erheben, insofern die Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds die Finanzierung nicht sicherstellten. Mit dem GKV-FQWG im Jahr 2014 wurde die Beitragsgestaltung nochmals modifiziert, indem Zusatzbeiträge seit dem Jahr 2015 einkommensabhängig erhoben werden bei einer gleichzeitigen Senkung des allgemeinen Beitragssatzes von 15,5 auf 14,6 Prozent sowie einer Festschreibung des Arbeitgeberbeitragssatzes auf 7,3 Prozent.
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* Die vorliegende Stellungnahme und die daraus abgeleiteten mündlich vorgebrachten Standpunkte sind nicht zwingend Konsens unter allen in der BAGFW organisierten Verbänden. Das Deutsche Rote Kreuz behält sich vor, abweichende Einschätzungen zu vertreten.
Für das Jahr 2016 wird auf Basis der für das Jahr 2016 erwarteten Differenz von Einnahmen und Ausgaben der GKV (14 Mrd. Euro) ein erhöhter durchschnittlicher Zusatzbeitrag der gesetzlichen Krankenversicherung in Höhe von 1,1 Prozent prognostiziert. Hintergrund sind die im Vergleich zu den Einnahmen stärker wachsenden Ausgaben der Krankenkassen. Somit erhöht sich der alleine von den Versicherten zu tragende durchschnittliche Zusatzbeitrag im Vergleich zum Jahr 2015 um 0,2 Prozentpunkte. Nach Angaben der Bundesregierung vom Januar 2016 sind auf Basis der Mitgliederzahlen von Dezember 2015 rund 44 Millionen Mitglieder in 77 Krankenkassen von einem Anstieg des Zusatzbeitrages zum 01.01.2016 betroffen. Der durchschnittlich zu zahlende Zusatzbeitrag auf Basis der vom GKV-Schätzerkreis im Herbst 2015 für das Jahr 2016 prognostizierten beitragspflichtigen Einnahmen je Mitglied in der gesetzlichen Krankenkasse (GKV) beträgt zum 01.01.2016 im Durchschnitt 21 Euro im Monat. Auch für die kommenden Jahre ist angesichts zu finan-zierender Strukturreformen, einer älter werdenden Gesellschaft sowie des medizinischen Fortschritts mit einem weiteren Abbau der Reserven und steigenden Zusatzbeiträgen zu rechnen. Der GKV-Spitzenverband geht unter Fortschreibung des strukturellen Defizits und Berücksichtigung zu finanzierender Reformen davon aus, dass die durchschnittlichen Zusatzbeiträge schon bis ins Jahr 2019 auf 1,8 Prozent ansteigen könnten.[1] Dies entspräche einer Verdoppelung des durchschnittlichen Zusatzbeitrages im Vergleich zum Jahr 2015. Unterbleiben wirksame Reformmaßnahmen, die auf eine Senkung der Beitragsbelastung ausgerichtet sind, so wird die Finanzierungslast für die Versicherten weiter steigen.
In Anbetracht dieser Entwicklungen wird in den Anträgen der GRÜNEN und der LINKEN die Rückkehr zur paritätischen Finanzierung gefordert.
Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege setzt sich für die Wiederherstellung der paritätischen Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung ein, die zu gleichen Teilen von den Arbeitgebern und Arbeitnehmern getragen wird.
Steigende Ausgaben, die durch den demographischen Wandel, den medizinischen Fortschritt oder Leistungsverbesserungen bedingt sind, dürfen die versicherten Arbeitnehmer nicht einseitig und unbegrenzt belasten.
Diese Mehrbelastung, die laut Prognosen in den nächsten Jahren weiter ansteigen wird, führt zu einer Aushöhlung des solidarischen Krankenversicherungsschutzes, der ein konstitutives Element des deutschen Sozialstaates darstellt. Zudem profitieren auch die Arbeitgeber von der gesundheitlichen Versorgung und Gesunderhaltung der Arbeitnehmer.
Mit den Zusatzbeiträgen in ihrer derzeitigen Ausgestaltung konnte der Preis-Leistungs-Wettbewerb im Rahmen der GKV zwar gestärkt werden. Untersuchungen zur Beitragssatzwahrnehmung und Wechselbereitschaft der Mitglieder in der GKV zeigen, dass die Dominanz des Preiswettbewerbs durch den Übergang von den einkommensunabhängigen zu einkommensabhängigen Zusatzbeiträgen reduziert werden konnte. Leistungs- und Versorgungsangebote werden mittlerweile häufiger als Grund für den Kassenwechsel benannt.[2] Ein intensiverer Kassenwettbewerb darf jedoch nicht dazu führen, dass die Kassenbeiträge sich weiter auseinander entwickeln, vor allem, da die Spreizung der Beiträge insbesondere durch die Reduktion von Service- und Satzungsleistungen oder der Genehmigungspraxis von Gesundheitsleistungen bedingt ist. Wenn günstigere Beiträge mit geringeren Leistungen einhergehen, werden gerade Personen mit geringeren Finanzmitteln gezwungen sein, den Wettbewerbsdruck mit einer schlechteren Versorgung zu „bezahlen“. Gerade diese Personen sind jedoch häufig auch gesundheitlich benachteiligt.
Daher muss sichergestellt sein, dass ein Wettbewerb der Krankenkassen untereinander und zwischen den Leistungserbringern innerhalb einer an den Bedarfen der Patientinnen und Patienten ausgerichteten und politisch verantworteten Sicherstellung zu erfolgen hat. Zielsetzung muss dabei die Verbesserung der Qualität und die Wirtschaftlichkeit der Versorgung sein.
Aus den genannten Gründen spricht sich die BAGFW dafür aus, dass die gesetzlich verankerten GKV-Leistungen paritätisch finanziert werden.
Die paritätische Finanzierung des Gesundheitswesens muss bezogen auf die lohnbezogenen Anteile der Versicherungsbeiträge wieder hergestellt werden. Dazu muss das Einfrieren des Arbeitgeberbeitrags – aktuell liegt dieser bei 7,3 Prozent – aufgehoben werden. Wir sehen dies als einen ersten Schritt in die richtige Richtung an. Die Wiederherstellung der paritätischen Finanzierung zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern muss bei gleichzeitiger Beibehaltung der qualitativ hochwertigen gesundheitlichen Versorgung erfolgen, die ein wesentliches Kennzeichen des deutschen Gesundheitswesens ist. Die Höhe des allgemeinen Beitragssatzes ist zudem so zu bemessen, dass eine qualitätsgesicherte bedarfsgerechte Versorgung weiterhin gewährleistet ist.
Vor dem Hintergrund des demographischen Wandels und des medizinisch–tech-nischen Fortschritts bedarf es zur Sicherung der Tragfähigkeit der GKV jedoch umfassender Reformen:
- Angesichts eines kontinuierlich sinkenden Anteils der Löhne und Gehälter am Volkseinkommen, sollten im Hinblick auf die Verteilungsgerechtigkeit auch weitere Einkommensarten (orientiert am steuerlichen Einkommensbegriff) in die Beitragsbemessung einfließen. Derzeit werden die Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung ausschließlich an der Höhe der Löhne und Gehälter der Versicherten bemessen und gezahlt. Aufgrund der gewachsenen Bedeutung anderer Einkommensarten, vor allem von Kapitalerträgen wie beispielsweise Zinsen und Aktiengewinnen, wird die tatsächliche Leistungsfähigkeit der Versicherten in der Höhe der Beiträge nicht mehr angemessen abgebildet. Aus Sicht der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege soll geprüft werden, wie künftig alle Einkommensarten bei der Beitragsberechnung berücksichtigt werden können.
- Auch die Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze kann dazu beitragen, die Finanzierung der Gesundheitskosten nachhaltiger abzusichern und stärker am Gebot der Verteilungsgerechtigkeit auszurichten.
Zum 01.01.2016 liegt die Beitragsbemessungsgrenze für die gesetzliche Kranken- und Pflegeversicherung bei 4.237,50 Euro monatlich bzw. bei 50.850,- Euro pro Jahr. Die Einkommen oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze werden somit nicht zur Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung herangezogen.
Mit einer Ausweitung der Beitragsbemessungsgrundlage würde die Finanzierung des Gesundheitswesens auf ein breiteres und somit stabileres Fundament gestellt. Zu einem solidarischen Gesundheitswesen gehört auch, dass besonders einkommensstarke Personengruppen nach ihrer Leistungsfähigkeit zur Finanzierung der gesetzlichen Krankenkasse beitragen, ohne dass sie dabei übermäßig belastet werden.
Aus diesem Grund ist aus unserer Sicht die Beitragsbemessungsgrenze mindestens auf das Niveau der Beitragsbemessungsgrenze in der gesetzlichen Rentenversicherung anzuheben. Dies bedeutet für die westlichen Bundesländer aktuell eine Anhebung auf 6.200 Euro monatlich bzw. 74.400 Euro pro Jahr und für die östlichen Bundesländer eine Anhebung auf 5.400 Euro monatlich bzw. 64.800 Euro pro Jahr.
Letztlich bedarf es zur Stärkung der Solidarität, Verteilungsgerechtigkeit und Tragfähigkeit der Krankenversicherung eines einheitlichen Versicherungssystems mit einer risikounabhängigen Prämienbemessung und einheitlichen Rahmenbedingungen für alle Anbieter.
Forderungen
Die BAGFW tritt dafür ein, dass die gesetzlich vorgeschriebenen Leistungen in der GKV über die paritätische Finanzierung des allgemeinen Beitragssatzes abgedeckt sein sollen. Für die Anpassung des paritätisch finanzierten allgemeinen Beitragssatzes sind entsprechende Verfahren zu entwickeln.
Für die nachhaltige Sicherung der gesetzlichen Krankenversicherung und die Stärkung der solidarischen Finanzierung ist aus Sicht der BAGFW der Wechsel zu einer paritätischen Beitragsfinanzierung nicht hinreichend. Hierzu sind weitergehende Maßnahmen notwendig wie die Einbindung weiterer Einkommensarten in die Finanzierung, die Anhebung der Einkommensgrenzen und die adäquate Finanzierung allgemeiner Aufgaben über Steuern.
Die paritätische Finanzierung des allgemeinen Beitragssatzes ist aus Sicht der BAGFW ein Schritt in die richtige Richtung. Die Solidarität, Verteilungsgerechtigkeit und Tragfähigkeit der Krankenversicherung muss jedoch letztlich durch Reform-maßnahmen in Richtung eines einheitlichen Versicherungssystems gestärkt und gesichert werden.
[1] www.welt.de/politik/deutschland/article151202854/Krankenkassen-rechnen-mit-Verdopplung-der-Zusatzbeitraege.html
[2] Zok, Klaus (2016): Beitragssatzwahrnehmung und Wechselbereitschaft in der GKV; in: WidO-monitor (2016): 13(1):1-12
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Das Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz hat einen Gesetzentwurf zur Änderung des Strafgesetzbuches und zur Verbesserung des Schutzes der sexuellen Selbstbestimmung vorgelegt. Darin ist eine Reform der §§ 177 ff. StGB vorgesehen, die die sexuelle Nötigung, Vergewaltigung und sexuellen Missbrauch sogenannter „widerstandsunfähiger Personen“ unter Strafe stellen. Der Gesetzentwurf soll Schutzlücken schließen, die bspw. dadurch entstehen, dass nach derzeitiger Rechtslage der Tatbestand von § 177 StGB nicht alle nicht einvernehmlichen sexuellen Handlungen unter Strafe stellt. Daher unterliegen aktuell bestimmte Fallkonstellationen, in denen sich Opfer ausdrücklich gegen sexuelle Handlungen ausgesprochen haben oder dies konkludent zu verstehen gegeben haben, es aber trotzdem zu sexuellen Handlungen kam, nicht dem Tatbestand von § 177 StGB. Als Beispiele können hier die sogenannten „Überrumpelungsfälle“, Fälle in denen Opfer „starr vor Angst“ sind und sich deshalb nicht wehren
oder Fälle, in denen Opfer nicht in der Lage sind, ihren entgegenstehenden Willen zu äußern, genannt werden. Kommen Auffangtatbestände in Betracht, ist die Strafandrohung meist wesentlich geringer. Die Strafnormen §§ 177 ff. StGB, in denen ein finaler Zusammenhang zwischen der Gewaltanwendung und der sexuellen Nötigung tatbestandlich erfüllt sein muss, wurden durch den Bundesgerichtshof stets sehr restriktiv ausgelegt.
Art. 3 und 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention verpflichten die europäischen Vertragsstaaten, für eine effektive Strafverfolgung von Sexualstraftaten zu sorgen. Das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt vom 5. November 2011 (Istanbul-Konvention) regelt dazu in Art. 36, dass die Vertragsstaaten gehalten sind, vorsätzliche nicht einverständliche sexuelle Handlungen mit einer anderen Person unter Strafe zu stellen. Art. 36 Ziff. 2 führt hierzu aus: „Das Einverständnis muss freiwillig als Ergebnis des freien Willens der Person, der im Zusammenhang der jeweiligen Begleitumstände beurteilt wird, erteilt werden.“ Dieser vertraglichen Verpflichtung muss die Bundesrepublik Deutschland nachkommen und die nationalen Gesetze daraufhin überprüfen, ob sie mit der Istanbul-Konvention übereinstimmen.
Die BAGFW stimmt mit der Annahme des BMJV überein, dass die gegenwärtige Rechtslage im Bereich des Schutzes der sexuellen Selbstbestimmung unzureichend ist. Der Versuch, mit dem vorgelegten Entwurf die nicht einvernehmlichen sexuellen Handlungen, bei denen sich Strafbarkeitslücken gezeigt haben, künftig strafrechtlich zu erfassen, wird ausdrücklich begrüßt. Die Istanbul-Konvention verlangt jedoch, dass alle Formen vorsätzlicher, nicht einverständlicher sexueller Handlungen unter Strafe gestellt werden. Es soll nicht darauf ankommen, ob das Opfer dem Täter gegenüber tatsächlich Widerstand leistet. Dieser Forderung wird mit dem Gesetzentwurf nicht umfassend entsprochen. Nach wie vor sieht der Entwurf vor, dass im Strafverfahren bewiesen werden muss, dass das Opfer zum Widerstand unfähig bzw. im Falle einer Widerstandshandlung bei der Tat ein empfindliches Übel zu befürchten habe. Damit greift der Entwurfstext deutlich zu kurz und geht nach wie vor davon aus, dass das „normale“ Opfer sich bei sexuellen Übergriffen wehren muss. Ein „Nein“ reicht nicht aus.
Eine notwendige und umfassende Reform des Sexualstrafrechts sollte dazu genutzt werden, eine konsistente und umfassende Regelung zu schaffen, die alle sexuellen Handlungen, die gegen den Willen einer Person vorgenommen werden, unter Strafe stellt. Eine solche Reform trüge zu Recht den Titel „Stärkung des Schutzes zur sexuellen Selbstbestimmung“. Die BAGFW fordert deshalb, dass die vom BMJV bereits eingesetzte Reformkommission diese Perspektive aufgreift und Vorschläge macht, dieses Anliegen der Istanbul-Konvention stimmig und widerspruchsfrei in das deutsche Strafrecht einzufügen.
Die BAGFW nimmt zu dem Gesetzentwurf wie folgt Stellung:
II. Art. 1: Änderung des Strafgesetzbuches
1. § 177 – Sexuelle Nötigung, Vergewaltigung
Sexuelle Übergriffe werden im deutschen Strafrecht nur dann als Sexualdelikt strafrechtlich verfolgt, wenn sie die nach § 184g StGB erforderliche „Erheblichkeit“ aufweisen. Unklar bleibt nach wie vor, wann das genau erreicht ist. Ist die Erheblichkeitsschwelle aus Sicht des Gerichts nicht überschritten und liegt daher keine Sexualstraftat vor, kommt nur eine Strafbarkeit als Nötigung nach § 240 StGB in Betracht.
Selbst wenn die Erheblichkeitsschwelle überschritten ist, muss die erhebliche sexuelle Handlung durch eine andere gewaltsame Handlung oder durch eine erhebliche Drohung des Täters ermöglicht worden sein.
Weiterhin setzen also § 177 Abs. 1 Nr. 1 und 2 StGB ein zweiaktiges Geschehen voraus, das sich aus zwei unterschiedlichen Handlungen des Täters zusammensetzt: der Einwirkung des Täters auf die Willensbildung des Opfers und der sexuellen Handlung, die nicht von einem Einverständnis getragen ist. Diese Zweistufigkeit entspricht nicht mehr dem heutigen Verständnis vom Recht auf sexuelle Selbstbestimmung im Sinne eines Abwehrrechts gegenüber ungewollten Sexualkontakten. Vorausgegangene Gewalt oder Drohungen sollten vielmehr als Begleitumstände gewertet werden, die, wenn sie vorliegen, das Unrecht der Tat erhöhen, ohne unrechtskonstitutiv zu sein. Denn eine erhebliche Verletzung des Rechts auf sexuelle Selbstbestimmung liegt u.E. bereits dann vor, wenn sexuelle Handlungen am Körper vorgenommen werden, die nicht von einer wirksamen Zustimmung aller Beteiligten umfasst sind.[1]
Darüber hinaus ist für eine Strafverfolgung nach § 177 Abs. 1 Nr. 1 und 2 StGB n.F. weiterhin Voraussetzung, dass das Rechtsgut aktiv verteidigt wird. In vielen Fällen wird aber bereits der sexuelle Übergriff als ein massiver Angriff auf die Integrität des Opfers erlebt, ohne dass weitere Gewalt ausgeübt oder eine Drohung ausgesprochen werden muss. Wir verweisen insoweit auch auf den UN-Fachausschuss zur Frauenrechtskonvention (CEDAW-Ausschuss), der mehrfach darauf hingewiesen hat, dass das Erfordernis von „Gewalt“ eine unangemessene Anforderung und ein Vergewaltigungsmythos ist, der die Täter begünstige.[2]
Der Unterschied, der sich durch das Abstellen auf eine aktive Abwehr seitens des Opfers ergibt, kommt besonders deutlich und durchaus auch belastend für Menschen mit Beeinträchtigungen zum Tragen. Sie werden aufgrund ihrer Beeinträchtigung oft als „widerstandsunfähig“ eingestuft. Da es nicht auf den subjektiven Willen der Betroffenen, sondern ausschließlich auf eine aktive Abwehr ankommt, zu der Opfer aufgrund ihrer Beeinträchtigung nicht immer imstande sind, erfüllen Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung von Menschen mit Beeinträchtigungen nicht § 177 StGB, sondern können nur mit dem geringeren Strafrahmen des § 179 StGB geahndet werden. Diese unterschiedliche Bewertung des zugefügten Leides wird von Betroffenen als Diskriminierung wahrgenommen.
2. § 179 - Sexueller Missbrauch unter Ausnutzung besonderer Umstände
Die Neuregelung des § 179 StGB-E versucht einige der bekannten Schutzlücken zu schließen.
a. § 179 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3 StGB
Kritisch bewertet die BAGFW die konkrete Ausgestaltung von § 179 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3 StGB. In § 179 Abs. 1 Nr. 1 StGB-E soll derjenige bestraft werden, der unter Ausnutzung einer Lage, in der eine andere Person aufgrund ihres körperlichen oder psychischen Zustands zum Widerstand unfähig ist, sexuelle Handlungen an dieser Person vornimmt
oder an sich von dieser Person vornehmen lässt. Dadurch sollen auf objektiver Ebene künftig neben Menschen, die aufgrund einer Behinderung oder Krankheit zum Widerstand unfähig sind, auch Menschen, die aufgrund ihres altersbedingten Zustandes keinen Widerstand leisten können, wie Kleinstkinder oder alte Menschen, von der Vorschrift mitumfasst werden. Gerade der körperliche oder psychische Zustand muss dazu führen, dass eine andere Entscheidung, eine körperliche Abwehr oder eine Flucht nicht wahrgenommen werden. Der Zustand muss kausal für die Widerstandsunfähigkeit sein. Dies muss der Täter auch subjektiv erkennen und sich zu Nutze machen. Es ist zu befürchten, dass der erforderliche Zusammenhang zwischen der sexuellen Handlung und der Lage, in der das Opfer „widerstandsunfähig“ ist, in der Praxis zu Unklarheit und unterschiedlichen Entscheidungen führen wird.
Zudem sollte der in der Gesetzesbegründung angeführte Begriff der Geisteskrankheit gestrichen werden, da er eine Behinderung völlig unzeitgemäß an einem medizinischen Defizitdenken orientiert.[3] Menschen mit Behinderung werden in unserer Gesellschaft schnell als „widerstandsunfähig“ abgestempelt und diskriminiert. Nach Art. 12 der UN-Behindertenkonvention haben Menschen mit Behinderungen jedoch das Recht, überall als Rechtssubjekt anerkannt zu werden. Sie genießen gleichberechtigt mit anderen in allen Lebensbereichen Rechts- und Handlungsfähigkeit. Insoweit muss ein grundsätzlicher Perspektivwechsel stattfinden und auch Ausdruck in der Gesetzesbegründung finden. Mit individueller Assistenz und Unterstützung kann jeder Mensch mit Behinderung seinen Willen kundtun und auch seinen Widerstand gegenüber sexuellen Handlungen zum Ausdruck bringen. Es darf nicht sein, dass allein eine Behinderung bereits den Tatbestand des § 179 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3 StGB erfüllt.
Wie auch in der Istanbul-Konvention ausgeführt, muss der freie Wille einer Person mit oder ohne Behinderung im Zusammenhang der jeweiligen Begleitumstände beurteilt werden.[4]
Im Zusammenhang mit der Schutzwürdigkeit von Kindern stellt sich eine weitere Frage. Wenn es nach der Begründung auf deren objektive, altersbedingte Unfähigkeit zum Widerstand ankommt, stellt sich die Frage, ob dieser Schutz des § 179 mit Erreichen eines bestimmten Entwicklungsstandes endet und ob danach von ihm ein Widerstand i.S.v. § 177 StGB erwartet wird. Gerade wenn man berücksichtigt, dass viele sexuelle Übergriffe im unmittelbaren Umfeld des Kindes stattfinden, würde der Entwurf mit einer solchen Ausrichtung die emotionalen Bindungen vernachlässigen, die gerade in diesem Umfeld bestehen und Kinder im Zweifel davon abhalten, einen solchen tatbestandsrelevanten Widerstand zu leisten. Ebenfalls stellt sich die Frage, ob die Tatbestände des Missbrauchs von Minderjährigen die relevanten Fallgruppen erfassen, in denen Täter gerade die emotionale Bindung und das Vertrauen der Kinder für ihre Handlungen ausnutzen.
Beim Strafmaß von sechs Monaten bis zu zehn Jahren Freiheitsstrafe wird der im Vergleich zu § 177 StGB (Strafrahmen nicht unter einem Jahr) geringere Strafrahmen von § 179 Abs. 1 StGB-E dadurch begründet, dass der Täter bei § 177 StGB zusätzlich einen entgegenstehenden Willen des Opfers durch Zwang beugen muss und die Nötigung gem. § 240 StGB auch zu einer Mindestfreiheitsstrafe zu einem Jahr führe. Die Begründung des Gesetzentwurfs, dass der Täter bei § 179 Abs. 1 und 2 StGB „lediglich die Schutzlosigkeit des zum Widerstand nicht fähigen Opfers“ ausnutze,[5] vermag nicht zu überzeugen. Zwar ist in § 179 Abs. 3 StGB die Strafbarkeit besonders schwerer Fälle geregelt, jedoch sind die aufgelisteten Regelbeispiele nicht eindeutig und können zu Abgrenzungsschwierigkeiten führen. Insbesondere stellt sich die Frage, warum bei der Bewertung des Unwertgehalts neben der Behinderung einer Person (§ 179 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3 Nr. 2 StGB), nicht noch weitere Beispiele für zum Widerstand unfähige Personen benannt werden, bzw. nicht eine Formulierung gewählt wurde, die sämtliche Fallkonstellationen, in denen ein objektiv feststellbarer höherer Unwertgehalt besteht, abdeckt. Die vorgeschlagene Formulierung kann zu neuen Schutzlücken führen, die aus Sicht der BAGFW nur durch eine klarstellende Regelung vermieden werden können.
Dies wird dadurch umso deutlicher, dass der Gesetzentwurf eine Behinderung mit einer „dauerhaft bestehenden Widerstandsunfähigkeit“ gleichsetzt und bei dem „nur temporär“ widerstandsunfähigen Opfer „kein erhöhtes Maß an Skrupellosigkeit“ auf Seiten des Täters verwirklicht sieht.[6] Für die BAGFW ist nicht verständlich, warum der Gesetzgeber auf der einen Seite den Personenkreis der möglichen Opfer erweitert, bei der Bewertung des Tatunrechts hingegen wieder eine Differenzierung der zu schützenden Personen vornimmt. In diesem Zusammenhang stellt sich bspw. die Frage, ob bei der von der Norm neuaufgenommenen Fallgruppe der Kleinstkinder grundsätzlich kein besonders schwerer Fall vorliegen können soll, da sie der Begründung des Gesetzentwurfs nach zu urteilen, weder unter § 179 Abs. 3 Nr. 1 oder Nr. 2 StGB fallen.
b. § 179 Abs. 1 Nr. 2 StGB
Der Gesetzentwurf soll zusätzliche Begehungsformen des Missbrauchs erfassen, wie z.B. Überraschungsangriffe oder der nicht vorhersehbare Griff zwischen die Beine in einer überfüllten U-Bahn. Die Voraussetzungen einer Nötigungshandlung müssen nicht mehr vorliegen.
Allerdings werden sexuelle Übergriffe strafrechtlich nur verfolgt, wenn die nach § 184g StGB erforderliche „Erheblichkeit“ gegeben ist. Dies wird unterschiedlich ausgelegt und führt damit wieder zu Unsicherheiten bei der Strafverfolgung. Im Rahmen der bereits erwähnten umfassenden Reform des Sexualstrafrechts ist damit gerade auch dieses in § 184g StGB enthaltene Erforderlichkeitskriterium und seine Auswirkung in der Auslegungspraxis der Gerichte zu bewerten und zu hinterfragen.
c. § 179 Abs. 1 Nr. 3 StGB
§ 179 Abs. 1 Nr. 3 StGB-E bestimmt, dass sich derjenige strafbar macht, der unter Ausnutzung einer Lage, in der eine andere Person im Fall ihres Widerstandes ein empfindliches Übel befürchtet, sexuelle Handlungen an dieser Person vornimmt oder an sich von dieser vornehmen lässt. Dadurch wirft der Gesetzentwurf ein mit der Ausgestaltung der Norm einhergehendes Problem auf, dass Fälle, in denen das Opfer beispielsweise aus Scham keinen Widerstand leistet, nicht von der Regelung umfasst wären. Die BAGFW spricht sich daher dafür aus, die Norm so auszugestalten, dass auch die eben genannten Fallkonstellationen abgedeckt sind, da der Täter auch in diesen Fällen die Lage des Opfers ausnutzt, um sexuelle Handlungen an ihm zu begehen.
III. Fragen des BMJV
1. Stellungnahme zum Vorschlag § 179 Abs. 1 Nr. 2 StGB als relatives Antragsdelikt auszugestalten, damit Taten, die eventuell erst deutlich später (zum Beispiel im Rahmen einer Beziehungsbeendigung) angezeigt werden, nur bei Vorliegen eines besonderen öffentlichen Interesses der Strafverfolgung unterliegen
Die BAGFW spricht sich aus mehreren Gründen gegen die Ausgestaltung von § 179 Abs. 1 Nr. 2 StGB als relatives Antragsdelikt aus. Hier mögen die hohe Strafandrohung und die rechtlichen Konsequenzen für einen Beschuldigten den Hintergrund dieser Überlegungen darstellen. Jedoch ist es aus Sicht der BAGFW problematisch, innerhalb einer Norm verschiedene Anforderungen an die Strafverfolgung zu stellen. Weitere Bedenken bestehen hinsichtlich der Voraussetzungen an einen Strafantrag. So kann der Strafantrag nur vom Opfer selbst (§ 77 Abs. 1 StGB) und förmlich bei einem Gericht oder der Staatsanwaltschaft gestellt werden (§ 158 Abs. 2 StPO). Zwar kann die Staatsanwaltschaft bei relativen Antragsdelikten auch ohne Antrag des Verletzten und sogar gegen dessen Willen Straftaten verfolgen, wenn für den konkreten Einzelfall ein besonderes öffentliches Interesse besteht und sie ein Einschreiten von Amts wegen für geboten hält.[7] Dennoch erachtet es die BAGFW für erforderlich, auch § 179 Abs. 1 Nr. 2 StGB als Offizialdelikt auszugestalten, um Ungleichbehandlungen von Betroffenen zu vermeiden und die Hürden nicht zu hoch zu setzen. Gerade vor dem Hintergrund, dass der Gesetzentwurf die Strafbarkeit einer sexuellen Handlung nicht mehr vom Vorliegen eines Nötigungsmittels abhängig machen will, erscheint es fraglich, die Strafverfolgung für die Fälle des § 179 Abs. 1 Nr. 2 StGB herabzusetzen. Eine Rechtsverletzung ist bereits dann verwirklicht, wenn sexuelle Handlungen am Körper vorgenommen werden, die nicht von einer wirksamen Zustimmung umfasst sind.[8] Daher sollte die Frage nach der Strafverfolgung auch nicht von der Art der Begehung abhängig gemacht werden.
2. Werden für § 179 Abs. 1 Nr. 3 StGB-E zusätzliche, den Tatbestand verengende Tatbestandvoraussetzungen für nötig erachtet?
Zur Frage nach der Ausgestaltung von § 179 Abs. 1 Nr. 3 StGB verweist die BAGFW auf die bereits geäußerten Bedenken hinsichtlich der Schaffung neuer Strafbarkeitslücken und spricht sich aus diesem Grund gegen die Verengung, jedoch für eine Konkretisierung des Tatbestandes aus.
IV. Fazit
Die sexuelle Selbstbestimmung genießt durch das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs.1 GG iVm Art. 1 Abs. 1 GG grundgesetzlichen Schutz. Die BAGFW begrüßt aus diesem Grund den Gesetzentwurf, da er einen ersten Schritt darstellt, um bestehende Regelungslücken zu schließen und den Schutz besser gewährleisten zu können. Die BAGFW setzt sich darüber hinaus für einen umfassenden Schutz der sexuellen Selbstbestimmung vor den Angriffen Dritter ein, der durch den vorgelegten Entwurf noch nicht erreicht werden wird. Die Prüfung durch die vom BMJV eingesetzte „Reformkommission zur Überarbeitung des 13. Abschnitts des Besonderen Teils des StGB“, ob es über den Gesetzentwurf hinausgehenden Änderungsbedarf gibt und ob ein neuer Grundtatbestand geschaffen werden soll, wird ausdrücklich befürwortet. Die BAGFW erbittet in diesem Zusammenhang einen transparenten Umgang hinsichtlich konkreter Arbeitsabläufe und
-ergebnisse der Kommission. Denn nach wie vor ist es aus Sicht der BAGFW notwendig, die Vorgaben aus Art. 36 der Istanbul-Konvention konsequent umzusetzen und alle sexuellen Handlungen, die ohne das Einverständnis der Beteiligten vorgenommen werden, unter Strafe zu stellen.
[1] Vgl. auch Tatjana Hörnle in ZIS 4/2015 S. 209
[2] CEDAW-Ausschuss, Communication No. 34/2011 vom 21.02.2014, CEDAW/C/57/D/34/2011, tbinternet.ohchr.org/_layouts/treatybodyexternal/Download.aspx; CEDAW-Ausschuss, Communication No. 18/2008 vom 16.07.2010, CEDAW/C/46/D/18/2008, daccess-dds-ny.un.org/doc/UNDOC/GEN/N10/545/58/PDF/N1054558.pdf;
[3] Vgl. Referenten-E vom 14.07.2015, S. 14 „Der Begriff erfasst auch sogenannte Geisteskrankheiten, also etwa die angeborene Intelligenzminderung.“
[4] Vgl. Art. 36 Ziff. 2 Istanbul-Konvention
[5] Vgl. Referenten-E vom 14.07.2015, S. 15.
[6] Vgl. Referenten-E vom 14.07.2015, S. 18.
[7] Kindhäuser/Neumann/Paeffgen, Strafgesetzbuch | StGB § 230 Rn. 28.
[8] Vgl. Hörnle, ZIS 4/2015, 206 (209).
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Zum Anwendungsbereich
Im Sozialrecht werden Leistungen typischerweise im sogenannten sozialrechtlichen Dreiecksverhältnis erbracht. In der Begründung zu § 1 Absatz 1 VgV-E wird ausgeführt, dass das sozialhilferechtliche Dreiecksverhältnis (als eine Fallkonstellation im sozialrechtlichen Dreiecksverhältnis) nicht dem Vergaberecht unterliege, dass jedoch in anderen Bereichen des sozialrechtlichen Dreiecksverhältnisses Vergaberecht anwendbar sein könne. Die Ausführungen lassen die nötige Klarheit vermissen.
Es ist auch für uns unstreitig, dass im Bereich des SGB III weitgehend Vergaberecht zum Tragen kommt. Die Wohlfahrtsverbände stimmen mit den Ausführungen der Verordnung auch darin überein, dass maßgeblich für die Anwendung des Vergaberechts die Erteilung eines öffentlichen Auftrags ist, bei dem ein öffentlicher Auftraggeber eine Auswahlentscheidung zugunsten eines Leistungserbringers trifft, der die Leistungen im Auftrag und gegen Entgelt erbringt. Entscheidend für die Anwendung des Vergaberechts im Bereich sozialer Dienstleistungen ist demnach, ob der jeweilige Sozialleistungsträger verpflichtet oder befugt ist, eine Auswahlentscheidung unter Erbringern von Sozialleistungen zu treffen. Angesichts der in den verschiedenen Sozialgesetzbüchern normierten Zulassungssysteme kombiniert mit dem Wunsch- und Wahlrecht der Leistungsberechtigten – vergleiche auch § 33 SGB I – stellt eine solche Auswahlentscheidung im Sozialrecht die Ausnahme dar. Im sozialrechtlichen Dreiecksverhältnis kommt sie nicht vor. Denn von ihm spricht man nach vorherrschender Rechtsauffassung immer nur dann, wenn Leistungserbringer aufgrund bestimmter fachlicher Kriterien zum Markt zugelassen werden, der Leistungsträger aber weder eine Auslastungsgarantie gibt noch eine Auswahl unter potentiellen Leistungserbringern vornimmt (selektiert). Der Leistungsberechtigte wählt zwischen zugelassenen Leistungserbringern aus und macht insofern sein Wunsch- und Wahlrecht geltend.
Die Diskussion im Wirtschaftsausschuss des Deutschen Bundestages wie auch die Begründung zu § 1 der Verordnung belegen die bestehende Rechtsunsicherheit zu dieser Frage. Auch die Monopolkommission geht in ihrem XX. Hauptgutachten irrtümlich davon aus, dass künftig Leistungen der Jugendhilfe auszuschreiben seien (Seite 156, RZ 357). Sie ignoriert, dass Förderungen nach § 74 SGB VIII und Leistungsvereinbarungen nach § 78c SGB VIII nicht zu Aufträgen im Sinne § 97 GWB führen und deshalb nicht dem Vergaberecht unterliegen. Dass das Vergaberecht bei der bloßen Finanzierung von Dienstleistungen und bei Zulassungssystemen ohne Selektivität nicht anwendbar ist, steht auch in den Erwägungsgründen (4) und (116) der Richtlinie 24/2014/EU.
§ 1 Abs. 2 der Verordnung ist deshalb um eine Ziffer 4 und eine Ziffer 5 zu erweitern:
„4. die bloße Finanzierung von Dienstleistungen durch Zuwendungen,
5. den Abschluss von Leistungsvereinbarungen im sozialrechtlichen Dreiecksverhältnis.“
Zu § 64 VgV-E
Bezüglich der sozialen Dienstleistungen legt der europäische Richtliniengeber großen Wert auf eine gute Leistungsqualität. Leider ist die Vorgabe des Art. 76 Abs. 2 der Auftrags-Richtlinie bisher weder im GWB noch im Entwurf der Verordnung verankert worden. Wir halten deshalb die Erweiterung des § 64 VgV-E um einen Absatz 2 für zwingend:
„Die Auftraggeber gewährleisten, dass Notwendigkeit, Qualität, Kontinuität, Zugänglichkeit, Bezahlbarkeit, Verfügbarkeit und Vollständigkeit der Dienstleistungen sichergestellt werden. Den spezifischen Bedürfnissen verschiedener Nutzerkategorien, einschließlich benachteiligter und schutzbedürftiger Gruppen, der Einbeziehung und Ermächtigung der Nutzer und dem Aspekt der Innovation ist Rechnung zu tragen. Die Auswahl der Dienstleister darf auch auf der Grundlage des Angebots mit dem besten Preis-Leistungs-Verhältnis unter Berücksichtigung von Qualitäts- und Nachhaltigkeitskriterien getroffen werden.“
Diese Anforderungen der EU-Richtlinie müssen verbindliches ermessensleitendes Recht werden. Die Erwähnung in der Begründung erscheint hierfür unzureichend.
Zu § 65 VgV-E
Absatz 1 enthält eine erfreulich hohe Wahlfreiheit des Auftraggebers zwischen den verschiedenen Vergabeinstrumenten. Zur Vermeidung von Missverständnissen sollte allerdings verdeutlicht werden, dass eine vorhandene Kofinanzierung zugunsten eines Bieters berücksichtigt werden darf. Absatz 1 sollte insoweit ergänzt werden:
„Ein Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb steht auch zur Verfügung,
soweit dies notwendig ist, um Gesamtleistungen zu ermöglichen, die rechtskreisübergreifend oder in Ergänzung zu Bundes- und Landesprogrammen Leistungsmodule miteinander verbinden.“
Hintergrund ist die notwendige Verknüpfung von Maßnahmen der Arbeitsförderung mit den Leistungen anderer Rechtsgebiete wie beispielsweise der Kinder- und Jugendhilfe zu ganzheitlichen Unterstützungsleistungen, die besonders benachteiligten Personengruppen zugutekommen. Weitere Anwendungsfälle liegen in der Verknüpfung von Maßnahmen der Arbeitsförderung mit (ESF-geförderten) Bundes- oder Landesprogrammen zu abgestimmten Förderkulissen. In obigen Konstellationen ist auf der Grundlage einer Zuwendungsfinanzierung eine Förderentscheidung (etwa eines Bundeslandes, des örtlichen Jugendamtes) zugunsten eines Leistungserbringers gefallen, der sich anschließend um eine anteilige Mitfinanzierung aus den Mitteln der Arbeitsförderung gegenüber dem örtlichen Jobcenter bzw. der Arbeitsagentur bemüht. Bislang konnten die Jobcenter und Arbeitsagenturen einem solchen Anliegen in eigenem Interesse Rechnung tragen. Unter Anwendung des Vergaberechts konnten sie mit der sog. freihändigen Vergabe eine gezielte Vergabe an den zuvor von einem Dritten ausgewählten und mit einer Kofinanzierung ausgestatteten Träger vornehmen. Das ist für Arbeitsagenturen und Jobcenter häufig wirtschaftlich sehr interessant, weil die Maßnahme zu einem erheblichen Anteil von einem Dritten mitfinanziert wird. Der Wettbewerb ist gewahrt, weil zuvor der Zuwendungsgeber (z. B. ein Bundesland, ein Jugendamt) im Rahmen eines Teilnahmewettbewerbs über die Zuwendungsfinanzierung entschieden hat.
Die Einheitliche Europäische Eigenerklärung macht auch im Bereich der sozialen Dienstleistungen Sinn. Sie sollte allerdings dann nicht anwendbar sein müssen, wenn es bereits andere Nachweiserfordernisse gibt wie zum Beispiel im Rahmen der Akkreditierungs- und Zulassungsverordnung Arbeitsförderung (AZAV). Absatz 4 sollte insoweit um folgenden Halbsatz erweitert werden:
„, soweit es ein gleichwertiges Instrument gibt.“
Die Ausrichtung des Absatzes 5 begrüßen wir. Die Regelung greift ein wichtiges Anliegen auch der Wohlfahrtsverbände auf, die angesichts der Erfahrungen mit der bisherigen Umsetzung bieterbezogener Erfolgs- und Qualitätskriterien vor einer einseitigen Fokussierung auf die Integrationsquote und eine damit einhergehende „Bestenauslese“ der Teilnehmenden (sog. Creaming-Effekt) gewarnt haben. Bei der Weiterentwicklung der bieterbezogenen Erfolgs- und Qualitätskriterien muss es darum gehen, die in der Qualitätssicherung etablierten Kriterien Strukturqualität, Prozessqualität und Ergebnisqualität abzubilden. Der in Abs. 5 genannte neue Katalog zur Berücksichtigung von Erfolg und Qualität bisher erbrachter Arbeitsmarktdienstleistungen weist in diese Richtung.
Der Katalog ist mindestens zu ergänzen um die Nutzerperspektive:
„4. Beurteilungen der Vertragsausführung durch den öffentlichen Auftraggeber und durch die Teilnehmenden anhand transparenter und nichtdiskriminierender Methoden .“
Dies ergibt sich zwingend aus Artikel 76 Abs. 2 der EU-Auftrags-Richtlinie. Die öffentlichen Auftraggeber haben danach u. a. den spezifischen Bedürfnissen verschiedener Nutzergruppen und der Einbeziehung und Ermächtigung der Nutzer Rechnung zu tragen.
Schwellenwerte
Das besondere Vergaberecht für soziale Dienstleistungen greift nur ab dem Schwellenwert von 750.000 €. Der Auftragswert der meisten einschlägigen Vergaben liegt darunter. Es ist nicht vermittelbar, oberhalb des Schwellenwertes ein flexibleres Regime zu haben als darunter. Deshalb müssen die §§ 64 ff. der Verordnung auch unterhalb des Schwellenwertes anwendbar sein.
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Zwischenzeitlich liegt ein Entwurf dieser überarbeiteten Richtlinie mit Stand vom 17.12.2015 vor und die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege ist gem. § 17a Abs. 1 zu beteiligen. Die in der BAGFW kooperierenden Verbände nehmen im Folgenden zu der überarbeiteten Begutachtungs-Richtlinie Stellung.
Positiv ist festzustellen, dass
· das Stellungnahmeverfahren sehr früh eingeleitet wurde.
· die Begutachtung von Kindern unter Berücksichtigung spezifischer Besonderheiten und mit getrennten Formulargutachten erfolgt.
Kritisch ist festzustellen, dass
· grundsätzlich eine Widerspruchsgutachten nicht per Aktenlage erfolgen sollte und in der Häuslichkeit durchzuführen ist.
· die Kategorie „überwiegend Selbstständig“ aus Sicht der BAGFW fachlich nicht hinreichend substantiiert vergeben wird. Bei vielen Items besteht ein hoher Aufwand und eine starke Abhängigkeit von personeller Hilfe, welche die Zuordnung zur Kategorie „überwiegend Selbstständig“ nicht rechtfertigen. So wäre bei der Anwesenheit der Pflegeperson aus nachvollziehbaren Sicherheitsgründen beim Baden mit dem vorliegenden Entwurf eine Person immer noch „überwiegend Selbstständig“, wo hingegen aus unserer Sicht ein „überwiegend Unselbstständig“ zu klassifizieren ist.
- die Definition zu den Merkmalsausprägungen im Vergleich zu dem entwickelten Manual teilweise abweicht. Inwiefern dies zu anderen Bewertungsergebnissen als in der Erprobung des Instruments führt, lässt sich nicht einschätzen.
Zu einzelnen Bestandteilen des Entwurfs führen wir im Folgenden aus.
2. Aufgaben des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung
2.1 Verantwortung des MDK für eine qualifizierte Begutachtung
Zu diesem Punkt wird ausgeführt, dass der MDK auch externe Kräfte zur Begutachtung beauftragen kann, sofern sichergestellt ist, dass keine Interessenskonflikte entstehen. Als Gründe für die Beauftragung von externen Gutachtern werden die Bewältigung von Antragsspitzen oder das Vorliegen spezieller gutachterlicher Fragestellungen genannt. MDK-Gutachter erfassen den Hilfe- und Pflegebedarf und legen damit die Grundlage für die Entscheidung über die Schwere der Pflegebedürftigkeit und die Zuordnung zu einem Pflegegrad. Ihnen kommt somit eine hohe Verantwortung zu. Sofern externe Gutachter beauftragt werden, ist der Gutachtenauftrag an die beauftragte Pflegekasse zurückzugeben, damit diese einen erneuten Auftrag an geeignete externe Gutachter vergeben kann. Durch Kriterien ist eindeutig zu bestimmen, dass nur solche Gutachter zum Einsatz kommen, durch die keine Interessenskonflikte entstehen. Diese Kriterien sind zu veröffentlichen.
2.2 Verantwortung der Pflegekassen für eine qualifizierte Begutachtung durch unabhängige Gutachter nach § 18 Abs. 3a SGB XI
Die BAGFW begrüßt, dass die Anforderungen an die Qualifikation und Unabhängigkeit der unabhängigen Gutachter in den Richtlinien des GKV-Spitzenverbandes zur Zusammenarbeit der Pflegekassen mit anderen unabhängigen Gutachtern (UGu-RiLi) geregelt werden. Nach Auffassung der BAGFW sollten auch die Anforderungen bezüglich Qualifikation und Unabhängigkeit an die in Punkt 2.1. genannten externen Gutachter in dieser Richtlinie geregelt werden.
3. Verfahren zur Feststellung von Pflegebedürftigkeit
3.1 Pflegekasse
Bei erneuter Beauftragung gibt die Pflegekasse außerdem Hinweise auf vorhergehende Begutachtungen, zum Pflegegrad sowie zu den Ergebnissen der Beratungseinsätze nach § 37 Abs. 3 SGB XI.
Die Weiterleitung von Hinweisen aus Beratungseinsätzen darf nur mit Zustimmung des Versicherten erfolgen. Eine Weiterleitung der Ergebnisse des Beratungseinsatzes erfordert somit die Einwilligung des Versicherten. Daher sind die Worte „sowie zu den Ergebnissen der Beratungseinsätze nach § 37 Abs. 3 SGB XI“ zu streichen.
Die Pflegekasse klärt den Antragsteller bzw. den Bevollmächtigten oder Betreuer über die Mitwirkungspflichten sowie die Folgen fehlender Mitwirkung auf und fordert ihn auf, dem zuständigen MDK eine Einwilligung zur Einholung von Auskünften – soweit diese für die Begutachtung erforderlich sind – bei den behandelnden Ärzten, den pflegenden Angehörigen und der betreuenden Pflegeeinrichtung einzuholen (vgl. § 18 Absatz 4 SGB XI).
Aus Sicht der BAGFW ist zwischen den ärztlichen Auskünften und Unterlagen der Hausärzte und weiterer an der vertragsärztlichen Versorgung beteiligter Ärzte einerseits und Informationen und Auskünften, die durch Befragung der pflegenden Angehörigen oder der betreuenden Pflegeeinrichtungen andererseits erfasst werden, zu unterscheiden.
In den Begutachtungsrichtlinien sollten die Formulierungen aus § 18 Absatz 4 SGB XI übernommen werden.
3.2.1 Vorbereitung der Begutachtung
Der MDK sichtet in Vorbereitung auf die Begutachtung die vorliegenden Auskünfte und Unterlagen. Auf Seite 15 liegt ein redaktioneller Fehler vor, wenn es heißt, dass es hierbei auch um Informationen zu „Art, Umfang und Dauer der Pflege“ geht. Oftmals wurde noch keine Pflegeleistung in Anspruch genommen. Laut § 18 Absatz 4 beziehen sich die einzuholenden Auskünfte auf „Art, Umfang und Dauer der Hilfebedürftigkeit“. Dies ist entsprechend nachzubessern.
3.2.2 Festlegung der den Besuch durchführenden Person/en
Die Begutachtung von Kindern setzt nach Auffassung der BAGFW besondere Qualifikationen und Erfahrungen voraus. Dies gilt umso mehr für Kinder mit einer Behinderung. Die Begutachtungsrichtlinien sollten aufgrund der Komplexität des Hilfsbedarfs eine Verpflichtung zur interdisziplinären Begutachtung vorsehen und das Gutachterprofil für weitere Berufsqualifikationen wie z.B. Heilerziehungspfleger/innen öffnen.
3.2.2.1 Ankündigung des Besuchs
In der gegenwärtig geltenden Fassung der Begutachtungsrichtlinien steht, dass ungeachtet der Tatsache, dass die Begutachtung in der Amtssprache durchgeführt wird, das Recht des Antragstellers auf barrierefreie Kommunikation zu gewährleisten ist. Dieser Satz ist im vorliegenden Entwurf der Richtlinien entfallen. Da Barrieren in der Kommunikation nicht nur durch eine andere Muttersprache entstehen können, sondern beispielsweise durch eine Hörbehinderung, besteht beispielsweise ein Recht auf Beiziehung eines Gebärdendolmetschers. Der allgemeine Satz aus der zu geltenden Richtlinie, dass das Recht des Antragstellers auf barrierefreie Kommunikation gewährleisten sei, umfasst alle Verständigungsbarrieren. Er ist daher wieder in die Richtlinie aufzunehmen.
In der gegenwärtig geltenden Fassung der Begutachtungsrichtlinien wurde auch darauf verwiesen, dass in stationären Einrichtungen die Pflegefachkraft, die am besten mit der Pflegesituation des Antragstellers vertraut ist, bei der Begutachtung hinzuziehen. Dies ist sinnvoll, da die Informationen der Pflegepersonen auch im stationären Bereich wertvolle Hinweise für die Begutachtung darstellen können. Auch dieser Aspekt wurde im vorliegenden Entwurf gestrichen. Er ist wieder aufzunehmen.
3.2.6. Verfahren bei bereits vorliegenden MDK-Gutachten zur Pflegebedürftigkeit
Revidieren die Begutachter ihre Entscheidung nicht, ist das Widerspruchsgutachten von einem bei der Vorbegutachtung nicht beteiligten Gutachter zu erstellen. Die Widerspruchsbegutachtung hat ebenfalls in häuslicher Umgebung bzw. in der vollstationären Pflegeeinrichtung stattzufinden. Eine Begutachtung nach Aktenlage kommt dann in Betracht, wenn in dem Vorgutachten die Pflegesituation ausreichend dargestellt wurde und durch eine erneute persönliche Begutachtung keine zusätzlichen Erkenntnisse zu erwarten sind.
Die Praxis hat gezeigt, dass gerade Widersprüche zur Begutachtung durch den MDK häufig mit der Darstellung der Pflegesituation durch den Gutachter begründet werden, in welcher die Angaben des Antragstellers oder der Pflegepersonen nach deren Auffassung nicht hinreichend berücksichtigt wurden. Eine Begutachtung nach Aktenlage, in welcher auf die Darstellung der Pflegesituation im Vorgutachten zurückgegriffen wird, ist daher kontraindiziert. Bei Widerspruchsgutachten ist aus Sicht der BAGFW grundsätzlich eine erneute Begutachtung in der häuslichen Umgebung vorzunehmen.
3.3 Bearbeitungs- und Begutachtungsfristen
Im Regelfall sind dem Antragsteller spätestens 25 Arbeitstage nach Eingang des Antrags bei der zuständigen Pflegekasse die Entscheidung der Pflegekasse schriftlich mitzuteilen. Dadurch sollen pflegebedürftige Menschen und ihre Angehörigen eine schnelle Entscheidung über die von ihnen beantragten Leistungen erhalten, um die Pflege zeitnah organisieren zu können. Dies stellt hohe Anforderungen an die Zusammenarbeit zwischen Pflegekasse und den MDK dar und erfordert die Mitwirkung des Antragstellers. Die Frist ist vom 1. November 2016 bis zum 1. Dezember 2017 unbeachtlich.
Aus Sicht der BAGFW ist die Frist von 25 Arbeitstagen sachgerecht und stellt keinesfalls „hohe“ Anforderungen an die Zusammenarbeit zwischen Pflegekasse und MDK dar. Die Formulierung „und erfordert die Mitwirkung des Antragstellers“ bildet zwar sachgerecht ab, dass ohne Mitwirkung der Betroffenen die Fristen nicht einzuhalten sind, kann aber andererseits dazu benutzt werden, die Verantwortung oder zumindest eine Teilverantwortung für die Fristeinhaltung in die Sphäre der Antragsteller zu verschieben. Der Verweis auf die Mitwirkungspflicht der Antragsteller ist an dieser Stelle entbehrlich, weist doch § 18 Absatz 3b Satz 2 darauf hin, dass die Frist von 25 Arbeitstagen nicht gilt, wenn die Pflegekasse die Verzögerung nicht zu vertreten hat. Dieser Teilsatz ist daher ersatzlos zu streichen.
Zudem ist klarzustellen, dass die 25-Tage-Frist dem Grundsatz nach für alle Formen von Begutachtungen gilt, mithin auch für Wiederholungsgutachten (mit Ausnahme der Aussetzung der Fristen nach § 18 den Absätzen 2a SGB XI), für Gutachten aufgrund von Änderungsanträgen (Höherstufung, Rückstufung) sowie für Widerspruchsgutachten. In den gegenwärtig geltenden Begutachtungsrichtlinien gibt es dezidierte Verfahrenshinweise für diese drei Begutachtungsarten. Diese sind mit dem vorliegenden Entwurf ersatzlos entfallen. Sie sind unter Berücksichtigung der Aussetzungsfristen für die Wiederholungsbegutachtungen nach § 18 Absatz 2a wieder in den Entwurf aufzunehmen.
4. Erläuterungen zum Gutachten zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit gemäß SGB XI
4.3 Definitionen
Pflegekräfte/Pflegefachkräfte sind Personen, die erwerbsmäßig pflegen.
Es reicht nicht aus, Pflegefachkräfte als Personen, die in der Pflege erwerbsmäßig tätig sind, zu definieren. Es ist in der Definition mindestens klarzustellen, dass Pflegefachkräfte über eine entsprechende Ausbildung verfügen, die sie zu dieser Erwerbstätigkeit berechtigt. Daher ist zu ergänzen: „Pflegefachkräfte sind Personen, die aufgrund einer entsprechenden Ausbildung erwerbsmäßig pflegen. Grundsätzlich dürfen auch weiterhin nur Pflegefachkräfte, nicht jedoch Pflege(hilfs)kräfte als Gutachter tätig werden. Daher ist in der Definition das Wort „Pflegekräfte“ zu streichen.
4.4. Angaben im Gutachten zum Antragsteller, zur Untersuchung und zur beantragten Leistung
Es sind der Untersuchungstag, der Untersuchungsort sowie die Uhrzeit anzugeben.
Bei der Uhrzeit ist nicht nur der Beginn der Beguachtung einzutragen, sondern auch die genaue Dauer. Die Angabe der Dauer des Hausbesuchs könnte den Pflegekassen zudem helfen, im weiteren Verfahren mit Blick auf die Dauer des erfolgten Hausbesuchs, eine ausführliche Befunderhebung nachvollziehbar zu begründen.
4.5.1 F 1.1 Fremdbefunde
Im dritten Spiegelstrich wird auf Fremdbefunde z.B. von Werkstätten für Menschen mit Behinderung verwiesen. Bei dieser Aufzählung sollten auch Fördertagesstätten sowie stationäre Einrichtungen oder ambulante Dienste für Menschen mit Behinderungen sowie Familienunterstützende Dienste mit genannt werden. Ferner sollten die Berichte in den o.g. Werkstätten um Berichte anderer in der Rehabilitation tätiger Fachkräfte, z.B. von Rehabilitationsfachkräften für Blinde, erweitert werden.
4.5.3 F 1.3 Hilfsmittel
Die BAGFW begrüßt, dass der MDK alle Hilfs- und Pflegehilfsmittel des Antragstellers, ungeachtet der Kostenträgerschaft und einschließlich der Verbrauchsgüter, erfassen muss. Es sollte in diesem Abschnitt bereits darauf hingewiesen werden, dass der MDK verpflichtet ist, den Antragsteller darauf hinzuweisen, dass die konkreten Empfehlungen zu Hilfsmitteln und Pflegehilfsmitteln bereits als Antrag auf Leistungsgewährung gelten und dass die Pflegekasse den Antragsteller unverzüglich über die Entscheidung über die empfohlenen Hilfs- und Pflegehilfsmittel informiert.
4.5.4 F 1.4 Pflegerelevante Aspekte der Versorgungs- und Wohnsituation
Bei der Dokumentation der Wohnsituation ist nicht nur auf die Zugänglichkeit zum Bad und den Waschmöglichkeiten, sondern auch auf die Zugänglichkeit zu anderen Räumen, die für die Versorgungssituation relevant sind, wie z.B. Schlafraum und Küche, hinzuweisen. In den gegenwärtig geltenden Begutachtungsrichtlinien wurde auch die Erreichbarkeit des Telefons erfasst. Da ältere und hochbetagte pflegebedürftige Menschen in vielen Fällen das Festnetz und noch nicht mobile Telefone benutzen, ist dieser Punkt für die Begutachtung ebenfalls relevant und soll aus Sicht der BAGFW wieder in die Begutachtungsrichtlinie aufgenommen werden.
4.6 F 2 Gutachterlicher Befund
Hilfreich ist es, den Antragsteller den Tagesablauf schildern zu lassen, mit ihm die Wohnung zu begehen und sich ggf. einzelne Aktivitäten exemplarisch demonstrieren zu lassen.
Nicht in jedem Fall wird der Antragsteller so mobil sein, dass er in der Lage ist, zusammen mit dem Gutachter die Wohnung zu begehen. Daher sollte bei der Ankündigung des Besuchs darauf hingewiesen werden, dass eine Wohnungsbegehung durchgeführt wird und bei fehlender Mobilität ggf. eine Person anwesend ist, welche bei der Wohnungsbegehung begleiten kann.
Nicht in jedem Fall wird der Antragsteller so mobil sein, dass er in der Lage ist, zusammen mit dem Gutachter die Wohnung zu begehen. Daher sollte bei der Ankündigung des Besuchs darauf hingewiesen werden, dass eine Wohnungsbegehung durchgeführt wird und bei fehlender Mobilität ggf. eine Person anwesend ist, welche bei der Wohnungsbegehung begleiten kann.
4.8 Pflegebedürftigkeit
4.8.1 Grundsätze bei der Feststellung von Pflegebedürftigkeit
Es ist bei der Begutachtung zu berücksichtigen, dass nicht die Schwere der Erkran-kung oder Behinderung, sondern allein die gesundheitliche Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten als Grundlage der Bestimmung der Pfle-gebedürftigkeit dient. Daher begründen z. B. Blindheit oder eine Lähmung der un-teren Extremitäten allein noch nicht die Pflegebedürftigkeit im Sinne des SGB XI. Entscheidungen in einem anderen Sozialleistungsbereich über das Vorliegen einer Behinderung oder die Gewährung einer Rente ist kein Maßstab für die Feststellung der Pflegebedürftigkeit. So sagen die Minderung der Erwerbsfähigkeit oder der Grad der Behinderung nichts darüber aus, ob die Voraussetzungen der Pflege-bedürftigkeit nach dem SGB XI gegeben sind.
Da Pflegebedürftigkeit eine Folge von Blindheit sein kann, schlägt die BAGFW vor, „Blindheit“ aus der im zweiten Satz vorgenommenen Aufzählung zu streichen. Ferner sollte es im Folgesatz lauten: „Entscheidungen in einem anderen Sozialleistungsbereich über das Vorliegen einer Behinderung, z.B. Blindheit, oder die Gewährung einer Rente ist kein Maßstab für die Feststellung der Pflegebedürftigkeit.
4.8.3 Beurteilung von Selbständigkeit
1 = überwiegend selbständig
- Aufforderung bedeutet, dass die Pflegeperson (ggf. auch mehrfach) einen Anstoß geben muss, damit der Betroffene die jeweilige Tätigkeit allein durchführt. Auch wenn nur einzelne Handreichungen erforderlich sind, ist die Person als überwiegend selbständig zu beurteilen (punktueller Hilfebedarf, der lediglich an einzelnen Stellen des Handlungsablaufs auftritt). Einzelne Hinweise zur Abfolge der Einzelschritte meinen, dass zwischenzeitlich immer wieder ein Anstoß gegeben werden muss, dann aber Teilverrichtungen selbst ausgeführt werden können.
- Anwesenheit aus Sicherheitsgründen: Wenn eine Person eine Aktivität selbständig ausführen kann, aber aus nachvollziehbaren Sicherheitsgründen (z.B. Sturzgefahr, Krampfanfälle) die Anwesenheit einer anderen Person benötigt, trifft die Bewertung „überwiegend selbständig“ zu.
Aus Sicht der BAGFW sind die zwei der insgesamt sechs angeführten Items zur Erfassung der Kategorie „überwiegend selbständig“ problematisch. Wenn eine Person für die Ausführung einer Handlung immer wieder einzelne Hinweise zur Abfolge der einzelnen Schritte erhalten muss, ist die permanente Anwesenheit einer Pflegeperson erforderlich und die Qualifizierung des Antragstellers als „überwiegend selbständig“ ist dann entsprechend nicht zutreffend. Die Person ist als „überwiegend unselbständig“ zu qualifizieren.
Das Gleiche gilt für die Notwendigkeit der Anwesenheit einer Pflegeperson aus Sicherheitsgründen, denn auch hier ist die permanente Anwesenheit während der Ausführung der Aktivität erforderlich. Das Item „Anwesenheit aus Sicherheitsgründen“, das zur Qualifizierung als „überwiegend selbständig“ führt, ist zudem nicht trennscharf vom Item „ständige Beaufsichtigung und Kontrolle“, das zur Qualifizierung als „überwiegend unselbständig“ führt. In beiden Fällen ist die permanente Anwesenheit der Pflegeperson, welche auch unmittelbar eingreifen muss, erforderlich. Die Person ist als „überwiegend unselbständig“ zu qualifizieren.
4.9.1 F.4.1 Modul 1: Mobilität
F 4.1.1 Positionswechsel im Bett
Als überwiegend selbständig gilt eine Person, wenn sie beim Positionswechsel „nur wenig mithelfen“ kann. Als unselbständig gilt eine Person, die beim Positionswechsel sich nicht oder „nur minimal beteiligen“ kann.
Die Kategorien „überwiegend selbständig“ und „unselbständig“ sind nicht trennscharf, da unklar ist, wie sich die Tatsache, dass jemand beim Positionswechsel nur minimal mithelfen kann sich von der Tatsache unterscheidet, dass er sich beim Positionswechsel nur minimal beteiligen kann.
F 4.1.2 Halten einer stabilen Sitzposition
Selbständig ist eine Person auch dann, wenn sie beim freien Sitzen gelegentlich ihre Sitzposition korrigieren muss oder sich nur in einem Sessel mit Armlehnen aufrecht halten muss. Eine Person ist unselbständig, wenn sie bei fehlender Rumpf- und Kopfkontrolle nur im Bett oder im Lagerungsstuhl liegend gelagert werden kann.
Eine Person ist aus Sicht der BAGFW nicht selbständig, wenn sie sich nur mit Armlehnen aufrechterhalten kann. Nach dem Manual von 2009 war eine Person auch dann selbständig, wenn sie sich zum Halten einer stabilen Sitzposition mit den Händen abstützen muss. Dies halten wir für sachgerecht.
Aus Sicht der BAGFW müssen die Wörter „Rumpf- und Kopfkontrolle“ durch „Rumpf- oder Kopfkontrolle“ ersetzt werden, denn es genügt eine fehlende Rumpfkontrolle oder aber auch eine fehlende Kopfkontrolle, damit eine Person nur im Bett oder im Lagerungsstuhl gelagert werden kann.
F 4.1.4. Fortbewegen innerhalb des Wohnbereichs
Eine Person gilt als überwiegend selbständig, wenn personelle Hilfe erforderlich ist im Sinne von Bereitstellung von Hilfsmitteln, Beobachtung aus Sicherheitsgründen oder gelegentlichem Stützen oder Unterhaken.
Aus Sicht der BAGFW ist eine Person nicht als überwiegend selbständig einzuschätzen, wenn sie „aus Sicherheitsgründen“ beim Fortbewegen im Wohnbereich beobachtet werden muss.
4.9.2. F 4.2 Modul 2: Kognitive und kommunikative Fähigkeiten
F 4.2 Erkennen von Personen aus dem näheren Umfeld
Vorbemerkung: Hier ist generell anzumerken, dass für das Modul 2 auch die Aussagen der Pflegepersonen von großer Bedeutung sind, da die Fähigkeit, eine Person nach längerer Zeit zu erkennen oder nur selten zu erkennen, bei kognitiv stark eingeschränkten Personen wahrscheinlich nur schwer eingeschätzt werden kann. Der Gutachter ist bei der Einschätzung des Fähigkeitspotenzials wesentlich auf die Aussagen der Pflegepersonen oder anderer Angehöriger oder Nahestehender angewiesen.
Die Fähigkeit gilt als größtenteils vorhanden, wenn eine Person bekannte Personen beispielsweise erst nach einer längeren Zeit des Kontakts in einem Gespräch erkennt oder sie Schwierigkeiten hat, wenngleich auch nicht täglich, jedoch in regelmäßigen Abständen, vertraute Personen zu erkennen.
Wenn eine Person Schwierigkeiten hat, in regelmäßigen Abständen vertraute Personen zu erkennen, kann sie aus Sicht der BAGFW nicht der Kategorie „Fähigkeiten größtenteils vorhanden“ zugeordnet werden.
F 4.2.5 Steuern von mehrschrittigen Alltagshandlungen
Die Fähigkeit ist größtenteils vorhanden, wenn eine Person bei Handlungen manchmal den Faden verliert, aber bei Erinnerungshilfe die Handlung selbständig fortsetzen kann. Die Fähigkeit ist in geringem Maße vorhanden, wenn die Person regelmäßig die Reihenfolge der einzelnen Handlungsschritte verwechselt oder einzelne notwendige Handlungsschritte vergisst.
Aus Sicht der BAGFW sind die Kategorien „größtenteils vorhanden“ und „in geringem Maß vorhanden“ nicht trennscharf, da es bei der Ausführung mehrschrittiger Alltagshandlungen in beiden Fällen der Intervention Dritter bedarf, um die Handlung fortführen zu können.
F 4.2.7 Verstehen von Sachverhalten und Informationen
Die Fähigkeit gilt als größtenteils vorhanden, wenn eine Person einfache Sachverhalte und Informationen nachvollziehen kann, bei komplizierteren jedoch Schwierigkeiten hat.
Es ist unklar, was unter einem einfachen Sachverhalt im Unterschied zu einem komplizierten Sachverhalt zu verstehen ist. Hier sollten Beispiele aufgezählt werden, um die Gefahr der Subjektivität der Einschätzung des Gutachters zu verringern.
Die Fähigkeit gilt als in geringem Maße vorhanden, wenn das Verständnis auch von einfachen Informationen und Sachverhalten stark von der Tagesform abhängt.
Da der Gutachter die Tagesform nicht kennt, kann er das Item nicht objektiv einschätzen. Daher sind an dieser Stelle unbedingt die Aussagen der Pflegepersonen oder von Angehörigen oder vertrauten Personen des Umfelds einzubeziehen.
F 4.2.8 Fähigkeit, Risiken und Gefahren zu erkennen
Die Fähigkeit gilt als größtenteils vorhanden, wenn die Person auch beispielsweise Schwierigkeiten hat, Risiken im Straßenverkehr angemessen einzuschätzen oder Gefährdungen in ungewohnter Umgebung zu erkennen.
Wenn eine Person normale Risiken im Straßenverkehr, etwa beim Überqueren einer Straße, nicht angemessen einschätzen kann, ist sie nicht der Kategorie der größtenteils vorhandenen Fähigkeiten zuzuordnen.
F 4.2.10 Verstehen von Aufforderungen
Die Fähigkeit gilt als größtenteils vorhanden, wenn die Person einfache Bitten und Aufforderungen versteht. Aufforderungen in nicht alltäglichen Situationen müssen jedoch erklärt werden. Ggf. sind besonders deutliche Ansprache, Wiederholungen, Zeichensprache, Gebärdensprache oder Schrift erforderlich, um Aufforderungen verständlich zu machen.
Wenn nur einfache Bitten oder Aufforderungen in alltäglichen Situationen wie z.B. „Setze Dich bitte an den Tisch“ verstanden werden, jedoch einfache Aufforderungen in nicht alltäglichen Situationen nicht verstanden werden, ist die Fähigkeit zum Verstehen von Aufforderungen deutlich eingeschränkt. Wenn einfache Bitten in nicht alltäglichen Situationen nicht verstanden werden, ist die Person der Kategorie „Fähigkeit in geringem Maße vorhanden“ zuzuordnen. Die Verwendung von Gebärdensprache, Zeichensprache oder die deutliche Ansprache hat ihre Ursache vielfach in einer somatisch bedingten Einschränkung der Hörfähigkeit, nicht jedoch in einer kognitiven Einschränkung. Dieser Aspekt sollte bei der Beurteilung dieser Fähigkeit nicht herangezogen werden.
F 4.2.11 Beteiligen an einem Gespräch
Die Fähigkeit gilt als größtenteils vorhanden, wenn eine Person zwar in Gesprächen mit Einzelpersonen gut zurecht kommt, in Gruppen jedoch den Faden verliert und Wortfindungsstörungen dabei ggf. regelmäßig auftreten.
Wortfindungsstörungen sind nicht auf die Situation von Gesprächen mit Einzelpersonen vs. Gesprächen in einer Gruppensituation zurückzuführen. Dieser Aspekt ist zu streichen.
4.9.3 F 4.3 Modul 3: Verhaltensweisen und psychische Problemlagen
Vorbemerkung
Wir begrüßen, dass gegenüber bekannten Manuals, welche bei den Erprobungen des NBA eine gleichmäßige Bewertung sichergestellt haben, die Bereiche der Unterstützung ausgeführt werden. Die Definition der Merkmalsausprägungen wird nicht beanstandet. Für die Gesamtbewertung werden die Module 2 und 3 zusammen betrachtet. Für das Modul 2 und das Modul 3 muss im einleitenden Teil vermerkt werden, dass die Aussagen der Pflegeperson hier von besonderer Bedeutung sind. Zum Beispiel ist der Gutachter auf die Angaben angewiesen, ob sich jemand in der außerhäuslichen Umgebung orientieren kann, in der Begutachtungssituation kann dies nicht erhoben werden,
F 4.3.4 Beschädigen von Gegenständen
Gemeint sind hier aggressive, auf Gegenstände gerichtete Handlungen wie Gegenstände wegstoßen oder wegschieben, gegen Gegenstände schlagen, das Zerstören von Dingen sowie das Treten nach Gegenständen.
Wir regen an, in die Aufzählung des Kriteriums das funktionsbeeinträchtigende Einwirken auf zu- oder ableitende Zugänge, Wundverbände, Stomae, Katheterbeutel etc. aufzunehmen.
F 4.3.5 Physisch aggressives Verhalten gegenüber anderen Personen
Physisch aggressives Verhalten gegenüber anderen Personen kann z. B. darin bestehen, nach Personen zu schlagen oder zu treten, andere mit Zähnen oder Fingernägeln zu verletzen, andere zu stoßen oder wegzudrängen oder in Verletzungsversuchen gegenüber anderen Personen mit Gegenständen.
F 4.3.8 Abwehr pflegerischer oder anderer unterstützender Maßnahmen
Hier ist die Abwehr von Unterstützung, z. B. bei der Körperpflege, die Verweigerung der Nahrungsaufnahme, der Medikamenteneinnahme oder anderer notwendiger Verrichtungen sowie die Manipulation an Vorrichtungen wie z. B. Katheter, Infusion, Sondenernährung gemeint. Dazu gehört nicht die willentliche (selbstbestimmte) Ablehnung bestimmter Maßnahmen.
Die Abgrenzung zu einer willentlichen bzw. selbstbestimmten Ablehnung bestimmter Maßnahmen ist nicht trennscharf vornehmbar.
F 4.3.11 Antriebslosigkeit bei depressiver Stimmungslage
Antriebslosigkeit bei depressiver Stimmungslage zeigt sich z. B. daran, dass die Person kaum Interesse an der Umgebung hat, kaum Eigeninitiative aufbringt und Motivierung durch andere benötigt, um etwas zu tun. Sie wirkt traurig oder apathisch, möchte am liebsten das Bett nicht verlassen. Hier ist nicht gemeint, dass Menschen mit rein kognitiven Beeinträchtigungen, z. B. bei Demenz Impulse benötigen, um eine Handlung zu beginnen oder fortzuführen.
Antriebslosigkeit tritt nicht nur bei depressiver Stimmungslage, sondern auch als Begleiterscheinung demenzieller Erkrankungen auf. Entsprechend ist die Überschrift wie folgt zu fassen: „Antriebslosigkeit bei depressiver Stimmungslage oder bei demenziellen Erkrankungen“.
4.9.4 F4.4 Modul 4: Selbstversorgung
F 4.4.1 Waschen des vorderen Oberkörpers
Sich die Hände, das Gesicht, den Hals, die Arme, die Achselhöhlen und den vorderen Brustbereich waschen und abtrocknen.
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Überwiegend selbstständig: | Die Person kann die Aktivität selbständig durchführen, wenn benötigte Gegenstände, z. B. Seife, Waschlappen bereitgelegt werden oder sie Aufforderung bzw. punktuelle Teilhilfen, z. B. Waschen unter den Achseln oder der Brust erhält. |
Überwiegend unselbstständig: | Die Person kann nur geringe Anteile der Aktivität selbstständig durchführen, sich z. B. nur Hände oder Gesicht waschen oder benötigt umfassende Anleitung. |
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Überwiegend Selbstständig kann die Aktivität ausgeführt werden, wenn u.a. Aufforderungen ergehen. Wird umfassende Anleitung benötigt, ist die Person überwiegend unselbstständig. Es stellen sich zwei Fragen: 1. Ab wann wird von einer umfassenden Anleitung gesprochen? 2. Wie wird eine Aufforderung trennscharf von einer Anleitung ermittelt?
Eine Anleitung, im Übrigen mit Blick auf die Aktivierung und Mobilisierung ein Kernelement professioneller Pflege, wird häufig wie eine Aufforderung klingen. Wir schlagen daher zur Klarstellung vor, dann von einer überwiegenden Selbstständigkeit auszugehen, wenn „Aufforderung“ „im geringen Umfang“ erforderlich ist. Ferner schlagen wir vor, dann von einer überwiegenden Unselbstständigkeit auszugehen, wenn „Anleitung“ „überwiegend“ erforderlich ist.
F 4.4.2 Körperpflege im Bereich des Kopfes
Kämmen, Zahnpflege, Prothesenreinigung, Rasieren
Überwiegend unselbstständig: | Die Person kann nur geringe Anteile der Aktivität selbständig leisten, so beginnt sie z. B. mit dem Zähneputzen oder der Rasur, ohne die Aktivität zu Ende zu führen. |
Unselbstständig: | Die Person kann sich an den Aktivitäten nicht oder nur minimal beteiligen. |
Die Durchführung „geringer Anteile der Aktivität“ führt zu einer überwiegenden Unselbstständigkeit. Eine „minimale Beteiligung“ kann mit „unselbstständig“ bewertet werden. Zwischen diesen Bewertungsvorgaben liegt keine klare Trennlinie. Wir begrüßen, dass gegenüber bekannter Manuals, welche bei den Erprobungen des NBA eine gleichmäßige Bewertung sichergestellt haben, in der Kategorie „unselbstständig“ diese Erweiterung nun enthalten ist, regen jedoch an, Beispiele für eine „minimale Beteiligung“ zu geben, wie z.B. „der Versuch zur Durchführung einer Aktivität“.
F 4.4.3 Waschen des Intimbereichs
Den Intimbereich waschen und abtrocknen
Überwiegend unselbstständig: | Die Person kann nur geringe Anteile der Aktivität selbständig durchführen, sich z. B. nur den vorderen Intimbereich waschen. |
Unselbstständig: | Die Person kann sich an der Aktivität nicht oder nur minimal beteiligen |
Die Durchführung „geringer Anteile der Aktivität“ führt zu einer überwiegenden Unselbstständigkeit. Eine „minimale Beteiligung“ kann mit „unselbstständig“ bewertet werden. Zwischen diesen Bewertungsvorgaben liegt keine klare Trennlinie. Wir begrüßen, dass gegenüber bekannter Manuals, welche bei den Erprobungen des NBA eine gleichmäßige Bewertung sichergestellt haben, in der Kategorie „unselbstständig“ diese Erweiterung nun enthalten ist, regen jedoch an, Beispiele für eine „minimale Beteiligung“ zu geben, wie z.B. „der Versuch zur Durchführung einer Aktivität“.
F 4.4.4 Duschen und Baden einschließlich Waschen der Haare
Durchführung des Dusch- oder Wannenbades einschließlich des Waschens der Haare. Dabei sind neben der Fähigkeit, den Körper waschen zu können, auch Sicherheitsaspekte zu berücksichtigen. (Teil-) Hilfen beim Waschen in der Wanne, Dusche sind hier ebenso zu berücksichtigen wie die Hilfe beim Ein- und Aussteigen oder eine notwendige Überwachung während des Bades. Dazu gehört auch das Abtrocknen, Haare waschen und föhnen.
Überwiegend selbstständig: | Die Person kann die Aktivität selbstständig durchführen, wenn Utensilien vorbereitet bzw. bereitgestellt werden, einzelne Handreichungen geleistet werden, z. B. Stützen beim Ein-, Aussteigen, Bedienung eines Badewannenlifters, Hilfe beim Haare waschen oder Föhnen, beim Abtrocknen oder wenn während des (Dusch-) Bades aus nachvollziehbaren Sicherheitsgründen Anwesenheit erforderlich ist. |
Überwiegend unselbstständig: | Die Person kann nur einen stark begrenzten Teil der Aktivität selbstständig durchführen, z. B. das Waschen des vorderen Oberkörpers. |
Wenn während des (Dusch-) Bades aus nachvollziehbaren Sicherheitsgründen Anwesenheit erforderlich ist, ist aus unserer Sicht die Kategorie überwiegend unselbstständig zu Grunde zu legen. Einen stark begrenzten Teil der Aktivität selbstständig durchführen führt zur „überwiegenden Selbstständigkeit“. Da für einen begrenzten Teil ein Beispiel gegeben wird ist die Engführung „stark“ aus unserer Sicht obsolet und zu streichen. Wir regen an, auch hier zu berücksichtigen, dass dies auch für Aktivitäten gilt, die begonnen und nicht zu Ende geführt werden.
F 4.4.5 An- und Auskleiden des Oberkörpers
Bereitliegende Kleidungsstücke, z. B. Unterhemd, T-Shirt, Hemd, Bluse, Pullover, Jacke, BH, Schlafanzugoberteil oder Nachthemd, an- und ausziehen.
Die Beurteilung ist unabhängig davon vorzunehmen, ob solche Kleidungsstücke derzeit getragen werden. Die situationsgerechte Auswahl der Kleidung ist nicht hier, sondern unter Punkt F 4.2.6 zu berücksichtigen. Das An- und Ablegen von körpernahen Hilfsmitteln ist unter Punkt F 4.5.7 zu berücksichtigen.
Überwiegend selbstständig: | Die Person kann die Aktivität beispielsweise selbstständig durchführen, wenn Kleidungsstücke passend angereicht oder gehalten werden beim Anziehen eines Hemdes etc. Auch wenn Hilfe nur bei Verschlüssen erforderlich ist, trifft die Bewertung „überwiegend selbstständig“ zu, ebenso wenn nur Kontrolle des Sitzes der Kleidung und Aufforderungen zur Vervollständigung der Handlung erforderlich sind. |
Überwiegend unselbstständig: | Die Person kann nur bei einem stark begrenzten Teil der Aktivität mithelfen, beispielsweise die Hände in die Ärmel eines bereitgehaltenen T-Shirts schieben. |
Die Vorgaben für die Bewertung “ Überwiegend selbstständig: ” sind aus unserer Sicht zu weitgehend. Wenn z.B. bei dementiellen Veränderungen jedes Kleidungsstück nacheinander angereicht und der Vorgang demonstriert werden muss, wäre nach diesen Vorgaben die betroffene Person „überwiegend selbstständig“, obwohl er einer kleinschrittigen Unterstützung bedarf. Ferner geht i.d.R. nach unserer Auffassung die regelmäßige Aufforderung zur Vervollständigung mit einem stärkeren Grad der Unselbstständigkeit einher. Wir regen daher an, die Aktivitäten des Anreichens – im Sinne eines vollständigen Anreichens – und die Aufforderung zur Vervollständigung in die Kategorie Überwiegend unselbstständig zu setzen. Hilfsweise wäre „Aufforderung“ in der Kategorie „überwiegend selbstständig“ durch „gelegentliche Aufforderung“ und die Kategorie „überwiegend unselbstständig“ durch häufige Aufforderung“ zu ergänzen.
F 4.4.6 An- und Auskleiden des Unterkörpers
Bereitliegende Kleidungsstücke, z. B. Unterwäsche, Hose, Rock, Strümpfe und Schuhe, an- und ausziehen.
Die Beurteilung ist unabhängig davon vorzunehmen, ob solche Kleidungsstücke derzeit getragen werden. Die situationsgerechte Auswahl der Kleidung ist unter Punkt F 4.2.6 zu berücksichtigen. Das An- und Ablegen von körpernahen Hilfsmitteln ist unter Punkt F 4.5.7 zu berücksichtigen, z. B. Kompressionstrümpfe.
Überwiegend selbstständig: | Die Person kann die Aktivität beispielsweise selbstständig durchführen, wenn Kleidungsstücke angereicht oder gehalten werden (Einstiegshilfe). Auch wenn Hilfe nur bei Verschlüssen, z. B. Schnürsenkel binden, Knöpfe schließen oder Kontrolle des Sitzes der Kleidung und Aufforderungen zur Vervollständigung der Handlung erforderlich sind, trifft die Bewertung „überwiegend selbstständig“ zu. |
Überwiegend unselbstständig: | Die Person kann die Aktivität zu einem geringen Teil selbstständig durchführen. Beispielsweise gelingt das Hochziehen von Hose, Rock zur Taille selbstständig, zuvor muss das Kleidungsstück jedoch von der Pflegeperson über die Füße gezogen werden. |
Hier trifft dieselbe Aussage wie in F 4.4.5 zu. Die Vorgaben für die Bewertung „Überwiegend selbstständig: ” sind aus unserer Sicht zu weitgehend, wir regen die zuvor genannte Anpassung auch in F 4.4.6 an.
F 4.4.8 Essen
Bereit gestellte, mundgerecht zubereitete Speisen essen
Dies beinhaltet das Aufnehmen, zum Mund Führen, ggf. Abbeißen, Kauen und Schlucken von mundgerecht zubereiteten Speisen, die üblicherweise mit den Fingern gegessen werden, z. B. Brot, Kekse, Obst oder das Essen mit Gabel oder Löffel, ggf. mit speziellen Hilfsmitteln wie adaptiertem Besteck. Zu berücksichtigen ist auch, inwieweit die Notwendigkeit der ausreichenden Nahrungsaufnahme (auch ohne Hungergefühl oder Appetit) erkannt und die empfohlene, gewohnte Menge tatsächlich gegessen wird. Das Einhalten von Diäten ist nicht hier, sondern unter Punkt F 4.5.16 zu bewerten. Die Beurteilung ist auch dann vorzunehmen, wenn die Nahrungsaufnahme über eine Sonde bzw. parenteral erfolgt.
Unklar ist in den allgemeinen Grundlagen, wie die Notwendigkeit der ausreichenden Nahrungsaufnahme (auch ohne Hungergefühl oder Appetit) erkannt werden soll. Hier regen wir eine Klarstellung an.
F 4.4.9 Trinken
Bereitstehende Getränke aufnehmen, ggf. mit Gegenständen wie Strohhalm, Spezialbecher mit Trinkaufsatz
Zu berücksichtigen ist auch, inwieweit die Notwendigkeit der Flüssigkeitsaufnahme (auch ohne ausreichendes Durstgefühl) erkannt und die empfohlene oder gewohnte Menge tatsächlich getrunken wird. Die Beurteilung der Selbständigkeit ist auch dann vorzunehmen, wenn die Flüssigkeitsaufnahme über eine Sonde bzw. parenteral erfolgt.
Unklar ist in den allgemeinen Grundlagen, wie die Notwendigkeit der Flüssigkeitsaufnahme (auch ohne ausreichendes Durstgefühl) erkannt werden soll. Hier regen wir eine Klarstellung an.
F 4.4.10 Benutzen einer Toilette oder eines Toilettenstuhls
Gehen zur Toilette, Hinsetzen und Aufstehen, Sitzen während der Blasen-oder Darmentleerung, Intimhygiene und Richten der Kleidung.
Die Beurteilung ist auch dann vorzunehmen, wenn anstelle der Toilettenbenutzung eine Versorgung mit Hilfsmitteln erfolgt, z. B. Inkontinenzmaterial, Katheter, Urostoma, Ileo- oder Colostoma.
Überwiegend selbstständig: | Die Person kann die Aktivität überwiegend selbstständig durchführen. Personelle Hilfe kann sich beispielsweise beschränken auf einzelne Handlungsschritte wie: - nur Bereitstellen und Leeren des Toilettenstuhls (alternativ Urinflasche oder anderer Behälter), - nur Orientierungshinweise zum Auffinden der Toilette, Begleitung auf dem Weg zur Toilette, - nur Anreichen von Toilettenpapier oder Waschlappen, Intimhygiene nur nach Stuhlgang, - nur Unterstützung beim Hinsetzen, Aufstehen von der Toilette, - nur punktuelle Hilfe beim Richten der Bekleidung |
Die Regelungen werden im Kern nicht beanstandet. Unverständlich ist, wieso
bei diesem Item Aufforderungen und Anleitungen ausgenommen werden? Anleitungsleistungen sind mit Blick auf die Aktivierung und Mobilisierung ein Kernelement professioneller Pflege. Gemäß anerkannter Instrumente zur Kontinenzprofileinschätzung und den sich daraus ableitenden pflegerischen Maßnahmen ist u.a. das gezielte Toilettentraining benannt. Dabei beschränkt sich diese Maßnahme nicht nur auf einen kurzen Zeitraum, sondern kann dauerhaft zum Einsatz kommen. Wir schlagen daher vor, das auf längere Zeit erforderliche Toilettentraining und die erforderliche Anleitung in der Kategorie „überwiegend selbstständig aufzunehmen“.
F 4.4.11 Bewältigen der Folgen einer Harninkontinenz und Umgang mit Dauerkatheter und Urostoma
Inkontinenz- und Stomasysteme sachgerecht verwenden, nach Bedarf wechseln und entsorgen.
Dazu gehört auch das Entleeren eines Urinbeutels bei Dauerkatheter, Urostoma oder die Anwendung eines Urinalkondoms. Die regelmäßige Einmalkatheterisierung ist nicht hier, sondern unter Punkt F 4.5.10 zu erfassen.
Überwiegend selbstständig: | Die Person kann die Aktivität überwiegend selbstständig durchführen, wenn Inkontinenzsysteme angereicht oder entsorgt werden oder die Person an den Wechsel erinnert wird. |
Die Erinnerung an den Wechsel von Inkontinenzsystemen führt im vorliegenden Item noch zu einer überwiegenden Selbstständigkeit. Wir geben zu bedenken, dass in diesen Fällen i.d.R. immer eine pflegerische Handlung erforderlich ist, die qua Definition automatisch zur überwiegenden Selbstständigkeit führt, nämlich dann, wenn sich die Person am Wechsel beteiligt. Zur Klarstellung regen wir an, die Maßgabe in der Kategorie „überwiegend Selbstständig“ zur Erinnerung „oder die Person an den Wechsel erinnert wird“ zu ergänzen um „oder die Person nur an den Wechsel erinnert wird.“
F 4.4.12 Bewältigen der Folgen einer Stuhlinkontinenz und Umgang mit Stoma
Inkontinenz- und Stomasysteme sachgerecht verwenden, nach Bedarf wechseln und entsorgen.
Dazu gehört Inkontinenzsysteme, z. B. große Vorlagen mit Netzhose, Inkontinenzhose mit Klebestreifen oder Pants sachgerecht verwenden, nach Bedarf wechseln und entsorgen. Dazu gehört auch die Anwendung eines Analtampons oder das Entleeren oder Wechseln eines Stomabeutels bei Enterostoma. Die Pflege des Stomas und der Wechsel einer Basisplatte ist unter F 4.5.9 zu berücksichtigen.
Überwiegend selbstständig: | Die Person kann die Aktivität überwiegend selbstständig durchführen, wenn Inkontinenzsysteme bereit gelegt und entsorgt werden oder die Person an den Wechsel erinnert wird. |
Die Erinnerung an den Wechsel von Inkontinenzsystemen führt im vorliegenden Item noch zu einer überwiegenden Selbstständigkeit. Wir geben zu bedenken, dass in diesen Fällen i.d.R. immer eine pflegerische Handlung erforderlich ist, die qua Definition automatisch zur „überwiegenden Selbstständigkeit“ führt, nämlich dann, wenn sich die Person am Wechsel beteiligt. Zur Klarstellung regen wir an, die Maßgabe in der Kategorie „überwiegend Selbstständig“ zur Erinnerung „oder die Person an den Wechsel erinnert wird“ zu ergänzen um „oder die Person nur an den Wechsel erinnert wird.“
F 4.4.13 Ernährung parenteral oder über Sonde
Ernährung über einen parenteralen Zugang (Port) oder über einen Zugang in den Magen oder Dünndarm (PEG/PEJ)
Bei den hier betroffenen Personenkreisen ist i.d.R. die Motivation zur eigenständigen oralen Nahrungsaufnahme der ausschlaggebende Faktor dafür, wie häufig zusätzlich zur oralen Nahrungsaufnahme parenteral oder per Sonde ernährt werden muss. Wir gehen davon aus, dass der hierfür einzusetzende Aufwand zur Motivation über die Items F 4.4.8. und F. 4.4.9 erfasst wird.
4.9.5 F 4.5 Modul 5: Bewältigung von und selbstständiger Umgang mit
krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen und Belastungen
In 4.9.5 werden Erläuterung zum Modul 5 des Formulargutachtens gemacht.
F 4.5.1 Medikation
F.4.5.1 bezieht sich auf die Medikation. Hier wird ausgeführt, dass bei einer Verabreichung der Medikamente, das Stellen nicht gesondert zu berücksichtigen ist. Diese Einschränkung teilen wir so nicht, unserer Auffassung nach ist das Stellen nicht gesondert zu berücksichtigen, wenn Stellen und Verabreichung zusammenfallen. Sollte aber das Stellen abweichend von der Verabreichung erfolgen, dann ist auch das Stellen zu berücksichtigen. Hier ist eine Präzisierung vorzunehmen.
F 4.5.3 Versorgung intravenöser Zugänge (Port)
In 4.5.3 wird ausgeführt, dass die Port-Versorgung oft fachpflegerisch erforderlich ist. Aus unserer pflegefachlichen Perspektive ist das „oft“ durch ein „immer“ zu ersetzen.
F 4.5.4 Absaugen und Sauerstoffgabe
Beim Thema Absaugen und Sauerstoffgabe fehlt unserer Ansicht nach das An- und Ablegen von einer Nasenbrille und neben der Bereitstellung der Instrumente/Geräte ist auch die Berücksichtigung der Kontrolle, Pflege und Reinigung der Instrumente/Geräte aufzunehmen. Es sind entsprechende Ergänzungen vorzunehmen.
F 4.5.5 Einreibungen sowie Kälte- und Wärmeanwendungen
Laut Entwurf der Begutachtungs-Richtlinien sind hier alle externen Anwendungen mit ärztlich angeordneten Salben, Cremes, Emulsionen etc. abzubilden, außerdem Kälte- und Wärmeanwendungen, die z. B. bei rheumatischen Erkrankungen verordnet werden. Unserer Ansicht nach kann es hier auch mündliche Anordnungen/Verordnungen geben, insbesondere bei nichtverschreibungspflichtigen Salben etc., deshalb ist auch der Versicherte bzw. sein Angehöriger zu befragen.
F 4.5.6 Messung und Deutung von Körperzuständen
Auch hier ist zu berücksichtigen, dass Anordnungen/Verordnungen auch mündlich durch den behandelnden Arzt erfolgen können.
F 4.5.7 Körpernahe Hilfsmittel
Beim An- und Ablegen von körpernahen Hilfsmitteln wie z. B. von Prothesen, kieferorthopädische Apparaturen, Orthesen, Brille, Hörgerät oder Kompressionsstrümpfen handelt es sich unserer Auffassung nach um zwei Aktivitäten. Dies ist zu berücksichtigen. Entsprechende Präzisierungen sind vorzunehmen.
F 4.5.9 Versorgung mit Stoma
Hier ist zu ergänzen, dass es sich um einen ärztlich verordneten Verbandswechsel handeln muss.
F 4.5.12 Zeit- und technikintensive Maßnahmen in häuslicher Umgebung
Hier wird im Entwurf der Begutachtungs-Richtlinie ausgeführt: die spezielle Krankenbeobachtung (gemäß Pos. 24 HKP-Richtlinien) ist meist rund um die Uhr erforderlich, z. B. bei maschineller Beatmung, und ist mit 1x täglich einzutragen.
Laut Anlage 1 des PSG II werden bei täglich erforderlichen zeit- und technikintensiven Maßnahmen 60 Punkte vergeben, so dass wir die Berücksichtigung der speziellen Krankenbeobachtung mit 1 x täglich für zureichend erachten. Sollte sich jedoch die Punktzahl ändern, dann ist die Bewertung neu anzupassen.
F. 4.5.16 Einhalten einer Diät oder anderer krankheits- oder therapiebedingter Verhaltensvorschriften
Die Unterscheidung zwischen überwiegend selbstständig und überwiegend unselbstständig ist nicht nachzuvollziehen. Das Einhalten einer Diät ist in der Regel bei allen Mahlzeiten notwendig, so dass nicht ersichtlich ist, warum ein Eingreifen nur einmal täglich erforderlich sein sollte. Es ist entweder erforderlich oder es ist nicht erforderlich. Des Weiteren möchten wir darauf verweisen, dass die Diät auch mündlich verordnet sein kann. Dies ist zu berücksichtigen.
4.9.6 F 4.6 Modul 6: Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte
F 4.6.1 Gestaltung des Tagesablaufs und Anpassung an Veränderungen
Den Tagesablauf nach individuellen Gewohnheiten und Vorlieben einteilen und bewusst gestalten und ggf. an äußere Veränderungen anpassen.
„Überwiegend selbstständig ist eine Person beispielsweise auch dann, wenn ihre Kommunikationsfähigkeit oder Sinneswahrnehmung stark beeinträchtigt ist und sie daher Hilfe benötigt, um den Tagesablauf mit anderen Menschen abzustimmen.“ Und „Überwiegend unselbstständig ist auch eine Person, die zwar selbst planen und entscheiden kann, aber für jegliche Umsetzung personelle Hilfe benötigt.“
Die Abgrenzung zwischen „Überwiegend selbstständig“ und „Überwiegend unselbstständig“ ist unklar gefasst. In beiden Fällen liegt ein Hilfebedarf vor. Eine Person ist nicht überwiegend selbstständig, wenn sie Hilfe benötigt, um den Tagesablauf mit anderen Menschen abzustimmen.
4.10.3 F 5.3 Ist die Pflege in geeigneter Weise sichergestellt?
Auf Seite 78 (Mitte) wird dazu ausgeführt: „Diese Kriterien sollten erst dann als erfüllt betrachtet werden, wenn die Möglichkeiten zur Sicherstellung der häuslichen Pflege durch Pflegesachleistung, teilstationäre Pflege oder Kurzzeitpflege geprüft worden sind.“
Dieser Satz ist auf seinen Sinngehalt auch in Bezug auf die vorangegangenen Ausführungen zu prüfen.
4.11 Erhebung weiterer versorgungsrelevanter Informationen
4.11.1 Außerhäusliche Aktivitäten
Unter F 6.1.2. sieht der Richtlinienentwurf vor, die Erfassung des Kriteriums außerhalb der Wohnung oder Einrichtung auf einen Nahbereich bis zu 500 m zu begrenzen. Diese Begrenzung sieht das Gesetz nicht vor (siehe PSG II Beschlussempfehlung BT S. 60). Sie ist unserer Auffassung nach wieder zurückzunehmen.
Anmerkung zu 4.11.2 Haushaltsführung
Hier wird davon ausgegangen, dass die Person dies selbstständig kann oder nicht. Bei überwiegend selbstständig oder überwiegend unselbstständig braucht es fast immer auch einen kognitiven Unterstützungsbedarf, damit die Ausprägung des Kriteriums als zutreffend gilt. Dies ist in der Realität nicht immer gegeben. Hier müsste klargestellt werden, dass jemand auch nur aufgrund einer somatischen Beeinträchtigung eine Einschränkung der Selbstständigkeit haben kann (mit den Ausprägungen „überwiegend selbstständig“ bzw. „überwiegend unselbstständig“). Dieser Personenkreis hat z.B. eine Schwächung der Körperkraft, eine Beeinträchtigung des Gleichgewichtssinns/der Balancefähigkeit oder der Beweglichkeit der Extremitäten. Er benötigt z.B. alleine deshalb Unterstützung, weil er z.B. einen Kochtopf nicht mehr tragen kann, aber durchaus die Mahlzeiten selbstständig zubereiten kann. Die Ausprägungen der Kategorien „überwiegend selbstständig“ bzw. „überwiegend unselbstständig“) sind in den Punkten F. 6.2.2. bis F6.2.5 entsprechend zu präzisieren.
Zu F 6.2.6 Umgang mit finanziellen Angelegenheiten versus F 6.2.7 Umgang mit Behördenangelegenheiten
4.12 F 7 Empfehlungen zur Förderung der Selbstständigkeit, Prävention
und Rehabilitation (über die bisherige Versorgung hinaus)
Leistung zur medizinischen Rehabilitation und Indikationsstellung
Durch rehabilitative, präventive und andere Leistungen kann Pflegebedürftigkeit beeinflusst werden. Es wird dargestellt, wie Leistungen zur medizinischen Rehabilitation nach dem SGB IX und die Begutachtung nach Pflegebedürftigkeit nach SGB XI durch Umsetzung des Grundsatzes „Rehabilitation vor Pflege“ verbunden werden. Die konzeptionelle und begriffliche Grundlage der medizinischen Rehabilitation, die ICF, wird benannt und die Indikationsstellung für Leistungen der medizinischen Rehabilitation erläutert. Weitere rehabilitativ ausgerichtete Einzelleistungen (u.a. Hilfsmittel) werden erörtert.
Konzept, Indikationsstellung und die Rolle der medizinischen Rehabilitation im Zuge der Begutachtung der Pflegebedürftigkeit werden plausibel dargestellt. Trägerübergreifende Grundlage der medizinischen Rehabilitation ist das SGB IX, das in seinem § 26 Zweck und Leistungselemente der medizinischen Rehabilitation regelt. Da grundsätzlich, wie auf S. 86 richtig vermerkt, eine Mehrzahl von Trägern für Leistungen zur medizinischen Rehabilitation zuständig sein können, ist diese trägerübergreifende Rechtsgrundlage auch zu benennen.
Es wird vorgeschlagen, den vorletzten Satz S. 86 wie folgt zu fassen: „Leistungen zur medizinischen Rehabilitation werden in ambulanter oder stationärer Form als komplexe, interdisziplinäre Leistung nach § 26 SGB IX erbracht“ (statt § 40 SGB V).
Der letzte Satz auf S. 86 sollte um die Worte „ und Leistungen nach § 40 SGB V erbringen“ ergänzt werden: „Bei der hier in Frage kommenden Patientengruppe wird überwiegend die gesetzliche Krankenversicherung zuständig sein und Leistungen nach § 40 SGB V erbringen“.
Rehabilitationsfähigkeit
Als Ausschlusskriterien für eine (geriatrische) Rehabilitation werden u.a. auf Seite 89 genannt:
Begleiterkrankungen bzw. Komplikationen, die eine aktive Teilnahme an der Rehabilitation verhindern, z.B.
- schwere Orientierungsstörungen, z.B. mit Wanderungstendenzen
- ausgeprägte psychische Störungen, wie schwere Depression mit Antriebsstörung oder akute Wahnsymptomatik
- massiv eingeschränkte kognitive Fähigkeiten, z.B. bei hochgradiger Demenz
- ausgeprägte Wundheilungsstörungen, Lage und Größe eines Dekubitus
- Darminkontinenz, wenn diese Ausdruck einer weit fortgeschrittenen geistigen und körperlichen Erkrankung ist
Schwere Orientierungsstörungen, wie Wanderungstendenzen und Darminkontinenz, wenn diese Ausdruck einer weit fortgeschrittenen geistigen Erkrankung sowie massiv eingeschränkte kognitive Fähigkeiten schließen gerade viele Menschen mit Demenzerkrankungen von der Rehabilitation aus. Wanderungstendenzen, Stuhlinkontinenz und Antriebsstörungen bei Depressionen sind aus Sicht der BAGFW in keinem Fall Ausschlusskriterien, sondern sogar Indikationen für das Erfordernis einer geriatrischen Rehabilitation.
Gerade der geriatrische Patient weist sowohl somatische Einschränkungen als auch psychosoziale Störungen mit entsprechenden Symptomen auf. Auch wenn dieser Personenkreis nicht von einer stationären Rehabilitation profitieren kann, ist er doch sehr wohl der mobilen geriatrischen Rehabilitation zugänglich. Darauf wird auch auf Seite 91 dieses Abschnitts ausdrücklich und sachgerecht verwiesen. Im Übrigen kommt es auf den Einzelfall an.
Aus diesen Gründen hält es die BAGFW für sinnvoll, an die Stelle eines Katalogs von möglichen Ausschlussgründen ein Freitextfeld zu setzen, in welchem der Gutachter angeben soll, warum er zu der Einschätzung kommt, dass der Antragsteller nicht rehabilitationsfähig ist. Sollte der Katalog beibehalten werden, sind die oben genannten Spiegelstriche schwere Orientierungsstörungen, ausgeprägte psychische Störungen, massiv eingeschränkte kognitive Fähigkeiten sowie Darminkontinenz zu streichen.
Empfehlungen zur Hilfsmittel- und Pflegehilfsmittelversorgung
Außerdem können Adaptionshilfen, Gehhilfen, Hilfsmittel gegen Dekubitus, aufsaugende Inkontinenzhilfen, Stehhilfen und Stomaartikel in Betracht kommen, da es sich hierbei im Einzelfall um pflegenahe Produkte handeln kann.
Gehhilfen (wie z.B. Gehwagen, Gehgestelle), Hilfsmittel gegen Dekubitus und aufsaugende Inkontinenzhilfen werden in der vorliegenden Richtlinie als „pflegenahe“ Produkte bezeichnet. Je nach Produktart gehören sie jedoch überwiegend zu den Pflegehilfsmitteln. Der Begriff „pflegenahe Produkte“ ist hier nicht zutreffend, überdies nicht hinreichend spezifiziert und somit zu streichen.
Wohnumfeld verbessernde Maßnahmen (Optimierung der räumlichen Umgebung)
Der Gutachter hat alle zum Zeitpunkt der Begutachtung erforderlichen Maßnahmen zu dokumentieren. Diese Maßnahmen werden von der Pflegekasse als eine Verbesserungsmaßnahme gewertet…
Die BAGFW begrüßt, dass die Gutachter mögliche wohnumfeldverbessernde Maßnahmen vollumfänglich zu erheben haben. Unklar ist jedoch, warum alle dokumentierten möglichen Verbesserungen als „eine Verbesserungsmaßnahme“ zu werten sind. § 40 Absatz 4 Satz 2 sieht vor, dass die Zuschüsse für wohnumfeldverbessernde Maßnahmen einen Betrag in Höhe von 4000 Euro je Maßnahme nicht überschreiten dürfen. Dies bedeutet, dass jede einzelne Maßnahme leistungsauslösend ist. Da das Gutachten dem Antragsteller grundsätzlich zu übermitteln sind, sollte das Formulargutachten zur Verbesserung der Pflegebedürftigkeit so ausgestaltet sein, dass alle Empfehlungen als Einzelmaßnahmen aufgelistet werden. Das Gutachten, das dem Antragsteller im Anschluss übermittelt wird, muss so im Teil der wohnumfeldverbessernden Maßnahmen ausgestaltet sein, dass dem Antragsteller transparent wird, dass es sich bei dem Empfehlungen jeweils um Einzelmaßnahmen handelt.
In den bisherigen Richtlinien waren Beispiele für wohnumfeldverbessernde Maßnahmen enthalten. Diese sind in der vorliegenden Entwurfsfassung entfallen. Beispiele können dem Gutachter jedoch eine Orientierung geben. Daher sollen zumindest die beispielhaften Aufzählungen der alten Richtlinie wieder aufgenommen werden.
Edukative Maßnahmen/Beratung/Anleitung
Unter Edukation werden Lern- und Bildungsmaßnahmen verstanden, die in vier Kernaktivitäten zusammengefasst werden: Information, Schulung, Beratung und Moderation. (…). Die vier Kernaktivitäten werden wie folgt definiert:
- Information (….)
- Beratung (….)
- Schulung (….)
- Anleitung (….)
Die BAGFW begrüßt nachdrücklich, dass edukative Maßnahmen in die Richtlinie aufgenommen werden, denn dies entspricht dem neuen Ansatz der Ressourcenorientierung und Förderung von Selbstständigkeit. Zur Edukation gehört wesentlich die Anleitung. Dieses Kernelement ist auf S. 96 in den vier Spiegelstrichen, welche die Kernaktivitäten aufzählen, auch wiedergegeben, jedoch nicht auf S. 95, wo lediglich von Moderation die Rede ist. Der Begriff der „Moderation“ auf S. 95 sollte durch „Anleitung“ ersetzt werden.
Edukative Maßnahmen sind systematisch bei den einzelnen Modulen zu erfassen. So sind diese bei F 7.1.3 beispielhaft ausgeführt (auch wenn wir die Untergliederung „edukative Maßnahmen, Anleitung bzw. Vermittlung von Kenntnissen und Fertigkeiten im Umgang mit Hilfsmitteln und medizinischen Geräten“ so nicht teilen können), fehlen jedoch bei F 7.1.2 und F 7.1.1.
Präventive Maßnahmen
Wird eine Beratung zu Leistungen zur verhaltensmäßigen Primärprävention nach § 20 Absatz 5 SGB V empfohlen, kann sich diese ausschließlich entsprechend des Leitfadens Prävention auf Maßnahmen/Kurse zu folgenden Handlungsfeldern beziehen.
- (….)
- (…) usw.
Hinsichtlich dieser Passage wird in Fußnote 7 auf den Leitfaden Prävention in der Fassung vom 10. Dezember 2014 Bezug genommen. Die Fußnote ist zu erweitern um „bzw. in der jeweils geltenden Fassung“. Dies ist von hoher Bedeutung, da die Erweiterung des Formulargutachtens um die Maßnahmen zur verhaltensbezogenen Primärprävention nach § 20 Absatz 5 SGB V auf das „Gesetz zur Stärkung der Gesundheitsförderung und der Prävention“ zurückzuführen ist. Dieses Gesetz ist am 25. Juli 2015 in Kraft getreten. Die Neufassung des Leitfadens Prävention auf dieser neuen gesetzlichen Grundlage steht jedoch noch aus.
Im Formulargutachten ist für die präventiven Maßnahmen lediglich ein Freitextfeld
vorgesehen. Dies bietet dem Gutachter zu wenig Orientierung für seine Hinweise. Es
sollten folgende präventive Handlungsfelder benannt werden:
- Bewegungsförderung
- Sturzprävention
- Beseitigung von Fehl- und Mangelernährung / Gewichtsregulierung
- Maßnahmen zur mentalen und geistigen Anregung / Gedächtnistraining
- Verantwortungsbewusster Umgang mit Sucht-/Genussmitteln
- Wohnberatung / wohnumfeldverbessernde Maßnahmen
- Verbesserung der psychosozialen Gesundheit
Allgemeine Anmerkung: Der BAGFW ist nicht klar, wo und inwiefern sich die unter F.7 genannten Empfehlungen zu den präventiven Maßnahmen sowie zu den edukativen Maßnahmen systematisch im Formulargutachten wiederfinden (siehe 7.1 und 8.4 u. 8.5)?
Die unter Punkt F.7 „Empfehlungen zur Förderung der Selbstständigkeit, Prävention und Rehabilitation“ verstehen wir als Einführungs- und Einleitungskapitel zu den einzelnen Empfehlungen. Hier vermissen wir Einführungen zum Thema „Intensivierung therapeutischer Maßnahmen“.
4.12.1 F 7.1 Möglichkeiten zur Verbesserung der festgestellten
Selbstständigkeit der Fähigkeiten
F 7.1.1 Mobilität, Selbstversorgung und Haushaltsführung
4 Präventive Maßnahmen
Eine Beratung zur Mundgesundheit und zur Verhütung von Zahnerkrankungen kann nach § 22a SGB V angeregt werden.
Die Leistung nach § 22a SGB V ist eine Regelleistung der Krankenkassen. Daher soll die „Kann“-Formulierung in eine „Soll“-Formulierung überführt werden.
4.13. F 8 Weitere Empfehlungen und Hinweise für die Pflegekasse
F 8.9 Der Antragsteller widerspricht der Übersendung des Gutachtens
Regelhaft soll die Pflegekasse dem Antragsteller mit dem Bescheid auch das Gutachten zur Verfügung stellen.
Generell soll die Überschrift lauten „Übersendung des Gutachtens an den Antragsteller“, denn dies ist die Aufgabe der Pflegekasse, den Antragsteller über sein Recht auf Erhalt des Gutachtens zu informieren. Entsprechend muss die „Soll“-Formulierung in eine „Muss“-Formulierung zu ändern: „Regelhaft hat die Pflegekasse dem Antragsteller mit dem Bescheid auch das Gutachten zur Verfügung zu stellen“.
6.2 Erwachsene - Formulargutachten zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit
Bei den Anlässen des Antrages / Auftrages fehlen sämtliche Leistungen, auf welche Personen in Pflegegrad 1 Anspruch haben, z.B. § 45a, § 38a und § 40 Abs. 4 SGB XI.
Auf S. 169 ist neben dem Beginn der Begutachtung auch das Ende aufzunehmen.
Ad 1.4: Es fehlen die vollstationären Einrichtungen. Des Weiteren fehlt eine Kategorie Pflege durch An-/Zugehörige/andere Pflegepersonen.
Ad 4.5: Modul 5: Bei den Angaben zur ärztlichen Versorgung sind die Kategorien Hausbesuche und Praxisbesuche zu ergänzen.
Ad 7.3.1: Bei den Items zur Bewertung der Rehabilitationsfähigkeit befinden sich Punkte, die im vorderen Teil nicht angeführt sind, wie z.B. fehlende Kooperations- und Einsichtsfähigkeit aufgrund fehlender oder fortgeschrittener dementieller Störungen. Dieser Katalog ist an den vorderen Kriterienkatalog anzupassen.
Ad 9: Beteiligte Gutachter: Des Weiteren ist die berufliche Qualifikation des Begutachters anzugeben. Dies umfasst auch die Qualifikation und ggf. die Fachrichtung der externen Gutachter.
]]>Grundsätzlich sehen wir jedoch große Umsetzungsprobleme insbesondere in ambulanten und teilstationären Versorgungssettings, in denen Hilfsmittel, die den Versicherten gehören, von den Mitarbeitern der Pflegeeinrichtungen angewendet werden müssen und für die auch in der eigenen Häuslichkeit und den teilstationären Pflegeeinrichtungen keine geeigneten Aufbereitungsanlagen zur Verfügung stehen (z.B. Auffangbehälter von Absauggeräten).
Artikel 1
Zu § 2 Begriffsbestimmungen
Absatz 1 konkretisiert die Begrifflichkeit des Betreibers und erweitert den Begriff des Betreibers für Medizinprodukte. Die Begriffserweiterung definiert zukünftig Gesundheitseinrichtungen als Betreiber der eigenen und der von Patienten in die Einrichtung mitgebrachten Medizinprodukte, unabhängig von den Eigentumsverhältnissen (Absatz 1, Satz 2). In Sinne des Abs. 3 zählen auch diejenigen zu den Betreibern, die Medizinprodukte bereitstellen. Damit verbunden sind die Beachtung der Vorgaben und Verantwortlichkeiten für Medizinproduktebetreiber.
Bewertung:
Die Konkretisierung der Begrifflichkeit des Betreibers trägt zur Transparenz, Aufgabenklärung und Verantwortlichkeiten bei. Die Sicherung der Kontrollen für Medizinprodukte, welche von Patienten mit in die Einrichtung mitgebracht werden, trägt zur Zielsetzung einer erhöhten Sicherheit bei. Medizinproduktebetreiber nach § 2 Absatz 1 sind verpflichtet, die allgemeinen Anforderungen i. S. § 3 MPBetreiber-V umzusetzen. Einrichtungen der stationären Altenhilfe, Gesundheitshilfe oder ggf. auch der Behindertenhilfe und evtl. noch weitere sind hierdurch verpflichtet, die Anwender einzuweisen und die Sicherheits-planvorgaben (Kontrollen, Prüfungen, Sicherheitsplanvorgaben usw.) zu koordinieren, durchzuführen und das Meldewesen zu übernehmen. Hierdurch entsteht den entsprechenden Einrichtungen ein erhöhter Personalaufwand, welcher nicht mit dem in der Begründung unter 2.2.2 Vorgabe 2 aufgenommenen 100% Sowieso-Kosten entspricht.
Ein weiterer Aspekt, der berücksichtigt werden sollte, ist die Sicherheit der Patienten in der ambulanten Versorgung. Auch hier muss die Einweisung und die Einhaltung der Sicherheitsvorgaben durch die Anwender – i. d. Regel das Pflegepersonal vor Ort – gewährleistet werden.
Zu § 3 allgemeine Anforderungen
§ 3 allgemeine Anforderungen konkretisiert die Regeln der Technik, des Arbeitsschutzes und der Unfallverhütungsvorschriften sowie das Errichten, Betreiben und Anwenden von Medizinprodukten. Es wird klargestellt, dass die Anwendung nicht nur zweckbestimmt, sondern nach den Angaben der Hersteller Berücksichtigung finden soll. Der Betreiber darf nur Anwender beauftragen, welche eine entsprechende Ausbildung, Kenntnis und Erfahrung bezüglich des Medizinproduktes besitzen. Eine ordnungsgemäße Einweisung in die Handhabung der Medizinprodukte muss erfolgen. Konkret wird ausgeführt, dass die Gebrauchsanweisungen der Medizinprodukte dem Anwender jederzeit zugänglich sein müssen. Zum Meldesystem wird auf die Sicherheitsplanverordnung verwiesen.
Bewertung:
Zum Erlangen höherer Sicherheit in der Anwendung von Medizinprodukten wird durch die verpflichtende Einweisung und Zugänglichkeit von Gebrauchsanweisungen den Anwendern durch ein funktionierendes Meldesystem Sorge getragen.
Durch die in § 2 Absatz 1, Satz 2 erweiterte Begriffsdefinition des Betreibers, sehen wir in der Umsetzung einen erheblichen Mehraufwand für die Einrichtungen der Altenhilfe. Aus den Regelungen in § 3 Absatz 2 und 3 ergibt sich ein erhöhter Einweisungsbedarf. Zukünftig muss der Betreiber jedem Anwender mit dem heterogenen Feld von Herstellern und der individuellen Handhabung sowie durch Kontrollen der Medizinprodukte, die in der Einrichtung vorliegen und von Patienten/Bewohnern mitgebracht wurden, Sicherheit gewährleisten.
Die Angaben zu den 100% Sowieso-Kosten lässt sich hier nicht aufrechterhalten.
Zu § 5 Beauftragter für Medizinprodukte
Durch § 5 erfolgt eine klare Darstellung, in welchen Einrichtungen des Gesundheitswesens ein Medizinproduktebeauftragter benannt werden muss. Eine sachkundige Person mit medizinischer, pflegerischer oder technischer Ausbildung ist zu bestimmen. Die Aufgabendefinition und Bekanntgabe der Kontaktdaten für Medizinproduktebeauftragte trägt zur Transparenz und Prozesssteuerung bei. Der Beauftragte für die Medizinproduktesicherheit ist Kontaktperson zu Behörden, Herstellern und Vertreiber. Außerdem ist er für die Koordination und Ablaufsteuerungen bezüglich der Medizinprodukte verantwortlich. Die Rückverfolgung der Medizinprodukte in der Gesundheitseinrichtung ist sicherzustellen.
Bewertung:
Durch die Benennung und Bekanntgabe von Beauftragten für Medizinprodukte wird nach unserer Einschätzung eine Unterstützung der internen und externen Prozesse und Strukturen erreicht. In der Begründung zur Verordnung der Änderung der medizinprodukterechtlichen Vorschrift, wird von einer Bündelung der Aufgaben auf eine Funktion/Person ausgegangen. Durch die Erweiterung der Betreiberpflichten der Einrichtungen im Gesundheitswesen erhöht sich der Ressourcenaufwand für Medizinproduktebeauftragte um die Vielfalt der Hersteller und Medizinprodukte, welche von Patienten/Bewohnern in Gesundheitseinrichtungen mitgebracht werden. Die in der Begründung des Referentenentwurfs erwähnte Kosten- und Aufwandsneutralität ist somit nicht gegeben. Darüber hinaus ist nicht immer in jeder Einrichtungsart, in der Medizinprodukte angewendet oder betrieben werden, medizinisches, pflegerisches oder technisches Personal vor Ort. Von daher ist in diesen Ausnahmefällen auch eine andere Grundqualifikation für Medizinproduktebeauftragte zu ermöglichen.
Des Weiteren erhöht sich der Bürokratieaufwand für die Einrichtungen im Gesundheitswesen durch die Meldung und Aktualisierung der Kontaktpersonen und Ansprechpartner sowie der Rückverfolgbarkeit der Medizinprodukte in der Gesundheitseinrichtung.
Zu § 6 Instandhaltung von Medizinprodukten
Die Instandhaltung von Medizinprodukten umfasst Instandhaltungsmaßnahmen und Instandsetzung. Hier werden die Maßnahmen der Wartung, Reparatur und Wiederherstellung der Funktionsfähigkeit geregelt. Hierfür darf der Betreiber Aufträge an Personen, Betreiber und Einrichtungen vergeben, welche die Anforderungen nach § 4 Absatz 1 erfüllen.
Bewertung:
Vor dem Hintergrund, dass zukünftig die Einrichtungen des Gesundheitswesen für Medizinprodukte, welche in die Gesundheitseinrichtung mitgebracht werden, als Betreiber die Verantwortung und entsprechenden Aufgaben wahrzunehmen haben, bleibt offen,
inwieweit Instandsetzungsmaßnahmen, Instandsetzungen, Wartungen und Prüfungen für in die Einrichtung mitgebrachte Medizinprodukte greifen und inwieweit deren Kosten zukünftig von Betreibern im Sinne des § 2 Absatz 1 Satz 2 zu tragen sind. Auch bei Erhalt der momentanen Regelung der Kostenübernahme für Wartung, Instandsetzung, Instandsetzungsmaßnahmen und Prüfungen individueller und der im ambulanten Versorgungssetting ausgelieferten Medizinprodukte über „Service-Verträge“ der Kostenträger mit Bereitstellern oder Herstellern verbleibt ein erhöhter Koordinations-und Bürokratieaufwand bei den Gesundheitseinrichtungen. Die Verantwortung für die Wartung und die Übernahme der anfallenden Kosten sind diesbezüglich von den Kostenträgern zu gewährleisten, die den Versicherten die Medizinprodukte zur Verfügung stellen.
Lösungsvorschlag:
Ergänzung des § 6 Instandsetzung von Medizinprodukten um Absatz 5, in dem die Kosten für Instandsetzung, Wartung und Prüfungen für in die Gesundheitseinrichtung mitgebrachte Medizinprodukte über die bestehenden „Service-Vertragsregelungen“ erhalten bleibt. Die Verantwortung für die Wartung und die Übernahme der anfallenden Kosten sind diesbezüglich von den Kostenträgern zu gewährleisten, die den Versicherten die Medizinprodukte zur Verfügung stellen.
§ 10 sicherheitstechnische Kontrollen
Der Betreiber von Medizinprodukten hat nach Absatz 1 dieses Paragraphen die sicherheitstechnischen Kontrollen alle zwei Jahre zu veranlassen.
Bewertung:
Die Festlegung der sicherheitstechnischen Kontrollen auf zwei Jahre ist sehr begrüßenswert, da hierdurch die Sicherheit deutlich erhöht werden kann. Unklar ist der Umfang an Aufgaben und Verantwortung des Betreibers für in die Gesundheitseinrichtung mitgebrachte Medizinprodukte.
Lösungsvorschlag:
In § 10 ist einzufügen, dass die sicherheitstechnische Kontrolle für in die Einrichtung mitgebrachte Medizinprodukte vom Betreiber beim Kostenträger bzw. Inhaber des „Service-Vertrages“ zu melden ist. Die Verantwortung für die Wartung und die Übernahme der anfallenden Kosten sind diesbezüglich von den Kostenträgern zu gewährleisten, die den Versicherten die Medizinprodukte zur Verfügung stellen.
§ 11 Medizinproduktebuch i. V. mit § 12 Bestandsverzeichnis
Der Betreiber von Medizinprodukten hat das Medizinproduktebuch und Bestandsverzeichnis zu führen. Die Forderung der Eintragung des Handelsnamens soll eine genaue Identifikation des Medizinproduktes fördern. Neben den Eintragungen von Meldungen sind zusätzlich produktbezogene Gründe hierfür aufzuführen und im Medizinproduktebuch zu verzeichnen. Weiter wird die Aufbewahrung und Zugänglichkeit des Medizinproduktebuches konkretisiert.
Bewertung:
Die Ergänzung der Eintragung von Meldungen mit produktbezogenen Gründen erhöht die Nachvollziehbarkeit der Prozesse und ist somit positiv zu bewerten. Die Angabe der Handelsnamen im Medizinproduktebuch schätzen wir ebenfalls als transparenz- und zuordnungsfördernd ein.
Die Führung des Medizinproduktebuches und Bestandsverzeichnisses weist einen erhöhten Aufwand an Bürokratie und Personalressourcen in Einrichtungen auf, entsprechend der Fluktuation von Patienten/Bewohnern und der Betreiberdefinition im Sinne des § 2 Absatz 1 Satz 2. Die in der BAGFW kooperierenden Verbände fordern daher, dass sich die Nachweispflichten auf die Medizinprodukte beschränken, die im Besitz der Einrichtung sind und von der Einrichtung genutzt werden oder von der Einrichtung den Bewohnern/Patienten zur Verfügung gestellt werden müssen.
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Die BAGFW bedankt sich für die Gelegenheit zur Stellungnahme zum Entwurf der Strategischen Sozialberichterstattung 2016 und erkennt die Bemühungen der Bundesregierung an, den Prozess der Strategischen Sozialberichterstattung durch die Beteiligung aller Akteure transparent zu gestalten. In ihrer gemeinsamen Stellungnahme setzen die Wohlfahrtsverbände Schwerpunkte bei ausgewählten Berichtsthemen, so insbesondere bei den Themen Armutsbekämpfung und soziale Ausgrenzung. Die Wohlfahrtsverbände würden es sehr begrüßen, wenn in der Strategischen Sozialberichterstattung exemplarisch auch einige ihrer Aktivitäten dargestellt werden könnten. Hierzu werden im Folgenden einige Beispiele genannt.
2. Beiträge zur Erreichung der Ziele der Strategie EU 2020 im Bereich der Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung
Die in den letzten Jahren unterbreiteten Vorschläge der BAGFW zur Berücksichtigung von Indikatoren zur Messung von Fortschritten bei der Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung hat die Bundesregierung nicht aufgegriffen und fokussiert weiterhin die Reduzierung der Zahl der Langzeitarbeitslosen. Der Berichtsentwurf weist gerade in diesem Textabschnitt zahlreiche Wiederholungen zum Vorjahresbericht auf. Die BAGFW regt an, neue Aspekte aufzunehmen. Es sollte deutlicher herausgestellt werden, dass die Langzeitarbeitslosigkeit auch nach Auffassung des Bundesarbeitsministeriums ein weiterhin gravierendes ungelöstes Problem des deutschen Arbeitsmarkts darstellt. Trotz der günstigen Wirtschafts- und Arbeitsmarktentwicklung zeigen sich in den letzten Jahren starke Verhärtungstendenzen auf hohem Niveau. Um einen vollständigeren Blick auf Armut und soziale Ausgrenzung zu erhalten, ist u. a. ein Blick auf den Anteil der Langzeitleistungsbeziehenden in der Grundsicherung für Arbeitsuchende nötig. Mitte 2015 waren fast zwei Drittel der rund 6 Mio. Leistungsberechtigten in der Grundsicherung für Arbeitsuchende bereits seit zwei Jahren oder länger hilfebedürftig; fast die Hälfte von ihnen schon mindestens vier Jahre lang im Bezug von Sozialleistungen.
Die gute Entwicklung der Wirtschaft und am Arbeitsmarkt in Deutschland haben zuletzt zu keinem Rückgang der Armutsrisikoquote geführt, die im Indikatorenteil für das Jahr 2014 mit einem neuen Höchststand von 16,7 % angegeben wird.
Unter den im Berichtsentwurf genannten Förderprogrammen zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung begrüßt die BAGFW insbesondere den Europäischen Hilfsfonds für die am stärksten benachteiligten Personen (EHAP) und die partnerschaftliche Umsetzung mit der BAGFW.
Die Wohlfahrtsverbände kritisieren, dass die Bundesregierung es unterlässt, die Leistungslücken in der Sicherung des Existenzminimums zu schließen. Das Bundesverfassungsgericht hatte zuletzt im Juli 2014 kritische Bewertungen, etwa zu den Gefahren einer Unterdeckung der Regelbedarfe bei den Stromkosten, Mobilitätskosten und bei der Anschaffung von Haushaltsgegenständen vorgenommen, die bislang noch nicht in ein Gesetzgebungsverfahren eingemündet sind. Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege halten eine Neubemessung und Anhebung der Regelbedarfe für dringend erforderlich, um das Existenzminimum verlässlich zu sichern. Dazu fordern sie die Bundesregierung auf, die seit November letzten Jahres vorliegenden neuen Erkenntnisse der EVS 2013 zügig umzusetzen. Dringenden Handlungsbedarf sieht die BAGFW bei der Beseitigung von Benachteiligungen von Kindern und Jugendlichen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende. Die Umsetzung der neu eingeführten Leistungen zur Bildung und Teilhabe hat ihre Situation nicht grundlegend verbessert. Die Wohlfahrtsverbände fordern deshalb zügig weitere Korrekturen bei den Bildungs- und Teilhabeleistungen.
Zur Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit hat die Bundesarbeitsministerin am Jahresanfang 2015 die Umsetzung ihres Konzepts zum Abbau der Langzeitarbeitslosigkeit mit dem Titel „Chancen eröffnen – soziale Teilhabe sichern“ eingeleitet und den fachlichen Austausch hierzu auch mit Vertreter/-innen der Wohlfahrtsverbände fortgesetzt. Im Herbst 2015 hat sie das Konzept um eine aktuelle Initiative mit dem Titel „Neustart in Deutschland – Gemeinsam stark“ erweitert. Darin wirbt die Ministerin gleichermaßen für bessere Arbeitsmarktchancen von Flüchtlingen wie auch für Langzeitarbeitslose. Bei der Konferenz „Chancen eröffnen – Soziale Teilhabe sichern“ am 3. März 2015 im Bundesarbeitsministerium haben die Wohlfahrtsverbände konkrete Vorschläge zur Gestaltung des neuen Programms „Soziale Teilhabe am Arbeitsmarkt“ und zur Beteiligung freier Träger an der Umsetzung der neuen „Netzwerke für Aktivierung, Beratung und Chancen“ in den Jobcentern vorgebracht. In einer Gesamtbetrachtung setzen sich die Wohlfahrtsverbände gegenüber der Bundesregierung dafür ein, unbedingt weitere Maßnahmen zur Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit zu unternehmen: Nach den Kürzungen in den vergangenen Jahren sind zusätzliche Finanzmittel in der Grundsicherung für Arbeitsuchende nötig, damit die auch auf gesellschaftlichen Zusammenhalt zielende Initiative „Neustart in Deutschland –Gemeinsam stark“ der Bundesarbeitsministerin, sowohl Flüchtlingen als auch langzeitarbeitslosen Menschen zu einem beruflichen Neustart am Arbeitsmarkt verhelfen kann.
Nach Auffassung der Wohlfahrtsverbände müssen Langzeitarbeitslose wieder stärker an der aktiven Arbeitsmarktförderung beteiligt werden. Sie sind derzeit in der Arbeitsmarktförderung benachteiligt; denn nur jede(r) Zehnte hat im Jahr 2014 an einer Fördermaßnahme teilgenommen; und die rückläufige Förderung setzte sich auch im Jahr 2015 fort. Die Jobcenter sind personell unterbesetzt. Sie müssen mit einer ausreichenden Anzahl an qualifiziertem Personal ausgestattet werden, sodass ein intensiver Kontakt mit den Arbeitsuchenden und eine individuell unterstützende Förderung besser möglich wird.
Es müssen echte Chancen geschaffen und der Ausbau der Qualifizierungsangebote gefördert werden. Die Wohlfahrtsverbände begrüßen vor diesem Hintergrund die Zielsetzung des im November 2015 vorgelegten Entwurfs eines Arbeitslosenversicherungsschutz- und Weiterbildungsstärkungsgesetzes - AWSTG, das Verbesserungen bei der Weiterbildung von gering qualifizierten Arbeitnehmer/-innen und Arbeitslosen ermöglichen soll. Mehr als die Hälfte der Arbeitslosen (55,5 %) in der Grundsicherung für Arbeitsuchende kann aktuell keinen Berufsabschluss nachweisen. Allerdings sind nur 16 % aller Arbeitsstellen, die bei den Arbeitsagenturen und Jobcentern gemeldet sind, für Helfer- oder Anlerntätigkeiten ausgeschrieben. Nötig sind neue Bildungsinstrumente, die auf benachteiligte Personengruppen bzw. Personen mit mehreren Vermittlungshemmnissen zugeschnitten sind. So bedarf es z. B. modularer Angebote, die den Interessierten die Möglichkeit eröffnen, eine Ausbildung nach Bedarf zu unterbrechen oder zu verlängern. Auch während einer längeren Fortbildung muss der Lebensunterhalt verlässlich gesichert sein. Insofern gibt die BAGFW der Lebensunterhaltssicherung Priorität gegenüber der Einführung von Motivations- und Durchhalteprämien.
Die arbeitsmarktpolitischen Instrumente sind für eine bessere Förderung von arbeitsmarktfernen Personen weiterzuentwickeln. Das gilt insbesondere für die Arbeitsgelegenheiten, die Förderung von Arbeitsverhältnissen und die freie Förderung. Bereits Ende 2014 hatte das Bundesarbeitsministerium einen Diskussionsprozess über die Reform arbeitsmarktpolitischer Instrumente angekündigt. Aus Sicht der Wohlfahrtsverbände gilt es, gesetzliche Korrekturen zügig vorzunehmen.
Da die meisten arbeitsmarktpolitischen Instrumente der Vergabe unterliegen, ist es der BAGFW ein wesentliches Anliegen, die Vergabereform intensiv zu begleiten. Die Wohlfahrtsverbände plädieren angesichts der Erfahrungen mit der bisherigen Umsetzung bieterbezogener Erfolgs- und Qualitätskriterien dringend für Modifikationen. Die Betonung der Integrationsquote führt insbesondere dazu, dass nur noch die aussichtsreichsten Maßnahmeteilnehmer gefördert werden, der sogenannte Creaming-Effekt tritt ein. Solchen Effekten gilt es insbesondere vor dem Hintergrund der verfestigten Langzeitarbeitslosigkeit und unzureichenden Beteiligung dieser Personengruppe an der aktiven Arbeitsmarktpolitik entgegenzutreten. Gemeinsam mit den im „Bündnis für mehr Qualität in der Vergabe“ organisierten Gewerkschaften und Bildungsorganisationen haben die Wohlfahrtsverbände einen Vorschlag für eine Weiterentwicklung der bieterbezogenen Erfolgs- und Qualitätskriterien unterbreitet. Die Wohlfahrtsverbände begrüßen es sehr, dass hierzu unterdessen ein intensiver Dialog zwischen der Bundesagentur für Arbeit und den beteiligten Verbänden eingeleitet wurde, der seitens des Bundesarbeitsministeriums aktiv unterstützt wird.
Die Wohlfahrtsverbände verbindet die gemeinsame Wertehaltung, dass auch schwer vermittelbaren Arbeitslosen, die vom Arbeitsmarkt nicht aufgenommen werden, Teilnahmemöglichkeiten am Arbeitsmarkt durch ein Angebot einer sozialversicherungspflichtigen öffentlich geförderten Beschäftigung erhalten sollen. So können Personen ein Beschäftigungs- und Unterstützungsangebot zur sozialen Teilhabe erhalten, die aufgrund persönlicher Einschränkungen (z. B. gesundheitlicher Probleme, psychischer Belastungen) auch bei guter Vermittlung und Förderung absehbar nicht in Erwerbsarbeit integriert werden können. Das Programm „Soziale Teilhabe am Arbeitsmarkt“ ist für diese Zielsetzung ein kleiner, hilfreicher Baustein. Die Wohlfahrtsverbände fordern darüber hinaus den Ausbau der öffentlich geförderten Beschäftigung und die Erschließung von Finanzmitteln über den sogenannten „Passiv-Aktiv-Transfer“.
Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege wollen in ihren Einrichtungen und Diensten selbst gezielt Chancen auf Beschäftigung für Menschen eröffnen, die am Arbeitsmarkt benachteiligt sind (z. B. Menschen mit Schwerbehinderung, langzeitarbeitslose Menschen). Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege sehen es gleichermaßen als Ausdruck einer vorausschauenden Personalpolitik, wie auch ihrer gesellschaftlichen Verantwortung an, die unterschiedlichen Biographien, vielfältigen Potentiale und häufig sehr hohe Motivation dieser Menschen anzuerkennen und ihnen eine Beschäftigungschance zu eröffnen. Vor diesem Hintergrund haben die in der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege zusammengeschlossenen Wohlfahrtsverbände und die Bundesagentur für Arbeit eine Erklärung „Gemeinsam für Arbeit“ abgegeben. Die Wohlfahrtsverbände streben demnach an, die in ihren Organisationen zu besetzenden freien Arbeitsstellen und Ausbildungsplätze an die Agenturen für Arbeit zu melden und dabei Beschäftigungschancen auch für Personengruppen zu eröffnen, die ggf. zunächst der Unterstützung bedürfen.
3. Jüngste Reformen und politische Initiativen im Bereich der sozialen Inklusion
Die Verbände der BAGFW unterstützen in vielfältiger Weise die Erstaufnahme wie auch die Integration der Flüchtlinge in hunderten von Einrichtungen und sozialen Angeboten im Kontext der Erstaufnahme, von Beratung zum Asylverfahren und Sozialberatung. In allen Bereichen der sozialen Arbeit engagieren sich die Einrichtungen und Dienste der Wohlfahrtsverbände bei der Aufnahme der Flüchtlinge. Diese kann aktuell nur bewältigt werden aufgrund des sehr großen bürgerschaftlichen Engagements zahlreicher ehrenamtlicher Helferinnen und Helfer. Für die Verbände kommt daher aktuell auch der Qualifizierung und Koordinierung des ehrenamtlichen Engagements große Bedeutung zu. Sie führen dazu gemeinsam mit finanzieller Unterstützung der Integrationsbeauftragten des Bundes das bundesweite Programm zur Unterstützung der ehrenamtlichen Flüchtlingshilfe mit dem Titel „Koordinierung, Qualifizierung und Förderung der ehrenamtlichen Unterstützung von Flüchtlingen“ durch. Alle Wohlfahrtsverbände haben ihr Engagement zur Unterstützung der Flüchtlinge und zur Förderung der ehrenamtlichen Begleitung der Flüchtlinge weiter ausgebaut. Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege stellen ihre Kompetenzen, ihr Know-how und ihre verbandlichen Strukturen zur Verfügung, indem sie bspw. Freiwilligenbeauftragte, Freiwilligen-Agenturen und Koordinierungsstellen für das bürgerschaftliche Engagement bereithalten oder organisieren. Sie sind Anlaufstelle für Fragen zum bürgerschaftlichen Engagement und vermitteln Informationen zu relevanten Einrichtungen und Ansprechpartnern.
Im Dezember 2015 haben die Verbände eine “Aktuelle Standortbestimmung zu den Herausforderungen der Aufnahme und Integration von Geflüchteten“ veröffentlicht, in der sie den konkreten Handlungsbedarf in zentralen Bereichen wie etwa Kinder- und Jugendhilfe und Schule, Zugang zu Ausbildung und Arbeitsmarkt, Wohnen, Gesundheit, Zusammenleben in Deutschland, bürgerschaftliches Engagement und Beratungsstrukturen, benennen. Sie betonen, dass es aus ihrer Sicht notwendig ist, dass der Aufnahme der Flüchtlinge so früh wie möglich Angebote der Integration folgen, die allen offenstehen, die sich voraussichtlich länger in Deutschland aufhalten. Niemand sollte von Teilhabe und Integration ausgeschlossen werden.
Auf den deutlichen Anstieg der Flüchtlingszahlen hat die Bundesregierung einerseits mit einer Aufstockung der Ressourcen für die Aufnahme und Integration reagiert, andererseits mit Gesetzesänderungen. Leider wurde den Verbänden dabei kaum eine Möglichkeit der ausführlichen Kommentierung eingeräumt. Das im Oktober in Kraft getretene Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz sieht für Personen mit Bleibeperspektive eine Reihe von Verbesserungen vor (u.a. Zulassung zu Integrationskursen, Ausbau der Sprachkursangebote der BA, frühere Integration in den Arbeitsmarkt). Andererseits werden Personen aus den dazu erklärten „Sicheren Herkunftsländern“ von diesen Angeboten und vom Arbeitsmarkt dauerhaft ausgeschlossen. Generell wird der Druck auf Personen, deren Asylverfahren negativ entschieden wurde, vergrößert (u.a. durch Leistungskürzungen, leichtere Abschiebung). Dass Asylsuchende bis zu 6 Monaten in den Erstaufnahmen verbeiben müssen, bedeutet für alle davon Betroffenen faktisch die Verlängerung des Arbeitsverbots.
Die Änderungen im Bereich des AsylbLG sehen gravierende Einschränkungen hinsichtlich des Umfangs der zu gewährenden Leistungen für bestimmte Personengruppen vor. Betroffen von diesen Einschränkungen sind zukünftig vollziehbar Ausreisepflichtige, für die der Ausreisetermin und die Ausreisemöglichkeit feststehen. Sie erhalten ab dem auf den Ausreisetermin folgenden Tag nur noch Leistungen zur Deckung ihres Bedarfs an Unterbringung und Ernährung einschließlich Heizung sowie Körper– und Gesundheitspflege, es sei denn, die Ausreise kann aus von ihnen nicht zu vertretenen Gründen nicht durchgeführt werden. Betroffen von den Leistungseinschränkungen sind zudem Asylsuchende und Ausreisepflichtige, für die – abweichend von der Dublin III Verordnung – nach der Verteilung durch die Europäische Union ein anderer Mitgliedsstaat der EU oder ein Drittstaat zuständig ist. Darüber hinaus sollen die Leistungen nach dem AsylbLG zukünftig wieder in deutlich größerem Umfang als Sachleistungen – anstelle von Barleistungen – gewährt werden. Dies gilt nicht nur verpflichtend während der Unterbringung in einer Erstaufnahmeeinrichtung, sondern – in abgeschwächter Form – auch bei der Unterbringung in den Gemeinschaftsunterkünften vor Ort.
Nachdem bisher die Erstaufnahme der Flüchtlinge und die Vermeidung von Obdachlosigkeit im Fokus standen, kommt ab 2016 der Integration der Flüchtlinge, ihrer Teilhabe im Bildungsbereich und am Arbeitsmarkt immer größere Bedeutung zu. Damit diese gelingen kann, müssen nicht nur rechtliche Hürden, wie etwa das Vorrangprinzip beim Zugang zum Arbeitsmarkt beseitigt werden, sondern auch deutlich mehr Mittel für die soziale Infrastruktur (Kita, Schule etc.) zur Verfügung gestellt werden.
Die BAGFW begrüßt die Aufnahme des von ihr angeregten Berichtspunktes „Jugendberufsagentur“. Für die Betreuung und Unterstützung von benachteiligten Jugendlichen am Übergang von der Schule in den Beruf sind Arbeitsagenturen, Jobcenter und Jugendämter gemeinsam zuständig. Jugendberufsagenturen sollen ausgebaut und weiterentwickelt werden, um die Leistungen nach dem SGB II, SGB III und SGB VIII für unter 25-Jährige zu bündeln. Die Bundesregierung hat frühzeitig erklärt, dass sie keine bestimmte Definition der „Jugendberufsagentur“ verwendet und sie von einer flächendeckenden Einführung bereits ausgeht, wenn in sämtlichen Arbeitsagentur-/Jobcenterbezirken Kooperationen bestehen, die einen Beitrag zur Koordination der Schnittstellen zwischen SGB II, SGB III und SGB VIII für unter 25-Jährige leisten können. Es sind keine finanziellen Mittel für die Förderung von Arbeitsbündnissen oder Jugendberufsagenturen vorgesehen. In Abstimmung zwischen dem BMAS und dem Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge wurden im Jahr 2015 außerdem allgemeine Empfehlungen „Erfolgsmerkmale guter Jugendberufsagenturen – Grundlage für ein Leitbild“ formuliert.
Notwendig ist unbedingt ein Ausbau von Angeboten, damit alle jungen Menschen eine Berufsausbildung beginnen und abschließen können. Denn erneut belegt die Ausbildungsstatistik der Bundesagentur für Arbeit, dass nach wie vor viele junge Menschen kaum Chancen auf einen Ausbildungsplatz haben. Über 20.000 Ausbildungssuchende sind unversorgt, während auf der anderen Seite 41.000 Ausbildungsplätze unbesetzt blieben.
Die Verbände begrüßen die gesetzliche Einführung der Assistierten Ausbildung als neues Förderinstrument zur betrieblichen Ausbildung benachteiligter junger Menschen. Die ersten Umsetzungserfahrungen zeigen jedoch, dass die Ausschreibungsbedingungen der Bundesagentur für Arbeit flexible und zugleich verlässliche Angebotsstrukturen erschweren. So war bei der Vergabe häufig der Preis und nicht die Qualität des eingereichten Angebots ausschlaggebend. Zur Stärkung gewachsener Netzwerkstrukturen in den Regionen/Bundesländern sollte die Bundesagentur für Arbeit die Länder darin unterstützen, mit ihr gemeinsam regionale bzw. länderspezifische Konzepte der Assistierten Ausbildung zu entwickeln. Zudem sind eine sorgfältige Begleitung der Umsetzung und eine wissenschaftliche Evaluation unbedingt erforderlich.
Zur Weiterentwicklung der Grundsicherung für Arbeitssuchende wurde Ende Oktober 2015 der Referentenentwurf eines Neunten SGB II-Änderungsgesetzes – sog. Rechtsvereinfachung im SGB II - veröffentlicht. Die BAGFW hatte bereits im Oktober 2014 eine Bewertung des veröffentlichten Abschlussberichts der Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Rechtsvereinfachung im SGB II vorgenommen. Die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege sehen in dem Gesetzentwurf positive Ansätze zur Entbürokratisierung der Verwaltungspraxis der Jobcenter, so z. B. die regelhafte Verlängerung des Bewilligungszeitraums auf zwölf Monate. Der Gesetzentwurf lässt jedoch viele Chancen ungenutzt, seit längerem diskutierte, sinnvolle Maßnahmen zur Verwaltungsvereinfachung umzusetzen, die Erleichterungen für die Betroffenen bringen würden. Hierzu zählt insbesondere, die Leistungen zur Bildung und Teilhabe bundesweit über einen Globalantrag besser zugänglich zu machen. Die Wohlfahrtsverbände wenden sich entschieden gegen die Neuerungen, die eine Verwaltungsvereinfachung für die Leistungsträger auf Kosten der Leistungsberechtigten bringen sollen. Beispielhaft genannt sei hier die stark eingeschränkte rückwirkende Korrektur von fehlerhaften Verwaltungsakten. Die avisierte neue gesetzliche Möglichkeit, eine Gesamtangemessenheitsgrenze für Unterkunft und Heizung zu bilden und hierbei eine größere Flexibilität bei der Wohnungssuche und der Feststellung der Angemessenheit zu erreichen, stehen starke Bedenken aus der Beratungspraxis und der Rechtsprechung hinsichtlich Praktikabilität und Bedarfsdeckung gegenüber.
Auf scharfe Kritik der BAGFW stößt der Verzicht auf die Umsetzung der mehrheitlich von der Bund-Länder-AG vorgelegten Vorschläge zur Reform des Sanktionsrechts. Reformen im Sanktionsrecht, wie die Abschaffung der schärferen Sanktionsregelungen für unter 25-Jährige sowie die Begrenzung der Sanktionshöhe auf nicht mehr als ein Drittel des Regelsatzes und der Verzicht auf Sanktionen bei den Kosten der Unterkunft entsprechen einer langjährigen Forderung der BAGFW und werden auch vom Deutschen Verein und der Bundesagentur für Arbeit vorgetragen. Reformen im Sanktionsrecht bei unter 25-Jährigen wären besonders zielführend, um das neu aufgelegte Pilotprojekt RESPEKT zu flankieren. Nach zahlreichen Praxiserfahrungen aus den Verbänden der Freien Wohlfahrtspflege führen die besonders scharfen Sanktionen bei unter 25-Jährigen vielfach dazu, dass Jugendliche und junge Erwachsene sich vom Arbeitsmarkt zurückziehen, nur schwer durch Sozialarbeit wieder zu erreichen sind und in weitere soziale Ausgrenzungsprozesse geraten.
Verbesserung der Teilhabe von Menschen mit Behinderung
Es ist grundsätzlich zu begrüßen, dass die „Initiative Inklusion“ evaluiert werden soll und hierfür Ressourcen bereitgestellt werden. Allerdings hätte aus Sicht der BAGFW die geplante Ergebnisevaluation als Prozessevaluation parallel zur Umsetzung erfolgen müssen, um die Erkenntnisse bei der Sicherung zum Beispiel des beruflichen Orientierungsverfahrens für schwerbehinderte Jugendliche nutzen zu können. Das berufliche Orientierungsverfahren konnte bisher nicht als Rechtsanspruch im SGB IX gesichert werden. Bis heute fehlen bundesweit geltende verbindliche Vorgaben für die Kooperation der Beteiligten an der Schnittstelle Schule - Beruf, weil Bildung Länderhoheit, die Schulträger keine Rehabilitationsträger im Sinne des SGB IX sind und berufliche Förderung Aufgabe der Arbeitsagenturen ist. Somit kommt keine Kontinuität in diese Maßnahme, denn bestehende Netzwerke werden in Frage gestellt und sind immer wieder neu zu knüpfen. Für die Umsetzung des Beruflichen Orientierungsverfahrens braucht es einen Rechtsanspruch für die Betroffenen, ressortübergreifend Kriterien für die Gestaltung des Übergangs, eine fachübergreifende institutionsunabhängige Beratung und Begleitung sowie die verbindliche Einbeziehung der Schulträger in die Regelungen des SGB IX (z. B. §§ 10 ff.).
Im Koalitionsvertrag wurde 2013 vereinbart, dass die Kommunen im Rahmen der Verabschiedung des Bundesteilhabegesetzes im Umfang von fünf Milliarden Euro jährlich von der Eingliederungshilfe entlastet werden sollten. Das Bundeskabinett hat im Rahmen seiner Haushaltsplanungen im März 2015 beschlossen, die Entlastung der Kommunen nicht im Rahmen des Bundesteilhabegesetzes vorzunehmen. Aus Sicht der BAGFW benötigt ein modernes Teilhaberecht finanzielle Ressourcen, denn nur so lassen sich verlässliche Rahmenbedingungen und gesellschaftliche Teilhabechancen von Menschen mit Behinderung menschenrechtskonform im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention verwirklichen.
Die Verbände der BAGFW begrüßen, dass der Behinderungsbegriff neu gefasst und aus der UN-Behindertenrechtskonvention übernommen werden soll. Der Behinderungsbegriff muss sowohl im Behindertengleichstellungsgesetz als auch im Bundesteilhabegesetz vollumfänglich aus der UN-Behindertenrechtskonvention übernommen werden. Bei der Festlegung der Teilhabebeeinträchtigung müssen alle Aktivitäts- und Teilhabebereiche der ICF zur Anwendung kommen.
Die BAGFW begrüßt ausdrücklich, dass im Zuge eines neu zu schaffenden Bundesteilhabegesetzes die Stärkung der „unabhängigen Fachberatung“ als zentrales Anliegen benannt wird und sich der Bund an dieser Aufgabe beteiligen will. Aus Sicht der BAGFW wäre jedoch an Stelle einer institutionellen Förderung die Verankerung des Rechtsanspruchs auf Beratung im neuen Bundesteilhabegesetz notwendig. Qualifizierte Beratung kann nicht ehrenamtlich geleistet werden. Sie darf auch nicht auf den Ansatz des „peer-counselling“ reduziert werden. Beratung ist angemessen zu finanzieren und als eigene Leistungsart in das Bundesteilhabegesetz aufzunehmen. Als Anbieter von Beratungsleistungen müssen Leistungserbringer, Leistungsträger, Verbraucherzentralen, Freie Wohlfahrtspflege, Behindertenverbände und Verbände der Selbsthilfe in Frage kommen. Beratungsleistungen sind ausschließlich den Interessen der zu beratenden Person verpflichtet und mit entsprechenden Qualitäts- und Fachstandards zu versehen.
Ebenfalls zu begrüßen ist, dass das allgemeine Verfahrensrecht für die Rehabilitationsträger zusammengefasst und abweichungsfest gestaltet werden soll, um Teilhabe- und Rehabilitationsleistungen wie aus einer Hand zu gewähren. Allerdings sollen auch „ergänzende Spezifika“ der einzelnen Leistungsträger in den jeweiligen Leistungsgesetzen geregelt werden. Feststellungsverfahren und Teilhabeplanung bestimmen maßgeblich über gleichwertige Zugangschancen und Lebensverhältnisse von Menschen mit Behinderungen im Rahmen der gesellschaftlichen Teilhabe. Deshalb spricht sich die BAGFW für eine konsequente Stärkung und Umsetzung der Selbstbestimmungs- und Partizipationsrechte von Menschen mit Behinderungen im Verfahren aus. Die BAGFW hält es daher für erforderlich, bundeseinheitliche Kriterien bzw. Standards zur Teilhabebedarfsfeststellung und Teilhabeplanung gesetzlich festzulegen.
Zu begrüßen ist auch, dass die Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderung als eigenständiges Leistungsgesetz integraler Bestandteil des SGB IX werden soll.
Das Herauslösen der Eingliederungshilfe aus dem Fürsorgesystem wird jedoch erst erreicht, wenn eine echte Abkehr vom sozialhilferechtlichen Prinzip und Grundansatz erfolgt. Die BAGFW vertritt die Auffassung, dass das in einem Bundesleistungsgesetz zu verankernde Prinzip des Nachteilsausgleichs nicht mehr mit dem in der Sozialhilfe geltenden Bedürftigkeitsprinzip vereinbar ist. Insofern sollen weder der Leistungsberechtigte noch sein Ehepartner und/oder seine Angehörigen mit seinem/ihrem jeweiligen Einkommen und Vermögen zu den Teilhabeleistungen herangezogen werden können.
Das BMAS hat stets betont, dass ein modernes Bundesteilhabegesetz für Menschen mit Behinderungen unter Berücksichtigung der UN-Behindertenrechtskonvention geschaffen werden soll. Die Vorlagen des BMAS zur Schaffung eines neuen Teilhaberechts nehmen zwar immer wieder Bezug auf die UN-Behindertenrechtskonvention. Sie bleiben jedoch insgesamt weit hinter den Erwartungen zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention und damit auch hinter den Concluding Observations vom April dieses Jahres zurück.
3.2 Investitionen in Kinder
Die Kindertagesbetreuung hat unzweifelhaft in den letzten Jahren eine rasante Entwicklung erfahren. Diese umfasst nicht nur den quantitativen und qualitativen Ausbau des Betreuungsangebots, insbesondere für Kinder ab dem vollendeten ersten Lebensjahr, sondern auch die pädagogischen und sozialpolitischen Anforderungen an das frühkindliche Bildungs-, Erziehungs- und Betreuungssystem, etwa bei der besonderen Förderung von Kindern in Armutslagen, der Umsetzung von Inklusion oder der Integration von Kindern mit Fluchterfahrungen und deren Familien.
Zum Stichtag 1. März 2015 standen für Kinder unter drei Jahren 693 343 Plätze in einer Kindertageseinrichtung oder bei einer Tagesmutter bzw. einem Tagesvater zur Verfügung. Das entspricht einer Betreuungsquote von 32,9 Prozent für diese Altersklasse. Insgesamt nahmen in Deutschland 2015 mehr als 2,6 Millionen Kinder unter sechs Jahren einen Betreuungsplatz in einer Kindertageseinrichtung oder Kindertagespflege in Anspruch. Ungeachtet dessen entspricht das Platzangebot vielerorts nach wie vor nicht dem vorhandenen Bedarf. Gut zwei Drittel des Betreuungsangebots wird über freie Träger der Jugendhilfe bereitgestellt.
Um den notwendigen Ausbau der Kindertagesbetreuung, sowohl quantitativ als auch qualitativ sowie die verschiedenen Anforderungen und Erwartungen an das frühkindliche Bildungs-, Erziehungs- und Betreuungssystem zu unterstützen, hat das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend auch in 2015 verschiedene Bundesprogramme aufgelegt sowie Initiativen gestartet.
Bereits im November 2014 haben sich Bund, Länder und Kommunen auf ein gemeinsames Communiqué „Frühe Bildung weiterentwickeln und finanziell sichern“ verständigt und dabei Bereiche identifiziert, in denen konkrete Qualitätsziele für den frühkindlichen Bildungsbereich vereinbart werden sollen. Um sich auf Ziele verständigen zu können, wurde eine Arbeitsgruppe eingesetzt, an der neben Vertreter/-innen von Bund, Ländern und Kommunen u. a. auch die Verbände der BAGFW und andere Organisationen über eine gesonderte Expertengruppe beteiligt sind. Ende 2016 soll die Arbeitsgruppe einen ersten Bericht vorlegen. Die Beratungen in der Arbeitsgruppe finden unter der Hinzuziehung externer Expertise statt und wurden Ende 2015 um das Thema „Integration und Förderung von Flüchtlingskindern und ihrer Familien“ ergänzt.
Aus Sicht der BAGFW ist die Weiterentwicklung der Qualität in der Kindertagesbetreuung unverzichtbar, um den umfassenden Anforderungen und Erwartungen an das frühkindliche Bildungs-, Erziehungs- und Betreuungssystem Rechnung zu tragen. Hierzu müssen die Rahmenbedingungen in den Kindertageseinrichtungen deutlich verbessert werden. Vor diesem Hintergrund betrachtet die BAGFW Entwicklungen, die auf eine Reduzierung von Standards zur Kompensation des ungedeckten Platzangebots ausgerichtet sind, mit Sorge. Eine Reduzierung von Standards läuft aus Sicht der BAGFW den aktuellen Anforderungen und Erwartungen an die Kindertagesbetreuung – etwa bei der Umsetzung von Inklusion oder der Förderung von Kindern mit Fluchterfahrungen - zuwider und steht im Gegensatz zur gebotenen Verbesserung der Qualität der frühkindlichen Bildung, Erziehung und Betreuung.
Die BAGFW bewertet die aktuellen Bundesprogramme, wie beispielsweise „KitaPlus“ oder „Sprach-Kitas: Weil Sprache der „Schlüssel zur Welt ist“ insgesamt positiv, hält diese Art der punktuellen Förderung aber nicht für ausreichend, um die Qualität in der Kindertagesbetreuung nachhaltig zu verbessern und weiterzuentwickeln. Vielmehr ist aus Sicht der BAGFW grundsätzlich über eine stärkere Beteiligung des Bundes an der Finanzierung des frühkindlichen Bildungs-, Erziehungs- und Betreuungssystems nachzudenken. Die Zurverfügungstellung der aus dem Wegfall des Betreuungsgeldes bis 2018 frei werdenden Mittel sowie das dritte Investitionsprogramm für Länder und Kommunen reichen angesichts der steigenden Ausgaben für die Kindertagesbetreuung sowie mit Blick auf die notwendigen Qualitätsverbesserungen – insbesondere bei den Rahmenbedingungen - aus Sicht der BAGFW bei weitem nicht aus.
3.3 Obdachlosigkeit, inklusives und bezahlbares Wohnen
Die Bereiche Obdachlosigkeit, inklusives Wohnen und bezahlbares Wohnen treffen bzw. überschneiden sich an der Frage der Schaffung und des Zur-Verfügung-Stellens von angemessenem Wohnraum. Darüber hinaus haben diese drei Bereiche kaum Berührungspunkte und sollten jeweils einzeln bearbeitet und mit entsprechenden zielgenauen Maßnahmen hinterlegt werden.
Personen, die in der Bundesrepublik Deutschland von Obdachlosigkeit betroffen sind, werden häufig weitere Merkmale zugeordnet, die den Zugang zu angemessenem Wohnraum be- bzw. verhindern. Hierzu gehören neben der materiellen Armut bspw. psychische Erkrankungen, Flucht-/Migrationshintergrund, Verschuldung, der Alleinerziehenden-Status oder fehlende Erwerbsarbeit.
Maßnahmen gegen Obdachlosigkeit sind nicht auf die Zielgruppe junger Erwachsener zu begrenzen.
Die Verbindung von inklusivem und bezahlbarem Wohnen mit Maßnahmen der Digitalisierung greift zu kurz und ist nicht zielgenau. Digitalisierung kann den Verbleib in der vertrauten Häuslichkeit erleichtern, leistet aber keinen Beitrag zur gesellschaftlichen/sozialen Inklusion der Menschen.
Der Erhalt und die Schaffung von bezahlbarem Wohnraum in Großstädten und Wachstumsregionen ist seit längerer Zeit ein drängendes gesellschaftliches Thema. Durch die Herausforderung, hunderttausende Flüchtlinge kurzfristig mit geeignetem Wohnraum zu versorgen, wird sich die Problematik noch verschärfen. Die Bundesregierung hat zur Bewältigung der Herausforderungen ein „Bündnis für bezahlbares Wohnen und Bauen“ ins Leben gerufen, in dem neben dem Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit die Immobilienwirtschaft, Gewerkschaften, Mietervertreter und Wohlfahrtsverbände zusammenkamen, um gemeinsam Lösungen zu entwickeln. Das Bündnis beschloss seine Tätigkeit im November 2015 mit der Vorstellung eines 10-Punkte-Programms. Die BAGFW erkennt hierin ein wichtiges Signal, dem nun konkrete Maßnahmen folgen müssen, um tatsächlich eine Wohnungsbauoffensive im Sinne von auf dem Wohnungsmarkt benachteiligten Bevölkerungsgruppen in Gang zu bringen. Klar ist für die BAGFW dabei, dass die öffentliche Hand verstärkt in den Ausbau des sozialen Wohnungsbaus investieren muss. Der Staat ist hier massiv gefordert, damit auf allen Ebenen geeignete Vorgaben gemacht und Rahmenbedingungen sowie Anreize geschaffen werden und tatsächlich auch mehr bezahlbarer Wohnraum dort entsteht, wo er benötigt wird. Eine Wohnungsbauoffensive wird darüber hinaus nur dann gelingen, wenn die wesentlichen Akteure – Wohnungswirtschaft, Kommunen und Freie Wohlfahrtspflege -einen förderlichen Rahmen für eine dauerhafte Kooperation im Feld der Stadtentwicklung vorfinden.
Der Entwurf der Strategischen Sozialberichterstattung benennt die Wohngeldreform zum 1.1.2016. Die BAGFW hofft, dass durch die Erhöhung des Wohngeldes auch zahlreiche Leistungsberechtigte den Leistungsbezug in der Grundsicherung für Arbeitsuchende überwinden werden. Dennoch kritisieren die Verbände, dass erneut kein Dynamisierungsmechanismus ins Wohngeld implementiert wurde. Zudem wäre die Wiedereinführung einer Heizkostenpauschale wünschenswert gewesen.
4. Jüngste Reformen zur Erreichung von angemessenen und nachhaltigen Renten
Ein wichtiges politisches Anliegen der BAGFW ist es, Altersarmut vorzubeugen. Dazu gehört auch, verfestigte Langzeitarbeitslosigkeit zu bekämpfen und sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse zu fördern.
Die BAGFW begrüßt die Beiträge der Bundesregierung, die dazu dienen, Absicherungslücken in Erwerbsbiographien zu schließen. Die verbesserte rentenrechtliche Bewertung von Erziehungszeiten für vor 1992 geborene Kinder ist ein erster Beitrag dazu.
Die bisher eingeleiteten Schritte der Bundesregierung haben jedoch nicht wesentlich zur Stärkung der Gesetzlichen Rentenversicherung beigetragen. Die im Entwurf des Sozialberichts benannte Rentenerhöhung zur Jahresmitte 2015 kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass immer mehr Menschen fürchten, im Alter nicht ausreichend abgesichert zu sein. Die steigende Zahl der Grundsicherungsberechtigten im Alter und das Wachstum des Armutsrisikos im Alter belegen, dass diese Befürchtungen nicht unberechtigt sind. Mit 15,6 Prozent liegt die Armutsgefährdungsquote unter Rentnern erstmals über der Durchschnittsquote, die das Bundesamt für Statistik (Destatis) für 2014 mit 15,4 Prozent berechnet hat. Der Rentenversicherungsbericht 2016 weist aus, dass das Sicherungsniveau der Rentenversicherung 2014 bei 48,1 Prozent lag, bis 2029 voraussichtlich auf 44,6 Prozent absinken wird.
Auch Aspekte der Prävention und Rehabilitation wurden von den bisherigen Initiativen der Bundesregierung unzureichend berücksichtigt. Diese sollten jedoch weiter gestärkt werden, um die Kluft zwischen tatsächlichem und gesetzlichem Renteneintritt weiter zu verringern und dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken.
Gerade vor diesem Hintergrund bewertet die BAGFW die eingeführte Rente ab 63 kritisch. Sie privilegiert männliche Versicherte mit ununterbrochenen Erwerbsbiographien und überdurchschnittlichen Rentenansprüchen zusätzlich, während Beschäftigte in Erziehungs- und Pflegeberufen schon aufgrund der nicht berücksichtigungs-fähigen Ausbildungszeiten häufig nicht einmal theoretisch von dieser Regelung profitieren können.
Der Gesetzgeber hat mit der Einführung der Riester-Rente durch das Altersvermögensgesetz (AVmG) 2002 die Erwartung verbunden, dass die steuerliche Förderung der privaten Absicherung dazu führt, Einkommensverluste im Alter durch ein sinkendes Rentenniveau ausgleichen zu helfen. Diese Erwartung hat sich nicht erfüllt. Neue wissenschaftliche Studien zeigen, dass Geringverdiener, die in besonderem Maße auf die zusätzliche Vorsorge angewiesen wären, unterdurchschnittlich Vorsorge betreiben, während einkommensstärkere Menschen die mit etwa 3 Milliarden Euro jährliche geförderte private Vorsorge überproportional als zusätzliche Anlagemöglichkeit nutzen. Etwa ein Fünftel der abgeschlossenen Verträge ist schon heute „ruhend“ gestellt, d. h. es erfolgen keine Einzahlungen mehr. Niedrige Renditen, hohe Verwaltungskosten, intransparente Versicherungsbedingungen und Sterbetafeln sowie eingeschränkte Wechselmöglichkeiten verringern die Attraktivität der bestehenden privaten Vorsorge.
Das Zusammenspiel der bestehenden Säulen hat sich damit grundlegend anders entwickelt, als der Gesetzgeber 2002 beabsichtigt und erwartet hat. Aus diesem Grund muss das System der Alterssicherung in den Blick genommen und verändert werden, um Altersarmut weitestgehend reduzieren zu helfen.
Die BAGFW fordert vor diesem Hintergrund die Stärkung der der Grundsicherung vorgelagerten Sicherungssysteme und die Stärkung der tatsächlichen Möglichkeiten zu eigener Vorsorge. Die Integration in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung ist ein besonderes Anliegen der BAGFW. Gerade bei der Bekämpfung verfestigter Langzeitarbeitslosigkeit sind aus Sicht der BAGFW weitere Anstrengungen notwendig (siehe auch oben).
Das Sicherungsniveau der Gesetzlichen Rentenversicherung ist zu stärken und zu stabilisieren. Die BAGFW fordert, Kindererziehungs- und Pflegezeiten aus Steuermitteln zu finanzieren.
Die BAGFW fordert darüber hinaus, dass die Grundsicherung im Alter bedarfsgerecht ausgestaltet wird. Die BAGFW fordert ferner, angemessene Freibeträge in der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung für eigene Altersvorsorgeleistungen festzuschreiben, um weitere Anreize für die eigene Vorsorge der Versicherten zu gewährleisten.
5. Jüngste Reformen im Gesundheitswesen
Das Bundesministerium für Gesundheit hat im Verlauf des Jahres 2015 eine Reihe weitreichender Gesetze zur pflegerischen und medizinischen Versorgung auf den Weg gebracht, die von den Wohlfahrtsverbänden zum Teil kritisch begleitet wurden.
Das Hospiz- und Palliativgesetz hat wesentliche Rahmenbedingungen für eine Verbesserung der hospizlichen und palliativen Versorgung in Deutschland geschaffen. Zu begrüßen ist vor allem die Verbesserung der Finanzierungsgrundlage der stationären Hospize und der ambulanten Hospizdienste. Des Weiteren wird die allgemeine pflegerische Palliativversorgung (AAPV) in der Regelversorgung durch eine Erweiterung der Richtlinie zur Verordnung häuslicher Krankenpflege aufgebaut und fortentwickelt. Entschieden zu kurz greift das Gesetz jedoch in Bezug auf die palliative und hospizliche Versorgung von Menschen in vollstationären Pflegeeinrichtungen. Ziel muss es sein, mehr Personal und Ressourcen für eine gute Palliativversorgung und hospizliche Sterbebegleitung im Pflegeheim zur Verfügung zu stellen. Zugleich dürfen die Heimbewohnerinnen und Heimbewohner nicht weiter durch steigende Eigenanteile in Folge einer Verteuerung der Pflegesätze durch höhere Personalkosten belastet werden.
Das Krankenhausstrukturgesetz ist mit dem Anspruch verbunden, die Krankenhausplanung stärker auf die Qualität der Versorgung auszurichten und einen Ausgleich zwischen strukturschwachen und strukturstarken Regionen zu erreichen. Zentrale Themen des Krankenhausstrukturgesetzes sind neben der Qualitätssicherung, die Krankenhausplanung und die Sicherung der Finanzierung der Betriebskosten. Die Wohlfahrtsverbände begrüßen, dass aufgrund bundesweiter Proteste erreicht werden konnte, dass die ursprünglich im Gesetz vorgesehenen Kürzungen vom Gesetzgeber nicht weiter verfolgt wurden. Somit werden die 500 Millionen Euro aus dem Versorgungszuschlag in den Krankenhäusern verbleiben. Die Rahmenbedingungen für die Refinanzierung der Personalkosten werden damit deutlich verbessert. Auch die Förderprogramme für die Einstellung von Pflegekräften und Hygienepersonal sind aus Sicht der Wohlfahrtsverbände wichtige Schritte zur Verbesserung der Situation in den Kliniken.
Keine Verbesserungen erzielt das Krankenhausstrukturgesetz hingegen bei der unzureichenden Investitionsfinanzierung durch die Länder. Allein im letzten Jahr sind die Länder den Kliniken rund 3,3 Milliarden Euro schuldig geblieben. Hier sehen die Wohlfahrtsverbände nach wie vor Handlungsbedarf.
Das Präventionsgesetz ist ein Artikelgesetz, das ab 2016 Maßnahmen und Leistungen zur Vermeidung von Krankheiten, zur Gesundheitsförderung und zur Früherkennung von Krankheiten umsetzt. Ziel des Gesetzes ist es, insbesondere die sozial bedingte gesundheitliche Chancenungleichheit zu vermindern. Die Wohlfahrtsverbände begrüßen diese Zielsetzung ausdrücklich. Die Leistungen der Krankenkassen zur Prävention und Gesundheitsförderung werden ab 2016 mehr als verdoppelt, der Lebenswelten-Ansatz wird gestärkt. Zusammen mit dem Beitrag der Pflegekassen stehen damit künftig rund 511 Millionen Euro pro Jahr für präventive und gesundheitsfördernde Leistungen bereit.
Die BAGFW strebt auf Basis der Bundesrahmenempfehlungen der Nationalen Präventionskonferenz eine Kooperationsvereinbarung mit der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung in Bezug auf die fachliche Weiterentwicklung von Projekten und Ansätzen der Gesundheitsförderung an. Als wesentliche Akteure in den Lebenswelten (z. B. Kindertagesstätten, Einrichtungen der Jugend-, Behinderten- und Altenhilfe) ist eine künftige Beteiligung und inhaltliche Einbindung der Wohlfahrtsverbände sinnvoll und zielführend. Die Wohlfahrtsverbände erachten es zudem als erforderlich, dass Gesundheitsförderung und Prävention stärker als gesellschaftliche Querschnittsaufgaben angesehen und künftig weitere Bereiche der Sozialpolitik in die Maßnahmenplanungen einbezogen werden.
6. Jüngste Reformen in der Langzeitpflege
Im Berichtszeitraum hat die Bundesregierung u. a. mit einer Vorziehregelung zur Anpassung der Richtlinien zur Begutachtung von Pflegebedürftigkeit sowie mit dem zweiten Pflegestärkungsgesetz den Weg für die Einführung eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs geebnet.
Die BAGFW hat die Vorziehregelung mit dem Präventionsgesetz in ihrer Stellungnahme und im Anhörungsverfahren des Gesundheitsausschusses ausdrücklich gelobt, da sich so die Erarbeitung und Fertigstellung der Begutachtungs-Richtlinien durch den GKV-Spitzenverband an dem in der Roadmap genannten zeitlichen Rahmen orientieren und doch zügig nach Einführung des Neuen Begutachtungsassessments (NBA) mit dem neuen Instrument begutachtet werden kann. Ferner hatte die BAGFW darauf hingewiesen, dass vor einer Bearbeitung der Richtlinien die Grundsatzentscheidung getroffen werden muss, ob die gegenwärtige Trennung der Pflegebedürftigkeits-Richtlinien (PfLRI) und der Begutachtungs-Richtlinien (BRi) beibehalten werden soll.
Die im Rahmen der letzten Sozialberichterstattung in Aussicht gestellte Erhöhung der
Leistungen der sozialen Pflegeversicherung um rund 20 % (fast fünf Milliarden Euro) in dieser Wahlperiode wurde mit dem zweiten Pflegestärkungsgesetz vollständig umgesetzt. Im Zuge dieses Gesetzgebungsverfahrens hat die BAGFW begrüßt, dass mit Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs und des Neuen Begutachtungsinstruments der notwendige Paradigmenwechsel in der Pflegeversicherung endlich eingeleitet wird. Damit wird die seit 20 Jahren bestehende systemisch bedingte Ungleichbehandlung von somatisch und kognitiv beeinträchtigten Menschen aufgehoben. Pflegerische Betreuungsmaßnahmen werden als neue gleichrangige Leistung ins SGB XI eingeführt und stehen künftig allen pflegebedürftigen Menschen zur Verfügung. Die alte defizitorientierte Sichtweise auf Pflege wird abgelöst durch ein neues Verständnis von Pflege, das den Blick auf die noch bestehenden Fähigkeiten und Ressourcen lenkt, um die Selbständigkeit der Person zu erhalten oder wieder herzustellen. Prävention und Rehabilitation rücken somit in den Vordergrund. Die BAGFW hat sich in der Anhörung auf der Ministeriumsebene, in der Anhörung im Gesundheitsausschuss des Deutschen Bundestages und in zahlreichen Konsultationsprozessen dafür eingesetzt, dass die sich für vollstationäre Einrichtungen ergebenen Risiken dieser Reform durch geeignete Abfederungsmechanismen gehandhabt werden können, ohne die Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs in Frage zu stellen. Maßgeblich ist die Frage der zukünftigen Personalausstattung in vollstationären Einrichtungen. Es ist gesetzlich vorgesehen, die Entwicklung und Erprobung eines wissenschaftlich fundierten Verfahrens zur einheitlichen Bemessung des Personalbedarfs in Pflegeeinrichtungen nach qualitativen und quantitativen Maßstäben bis zum 30. Juni 2020 abzuschließen, was die BAGFW begrüßt. Das Pflegestärkungsgesetz II sieht vor, dass sich die Vertragsparteien bis zum 31. Dezember 2016 über eine entsprechende Beauftragung geeinigt haben (im Hinblick auf ggf. vorzunehmende Ausschreibungen ist das Zeitfenster jedenfalls nicht zu lange bemessen), andernfalls bestimmt das Bundesministerium für Gesundheit und das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend innerhalb von vier Monaten das Verfahren und die Inhalte der Beauftragung. Der Entwurf der Strategischen Sozialberichterstattung trifft die Aussage, dass der pflegebedingte Eigenanteil durch die Einführung des einrichtungseinheitlichen pflegegradunabhängigen Eigenanteils künftig mit zunehmender Pflegebedürftigkeit nicht mehr ansteigt und dass dadurch viele Pflegebedürftige entlastet werden. Die BAGFW weist jedoch darauf hin, dass es durch den einrichtungseinheitlichen Eigenanteil nicht zu einer generellen Entlastung der pflegebedürftigen Menschen in der vollstationären Einrichtung kommt, da der Eigenanteil künftig nur anders zwischen den Pflegegraden verteilt wird.
Die BAGFW begrüßt, dass mit dem Familienpflegezeitgesetz ein Rechtsanspruch auf Familienpflegezeit und Pflegezeit eingeführt wurde. Der Rechtsanspruch auf Pflegezeit besteht bei Arbeitgebern ab einer Betriebsgröße von 15 Beschäftigten, wohingegen ein Rechtsanspruch auf Familienpflegezeit erst bei Arbeitgebern ab einer Betriebsgröße von 25 Beschäftigten gilt. Die BAGFW fordert den Gesetzgeber auf, die Betriebsgrößen beim Rechtsanspruch zu harmonisieren und einen Rechtsanspruch auf Familienpflegezeit auch für Betriebe ab 15 Beschäftigte einzuführen. Dies ist umso dringender geboten, als die Freistellungen für die Pflegezeit und die Familienpflegezeit kombiniert werden können. Des Weiteren sollen die starren Regelungen zur Kombinierbarkeit von Pflegezeit und Familienpflegezeit so flexibilisiert werden, dass die Höchstfreistellungsdauer von 24 Monaten in jedem Fall vollständig ausgeschöpft werden können. Es soll daher ermöglicht werden, an eine im Anschluss an die Familienpflegezeit in Anspruch genommene Pflegezeit eine nochmalige Phase der Familienpflegezeit anzuschließen. In diesem sequentiellen Modell soll auch eine Phase der Unterbrechung durch Rückkehr auf den Umfang der vormaligen Arbeitszeit möglich sein. Ausdrücklich begrüßt wird von der BAGFW die Einführung einer bis zu 3 Monaten dauernden Freistellung für die Sterbebegleitung naher Angehöriger im Rahmen der Pflegezeit. Diese Freistellung wird allerdings auf die Höchstdauer der Freistellungen von 24 Monate angerechnet. Die BAGFW fordert die Aufhebung der Anrechnung.
Im Rahmen der auf drei Jahre befristeten Ausbildungs- und Qualifizierungsoffensive hat sich die Bundesagentur für Arbeit verpflichtet, Altenpflegeschülerinnen und Altenpflegeschüler über die gesamte Ausbildungsdauer von drei Jahren zu fördern. Es wurde in diesem Zusammenhang vereinbart, dass die Absolvent/-innen an einem Kompetenzfeststellungsverfahren teilnehmen, in dem geprüft wird, ob die bereits vorhandenen Kompetenzen ausreichen, um die Ausbildungsdauer um ein Jahr zu verkürzen. Das SGB III sieht eine Förderung von Berufsausbildungen für maximal zwei Jahre vor. Die Option einer verkürzten Ausbildung für Auszubildende mit Vorerfahrung als auch die 3-jährige Förderung haben erheblich zur Steigerung der Ausbildungszahlen beigetragen. Bereits im zweiten Jahr der Ausbildungs- und Qualifizierungsoffensive konnte die Zielvorgabe, die Ausbildungszahlen um 10 % zu steigern, deutlich übertroffen werden. Im Schuljahr 2013/2014 wurde ein neuer Spitzenwert bei den Ausbildungszahlen erreicht und im Schuljahr 2014/2015 gab es zum ersten Mal mehr Schülerinnen und Schüler in der Altenpflegeausbildung als in der Krankenpflegeausbildung. Die Maßnahmen sind erfolgreich. Sie unterstützen die Pflegeeinrichtungen dabei, ihr ausgeprägtes Engagement in der Erstausbildung um die gezielte Höherqualifizierung von Pflegehelfer/-innen zu verstärken und so dem Fachkräftemangel entgegenzutreten. Die Ausbildungs- und Qualifizierungsoffensive ist offiziell Ende 2015 ausgelaufen. Damit entfällt die Möglichkeit einer dreijährigen Förderung durch die Bundesagentur für Arbeit für Schüler/-innen, die nach dem 31.03.2016 die Ausbildung beginnen. Nach dem 31.03.2016 wird es bis auf weiteres nur noch eine 2-jährige Förderung durch die Bundesagentur geben und auch das Kompetenzfeststellungsverfahren keine Rechtsgrundlage mehr haben. Die Förderung der Altenpflegeausbildung durch die Bundesagentur für Arbeit ist aus arbeitsmarktpolitischer Perspektive sinnvoll. Untersuchungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) haben gezeigt, dass die Umschulungen im Bereich der Altenpflege besonders erfolgreich sind und die Teilnehmenden im Anschluss überdurchschnittlich häufig eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung aufnehmen. Zudem eröffnen Umschulungsmaßnahmen in der Altenpflege für viele Menschen, die eine (neue) Perspektive auf dem Arbeitsmarkt suchen und die für die Altenpflege geeignet sind, neue Chancen. Auf diesem Weg können gerade die für die Altenpflege interessante Zielgruppe der lebenserfahrenen Menschen für die Altenpflege gewonnen werden, wenn sie zum Beispiel nach einer Familienphase wieder in den Arbeitsmarkt einsteigen möchten. Auch für die wichtige Zielgruppe der Menschen mit Migrationshintergrund, die für die Altenpflege nicht zuletzt auch mit Blick auf die zunehmende Zahl pflegebedürftiger Menschen mit Migrationshintergrund immer bedeutsamer wird, bieten die Umschulungsmaßnahmen einen guten Einstieg in den Pflegebereich. Eine nicht-repräsentative Befragung der Hochschule der Bundesagentur für Arbeit hat zudem gezeigt, dass 80% der befragten Quereinsteigenden in die Pflege – also Personen, die zuvor in einem anderen Berufsbereich gelernt hatten oder erwerbstätig waren - dauerhaft in der Pflege weiterarbeiten möchten. Zusammengenommen lässt sich festhalten, dass Umschulungsmaßnahmen in der Altenpflege für den Berufsbereich mit seinem gravierenden Fachkräftemangel, für die Teilnehmenden und für die Versichertengemeinschaft nachhaltig sind und dass hier eine größere Förderkontinuität für die Planungssicherheit erforderlich ist.
Die Wohlfahrtsverbände fordern daher die Fortsetzung der 3-jährigen Förderung der Altenpflegeausbildung durch die Bundesagentur für Arbeit zu den in der Ausbildungs- und Qualifizierungsoffensive vereinbarten Konditionen. Gleiches sollte auch für das Pflegeberufsgesetz gewährleistet sein. Zudem muss analog im Pflegeberufsgesetz die Möglichkeit geschaffen werden, die Ausbildung bei Nachweis einer entsprechenden Vorerfahrung um max. ein Jahr zur verkürzen. Bei der geplanten generalistischen Pflegeausbildung ist zudem absehbar, dass zukünftig im Anschluss an eine grundständige Ausbildung spezialisierende Weiterbildungen notwendig sein werden. Dies sollte bei weiteren Planungen berücksichtigt werden.
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Die BAGFW begrüßt die Zielsetzung des Gesetzentwurfs, Verbesserungen bei der Weiterbildung von gering qualifizierten Arbeitnehmer/-innen und Arbeitslosen zu erreichen, indem u. a. Grundkompetenzen in der Fort- und Weiterbildung gefördert und Motivationsprämien bereitgestellt werden sollen. Der Handlungsbedarf ist enorm: Im Jahresdurchschnitt 2014 nahmen nur 65.860 der Arbeitslosen oder rund 5 % der Arbeitslosen ohne Berufsabschluss an einer Fort- und Weiterbildung teil, die zu einem Berufsabschluss führte.
Kritisch anzumerken ist allerdings die Absicht, die Stärkung der beruflichen Weiterbildung ohne zusätzliche Finanzmittel in der Grundsicherung für Arbeitsuchende erreichen zu wollen. Notwendig wäre vielmehr, die Mittelansätze signifikant zu erhöhen. Dies gilt umso mehr, als in den letzten Jahren (2009-2014) die Ausgaben für die berufliche Weiterbildung für Leistungsberechtigte im SGB II um 26 % von 923 Millionen auf 681 Millionen Euro, gekürzt wurden. Den Jobcentern müssen außerdem in größerem Umfang mehrjährige Verpflichtungsermächtigungen zugeteilt werden, damit sie längerfristige Fort- und Weiterbildungen finanzieren können.
Mehr als die Hälfte der Arbeitslosen (55,5 %) in der Grundsicherung für Arbeitsuchende kann aktuell keinen Berufsabschluss nachweisen. Allerdings sind nur 16 % aller Arbeitsstellen, die bei den Arbeitsagenturen und Jobcentern gemeldet sind, für Helfer- oder Anlerntätigkeiten ausgeschrieben. Nötig sind neue Bildungsinstrumente, die auf benachteiligte Personengruppen bzw. Personen mit mehreren Vermittlungshemmnissen zugeschnitten sind. So bedarf es z. B. modularer Angebote, die den Interessierten die Möglichkeit eröffnen, eine Ausbildung nach Bedarf zu unterbrechen oder zu verlängern. Auch während einer längeren Fortbildung muss der Lebensunterhalt verlässlich gesichert sein; was sich insbesondere für Leistungsberechtigte im SGB II derzeit als sehr schwierig gestaltet. Damit Arbeitslose ihr Wunsch- und Wahlrecht über die Einlösung von Gutscheinen zur Fort- und Weiterbildung wahrnehmen können, müssen sie von den Jobcentern und Arbeitsagenturen umfassend, verständlich und transparent über die Angebote informiert und zu den damit verbundenen Perspektiven beraten werden.
Die BAGFW plädiert dafür, in der Zielgruppenbestimmung des Gesetzentwurfs Flüchtlinge aufzunehmen. Ein Großteil der Menschen, die nach Deutschland kommen, verfügt über keinen (anerkannten) Berufsabschluss und braucht voraussichtlich mehrere Jahre, um auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Die Wohlfahrtsverbände regen deshalb dringend an, nicht nur in die Berufsausbildung von jungen Flüchtlingen zu investieren, sondern auch Angebote der (abschlussbezogenen) Nachqualifizierung für jene Flüchtlinge zu machen, denen es zumindest in einem ersten Schritt gelingt, in einer (ungelernten) Beschäftigung in den deutschen Arbeitsmarkt einzumünden.
Die BAGFW regt dringend an, eine gesetzliche Folgeregelung zur Fortführung und Finanzierung der dreijährigen Umschulungen in der Altenpflege zu schaffen.
Die BAGFW nimmt zu ausgewählten Regelungen des Referentenentwurfs Stellung:
Grundsätze der Weiterbildungsförderung, § 4 Abs. 2 SGB III-E
Es wird ergänzend klargestellt, dass eine abschlussorientierte Weiterbildung für die dauerhafte berufliche Eingliederung nötig sein kann. In diesen Fällen gilt der Vorrang der Vermittlung in Ausbildung und Arbeit nicht.
Bewertung:
Die BAGFW begrüßt die Klarstellung, dass eine abschlussorientierte Weiterbildung vorrangig gegenüber der Vermittlung ist, wenn dies für die dauerhafte berufliche Eingliederung nötig ist. Notwendig ist dabei, dass der Zugang zur beruflichen Weiterbildung auch für Erwerbslose verbessert wird, die zwar über einen Berufsabschluss verfügen, aber z. B. aufgrund von Unterbrechungen ihrer Erwerbsbiographie hierfür keine aktuelle Verwendung am Arbeitsmarkt finden. Eine betriebsnahe Fort- und Weiterbildung zur Auffrischung der beruflichen Qualifikationen würde – insbesondere in nicht nur kurzfristiger Perspektive – deutlich bessere Integrationschancen bieten. Jedoch werden insbesondere ältere Erwerbslose (ab 45 Jahren!) in der Praxis der Jobcenter eher an niederschwellige Maßnahmen, wie z. B. Maßnahmen zur Aktivierung und beruflichen Eingliederung (ohne expliziten Bezug zum vorhandenen Berufsabschluss) oder an Arbeitsgelegenheiten verwiesen. Die Fördervoraussetzungen zur Notwendigkeit einer Weiterbildung sollten diesbezüglich geöffnet werden.
Versicherungspflicht von Strafgefangenen, § 26 Abs. 1 Nr. 4 SGB III-E
Zukünftig werden arbeitsfreie Samstage, Sonntage und gesetzliche Feiertage bei der Erfüllung der Anwartschaftszeiten für die Versicherung in der Arbeitslosenversicherung berücksichtigt, soweit sie innerhalb zusammenhängender Arbeits- oder Ausbildungsabschnitte liegen.
Bewertung:
Die Wohlfahrtsverbände begrüßen die Regelung ausdrücklich. Mit dieser Klarstellung wird die seit 2012 bestehende Schlechterstellung von Strafgefangenen gegenüber anderen Arbeitnehmer/-innen in einem Beschäftigungsverhältnis aufgehoben. Seit Juli 2012 kamen Gefangene, wenn sie ein Jahr lang fünf Tage die Woche arbeiteten und die Samstage, Sonntage und Feiertage unberücksichtigt blieben, nur auf rund 250 Tage eines Versicherungspflichtverhältnisses. Sie mussten dann noch 110 Tage für die Erfüllung der Anwartschaftszeit von 360 Kalendertagen nacharbeiten. Die Wohlfahrtsverbände haben diese Ungleichbehandlung gegenüber anderen Erwerbs-tätigen schon seit längerer Zeit angemahnt und eine Gleichstellung in der Arbeitslosenversicherung gefordert. Die Rückkehr zu der bis 2012 geübten Rechtspraxis wird daher ausdrücklich begrüßt.
Ausbau des Versicherungsschutzes während der Elternzeit, § 28a SGB III-E
Es wird eine neue Möglichkeit der freiwilligen Weiterversicherung in der Arbeitslosenversicherung für die Inanspruchnahme der Elternzeit nach dem dritten Lebensjahr des Kindes geschaffen.
Bewertung:
Die Regelung ist vor dem Hintergrund der Ausweitung der Elternzeit mit dem ElterngeldPlus folgerichtig und für die Familien, die diese Leistung nutzen können, ein Beitrag für mehr Flexibilität.
Erwerb von Grundkompetenzen in der beruflichen Weiterbildung,
§§ 81 Abs. 3 a, 131a, 180 SGB III-E
Die berufliche Weiterbildungsförderung wird erweitert um Förderangebote zum Erwerb von Grundkompetenzen in den Bereichen Schreiben, Lesen, Rechnen und digitalen Grundkompetenzen, soweit damit eine abschlussbezogene Weiterbildung begonnen und erfolgreich absolviert werden kann. Gem. § 131a SGB III-E soll der Vergabeweg zukünftig eröffnet werden, um den Arbeitsagenturen die Möglichkeit zu geben, dass sie Maßnahmen zum Erwerb von Grundkompetenzen und Maßnahmen zum Nachholen von Berufsabschlüssen kombiniert ausschreiben können. Weiterbildungsmaßnahmen zum Erwerb von Grundkompetenzen werden wie auch umschulungsbegleitende Hilfen in das Regularium der Träger- und Maßnahmenzulassung einbezogen.
Bewertung:
Die Neuerung wird grundsätzlich begrüßt, insofern gering Qualifizierte, insbesondere Personen mit Lese-/Schreibschwächen, neben der bestehenden Fördermöglichkeit in den Maßnahmen zur Aktivierung und beruflichen Eingliederung auch in der beruflichen Weiterbildung ein Grundbildungsangebot erhalten. Von der Neuregelung könnten z. B. Arbeitnehmer profitieren, die aufgrund geringer Grundkompetenzen von Arbeitslosigkeit bedroht sind. Allerdings sind die Zugangsvoraussetzungen gerade für Arbeitnehmer/-innen, die zum Personenkreis der funktionalen Analphabeten zählen, zu hochschwellig. Ein grundständiger Förderbedarf im Bereich Lesen und Schreiben (Alpha Level 1 und 2) sollte nicht nur in den Fällen aufgegriffen werden, in denen die Personen mit einer guten Erfolgsaussicht in naher Zukunft auch eine abschlussbezogene Weiterbildung absolvieren werden.
Ergänzend weisen die Wohlfahrtsverbände darauf hin, dass für eine große Zahl von Arbeitslosen mit mehreren Vermittlungshemmnissen niederschwellige Angebote zum Erwerb von Grundkompetenzen dringend ausgebaut werden müssen. Hierfür sollten auch niederschwellige Zugänge genutzt werden, die etwa Stadtteilzentren, Nachbarschaftsheime, Mehrgenerationenhäuser oder Migrantenorganisationen bieten können, um Hürden (z. B. Schamgefühle, Ängste überfordert zu werden) aus dem Weg zu räumen und zielgruppengerechte Angebote zu schaffen. Von dem Erfordernis der Träger- und Maßnahmenzulassung müsste hierfür abgesehen werden. Der Weg der Leistungserbringung muss sorgfältig gewählt werden (siehe auch unten).
Gründungszuschuss für Menschen mit Behinderung, § 116 Abs. 6 SGB III-E
Menschen mit Behinderung sollen auch dann mit dem Gründungszuschuss gefördert werden können, wenn sie keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld haben oder ein Anspruch von weniger als 150 Tagen besteht. Damit sollen die Regelungen zur Gründungsförderung im Zuständigkeitsbereich der BA und der Deutschen Rentenversicherung angeglichen werden.
Bewertung:
Menschen mit Behinderung sind besonders am Arbeitsmarkt benachteiligt und deshalb auch mit besonderen Hürden beim Aufbau von Anwartschaften in der Arbeitslosenversicherung konfrontiert. Die Erleichterungen beim Zugang zur Förderung mit Gründungszuschuss werden deshalb begrüßt.
Neuregelungen zur beruflichen Weiterbildung in kleineren und mittleren Unternehmen (KMU), § 131a SGB III-E
Die Möglichkeiten der Arbeitsagenturen bei der Fort- und Weiterbildung von Beschäftigten in KMU wird um die Alternative erweitert, die Fort– und Weiterbildung auch dann fördern zu können, soweit die Arbeitnehmer/-innen außerhalb der Arbeitszeit in ihre berufliche Weiterbildung investieren und der Arbeitgeber die hälftigen Lehrgangskosten trägt. Bislang waren nur Fortbildungen während der Arbeitszeit förderfähig.
Zur Motivationssteigerung und Stärkung des Durchhaltevermögens der Teilnehmenden einer abschlussbezogenen Weiterbildung werden Erfolgsprämien eingeführt, die jeweils nach dem Bestehen einer Zwischenprüfung und der Abschlussprüfung verbindlich ausgezahlt werden.
Zukünftig sollen umschulungsbegleitende Hilfen auch auf dem Vergabeweg ausgeschrieben werden können. Auch für Angebote zum Erwerb von Grundkompetenzen wird neben dem Gutscheinmodell der Vergabeweg eröffnet.
Bewertung:
Die Notwendigkeit, den Arbeitnehmer für die Dauer der Fortbildung freizustellen, stellt in der Praxis oft ein Hemmnis für die Inanspruchnahme der Weiterbildungsförderung dar. Es stellt sich die Frage, ob Arbeitgeber aufgrund der flexibilisierten Fördermöglichkeiten ihre Beschäftigten zukünftig drängen werden, ihre Freizeit für eine Weiterbildung zu investieren, anstatt sie während der Arbeitszeit hierfür freizustellen.
Die Auszahlung von Motivationsprämien zur Begleitung einer abschlussbezogenen Nachqualifizierung von ungelernten Beschäftigten oder Arbeitslosen hat sich nach Modellversuchen grundsätzlich als hilfreich erwiesen. Allerdings wäre es für die Wohlfahrtsverbände vorrangig wichtig, die Lebensunterhaltssicherung von Arbeitslosen während einer länger dauernden Fortbildung besser abzusichern.
Hinsichtlich der neu geschaffenen Möglichkeit, Angebote zum Erwerb von Grundkompetenzen und umschulungsbegleitende Hilfen auch auf dem Vergabeweg zu beschaffen, bestehen grundsätzliche Bedenken. Die umschulungsbegleitenden Hilfen sind Einzelfallhilfen, die bedarfsgerecht auf den/die Umschulungsteilnehmende/n und die betrieblichen Erfordernisse abgestimmt werden müssen. Vor diesem Hintergrund erschließt es sich nicht, wie eine effiziente und bedarfsgerechte Beschaffung auf dem Vergabeweg gelingen kann. Die öffentliche Auftragsvergabe kann neben dem Gutscheinmodell ein Weg sein, um die neuen Angebote zum Erwerb von Grundkompetenzen mit den Maßnahmen zum Nachholen von Berufsabschlüssen zu verzahnen. Nach den Erfahrungen mit den Ausschreibungen der Bundesagentur für Arbeit sind die Leistungsbeschreibungen häufig bundesweit so stark standardisiert, dass die Angebote zu wenig auf die regionalen Bedarfe der örtlichen Arbeitgeber und zu fördernden Zielgruppen abgestimmt sind.
Bemessung des Arbeitslosengeldes nach einer außerbetrieblichen Berufsausbildung, § 151 Abs. 3 SGB III E
Bei der Bemessung des Arbeitslosengeldes im Anschluss an eine außerbetriebliche Berufsausbildung wird zukünftig die erzielte Ausbildungsvergütung zugrunde gelegt und nicht mehr ein höheres, fiktives Arbeitsentgelt. Dies wird mit einer Gleichstellung von Absolventen einer betrieblichen Berufsausbildung begründet.
Bewertung:
Die Neuregelung wird abgelehnt. Die besonderen Schwierigkeiten von benachteiligten oder lernbehinderten Jugendlichen als Zielgruppe einer außerbetrieblichen Ausbildung bei der Absolvierung einer Berufsausbildung und Einmündung in ein Beschäftigungsverhältnis („2. Schwelle“) rechtfertigen die erhöhte finanzielle Absicherung des Arbeitslosenrisikos. Das erzielte Arbeitslosengeld liegt in vielen Fällen ohnehin meist nur knapp oberhalb der Grundsicherung für Arbeitssuchende.
Ergänzend weist die BAGFW auf diese drängenden Handlungsbedarfe hin:
3-jährige Förderung der Altenpflegeausbildung durch die Bundesagentur für Arbeit
Im Rahmen der auf drei Jahre befristeten Ausbildungs- und Qualifizierungsoffensive hat sich die Bundesagentur für Arbeit verpflichtet, Altenpflegeschülerinnen und Altenpflegeschüler über die gesamte Ausbildungsdauer von drei Jahren zu fördern. Es wurde in diesem Zusammenhang vereinbart, dass die Absolvent/-innen an einem Kompetenzfeststellungsverfahren teilnehmen, in dem geprüft wird, ob die bereits vorhandenen Kompetenzen ausreichen, um die Ausbildungsdauer um ein Jahr zu verkürzen. Das SGB III sieht eine Förderung von Berufsausbildungen für maximal zwei Jahre vor. Die Option einer verkürzten Ausbildung für Auszubildende mit Vorerfahrung als auch die 3-jährige Förderung haben nicht unwesentlich zur Steigerung der Ausbildungszahlen beigetragen. Bereits im zweiten Jahr der Ausbildungs- und Qualifizierungsoffensive konnte die Zielvorgabe, die Ausbildungszahlen um 10 % zu steigern, deutlich übertroffen werden. Im Schuljahr 2013/2014 wurde ein neuer Spitzenwert bei den Ausbildungszahlen erreicht. Die Maßnahmen sind erfolgreich. Sie unterstützen die Pflegeeinrichtungen dabei, ihr ausgeprägtes Engagement in der Erstausbildung um die gezielte Höherqualifizierung von Pflegehelfer/-innen zu verstärken und so dem Fachkräftemangel entgegenzutreten.
Die Ausbildungs- und Qualifizierungsoffensive läuft offiziell Ende 2015 aus und die Möglichkeit einer dreijährigen Förderung entfällt für Schüler/-innen, die nach dem 31.03.2016 die Ausbildung beginnen. Nach dem 31.03.2016 wird es bis auf Weiteres nur noch eine 2-jährige Förderung durch die Bundesagentur geben und auch das Kompetenzfeststellungsverfahren keine Rechtsgrundlage mehr haben.
Die Wohlfahrtsverbände fordern daher die Fortsetzung der 3-jährigen Förderung der Altenpflegeausbildung durch die Bundesagentur für Arbeit zu den in der Ausbildungs- und Qualifizierungsoffensive vereinbarten Konditionen. Gleiches sollte auch für das Pflegeberufsgesetz gewährleistet sein. Zudem muss analog im Pflegeberufsgesetz die Möglichkeit geschaffen werden, die Ausbildung bei Nachweis einer entsprechenden Vorerfahrung um max. ein Jahr zur verkürzen. Bei der geplanten Generalistikausbildung ist zudem absehbar, dass zukünftig im Anschluss an eine grundständige Ausbildung spezialisierende Weiterbildungen notwendig sein werden. Dies sollte bei weiteren Planungen berücksichtigt werden.
Möglichkeit der Verlängerung einer Fort- und Weiterbildung
Bei der Förderung der beruflichen Weiterbildung nach § 16 Abs. 1 SGB II i.V.m. §§ 81 ff. SGB III sollten längere Lernzeiten berücksichtigt werden können. Aus § 180 Abs. 4 SGB III folgt für Vollzeitmaßnahmen, die zu einem Abschluss in einem allgemein anerkannten Ausbildungsberuf führen, eine Verkürzung der Ausbildungsdauer. Die Dauer einer solchen Vollzeitmaßnahme ist demnach angemessen, wenn sie gegenüber einer entsprechenden Berufsausbildung um mindestens ein Drittel der Ausbildungszeit verkürzt ist. Eine verkürzte Ausbildung geht einher mit höheren Leistungsanforderungen. Personen mit mehreren Vermittlungshemmnissen werden häufiger Beeinträchtigungen des Lernens (Lernbehinderung) oder psychische Erkrankungen aufweisen. Sie können diese Anforderungen ggf. nicht erfüllen und benötigen anstelle einer zwingend verkürzten Ausbildungsdauer die Option einer längeren Lernzeit. Deshalb sollte die Dauer der Ausbildungszeit generell flexibilisiert und auch eine Verlängerung der Ausbildungszeit ermöglicht werden. Die verlängerte Fort- und Weiterbildung ist idealerweise mit einem modularen Aufbau der Angebote zu verknüpfen.
Fort- und Weiterbildung in Teilzeit
Ausbildungen sowie Fort- und Weiterbildungen müssen insbesondere auch in Teilzeit ermöglicht bzw. ausgebaut werden. Dies ist besonders relevant, um den Personenkreis der Alleinerziehenden bei der Integration in den Arbeitsmarkt frühzeitig und umfassend zu unterstützen. Insbesondere muss es Alleinerziehenden ermöglicht werden, Qualifikationen nach einer Familienpause aufzufrischen, einen fehlenden Schul- oder Berufsabschluss nachzuholen oder sich in betrieblichen Trainingsmaßnahmen in der Arbeitswelt zu beweisen. Die betrieblichen Trainingsmaßnahmen und Qualifizierungsphasen sind so auszugestalten, dass berufliche Ziele mit der familiären Situation in Einklang gebracht werden können. Dringend notwendig ist der Ausbau von Möglichkeiten zur Teilzeitausbildung. Dafür sollten Arbeitgeber gezielt geworben werden.
Damit die berufliche Wiedereingliederung Alleinerziehender nicht an finanziellen Mitteln scheitert, sollte die finanzielle Absicherung Alleinerziehender und ihrer Kinder insbesondere an den Schnittstellen zwischen SGB II, Wohngeldgesetz, Bundeskindergeldgesetz, Berufsausbildungsförderungsgesetz (BAföG) und Berufsausbildungsbeihilfe (BAB) gewährleistet sein.
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Das geltende europäische und nationale Flüchtlings- und Asylrecht sieht Obergrenzen nicht vor. Wir müssen uns darauf einstellen, dass auch weiterhin viele Flüchtlinge, die nach Europa einreisen, nach Deutschland kommen werden. Um die Herausforderungen zu bewältigen, ist der Prozess der Aufnahme und Integration zu beschleunigen. Es sind Hürden zu beseitigen und die Verfahren effektiv und effizient zu gestalten. Dabei bedarf es der intensiven Kommunikation zwischen den beteiligten Akteuren. Bei der Beschleunigung der Asylverfahren als ein wichtiger Baustein zur Bewältigung der aktuellen Herausforderungen sind die rechtsstaatskonformen Standards des Asylverfahrens einzuhalten. Das beinhaltet, dass auch in Aufnahmeeinrichtungen Asylbewerber u.a. ausreichende und unabhängige Informationen erhalten, eine Rechtsberatung in Anspruch nehmen können und einen Dolmetscher zur Seite gestellt bekommen. Bei Personen aus einem als sicher eingestuften Herkunftsland muss bei Hinweisen auf einen Schutzbedarf die Überführung in das reguläre Verfahren ermöglicht werden. Die Aufnahme und Integration von Schutzberechtigten ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe von Bund, Ländern, Kommunen und der Zivilgesellschaft.
Wenn die Prüfung im Asylverfahren ergibt, dass Menschen nicht schutzbedürftig sind und auch keine rechtlichen, humanitären oder zwingende persönliche Gründe die Duldung des Aufenthalts erfordern, ist es legitim, den Aufenthalt zu beenden. Dabei muss die freiwillige Rückkehr aber immer Vorrang vor der Abschiebung haben. Bei der aktuellen Diskussion spielt immer wieder auch die Frage eine Rolle, wie mit den Personen umzugehen ist, die schon länger geduldet in Deutschland leben. Eine Aufenthaltsbeendigung durch Abschiebung ist aber bei geduldeten Altfällen, die hier verwurzelt sind, nicht akzeptabel.
Die Freie Wohlfahrtspflege ist ein zentraler Akteur der Zivilgesellschaft. Ihre Strukturen mit über 100.000 Einrichtungen und mehr als 1,7 Mio. Mitarbeitenden leisten einen wichtigen Beitrag, um die aktuellen Herausforderungen zu bewältigen. Auch das von ihr koordinierte und begleitete freiwillige Engagement von etwa 3 Mio. Menschen prägt derzeit das Gesicht eines weltoffenen Deutschlands, in dem Flüchtlinge willkommen sind. Es trägt dazu bei, die Herausforderung zu meistern.
In diesem Papier legen die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege ihre Vorschläge zur Förderung der Integration dar. Ausgangspunkt sind die Unantastbarkeit der Würde eines jeden Menschen sowie seine in verschiedenen internationalen, europäischen und nationalen Rechtsakten verbürgten subjektiven Rechte. Dies ist die Leitschnur unseres Handelns. Es gilt supra- und internationales sowie nationales Recht, so insbesondere:
· Richtlinien des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems
· Europäische Grundrechtecharta
· Grundgesetz
· Genfer Flüchtlingskonvention
· Europäische Menschenrechtskonvention
· UN-Kinderrechtskonvention
· UN-Behindertenrechtskonvention
Bevor wir uns den konkreten Integrationserfordernissen zuwenden, möchten wir – ohne dies an dieser Stelle weiter vertiefen zu können – einige Aspekte erwähnen, die wir in diesem Kontext für zentral halten: Die Bekämpfung der Fluchtursachen bleibt die zentrale Herausforderung. Flüchtlinge, die derzeit zu uns fliehen, kommen jedoch aus Situationen, in denen dies kurzfristig nicht möglich ist. Todesfälle auf der Flucht nach Europa und Deutschland sind unter allen Umständen zu verhindern. Daher müssen sichere und legale Zugangswege für Schutzsuchende nach Europa geschaffen werden, um die hohen Risiken zu vermindern, die auf den derzeitigen Routen von den Flüchtlingen eingegangen werden - und die die Flüchtlinge teilweise zu Opfern krimineller Strukturen machen. Die hohen Risiken und Strapazen der Flucht verhindern, dass die verletzlichsten Personengruppen wie alte Menschen und Menschen mit Behinderungen, Schwangere, Eltern mit kleinen Kindern sich in Sicherheit bringen können. So würde eine Einschränkung des Familiennachzuges dazu führen, dass sich mehr Frauen und Kinder auf die gefährliche Flucht begeben. Dies widerspricht Bemühungen um ein geordnetes Aufnahmeverfahren.[1] Die Erstaufnahmestaaten in den Krisenregionen und Transitstaaten sollten verstärkt unterstützt und zum Beispiel durch humanitäre Aufnahmeprogramme entlastet werden. Hier sollten auch Beratungsstellen angesiedelt werden, die Asylsuchende über die Möglichkeiten und Grenzen von Asylverfahren in den Zielländern aufklären. Aus den Flüchtlingsbewegungen erwächst eine europäische Aufgabe. Die Flüchtlingsaufnahme sollte in der EU solidarisch - unter Berücksichtigung vorhandener Erfahrungen und Strukturen als Zufluchtsland - gestaltet werden. Dabei sind auch die Interessen der Flüchtlinge zu berücksichtigen, zum Beispiel die Zusammenführung von Familien. Fluchtbewegungen vollziehen sich netzwerkartig. Die gegenseitige Unterstützung kann auch für die Integration förderlich sein. Die ökonomische Verwertbarkeit von Zuwanderung darf nicht die Debatte um humanitäre Aufnahmen überlagern.
Je früher aktive Schritte zur Integration unternommen werden, desto wahrscheinlicher ist ihr Erfolg. Diese Erkenntnis sollte auch Leitgedanke für die menschenrechtlich gebotene Teilhabe bzw. Integration von Flüchtlingen sein. Eine erfolgreiche Integrationspolitik folgt einem ganzheitlichen Ansatz. Integration zielt darauf ab, den in Deutschland lebenden Zugewanderten – ungeachtet ihrer Herkunft – eine gleichberechtigte Teilhabe am wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, sozialen, politischen und kulturellen Leben zu ermöglichen. Sie muss auf Rechts- und Chancengleichheit sowie auf die Akzeptanz des Andersseins ausgerichtet sein. Integration ist ein dynamischer, lange andauernder und komplexer Prozess der wechselseitigen Annäherung.
Niemand sollte von Teilhabe und Integration ausgeschlossen werden. Das Recht zu bleiben, wird individuell im Rahmen des Aufenthaltsrechtes, insbesondere im Asylverfahren, geklärt. Vorab Gruppen mit höherer und geringerer Aussicht auf ein Bleiberecht zu klassifizieren, führt zu einer unangemessenen Ungleichbehandlung von Menschen aufgrund ihrer Nationalität. Gerade wenn sich Asylverfahren länger hinziehen oder später aus anderen Gründen der Aufenthalt gewährt wird, verzögert und erschwert die anfängliche Verweigerung von Integrationsangeboten die Integration. Daher brauchen wir vor allem schnelle, vorbehaltlose Asylverfahren, aber auch Integrationsangebote und Teilhabe für alle Asylsuchenden während des Verfahrens.
Dazu gehört für Asylsuchende der schnelle Zugang zu den allgemeinen, existenzsichernden Leistungen und den Regelsystemen der Daseinsfürsorge wie dem Gesundheitssystem, dem Kinder- und Jugendhilfesystem und zum Bildungssystem sowie zum Wohnungs- und Arbeitsmarkt. Die Angebote der Daseinsfürsorge und Regelsysteme sind interkulturell zu öffnen und quantitativ und qualitativ bedarfsgerecht auszubauen. Der Zuzug von Flüchtlingen verstärkt teils ohnehin bestehende Handlungsbedarfe hinsichtlich der Daseinsfürsorge. Dies betrifft zum Beispiel den sozialen Wohnungsbau, der aufgrund legaler Migration insbesondere innerhalb der Europäischen Union als auch Migration in die Ballungszentren aus ländlichen Räumen innerhalb Deutschlands verstärkt werden muss. Vor diesem Hintergrund darf es kein gegenseitiges Ausspielen von Bedürftigen beim Zugang zu gesellschaftlicher Teilhabe, Wohnungs- und Arbeitsmarkt geben.
1. Erstaufnahme
Der erste Eindruck entscheidet. Was für viele Situationen im menschlichen Miteinander gilt, gilt auch für Flüchtlinge und ihre Erfahrungen mit der Aufnahme in Deutschland.
Wenn Flüchtlinge in Deutschland ankommen, haben sie oft Verfolgung und eine schwierige Flucht erlebt. Sie haben alles hinter sich gelassen, häufig Freunde und Verwandte verloren. Sie brauchen Schutz, Ruhe und Privatsphäre, um sich von diesen Strapazen erholen zu können. Die Unterbringung in großen Gemeinschaftsunterkünften verursacht jedoch weiteren Stress. Aufgrund der räumlichen Enge oder wegen Versorgungsengpässen kann es dort zu Spannungen kommen. Insbesondere benötigen Kinder von Anfang an Schutz vor Übergriffen jeglicher Art und eine geschlechtssensible Behandlung.
Trotz der großen Herausforderungen durch einen hohen Zuzug von Flüchtlingen, sind Standards notwendig, die eine schnelle Integration befördern, um Folgeprobleme zu vermeiden. Die Qualität und Lage der Einrichtungen und der Aufnahmebedingungen ist entscheidend für die Lebensqualität der Flüchtlinge, aber auch dafür, wie die Einrichtungen und ihre Bewohner/innen von der ansässigen Bevölkerung angenommen werden. Im Vorfeld von Unterbringen hat es sich bewährt, die Nachbarschaft zu informieren und im Weiteren Begegnungen der Nachbarn mit den neu hinzugezogenen Flüchtlingen zu organisieren. Je stärker sich Einrichtungen zur Unterbringung von Flüchtlingen in das Gemeinwesen einfügen, umso höher ist auch die Akzeptanz in der ansässigen Bevölkerung. Nähe und Nachbarschaft schaffen zudem auch bessere Voraussetzungen für das bürgerschaftliche Engagement für Flüchtlinge, das auch in diesen Einrichtungen für das Gelingen des Ankommens unverzichtbare Beiträge leistet.
Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege unterstützen in vielfältiger Form die Erstaufnahme von Flüchtlingen als Träger und Dienstleister in hunderten Erstaufnahmeeinrichtungen und sozialen Angeboten im Kontext der Erstaufnahme, von Beratung zum Asylverfahren und Sozialberatung.
Aus unseren Erfahrungen leiten wir die folgenden Handlungsempfehlungen ab:
· Es wird sichergestellt, dass Flüchtlinge direkt nach Einreise einmal registriert werden, ihre Aufenthaltsgestattung erhalten und so ihre Rechte als Asylsuchende wahrnehmen können.
· Es werden Vorkehrungen dafür geschaffen, dass die Durchführung eines fairen Asylverfahrens deutlich schneller erfolgt. Hierbei ist anzuregen, das schriftliche Verfahren auf weitere Fälle von offensichtlich begründeten Anträgen auszudehnen und eine Altfallregelung zu erwägen. Auch bei schnellen Asylverfahren muss der Sachaufklärungspflicht Genüge getan werden. Flüchtlingen ist die Möglichkeit zu geben, angebliche Widersprüche vor Ablehnung ihres Asylantrages aufklären zu können. Dies verringert die Wahrscheinlichkeit eines folgenden Rechtsbehelfs und ermöglicht eine schnellere Integration.
· Es wird durch vorausschauende Planung sichergestellt, dass ausreichende Kapazitäten vorhanden sind, damit Flüchtlinge schnell untergebracht werden können, wenn sie eintreffen. Die Kommunen sind mit ausreichendem zeitlichem Vorlauf über die Planung der Unterbringung von Asylsuchenden zu informieren. Es sollten alle Möglichkeiten genutzt werden, um mit den Kommunen Einvernehmen herzustellen. Die Bürgerschaft der Kommunen sollte möglichst frühzeitig informiert und eingebunden werden. Eine sinnvolle Möglichkeit sind „Runde Tische“ aller gesellschaftlichen Akteure.
· Die Unterbringung in Notunterkünften sollte auf einen kürzest möglichen Zeitraum beschränkt werden.
· Familien sollten nicht auseinandergerissen werden, zum Beispiel, wenn sie nacheinander einreisen und auf unterschiedliche Bundesländer verteilt werden. Auch sollten Familienmitglieder zusammengeführt werden, wenn sie aufeinander angewiesen sind, aber nicht der Kernfamilie angehören.
· Es wird angestrebt, dass Flüchtlinge so schnell wie möglich Erstaufnahmeeinrichtungen verlassen und in die Kommunen ziehen können. Die Kommunen werden unterstützt, ausreichenden Wohnraum zur Erstaufnahme zur Verfügung stellen zu können.
Für Einrichtungen der Erst- und Notaufnahme empfehlen wir:
· Die Einrichtungen sollten sich in das Gemeinwesen einfügen und möglichst zentral gelegen sein. Hunderte oder gar tausende Asylsuchende in einer Einrichtung sind für die Integration nicht zuträglich. Dies leistet auch der Ausgrenzung Vorschub und erhöht die Gefahr von Übergriffen.
· Die Einrichtungen sollten wohnungsähnlich gestaltet, Zimmer und Schränke abschließbar sein, und es sollte ausreichend nach Geschlechtern getrennte Sanitäranlagen geben.
· Die Einrichtungen sollten über Gemeinschaftsräume wie ein Spielzimmer und einen Gebetsraum verfügen. Diese Räume sollten auch für die Selbstorganisation der Bewohner/innen nutzbar sein und dem Austausch mit den freiwillig Engagierten dienen können.
· In den Einrichtungen werden die Asylsuchenden über die Funktionsweise der Einrichtung, bestehende Angebote der Zeitgestaltung und über den Ablauf des Asylverfahrens und die weiteren Perspektiven in einer ihnen verständlichen Sprache informiert. Dafür stehen qualifizierte Mitarbeitende mit entsprechenden Fremdsprachenkenntnissen oder zusätzliche Sprachmittler in ausreichender Zahl zur Verfügung. Die Interessen der Flüchtlinge werden berücksichtigt und sie weitestgehend beteiligt.
· Das zentrale Anliegen der Flüchtlinge während der Erstaufnahme ist ihr Asylverfahren. Durch Lage und Beschaffenheit der Einrichtungen wird sichergestellt, dass sie sich auf ihr Asylverfahren konzentrieren können.
· Dem besonderen Bedarf von Flüchtlingen nach Schutz der Privatsphäre und Ruhe nach ihrer Flucht wird Rechnung getragen. Dies gilt insbesondere für besonders schutzbedürftige Flüchtlinge, deren besondere Lage erkannt und berücksichtigt werden muss. Das Kindeswohl ist vorrangig zu berücksichtigen. Kinder sind mit für sie verständlichen Informationen über ihre Rechte zu informieren.
· Da in Erstaufnahmeeinrichtungen von ihrer Struktur und Anlage her das Kindeswohl im Sinne des „best interest of the child“ entsprechend Art. 3 UN-Kinderrechtskonvention nicht gewährleistet werden kann, sollten Familien mit Kindern generell nicht in Erstaufnahmeeinrichtungen untergebracht oder ihre Unterbringung auf eine möglichst kurze Zeit begrenzt werden.
· In allen Einrichtungen muss eine schützende Umgebung für alle Flüchtlinge gewährleistet sein. In den Einrichtungen müssen wirkungsvolle Vorkehrungen gegen Gewalt jedweder Art getroffen werden. Es sind Ansprechpersonen beiderlei Geschlechts zu benennen, an die sich Flüchtlinge und Mitarbeitende bei Verdacht auf sexualisierte Übergriffe und Gewalt wenden können. Es existiert ein Notfallplan, was bei Verdacht auf Gewalt zu tun ist, es gibt Notfalltelefone und externe Beschwerdestellen. Um den Schutz von Frauen und Kindern sicherzustellen, werden Familien und allein reisende oder alleinerziehende Frauen mit ihren Kindern separat untergebracht. Integraler Bestandteil der Qualifizierung der Mitarbeitenden sind Informationen und die Sensibilisierung zum Themenbereich sexueller Gewalt.
· Für alle Flüchtlinge wird der Zugang zu gesundheitlicher Versorgung schon in der Erstaufnahme sichergestellt.
· Für Einrichtungen und ihr Umfeld werden „Teilhabekonzepte“ entwickelt, damit Flüchtlinge auch die Phase des Ankommens sinnvoll mitgestalten können und die weiteren Akteure des Sozialraumes angemessen beteiligt werden.
· Integraler Bestandteil der Erstaufnahme ist eine staatlich unabhängige, qualifizierte kultursensible und ausreichend ausgestattete Asylverfahrens- und Sozialberatung. Alle Flüchtlinge haben Zugang zum Suchdienst, um Familienangehörige finden zu können.
· Auch für Flüchtlinge gilt das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung, die gesetzlichen Regelungen zum Datenschutz insbesondere zur Datenweitergabe sind vollumfänglich zu beachten.
· Um die Überwindung von Sprachbarrieren zu unterstützen, ist die Schaffung bedarfsgerechter und flächendeckender Angebote von Kursen zum Erwerb der deutschen Sprache unerlässlich.
2. Kinder- und Jugendhilfe und Schule
Die Hälfte aller nach Deutschland einreisenden Flüchtlinge ist jünger als 27 Jahre und damit Zielgruppe der Jugendhilfe. Ein Drittel sind minderjährig und reisen begleitet oder unbegleitet ein. Politik, Verwaltung und andere öffentliche Einrichtungen haben die Belange, die Interessen und das Wohl des Kindes zu berücksichtigen. Die Schule oder die Dienste und Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe wie z.B. Kindertagesstätten gehören zu den ersten Orten des Regelsystems, mit denen sie bzw. ihre Eltern in Kontakt kommen.
Auch für geflüchtete Kinder und Jugendliche gelten die UN-Kinderrechtskonvention sowie die Standards der Kinder- und Jugendhilfe. Für geflüchtete Kinder und Jugendliche gelten zudem die Regelungen europäischen Rechts wie Art. 24 der Grundrechtecharta, der den Vorrang des Kindeswohls und die Beteiligung der Kinder und Jugendlichen vorschreibt. Minderjährige, unabhängig davon, ob sie unbegleitet sind oder mit ihren Familien leben, können insbesondere entsprechend Art. 21ff der Aufnahmerichtlinie (Richtlinie 2013/33/EU vom 26.06.2013) ihren besonderen Schutzbedarf geltend machen. Sie haben das Recht auf Schutz, auf Bildung und Förderung ihrer Persönlichkeit.
Zur Verwirklichung der sich hieraus ergebenden Rechte für diese Kinder kommt der Kinder- und Jugendhilfe eine besondere Bedeutung zu. Junge Menschen mit Fluchterfahrungen sind oft psychisch stark belastet oder traumatisiert, denn sie haben zum Beispiel extreme Not, Kriege und Bürgerkriege, Vertreibung, Gewalt und sexuelle Übergriffe, die Zerstörung oder den Verlust ihres Zuhauses und oft auch ihrer Herkunftsfamilie erlebt. Diese Erfahrungen lassen sich erst nach und nach aufarbeiten. Dazu bedarf es einer als sicher erlebten Umgebung ebenso wie des Gefühls, angenommen zu sein. Dies lässt sich nur durch die spezifischen Angebote der Kinder- und Jugendhilfe und eine angemessene Beteiligung und anwaltschaftliche Vertretung erreichen.
Dienste und Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, wie sie die Freie Wohlfahrtspflege vorhält, stehen vor diesem Hintergrund vor großen Herausforderungen: Neben der Schaffung ausreichender Plätze in Einrichtungen kommt der Weiterentwicklung bestehender Konzepte interkultureller Öffnung maßgebliche Bedeutung zu. Eine frühzeitige Inanspruchnahme von Regelangeboten wie der Kindertagesbetreuung und offenen Jugendeinrichtungen kann Kindern und Familien die Integration erleichtern, sie in ihren Sprachkompetenzen stärken und Perspektiven in Deutschland schaffen. Ebenso notwendig sind die Weiterentwicklung aufsuchender Ansätze in der Zusammenarbeit mit geflüchteten Familien und deren ggf. auch längerfristige Begleitung durch entsprechend qualifizierte Fachkräfte. Kultur- und migrationssensible Förderangebote eröffnen Bildungswege sowohl für die Kinder als auch für die Eltern und ermöglichen Teilhabe. Eine entsprechende Qualifizierung der beteiligten Fachkräfte ermöglicht es, auf spezifische Unterstützungsbedarfe frühzeitig und angemessen zu reagieren. Bei allen Maßnahmen bilden die jeweils individuellen Bedarfe der Kinder und Familien den Ausgangspunkt.
Die Verbände der Freiten Wohlfahrtspflege unterstützen in vielfältiger Form die Integration von Flüchtlingen als Träger von Kindertageseinrichtungen, von Familienbildung und –beratung, von Angeboten der Schulsozialarbeit, der Jugendberufshilfe, von Jugendwohnen, von Jugendmigrationsdiensten als auch im Rahmen der Inobhutnahme und einem ausdifferenzierten System von Anschlussmaßnahmen in vollstationären Einrichtungen und teilbetreuten Wohnformen der Kinder- und Jugendhilfe sowie von spezifischer Unterstützung für junge Volljährige.
Aus unseren Erfahrungen leiten wir folgende Handlungsempfehlungen ab:
· Das Kindeswohl von begleiteten als auch unbegleiteten Kindern und Jugendlichen ist vorrangig zu berücksichtigen. Dies gilt bei der Aufnahme bzw. Inobhutnahme, der Verteilung, der Integration wie auch bei Rückführungen.
· Die Umsetzung von Rechtsansprüchen und die Verwirklichung der Standards in der Kinder- und Jugendhilfe sind sicherzustellen. Es sind ausreichend Angebote zur Verfügung zu stellen.
· Um das Recht auf Bildung und die freie Entfaltung der Persönlichkeit verwirklichen zu können, muss die zügige Integration in das deutsche Schulsystem bzw. in Kindertagessstätten gewährleistet sein.
· Schule und Einrichtungen der Jugendhilfe müssen interkulturell geöffnet und Mitarbeitende entsprechend geschult sein, um besondere Bedarfslagen erkennen und kommunizieren zu können.
· Eine Vertretung unbegleiteter Kinder und Jugendlicher durch qualifizierte, unabhängige Vormünder ist von Beginn an sicherzustellen. Ebenso bedarf es qualifizierter Beratung zum und anwaltschaftlicher Vertretung im Asylverfahren.
· Um in der Kinder- und Jugendhilfe eine qualifizierte professionelle Arbeit mit geflüchteten Kindern, Jugendlichen und Eltern sicherzustellen, müssen die Personal- und Sachausstattung verbessert und notwendige Sprachmittlungskosten refinanziert werden.
· Notwendig sind differenzierte kultur- und migrationssensible Angebote der Bildung, Beratung, Begleitung und Unterstützung von Kindern, Jugendlichen und ihrer Familien. Flüchtlinge sollten in einer Sprache, die sie verstehen, über die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe informiert werden. Dazu ist auch aufsuchende Sozialarbeit notwendig.
· Der Zugang zu Beschwerde-/Ombudsstellen der Kinder- und Jugendhilfe ist zu gewährleisten. Dies gilt insbesondere für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in der Phase der vorläufigen Inobhutnahme bzw. bis zur Bestellung des Vormunds.
3. Ausbildung, Arbeit
Drei Viertel der in Deutschland ankommenden Flüchtlinge sind im Alter von 15 bis 65 Jahren und damit im erwerbsfähigen Alter. Ausbildung, Qualifizierung und Arbeit sind ein zentraler Schlüssel für eine erfolgreiche Integration. Aus Sicht der Aufnahmegesellschaft und aus Sicht der Betroffenen ist es (auch) für die Flüchtlinge wichtig, den Arbeitsmarktzugang möglichst frühzeitig zu ermöglichen. Wie schnell eine Integration in den Arbeitsmarkt tatsächlich gelingen kann, hängt von vielen Faktoren ab. Entscheidend sind insbesondere der rechtliche Zugang, die Sprachkenntnisse, vorhandene Qualifikationen und deren Anerkennung, der Bedarf an Nachqualifizierung und die (regionale) Nachfrage auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Grundsätzlich müssen Anstrengungen unternommen werden, dass alle erwerbsfähigen Menschen in Deutschland bei der Integration in den Arbeitsmarkt adäquat unterstützt werden.
Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege unterstützen die Arbeitsmarktintegration von Flüchtlingen im Rahmen ihrer Migrationsdienste, der Flüchtlingshilfe, durch Projekte und Angebote zur Arbeitsmarktintegration. Ihre Dienste und Einrichtungen nehmen ihre Verantwortung als Ausbilder und Arbeitgeber wahr und beschäftigen Flüchtlinge oder bilden sie aus bzw. öffnen ihnen den Zugang zu ihren Ausbildungsstätten.
Aus unseren Erfahrungen leiten wir folgende Handlungsempfehlungen ab:
· Durch die Verlängerung des Aufenthalts in der Erstaufnahmeeinrichtung verlängert sich auch das Arbeitsverbot für Asylsuchende. Asylsuchende sollten jedoch unabhängig von der Unterbringung spätestens nach 3 Monaten Zugang zum Arbeitsmarkt haben. Die Nachrangigkeitsprüfung sollte entfallen. Sie führt zu unnötiger Bürokratie und häufig zu einem faktischen Ausschluss vom Arbeitsmarkt.
· Die beruflichen Kompetenzen (hierzu gehören auch Kenntnisse der deutschen Sprache, Führerscheinbesitz, etc.) und die im Heimatland erworbenen Qualifikationen der Flüchtlinge sollten unverzüglich festgestellt und erfasst werden, um einen schnellen Zugang zum Arbeitsmarkt entsprechend ihrer Qualifikation vorzubereiten.
· Alle Schutzberechtigten mit Aufenthaltserlaubnis und Geduldete sollten von Anfang an Zugang zur Arbeitsförderung nach SGB II- und SGB III und Ausbildungsförderung gemäß BAföG und BAB haben. Für Asylbewerber/innen gilt, dass sie Zugang zu diesen Leistungen erhalten sollten, wenn das Asylverfahren nicht in einer angemessenen Frist von sechs Monaten nach Einreise abgeschlossen wird. Mit Blick auf BAföG und BAB muss der Zugang spätestens ermöglicht werden, wenn nach 15 Monaten mit dem Übergang zu Analogleistungen nach SGB XII der Lebensunterhalt nicht mehr nach AsylbLG gesichert ist.
· Die Altersgrenze für BAföG und Ausbildungsförderung/ Berufsausbildungsbeihilfe sollte für Schutzberechtigte und Geduldete angehoben werden, wenn sie durch die Flucht, die Dauer des Asylverfahrens oder ggf. nachzuholende Schulabschlüsse ein Alter erreichen, das eine Förderung ausschließt.
· Die Beseitigung von migrationsbedingten Vermittlungshemmnissen sollte in den Katalog grundlegender Ziele des SGB II und III aufgenommen werden. Konkret bedeutet dies die Anerkennung bestehender Abschlüsse und Kompetenzen, die Anpassungsqualifizierung und die Förderung der Kenntnis der deutschen Sprache.
· Das Verfahren zur Anerkennung beruflicher Qualifikationen muss vereinfacht werden. Es sollte kostenfrei sein. Gleichermaßen sollte für die Teilnahme an Sprach- und Integrationskursen auch während des Bezugs von Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz und dem SGB II die Kostenfreiheit gelten.
· Die Angebote abschlussbezogener Nachqualifizierung für gering qualifizierte Arbeitslose und beschäftigte Personen mit und ohne Migrationshintergrund müssen erweitert werden.
· Berufs- und ausbildungsbegleitende Möglichkeiten zur Sprachförderung müssen bedarfsdeckend zur Verfügung stehen und als Regelleistungen im SGB II und III verankert werden.
· Angebote des grundständigen Erwerbs der deutschen Sprache einschließlich Maßnahmen zur Alphabetisierung und Grundbildung müssen als Voraussetzung für jede weitere Förderung flächendeckend zur Verfügung stehen. Es bedarf jetzt einer Ausbildungsoffensive für DAF/DAZ-Lehrkräfte und das Personal der Beschäftigungs- und Bildungsträger.
· Für Schutzberechtigte, Geduldete und Asylsuchende, die weit entfernt von einer Integration auf dem Arbeitsmarkt sind, müssen qualifizierende und arbeitsmarktgerechte Angebote der öffentlich geförderten Beschäftigung ausgebaut werden.
· Die Mittel für arbeitsmarktpolitische Maßnahmen, für die berufsbezogene Deutschförderung, für Ausbildungsförderung und für qualifiziertes Personal in den Arbeitsagenturen und Jobcentern müssen entsprechend diesem Bedarf weiter aufgestockt werden. Zusätzliche Finanzmittel sind nötig, damit die auch auf gesellschaftlichen Zusammenhalt zielende Initiative der Bundesarbeitsministerin, sowohl Flüchtlingen als auch langzeitarbeitslosen Menschen zu einem beruflichen Neustart am Arbeitsmarkt zu verhelfen, greifen kann.
· Bei der Förderung der beruflichen Weiterbildung nach § 16 Abs. 1 SGB II i. V. m.
§§ 81 ff. SGB III sollten längere Lernzeiten berücksichtigt werden können. Für Vollzeitmaßnahmen, die zu einem Abschluss in einem allgemein anerkannten Ausbildungsberuf führen, müssen gegenüber einer entsprechenden Berufsausbildung um mindestens ein Drittel der Ausbildungszeit verkürzt sein. Eine verkürzte Ausbildung stellt höhere Leistungsanforderungen. Flüchtlinge, aber auch Leistungsberechtigte im Rechtskreis SGB II können diese Anforderungen ggf. nicht erfüllen und benötigen anstelle einer zwingend verkürzten Ausbildungsdauer die Option einer längeren Lernzeit.
· Bei der Vermittlung und Arbeitsförderung im SGB II und III muss eine Berufsausbildung Vorrang gegenüber niedrig qualifizierter Beschäftigung haben, da sich mit einer Ausbildung weitaus mehr Perspektiven eröffnen. Solange die Ausbildung läuft, muss der Lebensunterhalt auch bei Inanspruchnahme öffentlicher Leistungen als gesichert gelten. Einschränkungen bei Aufenthaltstiteln, die das Aufenthaltsrecht von der Lebensunterhaltssicherung abhängig machen, darf es hierbei nicht geben.
· Geduldeten sollte für die Dauer der Ausbildung eine Aufenthaltserlaubnis erteilt und nach Abschluss eine dauerhafte Perspektive eröffnet werden.
· Der Mindestlohn muss auch für Schutzberechtigte, Asylsuchende und Geduldete gelten.
· Wirtschaft und Arbeitgeber sollten Praktika und Ausbildungsplätze bereitstellen.
· Kompetenzfeststellungsverfahren sind weiterzuentwickeln, damit auch die jenseits der formalen Abschlüsse nachzuweisenden Kompetenzen dokumentiert werden können. Dies kann zum Beispiel im Rahmen von Praktika und Arbeitsproben erfolgen.
· Im Hinblick auf die Unterstützungsbedarfe von heranwachsenden Flüchtlingen bei ihrer beruflichen wie auch sozialen Integration müssen gemeinsame Angebote der Jugendhilfe und Arbeitsförderung ausgebaut werden.
4. Gesundheit
Die Einschränkungen bei der medizinischen Versorgung stellen nach wie vor ein zentrales Problem für Asylsuchende und Geduldete dar. Diese Einschränkungen basieren auf den Regelungen des AsylbLG, aufgrund derer für die Betroffenen nur die Behandlung akuter Erkrankungen und Schmerzzustände gewährleistet und vor medizinischer Versorgung ein Behandlungsschein zu erwirken ist. Die Übernahme sonstiger medizinischer Leistungen unterliegt einer Ermessenentscheidung und wird nur gewährt, wenn sie für die Gesundheit unerlässlich sind. Damit ist die Gefahr verbunden, dass dies in der Praxis zur Ablehnung bzw. verspäteten Durchführung von Behandlungen nach der Anerkennung als Flüchtling führt. Die daraus folgende Chronifizierung von Krankheiten führt zu unnötigem Leid der Kranken und zu hohen Folgekosten für die öffentlichen Haushalte. Art. 19 der EU-Aufnahmerichtlinie sieht in Bezug auf die medizinische Versorgung vor, dass Asylsuchenden „mit besonderen Bedürfnissen bei der Aufnahme die erforderliche medizinische oder sonstige Hilfe, einschließlich erforderlichenfalls einer geeigneten psychologischen Betreuung“ gewährt wird. Zudem ist sicherzustellen, dass die Bedarfe besonders schutzbedürftiger wie kranker, traumatisierter oder behinderter Flüchtlinge frühzeitig erkannt werden und entsprechende Unterstützungsleistungen zur Verfügung stehen (insbesondere Art. 21ff).
Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege unterstützen Flüchtlinge bei der medizinischen Versorgung mit einem breiten Spektrum an Angeboten der gesundheitlichen Regelversorgung, zum Beispiel als Träger von Krankenhäusern und Einrichtungen der Gesundheitsversorgung wie zum Beispiel sozialpsychiatrischen Zentren. Neben der Regelversorgung sind die Verbände auch Träger der spezialisierten Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer.
Die Psychosozialen Zentren sind ein Angebot, Flüchtlinge mit einem besonderen Schutzbedarf, insbesondere traumatisierte Flüchtlinge zu beraten, zu begleiten und bei Bedarf auch zu therapieren. Die Möglichkeiten psychotherapeutischer Versorgung von Flüchtlingen sind abhängig von ihrer jeweiligen Lebenssituation. Klassische Therapien wie tiefenpsychologische oder Verhaltenstherapie oder Psychoanalyse kommen erst in Betracht, wenn die Lebenssituation ausreichend gesichert ist. Das Angebot der Psychosozialen Zentren ist eine integrierte Komplexleistung aus sozialpädagogischer Beratung und Begleitung sowie gesundheitlicher Versorgung in Form verschiedener therapeutischer Ansätze. Psychosoziale Zentren sind bisher bei weitem nicht in ausreichendem Maß vorhanden und können bisher nur weniger als 10% ihrer Leistungen nach dem AsylbLG, SGB V oder SGB VIII abrechnen. Sie sind daher auf Projekt- und Spendengelder angewiesen. Sie haben lange Wartelisten und können nur einen Bruchteil der hilfesuchenden Flüchtlinge versorgen.
Aus unseren Erfahrungen leiten wir folgende Handlungsempfehlungen ab:
· Die medizinische Versorgung der Asylsuchenden und Geduldeten sollte sich nach dem Leistungskatalog der GKV richten. Die Einführung einer Gesundheitskarte für Asylsuchende ist für die Vereinfachung des Verwaltungsverfahrens zur Übernahme von Behandlungskosten sowohl für die Asylsuchenden als auch für die Behörden ein sinnvolles Instrument.
· Die Kosten von Dolmetscher- und Fahrtkosten sollten nach SGB V erstattungsfähig sein. Diese Kosten können bisher zwar bei Leistungsberechtigten nach dem AsylbLG im Rahmen des Ermessens übernommen werden, nicht aber bei GKV-Versicherten.
· Das Verfahren zur Kostenübernahme nach dem Asylbewerberleistungsgesetz sollte vereinfacht und die Beurteilung der Notwendigkeit von entsprechendem Fachpersonal eingeschätzt werden.
· Ein System zur systematischen Identifizierung von besonders schutzbedürftigen Flüchtlingen gemäß Art. 22 der Aufnahmerichtlinie und ein bedarfsgerechtes Angebot zur gesundheitlichen Versorgung psychisch belasteter und traumatisierter Flüchtlinge sind zu errichten. Um eine angemessene psychosoziale Versorgung der Flüchtlinge sicher zu stellen, ist der Ausbau und die finanzielle Absicherung der Psychosozialen Zentren bzw. entsprechender Netzwerkstrukturen zur frühzeitigen Erkennung und angemessenen Unterstützung traumatisierter Flüchtlinge erforderlich. Sie sollten als Teil der Regelversorgung anerkannt werden.
· Die Bedarfsplanung von Kassensitzen muss den Zuzug von Flüchtlingen angemessen berücksichtigen (§§ 95-105 SGB V) und die Kostenerstattung auch weiterer Maßnahmen zur psychologischen Stabilisierung neben den drei Richtlinien-Therapien (tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie, Psychoanalyse und Verhaltenstherapie) sollte für Flüchtlinge bedarfsgerecht angepasst werden.
5. Wohnen
Flüchtlinge brauchen Schutz und Privatsphäre. Sie sollten daher nach der Erstaufnahme schnellstmöglich in Wohnungen leben können. Dies ist insbesondere dann zu ermöglichen, wenn sie zum Beispiel aus gesundheitlichen (z.B. traumatisierte und behinderte Flüchtlinge) oder Altersgründen (minderjährige Flüchtlinge) einen besonderen Schutzbedarf haben. Hierzu sollten auch alternative Wohnformen oder die Bildung von Wohngemeinschaften gefördert werden. Die Erfahrung zeigt, dass die oft jahrelange Unterbringung von Flüchtlingen in isolierten Gemeinschaftsunterkünften eine aktive Teilnahme am gesellschaftlichen Leben behindert, insbesondere, wenn sie am Rande oder außerhalb von Städten und Gemeinden liegen, weit entfernt von einer für einen gelingenden Alltag ausreichenden Infrastruktur. Die Perspektivlosigkeit des Lebens in solchen Unterkünften ist oft Ursache für Folgeprobleme und Desintegration.
Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege fördern die Unterbringung von Flüchtlingen in Wohnungen durch ihre Migrationsfachdienste, Projekte zur Wohnungsvermittlung oder bieten Unterkunft im Rahmen der Trägerschaft von Gemeinschaftsunterkünften in den Kommunen.
Aus unseren Erfahrungen leiten wir folgende Handlungsempfehlungen ab:
· Es bedarf eines umfangreichen Programmes für den sozialen Wohnungsbau, Beseitigung von Zugangsbarrieren zum Wohnungsmarkt und realistischer Regelungen zur Übernahme von Mietkosten und Kautionen für alle einkommensschwachen Menschen in Deutschland.
· Wenn es unvermeidlich ist, Flüchtlinge in Gemeinschaftsunterkünften unterzubringen, sollten das Wohlergehen der Flüchtlinge und die Teilhabe im Gemeinwesen oberstes Gebot sein. Um dem gerecht zu werden, bedarf es Vorgaben für Mindeststandards. Gemeinschaftsunterkünfte sollen sich von ihrer Lage und Beschaffenheit in das Gemeinwesen einfügen. Infrastrukturelle Anbindung zu Kitas, Schulen, Ärzten und Einkaufsmöglichkeiten sowie Stätten kultureller Begegnung sind wichtig. Der Zugang zu Sozial-, Rechts- und Verfahrensberatung muss gewährleistet sein. Es muss sichergestellt sein, dass sich Asylsuchende auf ihr Asylverfahren konzentrieren können.
· Grundsätzlich müssen für Gemeinschaftsunterkünfte höhere Mindeststandards als für Erstaufnahmeeinrichtungen gelten. Sie sollten möglichst aus kleinen, familiengerechten Wohneinheiten mit eigenem Küchen- und Sanitärbereich bestehen. Der Wohnraum sollte individuell gestaltbar sein. Nach Möglichkeit sollten nur Personen zusammen untergebracht werden, die dies wünschen. Für eine längere Dauer der Unterbringung ist eine größere Wohnfläche notwendig als für einen kurzen Zeitraum. Die Dauer der Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften sollte jedoch in jedem Falle zeitlich so weit wie möglich beschränkt sein.
· Bedarfen von Flüchtlingen mit besonderem Schutzbedarf ist zu entsprechen. Dazu gehört auch ein Konzept für Personen mit besonderem Schutzbedarf. So ist konzeptionell zu beschreiben, wie das Kindeswohl gesichert und der Kinderschutz gewährleistet wird. Integraler Bestandteil gemeinschaftlicher Unterbringung ist die soziale Betreuung und qualifizierte Beratung durch ausreichendes und qualifiziertes Personal. Dies beinhaltet auch Informationen und die Sensibilisierung zum Themenbereich sexueller Gewalt.
· Es sollten Angebote geschaffen werden, um Flüchtlinge bei der Wohnungssuche und somit beim Auszug aus Gemeinschaftsunterkünften zu unterstützen. Segregation ist zu vermeiden.
6. Zusammenleben in Deutschland
Zuwanderung verändert das Leben in Deutschland und Europa. Sie ist eine Chance zu mehr kulturellem Reichtum in der Einwanderungsgesellschaft sowohl für Zugezogene als auch für Alteingesessene. Dies erfordert gegenseitige Lernprozesse, die gesellschaftlicher Vielfalt Rechnung tragen. Dies kann auch zu Konflikten führen, die diskursiv ausgetragen werden müssen. Grundlegende Akzeptanz für die demokratische Grundordnung muss in der Gesellschaft gelebt und vermittelt werden.
Teilhabe setzt die Kenntnis der Verkehrssprache ebenso voraus wie die Kenntnis der Verfassung und der bürgerlichen Freiheit und Verantwortung. Pluralität und Toleranz sind Fundamente unserer Gesellschaft und müssen sich im Miteinander auf verschiedenen Ebenen entwickeln. Politische Bildung soll dabei unterstützen, demokratische Strukturen und Prozesse zu verstehen, darin verantwortlich zu handeln und sie mitzugestalten. Phänomenen wie Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Antisemitismus, Antiziganismus und Islamfeindlichkeit ist entschieden entgegenzutreten, um Veränderungen im Denken und Verhalten zu bewirken.
Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege setzen sich durch vielfältige Initiativen für ein Miteinander und kulturellen Austausch in der Einwanderungsgesellschaft ein.
Aus unseren Erfahrungen leiten wir folgende Handlungsempfehlungen ab:
· Fremdenfeindlichen und rassistisch motivierten Straftaten wie Übergriffen auf Flüchtlinge und Flüchtlingsunterkünfte muss sofort und entschlossen seitens Justiz und Politik begegnet werden.
· Es müssen geeignete Maßnahmen zum Schutz von Flüchtlingen ergriffen werden.
· Staat und Zivilgesellschaft sind gefordert, die Diskussion über die Aufnahme von Flüchtlingen zu versachlichen.
· Die Politik muss die Entwicklung unserer Einwanderungsgesellschaft verantwortungsbewusst begleiten und zum Beispiel im Rahmen politischer Bildungsarbeit unterstützen. Es darf nicht geschehen, dass gesellschaftliche Gruppen wie z.B. die jüdische Gemeinschaft oder Menschen mit nicht-weißer Hautfarbe zum Ziel von Diskriminierungen werden. Der Anerkennung der Würde, der Freiheit und der Rechte aller Menschen muss in allen gesellschaftlichen Gruppen Geltung verschafft werden.
· Kommunales Wahlrecht und politische Beteiligung von Schutzberechtigten sollten ermöglicht werden.
7. Bürgerschaftliches Engagement
Gegenwärtig offenbart sich eine große Hilfsbereitschaft von Menschen für die Flüchtlinge. Es bedarf einer Verfestigung der Unterstützungsstrukturen, damit das hohe Maß an Engagement langfristig anhält.
Die Freie Wohlfahrtspflege zeichnet sich in besonderem Maße dadurch aus, dass sie freiwilliges Engagement in ihren Strukturen, in Projekten und in Netzwerken fördert, einbindet und koordiniert. Seit September 2015 wird mit Unterstützung der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration in den Verbänden der BAGFW das Projekt „Koordinierung, Qualifizierung und Förderung der ehrenamtlichen Unterstützung von Flüchtlingen“ durchgeführt. Alle Wohlfahrtsverbände haben ihr Engagement zur Unterstützung der Flüchtlinge und zur Förderung der ehrenamtlichen Begleitung der Flüchtlinge weiter ausgebaut. Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege stellen ihre Kompetenzen, ihr Knowhow und ihre verbandlichen Strukturen zur Verfügung, indem sie bspw. Freiwilligenbeauftragte, Freiwilligen-Agenturen und Koordinierungsstellen für das bürgerschaftliche Engagement bereithalten oder organisieren. Sie sind Anlaufstelle für Fragen zum bürgerschaftlichen Engagement und vermitteln Informationen zu relevanten Einrichtungen und Ansprechpartnern.
Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege organisieren Qualifizierungsmaßnahmen für freiwillig Engagierte mit dem Ziel der interkulturellen Kompetenzentwicklung. Sie stellen wichtige Informationen zu Herkunftsländern, rechtlichen Bedingungen, zur Aufnahmegesellschaft zur Verfügung, die an die Bedarfe der Freiwilligen angepasst sind.
Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege verfügen über Qualitätsstandards für freiwilliges Engagement in ihren Einrichtungen (Führungszeugnisse, Versicherungen etc.). Dies ist in der Arbeit mit Flüchtlingen und insbesondere mit Flüchtlingskindern notwendig und ein Schutz gegen (sexuelle) Gewalt und ausbeuterische Verhältnisse. Es gibt den Engagierten Sicherheit und Schutz.
Die Freie Wohlfahrtspflege zeichnet sich auch dadurch aus, dass sie auf vielfältige Netzwerke zurückgreifen oder diese bilden und ausbauen kann, z.B. mit lokalen Initiativen für Flüchtlinge, Flüchtlingsräten, Religionsgemeinschaften, Migrantenorganisationen, Hochschulen, Behörden, Stadtteilinitiativen, Nachbarn, Vereinen und anderen aktiven Menschen.
Das freiwillige Engagement bedarf, um es langfristig zu sichern, der Koordinierung durch hauptamtlich Mitarbeitende. Dies beinhaltet: Engagementfelder identifizieren, attraktive Angebote formulieren und aktiv bewerben, Engagierte begleiten, qualifizieren und ihr Engagement anerkennen. Engagierte benötigen konkrete Ansprechpersonen, welche sie unterstützen und begleiten. Überforderungen von Engagierten müssen vermieden bzw. schnellstmöglich erkannt und entgegengewirkt werden. Es bedarf oft aber auch einer Qualifizierung von Hauptamtlichen für Begleitung der Ehrenamtlichen.
Die Bestärkung und Befähigung von Flüchtlingen zur Selbsthilfe, ist eine bewährte Methode und geeigneter Weg, Integration zu ermöglichen. Hier ist in erster Linie die Selbstversorgung zu unterstützen. Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege unterstützen Selbsthilfe mit sozialräumlichen Ansätzen und durch Beratung, stellen Räumlichkeiten und Kommunikationsmöglichkeiten zur Verfügung.
Aus unseren Erfahrungen leiten wir folgende Handlungsempfehlungen ab:
· Freiwilliges Engagement braucht eine ausfinanzierte Infrastruktur, die die Freiwilligen stützt, Bedarfe und Angebote koordiniert und bei Konflikten oder Problemen Hilfestellung leistet. Erst eine langfristige Unterstützung zur Verfestigung des Engagements erzeugt Nachhaltigkeit. Freiwillig Engagierte brauchen Schutz und Möglichkeiten zur Reflektion und zum Austausch wie zum Beispiel Supervision. Sie brauchen Zugang zu Netzwerken und Wertschätzung ihrer Arbeit. Mitsprache und Beteiligung sind ein wesentlicher Bestandteil der Wertschätzung von Engagierten.
· Hauptamtliche Aufgaben dürfen nicht durch freiwilliges Engagement ersetzt werden. Es muss deshalb angesichts der wachsenden Aufgaben eine stabile und ausreichende Finanzierung der hauptamtlichen Strukturen, insbesondere auch im Handlungsfeld der Flüchtlingssozialarbeit sichergestellt sein.
· Viele Flüchtlinge sind monatelang gezwungen, in Unterkünften auf engstem Raum zu leben, und finden zunächst kaum Zugang zur Aufnahmegesellschaft und Nachbarschaft. Engagement ist gut geeignet, erste begleitete Erfahrungen in der zunächst fremden Gesellschaft zu machen. Sehr oft haben Flüchtlinge selbst Kenntnisse und Fähigkeiten, mit denen sie anderen helfen können und gleichzeitig eine hohe Motivation, diese zum Nutzen anderer einzusetzen. Die Freiwilligendienste (FSJ und Bundesfreiwilligendienst) sind eine weitere Möglichkeit, geflüchteten Menschen über freiwilliges Engagement eine sinnvolle Betätigung und Integration sowie Kompetenzerwerb zu ermöglichen. Die zusätzlichen 10.000 Plätze im Bundesfreiwilligendienst mit Flüchtlingsbezug sollten daher langfristig angelegt werden.
8. Beratungsstrukturen
Für eine möglichst reibungslose Aufnahme bedarf es professioneller Ansprechpartner/innen sowohl für die Flüchtlinge als auch für die freiwillig Engagierten. Sie müssen über die Verfahren der Aufnahme und Anerkennung als Flüchtlinge informieren, für Fragen zur Verfügung stehen und freiwillig Engagierte koordinieren und qualifizieren. Es sind spezialisierte, qualifizierte Beratung und Begleitung notwendig.
Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege sind Träger von zahlreichen bundes-, landes- oder kommunal bezuschussten Migrations- bzw. Flüchtlingsfachdiensten. Diese decken derzeit jedoch bei Weitem nicht den Bedarf. Es gibt teils Personalschlüssel von einer Vollzeitstelle zu mehr als 1000 Flüchtlingen. Bei den Migrations- bzw. Flüchtlingsfachdiensten handelt es sich um Beratung zum Asylverfahren, psychosoziale Beratung und Therapie, Flüchtlingssozialarbeit sowie die Bundesprogramme für Zuwanderer und anerkannte Flüchtlinge (Migrationsberatung für erwachsene Zuwanderer und Jugendmigrationsdienste) und Integrationsprojekte. Sie sind ein bedarfsorientiertes, individuelles und migrationsspezifisches Beratungsangebot, leisten Unterstützung und Begleitung bei der Klärung von (aufenthaltsrechtlichen) Perspektiven sowie gesellschaftlicher Teilhabe. Sie sind unabhängig und ergebnisoffen. Ihre Inanspruchnahme ist freiwillig. Sie sind in das Gemeinwesen integriert und in Netzwerken mit anderen spezialisierten Regeldiensten und Angeboten verbunden. Der Zugang zu effektivem Rechtsschutz wird gefördert.
Die Beratung zum Asylverfahren klärt über das Verfahren sowie die Rechte und Pflichten von Asylsuchenden und ihre Möglichkeiten und Grenzen auf. Asylsuchende werden in ihrem Verfahren anwaltschaftlich unterstützt. Aus der Beratungspraxis ist bekannt, dass Asylsuchende oftmals Ablauf und Anforderungen des Asylverfahrens nicht verstehen. So wissen sie oftmals nicht, dass die Anhörung der Zeitpunkt ist, an dem sie ihre Fluchtgründe detailliert darlegen müssen, damit in voller Kenntnis ihrer Fluchtgründe über ihren Asylantrag entschieden werden kann. Eine gute Vorbereitung und Information über das Asylverfahren hilft Asylsuchenden, ihre Rechte geltend machen zu können, aber auch Asylverfahren zu verkürzen, indem im erstinstanzlichen Verfahren alle Fluchtgründe vorgebracht werden können und sich ein gerichtliches Verfahren erübrigt. Auch ist es beispielsweise sinnvoll, vor der Anhörung Hinweise auf einen besonderen Schutzbedarf von Asylsuchenden mitzuteilen, damit Sonderbeauftragte zum Beispiel für traumatisierte Asylsuchende gleich hinzugezogen werden können und die Anhörung nicht abgebrochen und neu angesetzt werden muss. Insbesondere traumatisierte Asylsuchende sind in der Anhörung überfordert, ad hoc ihre Geschichte strukturiert wiederzugeben. Eine gute Vorbereitung kann helfen, den psychologischen Effekt des Vergessens traumatisierender Erfahrungen in der Anhörung zu überwinden.
Flüchtlinge haben aufgrund ihrer spezifischen Situation besondere Schutzbedarfe, zum Beispiel weil sie Kinder oder Jugendliche sind, eine Krankheit oder Behinderung haben oder Opfer von Gewalt sind. Um Asylsuchende und anerkannte Flüchtlinge so zu versorgen, wie es auch europäisches Recht vorsieht, ist es notwendig, den besonderen Schutzbedarf zu erkennen. Eine systematische Identifizierung und bedarfsgerechte Versorgung gibt es bisher nicht. Anschießend ist eine entsprechende Versorgung sicherzustellen. Bei Kindern und Jugendlichen oder Alleinerziehenden können dies zum Beispiel Leistungen der Jugendhilfe, bei kranken und traumatisierten Flüchtlingen Angebote der Gesundheitsversorgung oder bei behinderten Flüchtlingen Leistungen der Eingliederungshilfe sein. Teilweise kommen auch mehrere besondere Schutzbedarfe zusammen. Psychosoziale Zentren führen eine Erstberatung, auf Wunsch Exploration und Diagnostik von psychischer Belastung oder Traumatisierung durch. Sie informieren über Hilfsmöglichkeiten zur psychosozialen Stabilisierung und bieten selbst individuell abgestimmte Therapien an oder vermitteln an geeignete Therapeuten.
Flüchtlingssozialarbeit in den Kommunen unterstützt Asylsuchende nach der Erstaufnahme und vor Abschluss ihres Asylverfahrens, wenn sie schon auf die Kommunen verteilt sind und nach Ablehnung des Asylantrages. Sie bietet soziale Hilfen, damit sie ihren Alltag selbstbestimmt organisieren und an der Gesellschaft teilhaben können. Asylsuchende werden in ihren sozial- und aufenthaltsrechtlichen Fragen beraten sowie zu ihrem Asylverfahren, wenn es in der Zeit der Erstaufnahme nicht abgeschlossen ist. Sie erhalten Unterstützung bei der Zusammenführung ihrer Familien. Migrationsberatung für erwachsene Zuwanderer und die Jugendmigrationsdienste beraten und begleiten Zuwanderer, anerkannte Flüchtlinge und Asylsuchende vor, während und nach dem Integrationskurs. Sie unterstützen in Fragen des Alltags und bei der Integration. Sie helfen den Übergang von Schule und Beruf zu erleichtern, Zugänge zu Ausbildung und Arbeit zu schaffen und informieren über Fördermöglichkeiten wie Berufsausbildungsbeihilfe und BAföG. Sie unterstützen, dass vorhandene (schulische und berufliche) Kompetenzen und Qualifikationen festgestellt werden und schaffen Begegnungen im Gemeinwesen zwischen Menschen unterschiedlicher Kulturen.
Aus unseren Erfahrungen leiten wir folgende Handlungsempfehlungen ab:
· Asylsuchende müssen von Anfang an bedarfsgerechte Informationen bekommen und Zugang zu qualifizierten Beratungsangeboten haben.
· Die Migrationsfachdienste wie Asylverfahrensberatung, Sozialberatung, Flüchtlingssozialarbeit sowie die Migrationsberatung für erwachsene Zuwanderer, Jugendmigrationsdienste und Integrationsprojekte müssen in ihrer Ausstattung dringend dem Bedarf angepasst und damit erheblich ausgebaut werden. Der Personalschlüssel muss entsprechend den unterschiedlichen Aufgaben und Bedarfen angemessen sein. In jeder Erstaufnahmeeinrichtung sollte eine bedarfsdeckende Beratung zum Asylverfahren und Sozialberatung angeboten werden. Insofern die Asylverfahren nicht nach der Erstaufnahme abgeschlossen sind, bedarf es auch in den Kommunen der Beratung zum Asylverfahren.
· Beratungsangebote sollten entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip von Freien Trägern angeboten werden. Beratung erfordert auch das notwendige Vertrauensverhältnis zwischen Mitarbeitenden der Einrichtungen und Flüchtlingen, das Flüchtlinge aufgrund problematischer Erfahrungen mit staatlichen Stellen im Herkunftsland auch in Deutschland oftmals nicht aufbauen können. Daher sollte die Beratung von staatlichen Strukturen unabhängig sein.
· Qualifizierte Beratung erfordert professionell ausgebildete und interkulturell geschulte Sozialpädagoginnen und -pädagogen mit Kenntnissen im Aufenthalts-, Asyl- und Sozialrecht und über die wichtigsten Herkunftsländer. Dazu ist die Ausbildung der Sozialpädagoginnen und -pädagogen anzupassen. Sie müssen mit zusätzlichen Dolmetscher/innen und Sprachmittler/innen in ausreichendem Maße ausgestattet sein, insofern sie nicht selbst über die jeweils erforderlichen Sprachkenntnisse verfügen. Das Schweigegebot und der Grundsatz der Vertraulichkeit sowie andere datenschutzrechtliche Regelungen sind einzuhalten. Persönliche Beratung und Begleitung muss durch ausreichende und gut strukturierte Informationen unterstützt werden. Das Angebot sollte niedrigschwellig sein und aufsuchende Angebote beinhalten.
· Die systematische Identifizierung, Begleitung und Versorgung von Asylsuchenden und Flüchtlingen mit besonderem Schutzbedarf ist sicherzustellen. Qualifizierte Sozialberatung muss Asylsuchende und anerkannte Flüchtlinge dabei unterstützen, ihren besonderen Schutzbedarf geltend zu machen und entsprechende Leistungen zu erhalten. Dazu nimmt sie Hinweise auf, erkennt ggf. besonderen Schutzbedarf und vermittelt an, den Schutzbedarfen entsprechende, spezialisierte Einrichtungen weiter.
· Beratungsstellen der Kinder- und Jugendhilfe (z.B. Erziehungs- und Familienberatung, Kinderschutzberatung), der Gesundheitsversorgung oder der Behindertenhilfe müssen sich interkulturell weiter öffnen und das spezifische Wissen vertiefen, das für die kompetente Beratung von Flüchtlingen erforderlich ist: u.a. Wissen über ihre Lebensbedingungen, Wissen über Traumafolgen.
[1] Das DRK hält den Familiennachzug für einen wesentlichen Punkt einer gelingenden Integration. Gleichzeitig soll angesichts der hohen Flüchtlingszahlen zunächst die Versorgung der schon in Deutschland angekommenen Flüchtlinge Priorität haben.
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Ausdrücklich begrüßt wird seitens der Freien Wohlfahrtspflege, dass im künftigen BGG Regelungen zu angemessenen Vorkehrungen und Leichter Sprache aufgenommen werden sollen. Allerdings werden die positiven Ansätze durch Sollvorschriften, Finanzierungsvorbehalte und insbesondere die Einschränkung des Geltungsbereichs auf den öffentlich-rechtlichen Bereich eingeengt.
Der von der Bundesregierung im Jahr 2014 veröffentlichte Forschungsbericht 445[1] enthält bereits Erkenntnisse darüber, ob alle Menschen mit Behinderungen ausreichend durch das BGG erfasst werden und ob die im BGG verankerten Instrumente, wie beispielsweise die Zielvereinbarungen oder das Verbandsklagerecht, die ursprünglich mit dem BGG intendierten Wirkungen zeigen. Des Weiteren schlägt der Forschungsbericht unter Vorgaben der UN-BRK, des Disability sowie des Gender Mainstreamings zahlreiche Anpassungsbedarfe und Handlungsempfehlungen vor und weist auf bestehende gesetzliche Regelungslücken hin. Der vorliegende Referentenentwurf enthält positive Ansätze. Er greift jedoch die Vorschläge des Forschungsberichts nur marginal auf. Zum Beispiel hat eine im Forschungsbericht dargestellte repräsentative Umfrage ergeben, dass insbesondere Menschen mit Lernschwierigkeiten (42,4 %), Menschen mit psychischen Erkrankungen (46,2%) sowie Menschen, deren Belange statistisch schwierig zu erfassen sind, wie z. B. Menschen mit Autismus, taubblinde Menschen, Menschen mit mehrfachen Behinderungen und/oder Menschen mit seltenen Erkrankungen (35,6%) und nicht ausreichend durch das BGG erfasst werden (S. 182). Um diese besonderen Benachteiligungen und Diskriminierungen zu beheben, gilt es aus Sicht der BAGFW zwingend gesetzliche Anpassungen vorzunehmen.
Des Weiteren bedarf es aufgrund des inneren Zusammenhangs zwischen dem Behindertengleichstellungsgesetz (BGG), dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG), dem Sozialgesetzbuch IX (SGB IX) sowie sonstiger korrespondierender Gesetze und Richtlinien einer stringenteren Verknüpfung dieser, um die nationale Antidiskriminierungs- und Behindertenpolitik stärker miteinander zu verzahnen. Die Monitoring-Stelle zur Umsetzung der UN-BRK (Monitoring-Stelle) hat bereits im Jahr 2012 Vorschläge zur menschenrechtsbasierten Reform des BGG veröffentlicht [2]. Sie forderte schon damals die Bundesregierung auf, Ziele, Prinzipien und die Inhalte der UN-BRK konsequent in Form vollzugsfähiger Regelungen aufzugreifen und starke Institutionen sowie wirksame Verfahren für die Aufsicht, Förderung und Kontrolle der Umsetzung des BGG und korrespondierender Gesetze aufzubauen und zu stärken. Ein künftiges Bundesgleichstellungsgesetz muss sich an diesen Vorgaben messen lassen und zu einem Gesetz entwickeln, das Gleichstellung aller Personengruppen erreicht und Benachteiligungen verhindert.
Zu den einzelnen Regelungen wird wie folgt Stellung bezogen:
§ 1 Ziel und Träger öffentlicher Gewalt
Referentenentwurf
In § 1 Absatz 1 wird das Ziel des Gesetzes beschrieben. Wie schon bisher ist die Beseitigung und Verhinderung der Benachteiligung von Menschen mit Behinderung sowie die Gewährleistung der gleichberechtigten Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft und die Ermöglichung der selbstbestimmten Lebensführung Ziel des Referentenentwurfs. Nicht mehr enthalten ist, dass besonderen Bedürfnissen Rechnung zu tragen ist.
Neu ist, dass in der Einführungsvorschrift auch der Geltungsbereich genannt wird. Adressat des Gesetzentwurfs sind die Träger der öffentlichen Gewalt. Sie sollen die in § 1 genannten Ziele auf Bundesebene aktiv fördern und bei der Planung von Maßnahmen beachten. Diese Vorschrift gilt auch für die Träger der öffentlichen Gewalt auf Landesebene, soweit sie Bundesrecht ausführen. Die Träger der öffentlichen Gewalt sollen nach Absatz 3 auf die Einrichtungen, Vereinigungen und juristische Personen des Privatrechts, an denen die Träger der öffentlichen Gewalt mittelbar oder unmittelbar beteiligt sind, hinwirken, die genannten Ziele in angemessener Weise zu berücksichtigen. Sofern die Träger der öffentlichen Gewalt Zuwendungen als institutionelle Förderung gewähren, sollen sie durch Nebenbestimmungen zum Zuwendungsbescheid oder durch vertragliche Vereinbarung sicherstellen, dass die Zuwendungsempfänger die Grundzüge dieses Gesetzes anwenden. Aus dem Zuwendungsbescheid muss hervorgehen, welche Vorschriften anzuwenden sind.
Bewertung
Die Herstellung von Barrierefreiheit bei den Trägern der öffentlichen Gewalt wird als Kernziel benannt. Nach Ansicht der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege betrifft Barrierefreiheit jedoch alle Lebensbereiche. Daher merken die Verbände an, dass es für die Umsetzung der Barrierefreiheit einer gesamtgesellschaftlichen Strategie bedarf.
In der Einweisungsvorschrift des Behindertengleichstellungsgesetzes, welche die Ziele des Gesetzes beschreibt, wird nun auch der Geltungsbereich festgelegt. Dieser wird auf den öffentlich-rechtlichen Bereich konzentriert. Nur die Träger der öffentlichen Gewalt sind verpflichtet, die Ziele des BGG aktiv zu fördern. Bisher galt die Förderung dieser Ziele grundsätzlich auch für den privatrechtlichen Bereich. Dieser wird nun nur noch mittelbar erfasst, indem die Träger der öffentlichen Gewalt auch auf privatrechtliche Einrichtungen, Vereinigungen oder juristische Personen, an denen sie ganz oder überwiegend beteiligt sind, hinwirken sollen, die Ziele des Gesetzes in angemessener Weise zu berücksichtigen. Diese Einschränkung des Geltungsbereichs stellt daher einen Rückschritt dar und wird von den Verbänden der BAGFW kritisiert.
Grundsätzlich positiv zu bewerten ist, dass die Träger der öffentlichen Gewalt durch Nebenbestimmungen in Zuwendungsbescheiden oder vertraglichen Vereinbarungen sicherstellen sollen, dass die Zuwendungsempfänger institutioneller Förderung die Grundzüge des Gesetzes anwenden. Eine Verpflichtung privater Anbieter zur Barrierefreiheit allein über das Zuwendungsrecht, wie in § 1 vorgesehen, greift aus Sicht der Spitzenverbände bei weitem zu kurz. Dies verstößt auch gegen die Abschließenden Bemerkungen des UN-Fachausschusses vom 17. April 2015, welche in Nr. 21 und 22 deutlich bindende Verpflichtungen privater Unternehmer zur Barrierefreiheit fordern. Eine bessere Verankerung der Barrierefreiheit im privatrechtlichen Bereich erfordert neben einer verpflichtenden Regelung im BGG, welche dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Rechnung tragen muss, ein je nach Dienstleistungsbereich gestuftes und zeitlich festgelegtes Umsetzungskonzept.
Die Verbände der BAGFW begrüßen ausdrücklich, dass mit der Neufassung des BGG eine Klarstellung erfolgt, dass auch beliehene und sonstige Bundesorgane, wie z.B. die Verwaltung des Bundestags und Bundesgerichte, soweit sie öffentlich-rechtliche Verwaltungsaufgaben wahrnehmen, unter den Anwendungsbereich des Gesetzes fallen.
§ 2 Frauen mit Behinderungen; Benachteiligung wegen mehrerer Gründe
Referentenentwurf
§ 2 war bisher auf die Benachteiligung von Frauen mit Behinderung konzentriert. § 2 wird durch seine Neufassung zu einer Regelung ausgeweitet, die generell die Mehrfachgründe für Benachteiligungen in den Blick nimmt.
Absatz 1 betrifft die Benachteiligung von Frauen mit Behinderung. Neu ist hier die Ergänzung, dass Frauen mit Behinderung Benachteiligungen wegen weiterer Gründe ausgesetzt sein können und daher Maßnahmen zu ergreifen sind, um zu gewährleisten, dass Frauen und Mädchen mit Behinderung ihre Rechte vollumfänglich in Anspruch nehmen können.
Nach dem neu angefügten Absatz 2 sollen nicht nur Benachteiligungen von Frauen, sondern von allen Menschen mit einer Behinderung beseitigt werden, die unter mindestens eine weitere Benachteiligungsschutzkategorie des AGG fallen. Die weiteren Benachteiligungsgründe des Absatz 2 richten sich nach § 1 des AGG: Rasse, ethnische Herkunft, Geschlecht, Religion, Weltanschauung, Alter und sexuelle Identität.
Bewertung
Durch die Erweiterung des Benachteiligungsgrundes Geschlecht um weitere Benachteiligungsgründe wird das Benachteiligungsverbot von Frauen gestärkt, was die Verbände der BAGFW nachdrücklich begrüßen. Damit greift der Referentenentwurf Empfehlungen des UN-Fachausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen aus den abschließenden Bemerkungen über den ersten Staatenbericht Deutschlands auf. Frauen und Mädchen mit einer Behinderung sind besonders gefährdet, Opfer von Belästigung oder Gewalt zu werden. Satz 2 des § 2 Absatz 1 regelt daher, dass gezielt besondere Maßnahmen zur Förderung der Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und zur Beseitigung bestehender Maßnahmen zulässig sind. Dabei kritisiert die BAGFW die schon aus dem bestehenden Wortlaut des BGG übernommene Formulierung, dass gezielte Maßnahmen zur Beseitigung oder Verhinderung von Benachteiligung „zulässig“ sind. Das Benachteiligungsverbot kann nur umgesetzt werden, indem gezielte Maßnahmen aktiv ergriffen werden.
Positiv bewerten die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege, dass die Benachteiligungsgründe über das Geschlecht hinaus auf alle in § 1 AGG aufgeführte Benachteiligungsmerkmale erweitert werden. So sind beispielsweise Menschen mit einer Behinderung, die einen Migrationshintergrund aufweisen, häufig im Zugang zum Arbeitsmarkt oder auch zum Gesundheitswesen zusätzlich benachteiligt.
Lösungsvorschlag
In § 2 Absatz 1 Satz 2 ist das Wort „zulässig“ zu ersetzen. Satz 2 ist daher wie folgt zu formulieren:
„Dabei sind besondere Maßnahmen zur Förderung der tatsächlichen Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen mit Behinderung und zur Beseitigung bestehender Benachteiligungen zu ergreifen.“
§ 3 Behinderung
Referentenentwurf
Der Behinderungsbegriff wird angelehnt an die UN-Behindertenrechtskonvention neu definiert.
Bewertung
Die Verbände der BAGFW begrüßen, dass der Behinderungsbegriff nicht mehr auf die gesundheitlichen Beeinträchtigungen reduziert wird. Nach dem neuen Verständnis des BGG entsteht eine Behinderung nur dann, wenn die körperlichen, seelischen, geistigen oder Sinnesbeeinträchtigungen in Wechselwirkung mit den einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern. Damit wird Behinderung in weitgehender Übereinstimmung mit der UN-Behindertenrechtskonvention definiert. Die BAGFW setzt sich allerdings für eine vollständige Übernahme des Begriffs aus der UN-Behindertenrechtskonvention ein. Es gilt nicht nur die gleichberechtigte, sondern auch die volle und wirksame Teilhabe an der Gesellschaft zu gewährleisten. Der Behinderungsbegriff in § 3 soll daher vollständig identisch aus der UN-Behindertenrechtskonvention übernommen werden. Der Behinderungsbegriff aus dem BGG muss in das SGB IX und in das Leistungsrecht des künftigen Bundesteilhabegesetzes (Eingliederungshilfe neu) übertragen werden.
Lösungsvorschlag
§ 3 Satz 1 wird nach den Worten „gleichberechtigten“ um die Worte „vollen und wirksamen“ ergänzt.
§ 4 Barrierefreiheit
Referentenentwurf
Bei der Barrierefreiheit wird zusätzlich zu den Kriterien der Zugänglichkeit und Nutzbarkeit das Kriterium der Auffindbarkeit ergänzt. Die Verbände der BAGFW merken an, dass eine Umsetzung von Barrierefreiheit nicht erfolgen kann, solange der Geltungsbereich des BGG auf die Träger der öffentlichen Gewalt gemäß § 1 dieses Referentenentwurfs eingeschränkt bleibt.
Bewertung
Die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege begrüßen diese Klarstellung.
§ 5 Zielvereinbarungen
Referentenentwurf
Der Paragraph wird inhaltlich unverändert aus dem alten BGG übernommen und nur sprachlich an die UN-Behindertenrechtskonvention angepasst.
Bewertung
Die Verbände der BAGFW merken an, dass private Unternehmen ihre Möglichkeit, mit Behindertenverbänden Zielvereinbarungen zum Zweck der Umsetzung der Barrierefreiheit abzuschließen, bisher in der Praxis kaum genutzt haben. Daher soll das AGG, das für die Privatwirtschaft gilt, dahingehend geändert werden, dass Unternehmen künftig stärker begründen müssen, wenn sie keine Zielvereinbarung nach dem BGG abgeschlossen haben.
§ 6 Gebärdensprache und Kommunikation von Menschen mit Hör- und Sprachbehinderung
Referentenentwurf
Aus der Überschrift zu § 6 werden die „anderen Kommunikationshilfen“ gestrichen.
Bewertung
Durch die Streichung der „anderen Kommunikationshilfen“ aus der Überschrift des § 6 BGG neu gegenüber der bisher geltenden Fassung werden die allgemeinen Vorschriften des BGG noch stärker auf Menschen mit Hör- und Sprachbehinderung eingeschränkt. Die Verbände der BAGFW setzen sich dafür ein, dass die Gesetze im Bereich der Behindertenhilfe künftig nicht mehr nach Behinderungsarten differenzieren. Gleichzeitig wird der Ansatz, die Belange spezifischer Gruppen von Menschen mit Behinderung, wo es angebracht ist, besonders zu berücksichtigen, begrüßt. Allerdings müssen die allgemeinen Vorschriften die Bedarfe aller Menschen mit Behinderung in den Blick nehmen. Daher schlagen die Verbände der BAGFW vor, dass in den Bestimmungen des ersten Abschnitts auch Kommunikationshilfen wie die Leichte Sprache (§ 11 neu BGG) aufgenommen werden, denn diese sind auch für Menschen mit einer geistigen Behinderung oder psychischen Erkrankung von hoher Bedeutung.
Lösungsvorschlag
§ 11 neu BGG „Leichte Sprache“ ist in die Allgemeinen Bestimmungen nach dem ersten Abschnitt dieses Referentenentwurfs als neuer § 7 aufzunehmen.
§ 7 Benachteiligungsverbot für Träger öffentlicher Gewalt
Referentenentwurf
Teile des bisherigen § 7 alt BGG wurden in § 1 neu BGG übertragen. Neu ist, dass das Konzept der angemessenen Vorkehrungen der UN-Behindertenrechtskonvention erstmals Eingang in einfachgesetzliche Regelungen findet, indem es in § 7 Absatz 2 neu BGG verankert wird.
Bewertung
Die Verbände begrüßen nachdrücklich, dass das Konzept der angemessenen Vorkehrungen aus der UN-Behindertenrechtskonvention übernommen und explizit im BGG verankert wird. Aufgrund der grundsätzlichen Bedeutung angemessener Vorkehrungen für die Beseitigung von Barrieren im Einzelfall soll das Konzept nicht im zweiten Abschnitt, sondern in den Allgemeinen Bestimmungen des ersten Abschnitts verankert werden.
§ 8 Herstellung von Barrierefreiheit in den Bereichen Bau und Verkehr
Referentenentwurf
Nach dem neuen Absatz 1 des § 8 sollen nicht nur zivile Neubauten, sondern auch die Um- und Erweiterungsbauten des Bundes von der Pflicht zur barrierefreien Umgestaltung erfasst werden. Darüber hinaus sollen Barrieren auch in Bestandsbauten, die dem Publikumsverkehr dienen, im Rahmen von investiven Baumaßnahmen sukzessive abgebaut werden, sofern der Abbau nicht eine unangemessene wirtschaftliche Belastung darstellt. Bis zum 30. Juni 2021 soll über den Stand der Barriere-freiheit dieser Bestandsgebäude berichtet werden. Nach dem neuen Absatz 3 wird der Bund verpflichtet, die Barrierefreiheit auch bei allen Anmietungen der von ihm genutzten Bauten zu berücksichtigen.
Bewertung
Die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege begrüßen die Verpflichtung, dass die Gebäude des Bundes, auch im Bestandsbau, zunehmend barrierefrei werden sollen positiv bewertet werden die in Absatz 2 statuierten Berichtspflichten über den Stand der Barrierefreiheit in Bestandsbauten. Jedoch sollte die erstmalige Berichterstattung nicht erst im Jahr 2021, sondern erstmalig bereits im Jahr 2019 erfolgen. Zudem muss eine regelmäßige Berichterstattungspflicht institutionalisiert werden. Als Turnus schlagen wir 4 Jahre entsprechend der Dauer der Legislaturperiode vor.
Lösungsvorschlag
In § 8 Absatz 2 Satz 2 sollen die Worte „bis zum 30. Juni 2021“ ersetzt werden durch „erstmals zum 30. Juni 2019 und danach alle 4 Jahre“.
§ 9 Recht auf Verwendung von Gebärdensprache und anderen Kommunikationshilfen
Referentenentwurf
In § 9 Absatz 1 Satz 2 neu BGG sowie im neu gefassten Absatz 2 wird nicht mehr zwischen dem Recht auf Verwendung von Gebärdensprache und lautsprachbegleitenden Gebärden sowie anderen Kommunikationshilfen unterschieden, sondern nur noch der Oberbegriff „andere Kommunikationshilfen“ verwendet. Es wird klargestellt, dass die Träger der öffentlichen Gewalt diese kostenfrei zur Verfügung stellen müssen.
Bewertung
Die Verbände der BAGFW begrüßen, dass in § 9 neu BGG im Unterschied zu § 6 neu BGG ausdrücklich das Recht auf die Anwendung von anderen geeigneten Kommunikationshilfen normiert wird. Wir sehen allerdings die Notwendigkeit, die KHV auch im Sinne der anderen geeigneten Kommunikationshilfen zu erweitern. Insbesondere stellt sich die Frage, nach welchen Kriterien und Verfahren die Eignung festgestellt werden soll. Bei der Änderung der KHV sind zwingend die Verbände von Menschen mit Behinderung gemäß dem in der UN-BRK verankerten Konsultationsprinzip einzubeziehen.
§ 10 Gestaltung von Bescheiden und Vordrucken
Referentenentwurf
Die Änderung in Absatz 2 Satz 2 neu BGG passt die Vorschriften über die barrierefreie Zugänglichkeit von Dokumenten für blinde Menschen und Menschen mit einer Sehbehinderung an die UN-Behindertenrechtskonvention an, indem die bislang im Gesetzestext erhaltene Prüfung der Erforderlichkeit zur Wahrnehmung ihrer Rechte im Verwaltungsverfahren gestrichen wird.
Bewertung
Die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege begrüßen die Änderung. Gleichzeitig verweisen sie darauf, dass der Paragraph auf die Rechte von blinden Menschen und Menschen mit einer Sehbehinderung engführt. Die Verbände fordern, systematisch auch Menschen mit einer geistigen und seelischen Behinderung in die Vorschrift einzubeziehen. Außerdem sollen nicht nur Bescheide und behördliche Vordrucke, sondern ausdrücklich auch behördliche Schreiben barrierefrei ausgestaltet werden, damit Menschen mit Beeinträchtigungen ihre Rechte im Verwaltungsverfahren gleichberechtigt zu Menschen ohne Beeinträchtigung vollumfänglich wahrnehmen können. Die Überschrift des § 10 ist daher um behördliche Schreiben zu erweitern.
Lösungsvorschlag
Erweiterung der Überschrift und Formulierung „Gestaltung von Bescheiden, behördlichen Schreiben und Vordrucken“.
In § 10 Absatz 1 Satz 2 sind die Worte „blinde Menschen und sehbehinderte Menschen“ sind zu ersetzen durch „Menschen mit einer Behinderung“. Die Rechtsverordnung nach § 10 Absatz 2 ist entsprechend anzupassen.
§ 11 Verständlichkeit und Leichte Sprache
Referentenentwurf
Das Recht auf Leichte Sprache wird neu in das BGG eingefügt. Die Einführung erfolgt dabei stufenweise. Bis zum 31.12.2017 sollen die Träger öffentlicher Gewalt Informationen vermehrt in Leichter Sprache bereitstellen und die Träger öffentlicher Gewalt sollen ihre Kompetenzen für das Verfassen von Texten in Leichter Sprache auf- und ausbauen.
Ab dem 1.1.2018 sollen die Träger der öffentlichen Gewalt mit Menschen mit geistigen Behinderungen in einfacher und verständlicher Sprache kommunizieren. Sie sollen ihnen auf Verlangen Bescheide, Allgemeinverfügungen, öffentlich-rechtliche Verträge und Vordrucke in einfacher und verständlicher Weise erläutern. Reicht diese Erläuterung nicht aus, soll sie auf Verlangen nicht nur in einfacher, sondern in Leichter Sprache erfolgen. Dies regelt Absatz 2 des § 11 i.d.F. ab 2018. Die Kosten für die Erläuterung sind vom Träger der öffentlichen Gewalt zu tragen. Der notwendige Umfang der Kosten bestimmt sich nach § 11 Absatz 3 Satz 2 nach dem individuellen Bedarf der Berechtigten. Die Träger der öffentlichen Gewalt sollen zudem Informationen ab 2018 vermehrt in Leichter Sprache bereitstellen und Leichte Sprache stärker einsetzen sowie die Kompetenzen dafür auf- und ausbauen. Dies ist in Artikel 2 dieses Referentenentwurfs geregelt.
Bewertung
Die Verbände der BAGFW unterstützen die stufenweise Einführung von Regelungen zum Einsatz von verständlicher und einfacher Sprache und ab dem 1.1.2018 zum Einsatz von Leichter Sprache und begrüßen die Neuregelung. Wie schon oben zu
§ 6 ausgeführt, soll die Vorschrift allerdings in den ersten Abschnitt dieses Gesetzes überführt werden. Auch sollen diese Möglichkeiten nicht nur Menschen mit geistigen Behinderungen zur Verfügung stehen, sondern auch Menschen mit seelischen Behinderungen.
§ 11 stellt eine „Soll“-Vorschrift dar, die noch durch die unbestimmten Rechtsbegriffe des „vermehrten“ Bereitstellens von einfacher bzw. Leichter Sprache relativiert wird. Die „Soll“-Vorschrift soll daher in eine „Muss“-Regelung überführt werden. In § 11 i.d.F. ab dem 1.1.2018 soll zudem geregelt werden, dass Menschen mit Behinderungen Bescheide, Allgemeinverfügungen, öffentlich-rechtliche Verträge und Vordrucke nicht nur auf Verlangen in Leichter Sprache erläutert bekommen, sondern dass sie ihrerseits einen Rechtsanspruch erlangen, dass ihnen die entsprechenden Dokumente erläutert werden. Sofern Bescheide, Allgemeinverfügungen, Verträge oder behördliche Schreiben Fristsetzungen enthalten, sollen diese erst gelten, wenn Menschen mit einer Behinderung die erforderlichen Erläuterungen nach § 11 Absatz 1 oder 2 erhalten haben.
§ 11 Absatz 3 i.d.F. ab dem 1.1.2018 lässt die Frage offen, wer über den notwendigen Umfang bestimmt, nach dem sich im individuellen Fall die Kosten für die Erläuterungen bestimmen und nach welchen Kriterien dies erfolgt.
Lösungsvorschlag
In § 11 neu i.d.F. ab dem 1.1.2018 werden in Absatz 1 Satz 1 und in Absatz 2 Satz 1 nach dem Wort „geistigen“ die Wörter „und seelischen“ ergänzt.
In § 11 neu i.d.F. ab dem 1.1.2018 sollen alle „Soll“-Vorschriften durch „Muss“-Vorschriften ersetzen werden.
§ 11 Absatz 2 neu i.d.F. ab dem 1.1.2018 soll wie folgt formuliert werden:
„Ist die Erläuterung nach Absatz 1 nicht ausreichend, können Menschen mit geistigen und seelischen Behinderungen verlangen, dass die Träger öffentlicher Gewalt im Sinne des § 1 Absatz 2 Satz 1 Bescheide, behördliche Schreiben, Allgemeinverfügungen, öffentlich-rechtliche Verträge und Vordrucke in Leichter Sprache erläutern.“
§ 13 Bundesfachstelle für Barrierefreiheit
Referentenentwurf
Die Bundesfachstelle wird bei der Deutschen Rentenversicherung Knappschaft-Bahn-See errichtet. Sie soll eine zentrale Anlaufstelle für die Träger der öffentlichen Gewalt sein und darüber hinaus auch Verbände, Wirtschaft und Zivilgesellschaft auf Anfrage beraten. Ihre Aufgaben werden in Absatz 2 beschrieben und umfassen die Erstberatung, die Bereitstellung, Bündelung und Weiterentwicklung von unterstützenden Informationen zur Herstellung von Barrierefreiheit, den Aufbau eines Netzwerks, die Begleitung von Forschungsvorhaben zur Verbesserung der Datenlage und die Bewusstseinsbildung durch Öffentlichkeitsarbeit. Die Bundesfachstelle wird nach Absatz 3 durch einen Expertenkreis, dem auch Vertreterinnen und Vertreter der Menschen mit Behinderungen angehören, beraten. Das BMAS führt die Fachaufsicht über die Durchführung der Aufgaben nach Absatz 2.
Bewertung
Die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege halten die geplante Bundesfachstelle zur Umsetzung des Gesetzes und zur Stärkung der Bewusstseinsbildung für geboten. Sie unterstützen den Vorschlag, dass die Fachstelle nicht nur die Träger der öffentlichen Gewalt, sondern ausdrücklich auch Wirtschaft, Verbände und Zivilgesellschaft berät. In jedem Fall sind die Kompetenzen des Bundeskompetenzzentrums für Barrierefreiheit in die Arbeit der Bundesfachstelle einzubeziehen.
Die Anbindung an die Deutsche Rentenversicherung Knappschaft-Bahn-See lehnen die Verbände ab, da diese als Träger der Rehabilitation nicht unabhängig ist und somit in einen Zielkonflikt mit den Interessen der Betroffenen geraten kann. Ebenso erachten wir es nicht als sachgerecht, dass ein Bundesministerium die Fachaufsicht über die Durchführung der Aufgaben der Fachstelle führt. Diese Regelung folgt aus § 29 Absatz 3 SGB IV. Würde die Anbindung nicht an den Sozialversicherungsträger Rentenversicherung erfolgen, wäre die Fachaufsicht durch das BMAS nicht nötig. Die BAGFW unterstützt daher die Einrichtung einer unabhängigen Bundesfachstelle für Barrierefreiheit, die wie im Forschungsbericht 445 vorgeschlagen, als Stiftung oder Anstalt gemeinsam von staatlichen und nichtstaatlichen Stellen ausgestattet, getragen und kontrolliert wird. Die Bundesfachstelle für Barrierefreiheit sollte eng mit der Beauftragten/dem Beauftragten der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen, der Antidiskriminierungsstelle des Bundes und der Monitoring-Stelle für die UN-BRK beim Deutschen Institut für Menschenrechte zusammenarbeiten; diese könnten auch an der Trägerschaft der Agentur beteiligt werden (S. 505).
Die in Absatz 2 genannten Aufgaben erachten die Verbände der BAGFW für richtig. Die Bundesfachstelle soll in erster Linie Beratung zur besseren Umsetzung der Barrierefreiheit zur Verfügung stellen und Informationen vernetzen. Eine zentrale Aufgabe ist auch die Sensibilisierung der Öffentlichkeit für die Notwendigkeit einer barrierefreien Gestaltung der Umwelt i.S. der Bewusstseinsbildung. Eine weitere wichtige Aufgabe der Bundesfachstelle, die noch nicht im Referentenentwurf enthalten ist, ist die Erstellung von Standards und Konzepten für Barrierefreiheit. Diese Aufgabe soll in Absatz 2 Satz 2 als Ziffer 2 ergänzt werden.
Wir begrüßen, dass die Bundesfachstelle durch einen Expertenkreis beraten wird, dem die Menschen mit Behinderung als Experten in eigener Sache angehören. Auch die Freie Wohlfahrtspflege verfügt über Expertise, sodass auch sie Mitglied im Expertenkreis werden soll.
Lösungsvorschlag
In § 13 Absatz 2 Satz 2 ist nach Ziffer 1 die folgende Ziffer zu ergänzen:
„2. Entwicklung von Standards und Konzepten zur Barrierefreiheit“. Die nachfolgenden Ziffern verschieben sich entsprechend.
§§ 15, 16 Verbandsklage und Schlichtungsstelle und –verfahren
Referentenentwurf
Vor der Einleitung einer Verbandsklage ist nach § 15 Absatz 2 neu BGG künftig ein Schlichtungsverfahren nach § 16 neu BGG durchzuführen. Dazu wird eine Schlichtungsstelle eingerichtet. Die Schlichtungsstelle wird bei dem/der Beauftragten für die Belange von Menschen mit Behinderung eingerichtet. Die Schlichtungsstelle hat die Aufgabe, Streitigkeiten außergerichtlich beizulegen. Sie ist mit neutralen Personen zu besetzen. Sofern das Schlichtungsverfahren ohne gütliche Einigung der Beteiligten endet, steht dem antragstellenden Verband der Weg zur Verbandsklage nach § 15 BGG offen.
Bewertung
Die Regelungen zur Verbandsklage und zum Schlichtungsverfahren werden wegen ihres engen Zusammenhangs hier gemeinsam bewertet. Die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege unterstützen die Einführung eines Schlichtungsverfahrens und die dafür erforderliche Errichtung einer neutralen Schlichtungsstelle. Die Vorschaltung der Möglichkeit zu einer außergerichtlichen Einigung vor einer Klage wird als sachgerecht angesehen. In Österreich hat sich das Schlichtungsverfahren, das 2006 eingeführt wurde, bewährt, da es eine hohe außergerichtliche Einigungsquote verzeichnet.
Aus der Gesetzesbegründung geht hervor, dass dadurch eine zügige konsensuale Konfliktbeilegung erreicht werden soll. Dieses Ziel unterstützt die BAGFW.
Der Weg zu einer ggf. erforderlichen Verbandsklage darf nicht durch eine unangemessen lange Verfahrensdauer des Schlichtungsverfahrens behindert werden. Die gemäß § 16 Absatz 8 neu BGG zu erlassende Rechtsverordnung soll daher Festlegungen zur Verfahrensdauer treffen.
§ 17 Amt der oder des Beauftragten für die Belange von Menschen mit Behinderungen
Der Referentenentwurf sieht hier nur eine redaktionelle Änderung vor. Die BAGFW schlägt vor, das Amt des oder der Beauftragten beim Bundeskanzleramt anzusiedeln. Grund ist, dass das Aufgabenspektrum des oder der Beauftragten die Zuständigkeiten und Bereiche vieler Bundesressorts betrifft und mithin als Querschnittsfunktion zu werten ist. Daher ist nach § 15 Absatz 2 BGG der oder die Beauftragte von den Bundesministerien bei allen Gesetzes-, Verordnungs- oder sonstigen wichtigen Vorhaben zu beteiligen, soweit sie Fragen der Integration von Menschen mit Behinderung betreffen. In diesem Kontext weisen wir darauf hin, dass in § 18 Absatz 2 neu BGG das Wort „Integration“ durch den UN-BRK konformen Begriff der „Inklusion“ zu setzen ist.
Lösungsvorschlag
In § 18 Absatz 2 neu BGG ist das Wort „Integration“ durch „Inklusion“ zu ersetzen.
§ 19 Förderung der Partizipation
Referentenentwurf
Der Bund fördert im Rahmen der zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel Maßnahmen von Organisationen mit dem Ziel, die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen an der Gestaltung öffentlicher Angelegenheiten zu stärken.
Bewertung
§ 19 ist neu im BGG und setzt die Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention nach Artikel 29b um, wonach die Vertragsstaaten aktiv ein Umfeld zu fördern haben, in dem Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen wirksam und umfassend an der Gestaltung öffentlicher Angelegenheiten mitwirken können. Dies wird von den Verbänden der BAGFW unterstützt. Beim Erlass einer Förderrichtlinie sind die verschiedenen Interessenvertretungen von Menschen mit Behinderungen einzubeziehen.
Artikel 6: Evaluierung
Referentenentwurf
Die Evaluierung des Gesetzes erfolgt sechs Jahre nach seiner Verkündung.
Bewertung
Bei der Umsetzung der Evaluierung sind Menschen mit Behinderung einzubeziehen.
Berlin, 07.12.2015
[1] <link http: www.bmas.de de service medien publikationen forschungsberichte forschungsberichte-teilhabe fb-445.html>www.bmas.de/DE/Service/Medien/Publikationen/Forschungsberichte/Forschungsberichte-Teilhabe/fb-445.html
[2] www.institut-fuer-menschenrechte.de/publikationen/show/stellungnahme-vorschlaege-zur-reform-des-behindertengleichstellungsrechts-in-bund-und-laendern-im-l/
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I Allgemein
Der Entwurf setzt die im Entwurf für ein Vergaberechtsmodernisierungsgesetz vorgegebene Grundidee fort, das relevante Vergaberecht im Rahmen der demokratisch legitimierten Rechtssetzung zu kodifizieren und gliedert (mit Ausnahme der VOB) dafür die sog. EG-Paragraphen der Vergabe- und Vertragsordnungen weitgehend in die Vergabeverordnung ein.
Die BAGFW bedauert allerdings, dass im Kontext dieser ausdifferenzierten Neustrukturierung der Topos „soziale Dienstleistungen“ nach wie vor nur minimale Berücksichtigung findet. Der Entwurf folgt dem vom Vergaberechtsmodernisierungsgesetz vorgegebenen Muster und trägt den Besonderheiten sozialer Dienstleistungen allenfalls punktuell Rechnung. Die Umsetzung der Vergaberichtlinie bleibt damit weit hinter dem zurück, was das Europarecht ermöglicht. Die Richtlinie setzt sich in Erwägungsgrund 114 differenziert mit den Zusammenhängen zwischen der Gestaltung sozialer Dienstleistungen und den kulturellen Gegebenheiten der Mitgliedstaaten auseinander. In Deutschland ist dieser Wirtschaftsbereich wesentlich durch die Verpflichtung der öffentlichen Hand zur Daseinsvorsorge und die damit einhergehende Verantwortung der Sozialleistungsträger für die soziale Infrastruktur geprägt. Diese Verantwortung erschöpft sich nicht darin, eine Bereichsausnahme (für Rettungsdienste) zu gewähren und besonders hohe Schwellenwerte für die europaweite Ausschreibung von Sozialleistungen festzulegen. Die besonderen Wertungen des Sozialrechts müssen vielmehr auch in der Ausgestaltung des von der VgV konkretisierten Vergabeverfahrens zum Tragen kommen. Von daher hält die BAGFW den von der Vergaberechtsreform verfolgten Ansatz für verkürzt, lediglich den Anwendungsbereich des EU-Vergaberechts zu begrenzen und im Übrigen das Sozialvergaberecht weitgehend dem allgemeinen Vergaberecht zu unterwerfen. Die Bundesrepublik vergibt die Chance, mit den Gestaltungsspielräumen der Richtlinie ein flexibles und sachdienliches Sozialvergaberecht zu gestalten und damit die Weichen für einen erfolgreichen Qualitätswettbewerb zu stellen.
Von dieser grundsätzlichen Kritik abgesehen begrüßt die BAGFW, dass die Bundesregierung den mit dem GWB eingeschlagenen Weg fortsetzt, das Vergaberecht auf eine gesicherte demokratische Grundlage zu stellen. Die BAGFW unterstützt deshalb auch das Anliegen der meisten Bundestagsfraktionen, dem Bundestag einen Zustimmungsvorbehalt für die Vergabeverordnung einzuräumen und die Verordnung so noch enger mit den Entscheidungen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers zu verknüpfen. Wir halten es für wichtig, sicherzustellen, dass die Fortbildung des Vergaberechts transparenter als in der Vergangenheit verläuft und dass Verfahren, die für die wirtschaftliche Existenz vieler Anbieter erhebliche Bedeutung haben, auf einer starken demokratischen Grundlage beruhen.
Allerdings kommt diese demokratische Absicherung nur dem Verfahren für Ausschreibungen oberhalb der Schwellenwerte zugute. Der von 207.000 € auf 750.000 € angehobene Schwellenwert für soziale Dienstleistungen wird damit vor allem bewirken, dass anstelle des reformierten EU-Vergaberechts das weitaus unflexiblere Unterschwellenvergaberecht nach dem 1. Abschnitt der VOL/A an Bedeutung gewinnt. Wir bitten deshalb die Bundesregierung wie schon im unseren vorausgegangenen Stellungnahmen darum, zeitnahe und mit Nachdruck auf eine angemessene Angleichung des Unterschwellenvergabeverfahrens an die reformierte Vergaberegelungen hinzuwirken.
II Zu den Einzelbestimmungen
Über diese allgemeinen Vorbemerkungen hinaus nehmen wir zu einzelnen Bestimmungen des Entwurfs für eine Neufassung der Vergabeverordnung (Artikel 1) wie folgt Stellung:
1. § 1 VgV-E Gegenstand und Anwendungsbereich
Wie im Kontext des Vergaberechtsmodernisierungsgesetzes (dort zu § 130 GWB-E) bitten wir, Abs. 4 fortzuschreiben und klarzustellen, dass das Vergaberecht auch auf unentgeltliche sozialrechtliche Zulassungsverträge keine Anwendung findet.
Diverse Darstellungen der Bundesregierung (insbesondere in der BT Drs. 18/6492, S. 3) machen den Hinweis dringend notwendig, dass das sog. Dreiecksverhältnis keinesfalls dem Sozialhilferecht vorbehalten ist. Vielmehr kommen diese Vertragskonstellationen genauso im SGB V, VIII, IX und XI vor. In allen diesen Gesetzen stellen Zulassungsverträge sicher, dass die Inhaber von Leistungsansprüchen ihr mit diesem subjektiven Recht einhergehendes sog. Wunsch- und Wahlrecht (z. B. aus § 5 SGB VIII, § 9 SGB IX, § 2 SGB XI und § 9 SGB XII) ausüben können. Um diese gesetzlich verankerten subjektiven Leistungsrechte zu schützen, müssen die sozialrechtlichen Zulassungsverträge zum Tragen kommen und Vergabeverfahren unterbleiben. Entsprechend halten wir hier eine klarstellende Abgrenzung des Anwendungsbereichs für notwendig.
Die BAGFW schlägt vor in Absatz 4 folgenden Satz 2 anzufügen:
„Sie ist ferner nicht anzuwenden auf die nicht entgeltlichen Zulassungsverträge nach Maßgabe des Sozialgesetzbuchs“.
2. § 7 VgV-E Mitwirkung an der Vorbereitung des Vergabeverfahrens
Die BAGFW begrüßt diese Öffnung für die Einbeziehung fachkundiger Bieter-Knowhows in die Vorbereitung einer Ausschreibung ebenso wie den für die übrigen Anbieter wichtigen Ausgleich der Vorteile, die die sog. Prädikanten durch diese Mitwirkung im Vorfeld erlangen (z. B. Insiderwissen).
Mit § 7 und der Umsetzung von Artikel 41 Richtlinie 24/2014/EU schafft der VgV-Entwurf eine Rechtsgrundlage für die Einbeziehung sachverständiger Bieter in Vergabeverfahren. Dies ist gerade bei den offenen Verfahren i.S.v. § 15 VgV-E ein Weg, um frühzeitig fachliche Kenntnisse und Innovationsimpulse in die Vorbereitung der Vergabeunterlagen einfließen zu lassen. Ein alternativer Weg zur Einbeziehung fachlichen Knowhows, der die mögliche Bevorzugung einzelner Träger ganz vermeidet, ist die Hinzuziehung fachlich qualifizierter Verbände. Diese bündeln ein erhebliches Fach- und Erfahrungswissen, ohne aber wie beteiligte Unternehmer an der späteren Zuschlagserteilung interessiert zu sein.
Zudem begrüßt die BAGFW den in den Absätzen 2 und 3 vorgesehenen abgestuften Interessenausgleich unter den Prädikanten und den weiteren Bietern. Nur in einem solchen Kontext ist es letztlich für Unternehmer zumutbar, einem Auftraggeber ihr Fachwissen zur Verfügung zu stellen. Ein sinnvoller Baustein dieses Ausgleichs ist die Möglichkeit für Prädikanten, ihren Ausschluss vom Verfahren nach § 124 Abs. 1 Nr. 6 GWB mit dem Nachweis abzuwenden, dass ihre Mitwirkung wettbewerbsunschädlich gewesen ist. Allerdings verlangt die Formulierung des Absatz 3 (Nachweis, dass die Beteiligung den Wettbewerb „nicht verzerren kann“) den Beweis einer negativen Tatsache, der in dieser Form nicht möglich ist. Möglich ist – bei entsprechender Möglichkeit zur Einsichtnahme in die Vergabedokumentation – hingegen die Darlegung, dass auch mit der Beteiligung des Anbieters ein funktionierender Wettbewerb möglich ist.
Von daher schlägt die BAGFW folgende alternative Formulierung des § 7 Abs. 3 vor:
„Vor einem Ausschluss nach § 124 Absatz 1 Nummer 6 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen wird den Unternehmen die Möglichkeit gegeben nachzuweisen, dass auch mit ihrer Beteiligung an der Vorbereitung des Vergabeverfahrens der Wettbewerb unbehindert stattfindet“.
3. § 8 VgV-E Dokumentation und Vergabevermerk
Sowohl die Vergabedokumentation als auch der Vergabevermerk sind wichtige Garanten für ein transparentes Vergabeverfahren und ein erfolgreiches Rechtsschutzverfahren.
Unter den Bedingungen eines intensiven Preiswettbewerbs kommt nicht nur dem Auftragswert als solchem sondern auch den kalkulatorischen Grundlagen Gewicht zu, auf denen der Auftraggeber den Auftragswert errechnet hat. Diese Kostenrechnung des Auftraggebers stellt nicht zuletzt wegen der daraus folgenden Zuordnung von Aufträgen zum Über- oder Unterschwellenvergaberecht eine wesentliche Weichenstellung für das weitere Vergabeverfahren dar. Von daher erscheint es sachgerecht, unter Nr. 1 nicht nur den Auftragswert als solchen zu benennen, sondern auch darzulegen, wie der Auftraggeber diesen ermittelt hat und welche Kostenfaktoren dabei zum Tragen gekommen sind.
Des Weiteren hält die BAGFW eine Ergänzung von Abs. 2 Nr. 5 für zweckmäßig. Die Vergabedokumentation sollte nicht nur den Namen des erfolgreichen Bieters sondern auch den von diesem erzielten Zuschlagspreis als solchen offenlegen (s. dazu auch Anm. zu § 62 Abs. 3 VgV-E). Dies würde Transparenz über die Preise schaffen, zu denen Aufträge vergeben werden. Gerade bei der Finanzierung von Sozialleistungen aus öffentlichen Geldern erscheint eine solche Offenlegung sinnvoll und wichtig. Gerade bei den sehr weitgehend standardisierten Ausschreibungen von Arbeitsmarktdienstleistungen der Bundesagentur für Arbeit macht eine solche Angabe sowohl die langfristige Preisentwicklung als auch deren Verhältnis zur gleichzeitigen Kostenentwicklung für die Bieter (z. B. Personal- und energiekosten) nachvollziehbar.
Die BAGFW schlägt deshalb vor, § 8 Abs. 2 Satz 2 wie folgt zu ergänzen:
„Dieser Vergabevermerk umfasst mindestens Folgendes:
1. den Namen und die Anschrift des öffentlichen Auftraggebers sowie Gegenstand und Wert des Auftrages, des Rahmenvertrages oder der dynamischen Beschaffung und die Grundlagen, aus denen sich dieser Wert ergibt, …
5. den Namen des erfolgreichen Bieters, den Preis und die Gründe für die Auswahl seines Angebotes …“
4. § 11 VgV-E Anforderungen an den Einsatz elektronischer Mittel im Vergabeverfahren
Die BAGFW begrüßt ausdrücklich, die Verpflichtung der Auftraggeber, einen barrierefreien Zugang zur e-Vergabe zu gewährleisten. Darüber hinaus empfehlen wir den für die Einführung der e-Vergabe zuständigen Stellen, sich für die Umsetzung dieser Vorgabe mit den Verbänden abzustimmen, die die Belange von Menschen mit Behinderung vertreten.
5. § 14 VgV-E Wahl der Verfahrensart
Im Zusammenhang mit § 14 VgV-E weisen wir auf ein Problem im Bereich sozialer Dienstleistungen hin: Bereits jetzt führen Träger von Sozialleistungen vor dem Abschluss von Zulassungsverträgen häufig sog. Interessenbekundungsverfahren durch. Diese werden ausdrücklich als nicht vergaberechtliche Verfahren eingeführt, bewirken aber, dass die Leistungsträger noch vor der Aufnahme von Vertragsverhandlungen das Feld der möglichen Vertragspartner „sichten“ und vorsortieren, mit welchen Interessenten sie überhaupt Verhandlungen aufnehmen. Diese wahlweise Anwendung von aus ihrem Zusammenhang gerissenen vergabetypischen Selektionsinstrumenten schafft unter den betroffenen Anbietern erhebliche Verunsicherung.
Vor diesem Hintergrund bietet die eindeutig vergaberechtliche Zuordnung des Begriffs der „Interessenbekundung“ (vgl. in § 5 oder 54 VgV-E) die Möglichkeit, solchen vergabeähnlichen Verfahren einen Riegel vorzuschieben. Sowohl der vergaberechtliche Auftragsbegriff als auch der in den §§ 14 ff. VgV-E beschriebene Katalog von Vergabeverfahren grenzt diese Verfahren gegenüber anderen Wettbewerbsverfahren ab. Vergaberecht stellt ein in sich stimmiges Regelungssystem dar, das die Befugnis des Auftraggebers zur selektiven Auswahlentscheidung mit Vorkehrungen zum Bieterschutz flankiert. Abgesehen davon, dass bei den sog. Interessenbekundungsverfahren ein auszuschreibender Auftrag und damit auch das berechtigte Interesse an einer solchen Beschränkung des Bieterfeldes fehlen, erstrecken sich diese „Anleihen“ beim Vergaberecht regelmäßig gerade nicht auf die bieterschützenden Vorkehrungen zu Transparenz und Chancengleichheit bei der Auswahl. Damit verletzen diese Verfahren den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, den die an Recht und Gesetz gebundene öffentliche Hand stets zu beachten hat.
Die jeweiligen Wettbewerbssysteme vertragen keine Mischformen wie die hier beschriebenen Interessenbekundungsverfahren. Wir bitten deshalb jedenfalls in der Begründung des Entwurfs um die Klarstellung, dass die §§ 14 ff. VgV-E die Verfahrensarten abschließend beschreiben und mit Rücksicht auf die Bieterrechte keine informelle Ausdehnung zulässig ist.
6. § 31 VgV-E Leistungsbeschreibung
Große Bedeutung kommt der Barrierefreiheit nicht allein bei der Ausgestaltung der Vergabeinformationen sondern insbesondere bei der Beschreibung und Ausführung der zu vergebenden Leistung zu.
Auf der einen Seite zählt die Barrierefreiheit zu den Grundanforderungen einer inklusivenGesellschaft, wie die UN-Behindertenkonvention sie fordert. Auf der anderen Seite stellt das Ziel, den Betrieb barrierefrei zu gestalten, Unternehmen vor erhebliche Anforderungen, die allein im baulichen Bereich weitgehende Änderungen mit sich bringen, aber sich keinesfalls in diesen Maßnahmen erschöpfen. Barrierefreiheit umfasst konsequent betrachtet auch die sprachliche Aufbereitung von relevanten Informationen in leichter Sprache, ein Ausschilderungssystem in Brailleschrift etc.
Im Kontext des Vergaberechts stellt sich deshalb die Frage, welche Anforderungen an die barrierefreie Ausgestaltung ein Auftraggeber angemessener Weise an Bieter stellen kann, die für entsprechende Umgestaltungen ihrer Einrichtungen weder Investitionskostenförderungen seitens der Auftraggeber noch eine sichere Berücksichtigung bei Folgeaufträgen erwarten können. Hier hatte es bereits 2013 Ansätze gegeben, bei Ausschreibungen der Bundesagentur von Trägern behindertenspezifischer Berufsvorbereitender Bildungsmaßnahmen und Ausbildungen für behinderte Menschen mit Förderbedarf die Gewährleistung eines umfassend barrierefreien Zugangs zu verlangen. Allerdings erwiesen sich diese Anforderungen als zu undifferenziert und in der vorgegeben kurzen Frist als kaum umsetzbar; aus diesem Grund sah die Bundesagentur 2013 von ihrer Verwirklichung ab.
Vor diesem Hintergrund hält die BAGFW eine differenziertere Formulierung des § 31 Abs. 5 VgV-E für geboten. Zutreffend ist die Pflicht, auftragsbezogene besondere Anforderungen an die barrierefreie Ausführung des Auftrags in der Leistungsbeschreibung zu verankern. Allein diese Vorgabe greift allerdings zu kurz, um im Einzelfall übermäßige Anforderungen an die Bieter zu verhindern. Hier kommt Absatz 3 besondere Bedeutung zu: danach müssen Leistungsmerkmale eine sachliche Verbindung mit dem Auftrag aufweisen und zu dessen Wert und Beschaffungszielen in angemessenem Verhältnis stehen. Dieser notwendige Zusammenhang muss gerade auch bei der barrierefreien Ausführung der beschafften Leistung beachtet werden.
Damit sich die Leistungsbeschreibungen auf geeignete, auftragsbezogene Vorgaben beschränken, empfiehlt die BAGFW dringend, im Vorfeld einer Ausschreibung mit den Trägern von sozialen Dienstleitungen und einschlägigen Verbänden klarzustellen, welche konkreten Anforderungen an die Barrierefreiheit sich aus den tatsächlichen Bedürfnisse der vorgesehenen Nutzerinnen und Nutzer und deren Umsetzbarkeit ergeben. Weiterhin müssen die Auftraggeber den Bietern realistische Zeiträume für die Umstellung einräumen.
Dies BAGFW schlägt deshalb vor, Absatz 5 durch folgenden Satz zu ergänzen:
„Absatz 3 ist zu beachten.“
7. § 49 VgV-E Beleg der Einhaltung von Normen der Qualitätssicherung und des Umweltmanagements
QM-Systeme im Sinne des § 49 sollten nicht allein auf die Zertifizierung nach DIN EN ISO oder EFQM beschränkt werden. Die Wohlfahrtsverbände haben teils eigene systematische Darlegungsmodelle entwickelt, die zwar den Vorgaben europäischer QM-Systeme entsprechen, diese aber nicht vollumfänglich umsetzen. Eine vollständige Umsetzung würde für die zum Teil recht kleinen Einheiten der Wohlfahrtsverbände (z. B. Beratungsstellen mit weniger als 5 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern) unangemessen aufwendig und unverhältnismäßig teuer.
Um auch solche Zertifizierungssysteme berücksichtigen zu können, regt die BAGFW an, Absatz 1 Satz 1 Nr. 1 wie folgt zu formulieren:
„… so bezieht sich der öffentliche Auftraggeber auf Qualitätssicherungssysteme, die
1. den einschlägigen europäischen Normen genügen oder einen entsprechenden Standard sicherstellen und …“
8. § 50 VgV-E Einheitliche Europäische Eignungserklärung
Um den Anspruch der Vergaberechtsreform einzulösen, das Vergaberecht einfacher zu gestalten, hält die BAGFW eine Modifizierung der Bestimmungen zur Einheitlichen Europäischen Eignungserklärung für dringend geboten.
§ 50 VgV-E sieht die zwingende Anwendung der Einheitlichen Europäischen Eignungserklärung vor. Bei der Ausschreibung sozialer Dienstleistungen zeichnen sich insoweit bereits jetzt Überschneidungen mit spezialgesetzlich angeordneten Zertifizierungsverfahren (insb. nach der Anerkennungs- und Zulassungsverordnung Arbeitsförderung, der AZAV) ab. Um hier wenig zuträgliche Doppelprüfungen zu vermeiden, regt die BAGFW folgende Klarstellung an:
„Soweit für die Zulassung eines Bewerbers spezialgesetzliche Zertifizierungsverfahren vorgesehen sind, entfällt neben der Vorlage dieses Zertifikates die Einheitliche Europäische Eignungserklärung.“
9. § 60 VgV-E Ungewöhnlich niedrige Angebote
Die BAGFW stimmt dieser Regelung umfassend zu.
Insbesondere gilt dies für den Ausschluss des Ermessens in Fällen des Absatzes 3 Satz 2. Dieser bewirkt, dass Unterbietungsangebote, die nur unter Verstoß gegen die in § 128 Abs. 1 GWB-E genannten Vorschriften möglich sind, zwingend auszuschließen sind.
Positiv ist auch die Klarstellung, dass Anbieter, die rechtmäßig Beihilfen bekommen, auf dieser Grundlage auch besonders günstige Angebote unterbreiten dürfen und nicht ausgeschlossen werden können. Gerade Anbieter sozialer Dienstleistungen finanzieren sich häufig aus unterschiedlichen Quellen und erhalten neben der Refinanzierung aus einer Auftragsausführung auch einrichtungs- oder projektbezogene Mittel aus Förderprogrammen wie z. B. dem Europäischen Sozialfonds (ESF) oder aus den Fonds der Soziallotterien. Diese Förderung liefe leer, wenn es nicht möglich wäre, sich in der praktischen Arbeit auf ausgeschriebene Aufträge zu bewerben (s. dazu auch die Ausführungen zu § 65 Abs. 1 VgV-E).
10. § 62 VgV-E Unterrichtung der Bewerber und Bieter
Zusätzlich zu den Anmerkungen zur Ergänzungsbedürftigkeit des § 8 Abs. 2 Nr. 5 hält die BAGFW die Information an nicht berücksichtigte Bieter darüber für erforderlich, für welchen Preis das erfolgreiche Angebot den Zuschlag bekommen hat. Bei der Überprüfung von Zuschlagsentscheidungen gibt diese Information häufig den entscheidenden Hinweis auf mögliche Ansatzpunkte für Rechtsschutzverfahren.
Die BAGFW schlägt deshalb vor, § 62 Absatz 2 Nr. 3 wie folgt zu ergänzen:
„3. jeden Bieter über die Merkmale, den Preis und die Vorteile des erfolgreichen Angebots sowie den Namen des erfolgreichen Bieters, und
….“
11. § 64 VgV-E Vergabe von Aufträgen für soziale und andere besondere Dienstleistungen
§ 64 VgV-E verdeutlicht das bereits unter I angesprochene Grundproblem mit der Umsetzung der Artikel 74 ff. Richtlinie 24/2014/EU im Rahmen der Vergabemodernisierung: statt für die Vergabe von sozialen Dienstleistungen mit wenigen Kernbestimmungen die Einhaltung der vergaberechtlichen Grundgarantien von Transparenz und Chancengleichheit sicherzustellen und im übrigen auf eine im GWB verankerte 1:1-Übernahme des Artikel 76 Abs. 2 Richtlinie 24/2014/EU zu verweisen, unterwirft die VgV die Ausschreibung sozialer Dienstleistungen bis auf wenige punktuelle Ausnahmen nahezu vollständig dem Vergabeverfahrensrecht, ohne dabei deutlich zu machen, welcher Stellenwert dem von der Richtlinie ausdrücklich anerkannten besonderen Charakter der sozialen Dienstleistungen zukommen soll.
Dieser kommt auch in der Vorgabe, dass bei der Ausschreibung die „Besonderheiten der jeweiligen Dienstleistungen“ zu berücksichtigen sind, nicht hinreichend zum Ausdruck. Zwischen den materiell- rechtlichen Belangen und Wertungen des Sozialrechts und der Logik des Vergabeverfahrensrechts findet kein hinreichender Ausgleich statt. Vielmehr geht auch die Begründung zu § 64 VgV-E offenbar davon aus, dass die vorgesehenen Ausnahmen vom allgemeinen Vergaberecht ausreichen, um diesen Besonderheiten und der eingeschränkten Binnenmarktrelevanz von sozialen Dienstleistungen Rechnung zu tragen.
Vor diesem Hintergrund hält die BAGFW es für unerlässlich, in enger Anlehnung an Artikel 76 Abs. 2 Richtlinie 24/2014/EU eine explizite Aufzählung unverzichtbarer und wesentlicher sozialer Wertungsgesichtspunkte in das Vergaberecht einzuführen. Dies gäbe Vergabestellen eine Orientierungshilfe. Zudem trüge eine solche Ergänzung dem Anspruch einer 1:1-Übertragung der Richtlinie Rechnung, ohne damit die Geltung des Vergaberechts in Frage zu stellen. Ohne eine solche ausdrückliche Verankerung der sozialrechtlichen Wertungen im Vergaberecht sieht die BAGFW nicht nur die europarechtlich ausdrücklich angeordnete Rücksichtnahme auf die Besonderheiten sozialer Dienstleistungen in Frage gestellt. Die Unterwerfung der sozialen Dienstleistungen unter das Vergaberecht ginge dann sogar noch weiter als dies im gegenwärtigen Oberschwellenvergaberecht vorgesehen ist, das für die sog. B-Leistungen nur eine punktuelle Anwendung von Vorschriften des EG-Vergaberechts vorschreibt.
Sofern deshalb die an sich naheliegendere Übernahme einer an Artikel 76 Abs. 2 Richtlinie 24/2014/EU angelehnten Verankerung sozialrechtlicher Wertungen im Rahmen des GWB unterbleibt, muss dieser Maßstab im Kontext der VgV als ermessenslenkende Orientierungshilfe verankert werden. Diese könnte in der folgenden Ergänzung zu § 64 VgV bestehen:
§ 64 wird § 64 Absatz 1; nach Absatz 1 wird folgender Absatz 2 angefügt:
„Bei der Ausschreibung von Dienstleistungen im Sinne von Absatz 1 tragen die öffentlichen Auftraggeber der Notwendigkeit, Qualität, Kontinuität, Zugänglichkeit, Bezahlbarkeit, Verfügbarkeit und Vollständigkeit der Dienstleistungen sicherstellen, sowie den spezifischen Bedürfnissen verschiedener Nutzerkategorien, einschließlich benachteiligter und schutzbedürftiger Gruppen, der Einbeziehung und Ermächtigung der Nutzer und dem Aspekt der Innovation Rechnung.“
12. § 65 Abs. 1 VgV-E Ergänzende Verfahrensregeln – Freigabe der Verfahrensarten
Die BAGFW begrüßt die weitgehende Freigabe der Verfahrensarten für die Auftraggeber. Ausgenommen hiervon ist allein das Verhandlungsverfahren ohne Teilnehmerwettbewerb. Der mögliche Rückgriff auf diese Verfahrensart richtet sich nach § 14 Abs. 4 VgV-E. Grundsätzlich ist dies nachvollziehbar. Allerdings ist es für den Kontext sozialer Dienstleistungen notwendig, die abschließende Aufzählung des § 14 Abs. 4 VgV-E um eine Fallgruppe zu erweitern:
Die Besonderheiten des Sozialrechts und des in verschiedene Untergebiete wie beispielsweise das Kinder- und Jugendhilfe, Arbeitsförderung, Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderung aufgeteilten Leistungsrechts bedingen, dass soziale Dienstleister häufig auf der Grundlage einer Mischfinanzierung arbeiten. Ähnlich wie sich die Leistungen aus unterschiedlichen Modulen zusammensetzen und auf unterschiedliche Leistungsgesetze (z. B. dem VIII. und II. Buch des Sozialgesetzbuches) stützen, gilt dies auch für die Förder- und Refinanzierungsmittel, die eine solche übergreifende Arbeit ermöglichen. Insbesondere bei der Unterstützung von Jugendlichen gibt es Fördermaßnahmen, die die Hilfeinstrumente verschiedener Leistungsgesetze zusammenfassen und so eine abgestimmte Hilfe ermöglichen. Diese sog. rechtskreisübergreifenden Fördermaßnahmen sind besonders für Personen wichtig, die vielfältige Problemlagen gleichzeitig zu bewältigen haben und aufeinander abgestimmte Hilfeleistungen brauchen. Als Beispiel seien die in Zuständigkeit der Bundesagentur für Arbeit nach § 45 SGB III auszuschreibenden Leistungen genannt. Da von diesen rechtskreisübergreifenden Fördermaßnahmen zugleich fachlich innovative Leistungsimpulse ausgehen, kommt ihnen in der sozialen Arbeit erhebliche Bedeutung zu.
Für Vergaben im Unterschwellenbereich besteht bislang die Möglichkeit, solche Bausteine einer Leistung nach § 3 Abs. 5 Nr. 1 VOL/A 1. Abschnitt (günstige Gelegenheit) freihändig zu vergeben. Oberhalb der Schwellenwerte ist eine entsprechende Fallgruppe nicht vorgesehen, unseres Erachtens aber dringend erforderlich. Ohne diese könnten solche Maßnahmen nur bis zu einem Auftragsvolumen von 749.999 € angeboten werden oder die Bundesagentur müsste eine reguläre Vergabe veranstalten durchführen, deren Ergebnis das Angebot als Ganzes in Frage stellen könnte. Denn selbst wenn der Anbieter aufgrund seiner Kofinanzierung durch rechtmäßige Fördermitteln besonders günstige Angebote unterbreiten kann (s. Anmerkungen zu unbeschadet § 60 Abs. 4 VgV-E), besteht im Rahmen einer Vergabe stets die Möglichkeit, dass nicht der Träger dieses rechtskreisübergreifenden Angebotes sondern ein Konkurrent den Zuschlag erhält.
Um diese fachlich wichtigen und weiterführenden Angebote auch oberhalb der Schwellenwerte vorhalten zu können, bedarf es insoweit einer Ausnahmeregelung zur Zulässigkeit von Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb. § 14 Abs. 4 Nr. 2 VgV-E gestattet dieses Verfahren bereits jetzt, wenn nur ein einziger Bieter für den Zuschlag in Betracht kommt, weil er das Patent auf die ausgeschriebene Leistung hält (Nr. 2 Buchst. c) oder als Künstler mit seiner individuellen Leistung nachgefragt ist (Nr. 2 Buchst. a). Die vorstehend beschriebenen Leistungsmodelle kommen den in Abs. 4 Nr. 2 beschriebenen Fallkonstellationen nahe, da die Anbieter rechtskreisübergreifender Leistungen in der Regel sehr individuelle Leistungspakete und Leistungskonditionen bieten, die andere Anbieter nicht vorhalten.
Auch unter wettbewerbsrechtlichen Gesichtspunkten ist diese Ausnahme gerechtfertigt: die Anbieter rechtskreisübergreifender Fördermaßnahmen haben bei der Bewerbung um Fördermittel bereits andere, ebenfalls wettbewerbliche Auswahlverfahren wie z.B. die Teilnahmewettbewerbe im Vorfeld der ESF-geförderten Bundes- und Landesarbeitsmarktprogramme, durchlaufen. Die Ergebnisse und Erfolge dieser vorausgegangenen Auswahlverfahren gingen verloren, wenn die Zuwendungsempfänger im weiteren vergaberechtlichen Auswahlwettbewerb ausschieden oder wenn man zur Vermeidung solch widersprüchlicher Ergebnisse auf das auszuschreibende Modul verzichten müsste. Zudem geht es bei diesen Leistungsformen in der Regel um örtlich gebundene Maßnahmen, die den Schwellenwert überschreiten, aber letztlich aus dem Rahmen der für den Binnenmarkt relevanten Aufträge hinausfallen. Auch deshalb scheint es vertretbar, im Kontext der Sonderregelungen für soziale Dienstleistungen eine freihändige Vergabe zuzulassen, wenn dies zur Ermöglichung von rechtskreisübergreifenden, kofinanzierten Angeboten erforderlich ist.
Die BAGFW schlägt deshalb vor, an § 65 Abs. 1 Satz 2 wie folgt zu formulieren:
„Ein Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb steht nur zur Verfügung, soweit die
1. nach § 14 Absatz 4 gestattet ist oder
2. notwendig ist, um Gesamtleistungen zu ermöglichen, die rechtskreisübergreifend oder in Ergänzung zu Bundes- und Landesprogrammen Leistungsmodule miteinander verbinden.“
13. § 65 Abs. 2 VgV-E Ergänzende Verfahrensregeln – Laufzeit von Rahmenvereinbarungen
Die Möglichkeit, die Laufzeit von Verträgen zu verlängern gibt den an der Auftragsausführung Beteiligten mehr Stabilität und Perspektive sowohl für die Kontinuität von Hilfeprozessen als auch für den Fortbestand von Arbeitsverhältnissen. Derzeit führt, namentlich im Bereich der Arbeitsmarktdienstleistungen, die Position der Bundesagentur und wenige weitere Kommunen als einzige Nachfrager der zu beschaffenden Leistungen, zu einer hohen Instabilität der Arbeitsverhältnisse und damit einer hohen Fluktuation unter den für die Dienstleistungen eingesetzten Fachkräften. Eine verlängerte oder verlängerbare Vertragslaufzeit verschafft dem erfolgreichen Bieter und den von ihm Beschäftigten mehr Planungssicherheit.
Allerdings verweist die BAGFW darauf, dass dieses für den erfolgreichen Bieter positive Ergebnis durchaus ambivalent ist. Es liegt in der Eigenart von selektiven Auswahlentscheidungen, dass die Mehrzahl der Bewerber nicht berücksichtigt wird und anderweit Aufträge akquirieren muss. Dies ist allerdings erheblich erschwert, wenn der Hauptauftraggeber eine marktbeherrschende Position einnimmt und es neben ihm allenfalls noch geringfügige weitere Nachfrage gibt. Unter diesen Umständen verstärken sich die negativen Auswirkungen einer Nichtberücksichtigung für die Anbieter und ihre Mitarbeitenden empfindlich. Dies gilt umso mehr als die Ausschreibungen von Arbeitsmarktdienstleistungen bundesweit zeitgleich abgewickelt werden. Einem hierbei erfolglosen Bieter bleibt damit praktisch keine Zeit mehr zu weiteren Bewerbungen.
Die im Einzelfall durchaus als Entlastung zu verstehende Verlängerungsoption für einen Vertragspartner verringert deshalb für die Zweitplatzierten oder weiter abgeschlagenen Bieter die Aussicht, in absehbarer Zeit eine alternative Betätigung finden. Auch wenn das Vergaberecht den Vertragspartnern keine Sicherheit über den Fortbestand von Verträgen über die Laufzeit des jeweiligen Vertrages verschaffen, sondern vielmehr eine ständige Neuauswahl unter geeigneten Anbietern sichern soll, tragen Auftraggeber nicht nur als Leistungsträger i. S. des Sozialrechts sondern auch in wettbewerbsrechtlicher Hinsicht als i.d.R. marktbeherrschende Nachfrager Mitverantwortung für das Funktionieren des Leistungsgeschehens. Als Veranstalter des Wettbewerbs sind sie auf ein Bewerberfeld mit hoch qualifizierten Anbietern angewiesen. Wenn aber nicht berücksichtigte Bieter kein alternatives Betätigungsfeld für diese ausgeschriebene Dienstleistung finden und vom Markt verdrängt werden, bricht genau dieser „Lieferantenstamm“ weg. Mittelfristig kann sich der Auftraggeber dann gerade nicht mehr darauf verlassen, dass er regelmäßig ein Bewerberfeld an erfahrenen Anbietern zur Auswahl vorfindet. Bei der Vergabe von Arbeitsmarktdienstleistungen kommt hinzu, dass beim Zuschlag zunehmend bundesweit agierende, große Träger berücksichtigt werden. Der Abschluss von mehrjährigen Rahmenverträgen oder die gezielte Nutzung von Verlängerungsoptionen in bestehenden Rahmenverträgen mit großen Einkaufsvolumen würde eine solche Entwicklung auf Kosten der von der Richtlinie 2014/24/EU ausdrücklich geschützten kleinen und mittelständischen Unternehmen fördern.
Um einen funktionierenden Qualitätswettbewerb unter fachlich qualifizierten und erfahrenen Bietern nachhaltig sicherzustellen, müssen die Auftraggeber diese Ambivalenz dieses Gestaltungsmittels im Auge behalten. In ihrer Verlängerungsentscheidung müssen deshalb stets auch die Auswirkungen einer solchen Option für das gesamte Leistungsgeschehen zum Tragen kommen.
14. § 65 Abs. 3 VgV-E Ergänzende Verfahrensregeln – Qualitätskriterien
Abs. 3 eröffnet die Chance, bieterbezogene Qualitätskriterien besser zu berücksichtigen. Dazu sind aber Nachbesserungen erforderlich.
Bereits im Jahre 2012 bestand fraktionsübergreifend im Deutschen Bundestag Einigkeit, bieterbezogene Qualitätskriterien stärker zu gewichten (BT-Drs.17/11084). In der Folge wurde § 4 Abs. 2 VgV um bieterbezogene Qualitätskriterien erweitert. Die Regelung soll nunmehr in § 65 Abs. 3 VgV-E überführt werden. Angesichts der Erfahrungen mit der bisherigen Umsetzung des § 4 VgV durch die Bundesagentur für Arbeit, halten die BAGFW, weitere maßgebliche Bietervertreter sowie die Gewerkschaften GEW, ver.di und der DGB für die Zukunft Modifikationen sowohl dieser Regelung als auch ihrer Anwendung für unerlässlich. Gemeinsam haben wir einen Ansatz für eine mögliche Verbesserung entwickelt und in die Diskussion eingebracht. Auf dessen Grundlage tragen wir Folgendes vor:
Bieterbezogene Qualitätskriterien müssen in erster Linie eine Aussage über die individuelle Leistung der Bieter zulassen. Das ist nicht möglich, wenn ihre Erfüllung wie bei der von der Bundesagentur vorrangig zugrunde gelegten Integrationsquote überwiegend äußeren Einflüssen unterliegt, die sich der Steuerung der Bieter entziehen. Denn zum einen haben die Anbieter keinen Einfluss darauf, welche Personengruppen in ihre Qualifizierungsmaßnahmen geschickt werden. Zum anderen hängt die Aufnahmefähigkeit des Arbeitsmarktes ganz wesentlich von jeweils aktuellen lokalen Entwicklungen der Konjunktur wie beispielsweise der Schließung größerer Betriebe ab. Nach unserer Kenntnis berücksichtigt die Bundesagentur für Arbeit auch nicht die Leistungen, die Arbeitsmarktdienstleister an die kommunalen Jobcenter erbracht haben. Die aber machen immerhin 25% der Jobcenter aus. Schließlich führt die Betonung der Integrationsquote dazu, dass nur noch die aussichtsreichsten Maßnahmeteilnehmer gefördert werden, sog. Creaming-Effekt.
Grundsätzlich halten wir zudem bei kreativen und geistigen Leistungen, wie sie gerade auch den Bildungsbereich prägen, die Fixierung der Angebotsbewertung auf zahlenmäßig festlegbare Werte für einen Fehlschluss. Die Rechtsordnung und gerade auch das Vergaberecht erkennen die Notwendigkeit subjektiver Bewertungen an und haben dafür transparente und erprobte Verfahren entwickelt (z. B. bei der Ausschreibung von Architektenleistungen, s. § 74 VgV-E). Ein modernes Vergaberecht muss die in der Qualitätssicherung etablierten Kriterien Strukturqualität, Prozessqualität und Ergebnisqualität abbilden.
Die von uns für Absatz 4 benannten Kriterien spiegeln in ihrer Gesamtheit ein ausgewogenes Bild von Erfolgsqualität wieder, in dem der Integrationsquote ein angemessener Platz, aber nicht das allein ausschlaggebende Gewicht zukommt. Unter der Voraussetzung, dass die Wertung der Bieter auf dieses Gesamtbild abstellt, erscheint auch die Aufhebung der in § 4 VgV noch vorgesehenen Berücksichtigungsgrenze von 25% sinnvoll.
Zudem tragen diese Kriterien der Intention des Art. 76 Abs. 2 der Auftrags-Richtlinie Rechnung, der die Mitgliedsstaaten dafür verantwortlich macht, „dass die öffentlichen Auftraggeber die Notwendigkeit, Qualität, Kontinuität, Zugänglichkeit, Bezahlbarkeit, Verfügbarkeit und Vollständigkeit der Dienstleistungen sicherstellen, sowie den spezifischen Bedürfnissen verschiedener Nutzerkategorien, einschließlich benachteiligter und schutzbedürftiger Gruppen, der Einbeziehung und Ermächtigung der Nutzer und dem Aspekt der Innovation Rechnung tragen können. Die Mitgliedstaaten können auch vorsehen, dass die Auswahl der Dienstleister auf der Grundlage des Angebots mit dem besten Preis-Leistungs-Verhältnis unter Berücksichtigung von Qualitäts- und Nachhaltigkeitskriterien für soziale Dienstleistungen getroffen wird.“ Unseres Erachtens wird der derzeitige VgV- Entwurf dieser Verantwortung noch nicht gerecht und verspielt die Chancen, die das Europarecht eröffnet.
Im Übrigen halten wir den letzten Halbsatz von Absatz 3 für nicht sinnvoll. Er ist in der Parallelvorschrift für das allgemeine Vergaberecht § 58 VgV-E nicht vorgesehen und sollte deshalb auch hier wegfallen.
Im Ergebnis schlägt die BAGFW deshalb vor, Abs. 3 und 4 wie folgt zu formulieren:
(3) Bei der Bewertung der in § 58 Absatz 2 Satz 1 Nummer 2 genannten Kriterien können insbesondere der Erfolg und die Qualität bereits erbrachter Leistungen des Bieters oder des vom Bieter eingesetzten Personals berücksichtigt werden, soweit dies nicht bereits im Rahmen der Eignung berücksichtigt worden ist.
(4) Bei Aufträgen, deren Gegenstand Integrationsdienstleistungen am Arbeitsmarkt sind, gilt Absatz 3 mit folgender Maßgabe:
1. sollen bei der Ermittlung des wirtschaftlichsten Angebots Erfolg und Qualität bereits erbrachter Leistungen berücksichtigt werden. Dabei sind insbesondere folgende Aspekte zu berücksichtigen:
a) die Integrationsquote in den allgemeinen Arbeitsmarkt,
b) die Abbruchquote,
c) die Prüfungsergebnisse (wenn im Rahmen der Maßnahme eine Prüfung abgelegt wird),
d) die Zufriedenheit der Teilnehmenden,
e) die Zufriedenheit der regionalen Netzwerkpartner
f) die Zufriedenheit der/ des regionalen Auftraggeber/s mit dem Leistungsergebnis.
2. Die Träger müssen nach § 2 der AZAV zugelassen sein.“
Der bisherige Absatz 4 wird Absatz 5.
15. § 65 Abs. 5 VgV-E Ergänzende Verfahrensregeln – Fristveränderung
Die BAGFW weist darauf hin, dass die in Absatz 4 festgelegte Mindestfrist von 15 Tagen allenfalls in Notfällen angemessen ist, in denen wahrscheinlich auch besondere Eilbedürftigkeit gem. § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV-E gegeben wäre und einen Verzicht auf jegliche Teilnahmewettbewerbe gestatten würde.
Für andere Konstellationen gilt, dass die meisten sozialen Dienstleistungen geistig-kreativer Art sind und deshalb erhebliche Anforderungen an die Ausgestaltung des Angebotes stellen. Vor diesem Hintergrund erscheint von den vorstehenden Fällen besonderer Eilbedürftigkeit abgesehen im Sinne einer Flexibilisierung allenfalls eine Verlängerung, nicht aber eine Abkürzung der Fristen angemessen, die ggf. auch über die von § 20 Abs. 3 vorgesehenen Fallgruppen hinaus erforderlich sein kann. Um hier eine unangemessene und einseitige Flexibilisierung zulasten der Bieter und Bewerber zu verhindern, muss in Absatz 5 mindestens deutlich werden, dass auch Verlängerungen der Grundfrist möglich sind.
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Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) bedankt sich für die Gelegenheit zur Stellungnahme zum oben genannten und im Folgenden näher erörterten Referentenentwurf zur Rechtsvereinfachung im SGB II. Ziel aller Aktivitäten der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege ist die Verbesserung von Lebenslagen. In ihrer sozialanwaltschaftlichen Funktion bringt die Freie Wohlfahrtspflege die Interessen von Benachteiligten in den gesellschaftlichen Dialog ein und ist bestrebt, mit engagiertem sozialpolitischem Handeln dazu beizutragen, dass unser Sozialstaat zukunftsfähig bleibt. Ausgehend von dieser Zielstellung hat die BAGFW bereits im Oktober 2014 eine Bewertung des veröffentlichten Abschlussberichts der Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Vereinfachung des Passiven Leistungsrechts – einschließlich des Verfahrensrechts – im SGB II (Rechtsvereinfachung im SGB II) vorgenommen. Sie macht nun von der Möglichkeit Gebrauch, den vorgelegten Referentenentwurf eines Neunten SGB II-Änderungsgesetzes zu kommentieren, der diese Vorschläge zur Weiterentwicklung des Leistungs- und Verfahrensrechts aufgreift.
Gesamtbewertung
Die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege sehen in dem Gesetzentwurf positive Ansätze zur Entbürokratisierung der Verwaltungspraxis der Jobcenter, wozu z. B. die regelhafte Verlängerung des Bewilligungszeitraums auf zwölf Monate zählt. Der Gesetzentwurf lässt jedoch viele Chancen ungenutzt, seit längerem diskutierte, sinnvolle Maßnahmen zur Verwaltungsvereinfachung zu ergreifen, die Erleichterungen für die Betroffenen bringen würden. Die Wohlfahrtsverbände wenden sich entschieden gegen die Neuerungen, die eine Verwaltungsvereinfachung auf Kosten der Leistungsberechtigten erbringen sollen, so insbesondere die stark eingeschränkte rückwirkende Korrektur von fehlerhaften Verwaltungsakten. Der avisierten neuen gesetzlichen Möglichkeit eine Gesamtangemessenheitsgrenze für Unterkunft und Heizung zu bilden und hierbei eine größere Flexibilität bei der Wohnungssuche und der Feststellung der Angemessenheit zu erreichen, stehen starke Bedenken aus der Beratungspraxis, dem Deutschen Verein und der Rechtsprechung hinsichtlich Praktikabilität und Bedarfsdeckung gegenüber, so dass sich weitere Klärungsbedarfe schon jetzt abzeichnen. Die sinnvollen Ansätze zur Weiterentwicklung der Eingliederungsvereinbarung werden durch den eher repressiven als fördernden Charakter der vorgeschlagenen Regelungen zur Beratung und sofortigen Eingliederung der Leistungsberechtigten nahezu wieder aufgehoben oder jedenfalls konterkariert. Auf scharfe Kritik der BAGFW stößt der Verzicht auf die Umsetzung der mehrheitlich von der Bund-Länder-AG vorgelegten Vorschläge zur Reform des Sanktionsrechts. Reformen im Sanktionsrecht, wie die Abschaffung der schärferen Sanktionsregelung für unter 25-Jährige sowie die Begrenzung der Sanktionshöhe auf nicht mehr als ein Drittel des Regelsatzes und der Verzicht auf Sanktionen bei den Kosten der Unterkunft entsprechen einer langjährigen Forderung der BAGFW und werden auch vom Deutschen Verein und der Bundes-agentur für Arbeit vorgetragen. Viel zu kurz greifen auch die vereinzelten Ansätze zur Weiterentwicklung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente. Um insbesondere Langzeitarbeitslosen eine bessere Förderung anbieten zu können, sind dringend Veränderungen v. a. bei den Arbeitsgelegenheiten, bei der Förderung von Arbeitsverhältnissen und der Freien Förderung nötig.
Die BAGFW äußert sich zu den einzelnen Regelungen wie folgt:
Leistungen der Grundsicherung (§ 1 Abs. 3 SGB II-E)
Die Aufgaben der Grundsicherung werden im Hinblick auf die Beratung gestärkt.
Bewertung:
Die Intention, die Beratung der Leistungsberechtigten zu stärken, ist grundsätzlich positiv. Allerdings kommt in der Konkretisierung der Beratungsziele in § 14 Abs. 2 eher ein kontrollierender, restriktiver Beratungsansatz durch Betonung von Selbsthilfeobliegenheiten und Mitwirkungspflichten zum Tragen. Die Konkretisierung der Beratungsziele in § 14 SGB II wird dem umfassenden Beratungsbedarf im SGB II nicht gerecht. Die Beratung muss auch sicherstellen, dass die Leistungsberechtigten umfassend über Leistungsansprüche unterschiedlicher Hilfesysteme durch die Jobcenter informiert und so in ihren Möglichkeiten zur Selbsthilfe durch Inanspruchnahme vorrangiger Leistungen gestärkt werden. Aus Sicht der Wohlfahrtsverbände muss es um eine wertschätzende Beratung auf Augenhöhe gehen. Angesichts des übergroßen Anteils an Personen, die jahrelang im verfestigten Leistungsbezug sind, sollte der Beratungsauftrag auch die soziale Teilhabe umfassen und in Kooperation mit der Sozialberatung freigemeinnütziger Träger realisiert werden. Beratungsziel sollte neben der Überwindung der Hilfebedürftigkeit auch die Verbesserung der individuellen Situation im Leistungsbezug sein. Insbesondere bei Langzeitleistungsbeziehenden, deren Arbeitsmarktintegration sehr schwer ist, muss die Verbesserung der persönlichen Situation als eigenständiger Beratungsgegenstand und Leistungsziel zur Geltung kommen.
Die Jobcenter sind personell unterbesetzt und müssten für einen intensivierten Beratungsauftrag personell verstärkt werden. Durch standardisierte Handlungsprogramme und kennzahlengesteuerte Zielsysteme sind die Handlungsspielräume der Mitarbeitenden stark eingeschränkt. Anstatt eine Beratung auf Augenhöhe anbieten zu können, müssen sie die Arbeitslosen in die „gesteuerte Integrationsarbeit“ einbeziehen. Für eine umfassende Unterstützung und Stärkung der Leistungsberechtigten in der Beratungsarbeit gilt es, die einengenden, steuernden Vorgaben zu lockern.
§ 3 Leistungsgrundsätze (§ 3 Abs. 2 SGB II-E)
Die Leistungsgrundsätze werden neu justiert, indem bei der Beantragung von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende unverzüglich Eingliederungsleistungen erbracht werden sollen. Hervorgehoben wird der Anspruch, Personen ohne Berufsabschluss eine auf eine Ausbildung gerichtete Vermittlung anzubieten. Die Sonderregelungen gem. § 3 Abs. 2 und 2 a zur Sofortvermittlung junger Menschen unter 25 Jahren und für über 58-Jährige entfallen.
Bewertung:
Sehr positiv ist die Verankerung der Zielsetzung, Personen ohne Berufsabschluss vorrangig in eine Ausbildung und nicht in irgendeine Arbeit zu vermitteln.
Angesichts einer zunehmenden Verfestigung des Leistungsbezugs und der Ausgrenzung von Menschen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende plädiert die BAGFW dafür, neben der Zielsetzung Übergänge in Erwerbstätigkeit und den Austritt aus dem Leistungsbezug zu fördern, zusätzlich die soziale Teilhabe explizit als Ziel im SGB II zu verankern.
Die neue gesetzliche Verpflichtung zum sofortigen Beginn der Eingliederungsarbeit sehen die Wohlfahrtsverbände unter den gegebenen Verhältnissen mit Sorge. Langzeitleistungsbeziehende drohen noch weiter ins Hintertreffen zu geraten, wenn die unterfinanzierten Jobcenter nicht nur den zu erwartenden starken Anstieg der Leistungsberechtigten infolge der Flüchtlingsentwicklung zu bewältigen haben, sondern gesetzlich zur sofortigen Eingliederungsarbeit verpflichtet sind. Unter Neuzugängen bei Leistungen nach dem SGB II befindet sich regelmäßig auch ein sehr großer Teil von Personen, die man eher als Rückkehrende zu diesen Leistungen bezeichnen kann. Sie haben im Jahr zuvor bereits Leistungen der Grundsicherung erhalten und konnten in einer kurzen Phase der prekären Beschäftigung die Wartezeiten der Arbeitslosenversicherung nicht erfüllen. Sie unverzüglich in eine Sofortmaßnahme zu vermitteln, muss nicht in jedem Einzelfall sinnvoll sein; hilfreicher können z. B. Vermittlungsaktivitäten oder eine Phase der beruflichen Neuorientierung und Qualifizierung sein. Nach den Praxisrückmeldungen der Wohlfahrtsverbände haben die bisherigen „Sofortangebote“ den Anspruch an qualitativ hochwertige Maßnahmen mit der Perspektive einer nachhaltigen Integration in Erwerbsarbeit häufig vermissen lassen. Diese Praxis darf keinesfalls ausgeweitet werden. Außerdem muss dringend die Zuweisungspraxis der Jobcenter verbessert werden. Immer noch verbreitet ist eine Handhabe, vor allem in der zweiten Jahreshälfte nicht ausgelastete Maßnahmen aufzufüllen und dabei in Kauf zu nehmen, dass Teilnehmende zugewiesen werden, für die die Maßnahme nicht geeignet ist. In jedem Fall ist sicherzustellen, dass die Leistungsberechtigten ein passgenaues Hilfeangebot erhalten.
Die BAGFW plädiert außerdem dafür, Wunsch- und Wahlrechte im SGB II zu stärken. Wenn Leistungsberechtigte sofort nach Antragstellung und ohne ein Gespräch mit ihrem persönlichen Ansprechpartner zu einer für sie angemessenen Integrationsstrategie geführt zu haben, in irgendeine kurzzeitige Maßnahme verpflichtend und gegen ihren Willen zugewiesen werden, erhöht sich lediglich der Druck auf sie, ohne dass die Eingliederungsarbeit erfolgversprechender gestaltet würde. Sie müssen daher ein Recht erhalten, ihre beruflichen Wünsche zu äußern, damit ihre persönlichen Fähigkeiten weiterentwickelt werden können und Besonderheiten Rechnung getragen werden kann (z. B. keine Schichtarbeit bei Kindererziehung). Deshalb ist es erforderlich, die Eingliederungsvereinbarung nicht nur als Werkzeug zur Festlegung von Pflichten, sondern in mindestens gleichem Maße von Rechten des Leistungsberechtigten zu verstehen. Des Weiteren sollte das Ziel betont werden, nach Antragstellung Maßnahmen zu ergreifen, die der direkten Verbesserung der Lebenssituation, der Bearbeitung von individuellen sozialen Problemen sowie der Verbesserung der Teilhabe dienen. Eine solche offenere Formulierung wäre sinnvoller als die einseitige Fokussierung auf Eingliederung, die zumal bei Personen mit mehrfachen Vermittlungshemmnissen ins Leere laufen muss.
Eingliederungsleistungen für Leistungsbeziehende des Arbeitslosengeldes I (§ 5 Abs. 4 SGB II-E)
Personen, die neben dem Arbeitslosengeld oder Teilarbeitslosengeld Arbeitslosengeld II beziehen, erhalten zukünftig Leistungen der aktiven Arbeitsmarktpolitik seitens der Arbeitsagenturen gem. SGB III.
Bewertung:
Die Neuregelung entspricht dem Versicherungsgedanken des SGB III. Von ihr wird nur ein kleiner Personenkreis von ca. 70.000 Personen betroffen sein. Sie führt im entsprechenden Umfang zur Entlastung des Eingliederungstitels.
Sicherung des Existenzminimums bei Kindern von getrennt lebenden Eltern mit geteiltem Umgangsrecht (§ 7 Abs. 3 Sätze 2 und 3 SGB II-E)
Die bisherige Praxis der temporären Bedarfsgemeinschaft wird aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung aufgegeben. Das betreffende Kind wird stattdessen einer Bedarfsgemeinschaft zugeordnet, wenn es sich überwiegend im Haushalt der umgangsberechtigten Person aufhält bzw. zu zwei Bedarfsgemeinschaften zugeordnet, wenn sich das Kind in zwei Haushalten ungefähr gleich lang aufhält.
Bewertung:
Die BAGFW unterstützt die Regelung, dass beim Elternteil, bei dem der Lebensmittelpunkt des Kindes liegt, der volle Regelbedarf verbleibt, da etwa bei Besuchen des Kindes an einzelnen Tagen beim Umgangsberechtigten sich der Bedarf für Kleidung, Ausstattung etc. des Kindes in der Haupt-Bedarfsgemeinschaft kaum mindert. Die BAGFW schlägt allerdings vor, dem umgangsberechtigten Elternteil einen Mehrbedarf zuzubilligen. Dies dürfte immer dann der Fall sein, wenn der Umgang nicht nur in einem geringen Umfang erfolgt. In dem Fall ginge es aber nicht um eine komplette Bedarfsermittlung beim Kind, sondern um eine Definition der Mindest-Mittel, die für die Bedarfsdeckung des Kindes bei der Wahrnehmung des Umgangsrechtes notwendig sind. Dabei müssen auch grundlegende Voraussetzungen für einen den Bedürfnissen des Kindes entsprechenden Aufenthalt wie etwa Möbel und Bettwäsche oder Kinderspielzeug Berücksichtigung finden. Die Feststellung eines solchen Mehrbedarfs wäre sachgerechter, weil sie berücksichtigt, dass zur Existenzsicherung von Kindern, die in zwei Haushalten leben, mehr Mittel benötigt werden.
Die BAGFW gibt zu bedenken, dass von einer Verwaltungsvereinfachung durch den vorliegenden Entwurf nicht gesprochen werden kann, da für jeden Anspruchsmonat über die Zuordnung des Kindes zu einer oder hälftig zu beiden Bedarfsgemeinschaften zu entscheiden ist. Insofern wäre eine sachgerechtere Lösung vorzuziehen, etwa, indem die Zuordnung einheitlich für den Bewilligungsabschnitt erfolgt.
Schnittstelle zwischen Grundsicherung für Arbeitsuchende und Ausbildungsförderung (§§ 7, 21 und 27 SGB II-E)
Die Schnittstellenprobleme zwischen Ausbildungsförderung und Grundsicherung für Arbeitsuchende sollen gelöst werden.
Auszubildende bzw. junge Menschen, deren Berufsausbildung oder Berufsausbildungsvorbereitung nach §§ 51, 57 und 58 SGB III förderungsfähig ist, können ALG II aufstockend zu ihrer Ausbildungsvergütung und einer ggf. zu beanspruchenden Förderung mit Berufsausbildungsbeihilfe erhalten.
Durch die weiteren Änderungen in § 7 Abs. 6 SGB II werden auch Auszubildende, die eine nach dem BAföG förderungsfähige Ausbildung absolvieren und die Ausbildungsförderung nach dem BAföG tatsächlich erhalten, weitgehend in den Kreis der Anspruchsberechtigten aufgenommen. Dabei handelt es sich um Auszubildende in schulischen Ausbildungen und Studierende, die im Haushalt der Eltern wohnen. Letztere hatten bislang Anspruch auf den Zuschuss nach § 27 Abs. 3 SGB II. Damit der Lebensunterhalt bis zur Entscheidung über den Antrag gesichert ist, sieht die Neuregelung in Abs. 6 Nr. 2 b ein Fortbestehen des Anspruchs auf Leistungen zum Lebensunterhalt vor, wenn Ausbildungsförderung beantragt wurde und die Antragstellung beim Amt für Ausbildungsförderung nachgewiesen wird.
Weiterhin ausgeschlossen von Leistungen zum Lebensunterhalt bleiben Studierende an Höheren Fachschulen, Akademien und Hochschulen, die nicht bei ihren Eltern wohnen - mit Ausnahme der Leistungen nach § 27 SGB II. Für Auszubildende, die von den ergänzenden Leistungen der Grundsicherung weiterhin ausgeschlossen bleiben, wird in § 27 die Härtefallregelung erweitert, wonach auch der Mehrbedarf nach § 21 Absatz 7 und die Bedarfe für Bildung und Teilhabe als Darlehen erbracht werden können. Die Möglichkeit, die Kosten der Unterkunft und Heizung als Zuschuss zu erhalten, entfällt für diesen Personenkreis. Weiterhin ist in diesen Fällen nur ein Darlehen für den Monat der Aufnahme der Ausbildung möglich.
Bewertung:
An der Schnittstelle zwischen SGB II und BAföG/BAB plädieren die Wohlfahrtsverbände grundsätzlich dafür, die vorgelagerten Sicherungssysteme zu stärken und bedarfsgerecht auszubauen. Um den Lebensunterhalt dieser Personengruppe ohne zeitliche Unterbrechungen darzustellen, erscheint neben einer bedarfssichernden Ausgestaltung der Ausbildungsförderungsleistungen auch eine bessere Kooperation der beteiligten Behörden untereinander unerlässlich.
Gleichwohl stellen die Neuregelungen deutliche Verbesserungen für einen weiten Personenkreis gegenüber dem Status quo dar, da sie nun Zugang zu den Leistungen des SGB II erhalten.
Allerdings stellen sie für Studierende an Hochschulen, die nicht bei den Eltern wohnen, eine Verschlechterung dar, da für sie die Möglichkeit entfällt, die Kosten für Unterkunft und Heizung als Zuschuss zu erhalten. Diese sind zukünftig nur als Darlehen und auch nur im Härtefall zu gewähren. Diese Problematik trifft v.a. diejenigen, die auf angespannten Wohnungsmärkten mit dem derzeitigen BAföG-Satz keinen bezahlbaren Wohnraum finden.
Die Wohlfahrtsverbände plädieren dafür, weiterhin bestehende Lücken zu schließen. So sind z. B. auch solche Auszubildenden von ergänzenden Leistungen des ALG II weiterhin ausgeschlossen, die keine Förderberechtigung gem. SGB III für eine Berufsausbildung oder berufsvorbereitende Bildungsmaßnahmen haben. Das trifft z. B. für eine große Gruppe von geduldeten Flüchtlingen zu.
Die Erweiterung der Härtefallregelung in § 27 Abs. 3 um den Mehrbedarf nach § 21 Absatz 7 und die Bedarfe für Bildung und Teilhabe bewertet die BAGFW als positiv, denn sie greift einen langjährigen Regelungsvorschlag der BAGFW auf.
Die BAGFW hat bereits wiederholt darauf hingewiesen, dass es wegen längerer Bearbeitungszeiten der Anträge auf Ausbildungsförderung zu Bedarfsdeckungen über den Monat der Ausbildungsaufnahme hinaus kommen kann. Die Beschränkung in Satz 2 auf den Monat der Aufnahme der Ausbildung erscheint vor diesem Hintergrund zu eng gefasst. Sachgerechter wäre es zu formulieren, dass bis zur Entscheidung eines vorrangig zuständigen Leistungsträgers Leistungen entsprechend § 24 Abs. 4 SGB II-E erbracht werden.
Auch der oftmals erfolgende Leistungsausschluss von Auszubildenden mit Behinderungen führt in der Praxis zu zahlreichen Problemen. Oftmals sind sie in Internaten untergebracht, weil die Ausbildung nicht ortsnah durchgeführt werden kann. Die Arbeitsagentur übernimmt nur die Internatskosten und das Taschengeld. Es bleiben keine Mittel für den Erhalt der bisherigen Wohnung. Das gilt selbst dann, wenn die Betroffenen neben der Internatsunterbringung in einer SGB II-Bedarfsgemeinschaft am Wochenende und in den Ferien wohnen. Diese seit langem bestehende unbefriedigende Situation führt immer wieder zu Ausbildungsabbrüchen, Verschuldung oder gar Wohnungsverlust.
Keine Berücksichtigung von Einnahmen in Geldeswert als Einkommen (§ 11 SGB II-E)
Einnahmen in Geldeswert werden nicht mehr als Einkommen berücksichtigt und ausschließlich dem Vermögen des Leistungsberechtigten zugeordnet. Ausgenommen sind jedoch geldwerte Leistungen, die im Rahmen einer Erwerbstätigkeit oder eines Freiwilligendienstes zufließen und als Einkommen angerechnet werden.
Bewertung:
Die BAGFW begrüßt es, dass Einnahmen in Geldeswert bis auf die genannten Ausnahmen nicht mehr als Einkommen berücksichtigt werden. Damit lassen sich viele Unsicherheiten in der Praxis erledigen. Wertgutscheine oder Sachbezüge sind damit grundsätzlich anrechnungsfrei.
Nachzahlungen von Arbeitsentgelt oder Sozialleistungen (§ 11 Abs. 3-E)
Nachzahlungen von Arbeitsentgelt oder Sozialleistungen werden zukünftig wie einmalige Einnahmen behandelt und auf einen Zeitraum von sechs Monaten verteilt.
Bewertung:
Die Neuregelung zur Behandlung von Nachzahlungen stellt gegenüber der Rechtsprechung des BSG in seiner Entscheidung vom 16. Mai 2012 (B 4 AS 154/11 R) eine Verschlechterung für die Betroffenen dar. Darüber hinaus ist die Neuregelung überflüssig. Für verspätet ausgezahltes Arbeitsentgelt gibt es mit dem § 115 SGB X bereits eine ausreichende Regelung. Hiernach geht der Anspruch des Arbeitnehmers gegen den Arbeitgeber auf den Leistungsträger bis zur Höhe der erbrachten Sozialleistungen über, soweit der Arbeitgeber den Anspruch des Arbeitnehmers auf Arbeitsentgelt nicht erfüllt und deshalb ein Leistungsträger Sozialleistungen erbracht hat. Gleiches gilt für die Erstattungsansprüche gem. §§ 102 ff. SGB X für andere Sozialleistungen. Die BAGFW plädiert dafür, einmalige Zuflüsse nur im Monat des Zuflusses als Einkommen anzurechnen und verbleibende Mittel danach entsprechend der Regelungen für Schonvermögen zu behandeln. Auf diesem Wege kann Schonvermögen angespart werden.
Darlehen beim vorzeitigen Verbrauch einer einmaligen Leistung
(§ 24 Abs. 4 S. 2 SGB II-E)
Bei vorzeitigem Verbrauch einmaliger Einnahmen werden die Jobcenter in die Lage versetzt, ein Darlehen zu gewähren.
Bewertung:
Die Darlehensregelung stellt nur bedingt eine Verbesserung dar. Schon bisher mussten Leistungen gewährt werden, wenn keine verfügbaren Mittel vorhanden waren. Kostenersatz musste nur in Fällen sozialwidrigen Verhaltens geleistet werden.
Wenn Leistungsberechtigte diese einmalig zugeflossenen Mittel im Anrechnungszeitraum für sinnvolle oder gar notwendige Anschaffungen verbrauchen und deshalb mangels „Liquiditätsreserven“ dann leistungsberechtigt werden, kann nach der Neuregelung nur noch ein Darlehen gewährt werden; bisher konnten Zuschussleistungen bezogen werden. Die Beschränkung möglicher Unterstützung auf die Form des Darlehens verstärkt die Belastung der Leistungsberechtigten mit Darlehensverbindlichkeiten und entsprechenden Kürzungen der Grundsicherung durch Rückzahlungsraten. Damit verfestigt sich die Verschuldung und Abhängigkeit der Leistungsberechtigten gegenüber dem Leistungsträger.
Vielmehr müsste im Gesetz klargestellt werden, dass die Leistungen nicht gekürzt werden dürfen, wenn die einmaligen Einnahmen bereits verbraucht sind. Denn das Bundessozialgericht hat festgestellt, dass einmalige Einnahmen, die im Bedarfszeit-raum nicht mehr oder nur teilweise zur Verfügung stehen, keine „bereiten Mittel“ sind, die geeignet sind, den konkreten Bedarf im jeweiligen Monat zu decken. Überdies hat das Jobcenter die Möglichkeit, bei sozialwidrigem Verhalten, also z. B. bei schuldhafter Herbeiführung der Notlage, vom Leistungsempfänger Ersatz nach § 34 SGB II zu verlangen. Schließlich besteht bei unwirtschaftlichem Verhalten die Möglichkeit einer Sanktion nach § 31 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGB II.
Deshalb spricht sich die BAGFW im Falle der Hilfebedürftigkeit nach Verbrauchen einer einmaligen Einnahme für die Möglichkeit aus, nach wie vor SGB II-Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts als Zuschuss beantragen zu können.
Neuregelung der Zuschüsse zur Kranken- und Pflegeversicherung
(§ 26 SGB II-E)
Mit der Neuregelung wird höchstrichterliche Rechtsprechung zur Absicherung in der Kranken- und Pflegeversicherung umgesetzt. Für privat krankenversicherte Leistungsberechtigte und für Sozialgeldbezieher/-innen, die aufgrund besonderer Fallgestaltungen in der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung versicherungspflichtig sind, werden Zuschüsse gezahlt. Die direkte Zahlung der Zuschüsse an die Versicherungsunternehmen wird auf Sozialgeldbeziehende ausgeweitet.
Bewertung:
Die Neuregelungen sind positiv. Es werden Regelungslücken geschlossen, die sich insbesondere bei der Absicherung von Leistungsberechtigten in der privaten Krankenversicherung ergeben hatten.
Anrechnung von Einkommen des Auszubildenden, Freibeträge
(§ 11a Abs. 3 SGB II-E)
Künftig sind grundsätzlich alle Leistungen der Ausbildungsförderung (Berufsausbildungsbeihilfe, Ausbildungsförderung nach dem BAföG, Ausbildungsgeld, ergänzend geleistete Fahrtkosten) ungeachtet der Zweckbestimmung einzelner Teile der Leistung als Einkommen zu berücksichtigen. Von den so erfassten Einnahmen sind künftig für alle Fallgestaltungen die Absetzbeträge nach § 11b Absatz 1 Satz 1 Nummer 3 bis 5 SGB II abzuziehen. Der Grundabsetzbetrag (100 Euro monatlich) gilt damit auch für diese Arten von Einnahmen.
Bewertung:
Die Regelung ist durch die weitgehende Einbeziehung Auszubildender in die grundsätzliche Berechtigung zum ergänzenden Bezug von Arbeitslosengeld II notwendig. Nach bisherigem Recht wurden die einzelnen Gruppen von Auszubildenden je nach Art ihres Einkommens während der Ausbildung und der jeweiligen Zweckbestimmung unterschiedlich behandelt. Im Interesse der Verwaltungsvereinfachung und unter Gleichbehandlungsgesichtspunkten ist die Regelung sachgerecht. Die Höhe des Grundfreibetrags von 100 Euro bedeutet jedoch in vielen Fällen eine Verschlechterung gegenüber der derzeitigen Praxis. Aktuell wird immer unabhängig von der individuell zustehenden BAföG-Förderleistung als Anteil für ausbildungsbedingte Aufwendungen/Fahrkosten ein Betrag in Höhe von 20 Prozent des für die jeweilige Art der Ausbildung maßgebenden bedarfsdeckenden Förderungssatzes nach dem BAföG – das ist der Bedarf für Schülerinnen und Schüler bzw. Studentinnen und Studenten, die nicht im Haushalt der Eltern wohnen inklusive Wohnpauschale - als zweckbestimmte Einnahme nicht als Einkommen berücksichtigt. Derzeit sind dies bei Schülern gem. § 12 Abs. 2 BAföG: 93 Euro bzw. 108 Euro; bei Studierenden gem. §13 BAföG: 114,40 Euro bzw. 119,40 Euro. Der Grundfreibetrag ist daher anzuheben. Bei Nachweis höherer Ausgaben sind diese zu berücksichtigen.
Anrechnung des Überbrückungsgeldes bei Haftentlassenen (§ 11 a SGB II-E)
Das Haftentlassenen ausgezahlte Überbrückungsgeld wird zukünftig nur noch in begrenzter Höhe berücksichtigt. Die Höhe des als Einkommen zu berücksichtigenden Überbrückungsgeldes wird entsprechend der in § 51 StVollzG vorgesehenen Zweckbestimmung künftig auf einen Betrag begrenzt, der dem Bedarf des Haftentlassenen in den 28 Tagen einschließlich des Tages der Haftentlassung entspricht. Der als Einkommen zu berücksichtigende Teil des Überbrückungsgelds ist wie eine einmalige Einnahme nach § 11 Abs. 2 SGB II zu behandeln, d. h. ggf. auf einen Zeitraum von 6 Monaten aufzuteilen. Die Neuregelung erfolgt nach der Gesetzesbegründung mit der Intention, mehr Haftentlassene in die Grundsicherung für Arbeitsuchende einzubeziehen.
Bewertung:
Die Neuregelung stellt – unabhängig von der grundsätzlichen Bewertung des Ansparens von Überbrückungsgeld – eine Verbesserung für Haftentlassene dar und wird begrüßt. Die über einen Halbjahreszeitraum erfolgende Einkommensanrechnung des Überbrückungsgeldes lässt sich hier mit der besonderen Situation von Haftentlassenen begründen. So wird der sofortige Zugang zu Leistungen der Grundsicherung, inklusive der Eingliederungsleistungen und des Krankenversicherungsschutzes, gewährleistet.
Erwerbsfähige Haftentlassene mit Überbrückungsgeld haben auf jeden Fall (bei fehlendem oder nicht ausreichendem SGB III-Anspruch) Anspruch auf SGB II-Leistungen ab dem Tag der Haftentlassung. Die Anrechnung ist auf den Bedarf des Haftentlassenen für 28 Tage beschränkt. Hieraus ergibt sich ein Vorteil für Haftentlassene mit Familie.
Allerdings: Wenn der Bedarf für die ersten 28 Tage aufgrund der Zweckbestimmung des Überbrückungsgeldes angerechnet werden soll, so sollte sich diese Anrechnung auf die Leistungsanteile zur Deckung der laufenden Bedarfe nach dem 3. Kapitel, Abschnitt 2, Unterabschnitt 2 begrenzt sein. Nach der geplanten Regelung soll die Anrechnung sich auf alle Bestandteile der Grundsicherungsleistung als auch auf die Leistungen zum Decken des Bedarfs nach den Unterabschnitten 2 bis 4 beziehen, was also auch Kautionsdarlehen, Erstausstattungen und – sofern relevant – Leistungen nach dem Bildungs- und Teilhabepaket einschlösse.
Neuregelung zur Anrechnung von Mutterschaftsgeld und dem Zuschuss zum Mutterschaftsgeld (§ 11 Abs. 7 SGB II-E)
Es wird neu geregelt, dass das Mutterschaftsgeld und der Zuschuss zum Mutterschaftsgeld nicht mehr als Einkommen berücksichtigt werden. Vielmehr wird fiktiv davon ausgegangen, dass das Einkommen aus Erwerbstätigkeit weiterhin zufließt.
Bewertung:
Die Neuregelung ist abzulehnen, da sie die Betroffenen durch die Fiktion schlechter stellt als die bisherige Berücksichtigung des Mutterschaftsgeldes als Sozialleistung im Zuflussmonat und des Zuschusses zum Mutterschaftsgeld als Einkommen. Bearbeitungsrückstände und damit verspätete Zahlungen dieser Leistung durch den Krankenversicherungsträger sind gerade in Ballungszentren mit hohem Bearbeitungsrückstand keine Seltenheit. Es besteht die Gefahr der Bedarfsunterdeckung. Die hilfsweise Überbrückung als Darlehen erscheint zu bürokratisch und unbefriedigend.
Absetzbeitrag bei Einkommen aus Erwerbstätigkeit (§ 11b Abs. 2 S. 1 SGB II-E)
Ein höherer Absetzbetrag als der pauschalierte Absetzbetrag in Höhe von 100 Euro monatlich wird bei einem Einkommen von über 400 Euro zukünftig nur noch in den Fällen gewährt, in denen das höhere Einkommen aus Erwerbstätigkeit resultiert.
Bewertung:
Eine solche Klarstellung entspricht dem Gesetzeszweck, da § 11b Abs. 2 Satz 2 SGB II-E eine Privilegierung lediglich von Erwerbseinkommen und nicht aller Einkommensarten vorsieht.
Begrenzung des Grundfreibetrags bei der Anrechnung von Einnahmen aus ehrenamtlichen und ähnlichen Tätigkeiten (§ 11b Abs. 2 S. 2 SGB II-E)
Durch die Veränderung wird der erhöhte Grundbetrag von 200 Euro nur gewährt, wenn auch die Einnahmen mindestens 200 Euro betragen.
Bewertung:
Die BAGFW ist der Ansicht, dass der Grundfreibetrag von 200 Euro maßgeblich sein sollte, sofern beim Zusammentreffen von Erwerbstätigkeit und Ehrenamt die Summe aus dem Grundfreibetrag für Einkünfte aus Erwerbstätigkeit (§ 11b Abs. 2 Satz 1 SGB II) und aus den Einkünften aus ehrenamtlicher Tätigkeit unter 200 Euro liegt. Diese Lösung entspricht der Intention des Ehrenamtsstärkungsgesetzes.
Die Ausführungen in den Fachlichen Hinweisen der Bundesagentur für Arbeit haben bisher das BSG-Urteil vom 28.10.2014 nicht aufgenommen (B 14 AS 61/13 R). Sinnvoll wäre es, das Urteil des Bundessozialgerichts in eine gesetzliche Form zu bringen. Einfacher wäre es, diese steuerlich privilegierten Einnahmen nicht als Erwerbseinnahmen zu definieren und ihnen einen eigenständigen Freibetrag zuzubilligen.
Aufnahme der Beratung bei den Grundsätzen des Förderns (§ 14 SGB II-E)
In den Grundsätzen des Förderns wird die Beratung der Leistungsberechtigten über ihre Rechte und Pflichten, die Berechnung ihrer Leistungen und die Auswahl der Eingliederungsleistungen ergänzt.
Bewertung:
Zum Beratungsverständnis verweisen wir auf die obigen Ausführungen unter
§ 1 Abs. 3 SGB II-E. Für eine nachvollziehbarere Berechnung des Arbeitslosengeldes II plädieren die Wohlfahrtsverbände zusätzlich dafür, dass es regelmäßige schriftliche Mitteilungen einschließlich einer Auflistung noch offener Aufrechnungen und Forderungen gibt. Insbesondere bei der Rechtsfolgenbelehrung sollte jedoch entsprechend § 66 Abs. 3 SGB I trotz eines mündlichen Beratungsgespräches zwingend das Schriftformerfordernis eingehalten werden.
Neugestaltung der Eingliederungsvereinbarung (§ 15 SGB II-E)
Inhalte und Ablauf einer Eingliederungsvereinbarung werden weiterentwickelt, v. a. indem eine Potentialanalyse eingeführt wird. Das Jobcenter soll dafür sorgen, dass die Leistungen anderer Sozialleistungsträger in die Eingliederungsvereinbarung einbezogen werden. In der Eingliederungsvereinbarung soll auch festgeschrieben werden, welche Leistungen die Personen erhalten, die mit dem erwerbsfähigen Leistungsberechtigten in einer Bedarfsgemeinschaft leben. Diese Personen sind hierbei zu beteiligen.
Bewertung:
Beim Abschluss einer Eingliederungsvereinbarung müssen zukünftig die Wünsche der Leistungsberechtigten stärker berücksichtigt (siehe auch oben) und der vertragliche statt hoheitliche Charakter gestärkt werden. Die Änderung birgt das Potenzial, die standardisierte Verwaltungspraxis hinsichtlich der individuellen Potenziale des Leistungsberechtigten zu verbessern. Findet diese im Einzelfall keine Anwendung, hat der Betroffene nach wie vor keine Einflussmöglichkeiten auf den Vertragsabschluss.
Die Stärkung der verzahnten Hilfeleistung im Zusammenspiel mit anderen Sozialleistungsträgern wird ausdrücklich begrüßt.
Die BAGW lehnt weiterhin die aus § 15 Abs. 2 alt nun in Abs. 4 verschobene Regelung ab, die als Kann-Vorschrift ermöglicht, die mit dem erwerbsfähigen Leistungsberechtigten in einer Bedarfsgemeinschaft zusammenlebenden Personen und ihre Leistungen in der Eingliederungsvereinbarung mit zu regeln bzw. diese zu beteiligen: Zielführender und geboten scheint eine individuelle Planung und Hilfeleistung für jeden einzelnen Leistungsberechtigten.
Wegfall der Darlehensregelung bei Fortführung einer Maßnahmenteilnahme trotz Beendigung der Hilfsbedürftigkeit (§ 16g Abs. 1 SGB II-E)
Die bestehende Darlehensregelung entfällt. Damit wird es den Teilnehmenden in Maßnahmen der Arbeitsförderung erleichtert, die Maßnahme abzuschließen, auch wenn ihre Hilfebedürftigkeit entfällt.
Bewertung:
Die Neuregelung ist positiv.
Neue Fördermöglichkeiten zur nachhaltigen Eingliederung
(§ 16g Abs. 2 SGB II-E)
In den ersten sechs Monaten einer Beschäftigungsaufnahme können nach der Neuregelung unterschiedliche Leistungen, von der Beratung und Vermittlung bis hin zu Betreuung am Arbeitsplatz, erbracht werden, um das Beschäftigungsverhältnis zu stabilisieren. Dies gilt auch dann, wenn die Hilfebedürftigkeit entfällt.
Bewertung:
Die gesetzliche Neuregelung wird ausdrücklich begrüßt, weil sie eine Förderlücke schließt. Um Arbeits- oder Ausbildungsverhältnisse zu stabilisieren und die dauerhafte Überwindung der Hilfebedürftigkeit sichern zu können, ist manchmal eine nachgehende Unterstützung bzw. Begleitung nötig. Allerdings erscheint der Zeitrahmen von bis zu 6 Monaten zu kurz. Da persönliche Probleme und Krisen am Arbeitsplatz über einen längeren Zeitraum auftreten und einen erneuten Arbeitsplatzverlust auslösen können, schlägt die BAGFW eine Verlängerung der Rahmenfrist auf bis zu 12 Monaten vor.
Insgesamt ist jedoch die Weiterentwicklung arbeitsmarktpolitischer Instrumente enttäuschend. Die BAGFW regt dringend eine gesetzliche Neuregelung der Arbeitsgelegenheiten, der Förderung von Arbeitsverhältnissen und der Freien Förderung an.
Bedarfe für Unterkunft und Heizung (§ 22 SGB II-E)
Zieht eine Person ohne vorherige Zusicherung in eine unangemessene teure Wohnung, sollen zukünftig nur noch die bisherigen Aufwendungen erstattet werden. Gleiches gilt bei einem Umzug in eine ebenfalls angemessene Wohnung.
Rückzahlungen, die sich auf nicht anerkannte Aufwendungen für Unterkunft und Heizung beziehen, mindern zukünftig nicht die Bedarfe im aktuellen Monat.
Es wird neu geregelt, dass der am Ort einer neuen Unterkunft ansässige kommunale Träger zukünftig für die Zusicherung der Angemessenheit der Unterkunftskosten zuständig ist.
Wie auch bei einer Mietkaution soll die Übernahme von Genossenschaftsanteilen durch die Gewährung eines Darlehens ermöglicht werden.
Es wird die rechtliche Grundlage für eine Beurteilung der Angemessenheit der Aufwendungen für Unterkunft und Heizung im Rahmen einer Gesamtangemessenheitsgrenze geschaffen.
Bewertung:
Die BAGFW steht der Regelung zur begrenzten Übernahme der Unterkunftskosten kritisch gegenüber. Maßgeblich für die Übernahme der Unterkunftskosten muss allein die Angemessenheitsgrenze sein.
Das Zusicherungserfordernis stellt generell eine zusätzliche Hürde für Leistungsberechtigte dar, sich in einem ohnehin kleinen Marktsegment frei bewegen zu können. Das Genehmigungserfordernis sollte entfallen, wenn die Aufwendungen für die Wohnung, in die der bzw. die Leistungsberechtigte umziehen möchte, ebenfalls angemessen sind. Die derzeitige Regelung schränkt faktisch das Recht auf Freizügigkeit ein, das auch Menschen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende zuteil werden muss. Die bestehende Regelung hat zur Folge, dass ein Hilfebedürftiger gezwungen ist, eine von ihm zuvor – möglicherweise aus Not vorübergehend gewählte – nicht vollwertige Unterkunft weiter bewohnen muss.
Der Vorschlag zur örtlichen Zuständigkeit wird von der BAGFW begrüßt. Es ist sinnvoll, die Zusicherung vollständig dem künftigen Leistungsträger zu überlassen.
Die geplante Neuregelung, Genossenschaftsanteile wie Mietkautionen zu behandeln, kann grundsätzlich nachvollzogen werden. Jedoch plädieren die Wohlfahrtsverbände dafür, die Rückzahlung der darlehensweise übernommenen Kautionen und Genossenschaftsanteile statt über die regelmäßigen Abzüge von der Regelsatzleistung über eine Abtretung der Rückzahlungsforderung für den Fall des Auszugs zu regeln. Die geltende Praxis, Kautionsdarlehen laufend in monatlichen Beträgen vom Regelsatz abzuziehen, führt laufend zu einer Unterschreitung des Existenzminimums und wird durch die Rechtsprechung zunehmend in Frage gestellt. Diese Regelung ist auch deswegen nicht sachgerecht. Hintergrund hierfür ist die durch das Regelbedarfsermittlungsgesetz in § 42a Abs. 3 Satz 1 SGB II eingeführte Rückzahlungsregelung für Kautionen. Nach dieser erfolgt eine monatliche Aufrechnung in Höhe von 10 Prozent des maßgeblichen Regelbedarfs. Eine Rückzahlung des Darlehens erst bei Auszug, in dem der Vermieter unmittelbar an den Grundsicherungsträger auszahlt, ist indes nicht vorgesehen. Verschiedene Landessozialgerichte haben deshalb bereits entschieden, dass diese Regelung nicht rechtmäßig ist. Eine höchstrichterliche Entscheidung steht noch aus. Jedoch hat das BSG in seiner Kostenentscheidung vom 29.06.2015 (B 4 AS 11/14 R) Zweifel an der Zulässigkeit einer Aufrechnung von Mietkautionsdarlehen im SGB II-Bezug bekundet. Insofern sollte sie nicht auch auf Genossenschaftsanteile angewandt werden. Erschwerend kommt hinzu, dass es sich bei Genossenschaftsanteilen oft um hohe Beträge handelt.
Die BAGFW sieht die Neuregelung zur Gesamtangemessenheitsgrenze für Unterkunft und Heizung kritisch. Es gibt nach wie vor ein ungelöstes Problem der Bestimmung des angemessenen Bedarfs für Heizung. Es zeigt sich kein Weg zur Datenerhebung, -auswertung und -überprüfung, um einen solchen als abstrakt angemessen anzusehenden Heizkostenpreis pro Quadratmeter, der die Verhältnisse im einfachen Marktsegment widerspiegelt, realitätsnah abzubilden. Die Erfahrung mit der Ermittlung der Angemessenheit der Kaltmietgrenzen zeigt, wie stark diese der Marktentwicklung hinterherhinken und oft viel zu spät angepasst werden. Aufgrund der wachsenden Flüchtlingszahlen wird sich in einigen Regionen der Wohnungsmarkt sprunghaft und unabsehbar verändern. Ziel einer Neuregelung muss es sein, dass die betroffenen Leistungsbezieher nicht gezwungen werden, ihre Kosten für Unterkunft und Heizung aus dem Regelbedarf zu finanzieren oder umzuziehen. Die Bildung von Mietobergrenzen ist ein großes und noch ungelöstes Problem.
Die BAGFW bittet darum, zumindest eine Regelung aufzunehmen, nach der im Einzelfall höhere Bedarfe anerkannt werden können.
Verschärfung der Ersatzansprüche (§ 34 SGB II-E)
Die Fallkonstellationen, in denen das Jobcenter einen Ersatzanspruch gegenüber den Leistungsberechtigten geltend machen kann, wird ausgeweitet auf Konstellationen, in denen die Hilfebedürftigkeit erhöht, aufrechterhalten oder nicht verringert wird.
Bewertung:
Es stellt sich somit die Frage, ob mit der angedachten Klarstellung durch die Wörter „Erhöhung“, „Aufrechterhalten“ und „nicht erfolgte Verringerung“ nicht neue unbestimmte Rechtsbegriffe und damit zusätzliche Unschärfen geschaffen werden. Im Einzelfall kann es bei dem Nachweis, ob z. B. die Erhöhung der Hilfebedürftigkeit kausal verursacht wurde, zu Schwierigkeiten kommen. So kommt es z. B. bei mit Mietrückständen aufgerechneten Guthaben aus der Jahresabrechnung entscheidend darauf an, wer das Guthaben aufgerechnet hat, da es sich um eine weit verbreitete Praxis von Vermietern handelt, auf die die Leistungsberechtigten oftmals keinen Einfluss haben. Zielführender wäre es, es bei dem allgemeineren Begriff „herbeiführen“ zu belassen und stattdessen sicherzustellen, dass die Jobcenter den Sachverhalt genau prüfen, bevor sie den Regressanspruch geltend machen.
Einführung eines Herausgabeanspruchs bei Doppelleistungen (§ 34b SGB II-E)
Wurden Leistungen anderer Sozialleistungsträger bezogen, die vorrangig gelten, ohne dass das Jobcenter in Kenntnis war, müssen die Leistungsberechtigten diese Beträge an das Jobcenter weiterleiten.
Bewertung:
Gerade im Sinne einer Rechtsvereinfachung erscheint es sinnvoller und zielführender, eine entsprechende Klärung und Verrechnung zwischen den Leistungsträgern herbeizuführen. Insbesondere gilt dies für Leistungen des SGB II-Leistungsträgers, die dieser trotz vorrangiger Leistungsverpflichtungen anderer Leistungsträger erbracht hat und für die der Leistungsträger einen Erstattungsanspruch gegen den anderen Leistungsträger hat. Anders als die Leistungsberechtigten treffen die Sozialleistungsträger Auskunfts- und Beratungspflichten und sie sollten auf eine unverzügliche, klare und vollständige Antragstellung beim zuständigen Leistungsträger hinwirken. Für die Leistungsempfänger ist es ungleich schwieriger als für die Leistungsträger, Zahlungen, die aufgrund eines zuvor gestellten Antrages bei ihnen eingehen, als korrekt oder fehlerhaft zuzuordnen.
Sofern die Leistungsberechtigten den Bezug von weiteren Sozialleistungen nicht angeben, erscheint die Einführung eines Erstattungsanspruchs sinnvoll, wenn die doppelte Leistung weder über eine Einkommensanrechnung noch über die im SGB II bereits existierenden Erstattungsansprüche herausverlangt werden kann. Sicherzustellen bleibt, dass nicht Sachverhalte von der Regelung mit erfasst werden, in denen die Jobcenter rechtzeitig Kenntnis von dem Erhalt dieser Leistungen hatten, aber selber nicht rechtzeitig einen Erstattungsanspruch geltend gemacht haben. Der Umfang der Erstattung muss im Gleichklang zum geltenden § 105 Abs. 2 SGB XII stehen, der ebenfalls einen Kostenersatz bei Doppelleistungen vorsieht.
Erbenhaftung (§ 35 SGB II-E)
Die bestehende Regelung wird aufgehoben.
Bewertung:
Die Streichung ist sachgerecht und dient der Verwaltungsvereinfachung.
Korrektur der Verwaltungspraxis (§ 40 SGB II-E)
Werden Verwaltungsakte durch höchstrichterliche Rechtsprechung für nichtig erklärt, soll es im Bereich eines Jobcenters keine rückwirkende Korrektur dieses Fehlers durch Anspruch auf Erstattung von zuvor zu niedrig angesetzten Leistungen für die Zeit vor dieser Entscheidung geben, wenn z. B. dieses Jobcenter für die Vergangenheit eine einheitliche Verwaltungspraxis nachweisen kann.
Bewertung:
Die BAGFW lehnt die Neuregelung ab. Die bestehende und hier zugrundeliegende BSG-Rechtsprechung wird umgangen. Dass ein Verwaltungsakt künftig nur noch für die Zukunft (nach der Entscheidung des BVerfG oder dem Bestehen der ständigen Rechtsprechung) zurückzunehmen ist, wenn allein der jeweilige Leistungsträger eine einheitliche Verwaltungspraxis für die Vergangenheit nachweisen kann, bedeutet eine deutliche Verschlechterung der Rechtsstellung der Leistungsberechtigten im SGB II gegenüber anderen Transferleistungsbeziehenden.
Diese Regelung steht auch der rechtsstaatlichen Bindung der Verwaltung an Gesetz und Recht entgegen. Das Bundesverfassungsgericht differenziert in seiner Rechtsprechung durchaus in der Frage, wie sich die Verfassungswidrigkeit einer Norm auf deren Bestand auswirkt. Wird eine Norm für nichtig erklärt, muss sich das auch in der Rechtsanwendung der Behörde niederschlagen.
Das Sozialrecht hält wie auch das Verwaltungsrecht ein ausdifferenziertes Regelwerk für die Fehlerkorrektur bereit, das das Postulat des rechtmäßigen Verwaltungshandelns insbesondere mit dem ebenfalls rechtsstaatlich gebotenen Vertrauensschutz in einen einmal geschaffenen Status quo zum Ausgleich bringt. Ein weiteres hohes Rechtsgut im Zusammenhang mit dem Rechtsstaatsgrundsatz ist die Garantie effektiven Rechtsschutzes, die gerade die erfolgreiche Anfechtung hoheitlichen Handelns mit der Erwartung einer entsprechenden Fehlerkorrektur verbindet. Es ist nicht nachvollziehbar, dass rechtsstaatliche Garantien, die für die Akzeptanz belastender hoheitlicher Akte wesentlich sind, den Belangen der Verwaltungsvereinfachung untergeordnet werden sollen. Wenn rechtswidrige Formen der Leistungsgewährung bei gerichtlicher Klärung nicht ausgeglichen werden, hat die Rechtsprechung keine korrigierende Funktion für die rechtswidrige Praxis; in diesem Fall bleibt es für die Vergangenheit bei der Rüge und der Feststellung unrechtmäßigen Verwaltungshandelns. Eine rückwirkende Wiederherstellung des rechtmäßigen Zustands unterbleibt hingegen – ungeachtet der Folgen, die eine Unterdeckung des Existenzminiums für die betroffenen Leistungsberechtigten gehabt haben mag.
Verlängerung des Bewilligungszeitraums auf i. d. R. 12 Monate (§ 41 SGB II-E)
Mit Absatz 3 wird geregelt, dass über den Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts künftig in der Regel für ein Jahr zu entscheiden ist. Der Bewilligungszeitraum soll insbesondere in Fällen regelmäßig auf sechs Monate verkürzt werden, in denen über den Leistungsanspruch vorläufig entschieden wurde (§ 41a) oder die Aufwendung für die Unterkunft und Heizung unangemessen sind.
Bewertung:
Die Verlängerung des Bewilligungszeitraums auf zwölf Monate wird begrüßt. In Fällen gleichbleibender Voraussetzungen für den Leistungsbezug stellt die Änderung eine Reduktion eines unnötigen Verwaltungsaufwandes dar, der für Träger der Grundsicherung wie für Leistungsberechtigte selbst negativ wirkt.
Sinnvoll ist es, den Bewilligungszeitraum i. d. R. bei sechs Monaten zu belassen, wenn über den Leistungsanspruch vorläufig entschieden wurde.
In der Praxis kann es vorkommen, dass Jobcenter bei ihren Berechnungen das Maximaleinkommen pro Monat als Regelfall zugrunde legen. Dadurch können große Unterdeckungen entstehen. Aber auch die Rückforderung von Überzahlungen können die Betroffenen belasten. Daher ist eine ergänzende Regelung sinnvoll, nach der die Betroffenen in dem Monat, in dem sie eine Unter- oder Überdeckung haben, eine Nachberechnung und Anpassung der Auszahlung beantragen können. Die BAGFW regt an, bei monatlich schwankenden Einkommen grundsätzlich von der Möglichkeit der vorläufigen Leistungsbewilligung unter Anrechnung des monatlichen Durchschnittseinkommens (§ 2 Alg II-VO) Gebrauch zu machen.
Vorläufige Entscheidung (§ 41a SGB II-E)
Durch die Änderung soll ein eigener Tatbestand zur vorläufigen Entscheidung für den Bereich der Grundsicherung für Arbeitsuchende eingeführt werden. Vorschuss und vorläufige Entscheidungen werden spezialgesetzlich in einer Vorschrift zusammengefasst. In Absatz 1 wird erläutert, in welchen Sachverhalten eine vorläufige Entscheidung zu erfolgen hat. Absatz 2 stellt klar, dass auch bei der vorläufigen Entscheidung die Bedarfsdeckung sicherzustellen ist, Absatzbeträge jedoch unberücksichtigt gelassen werden können und dass im Bewilligungszeitraum Anpassungen der vorläufigen Entscheidung mit Wirkung für die Zukunft zwingend vorzunehmen sind. Absatz 3 regelt das Verfahren zur abschließenden Entscheidung nach Ende des Bewilligungszeitraums. Aus Absatz 4 ergeben sich die Fiktion der abschließenden Entscheidung und deren Ausnahmen. Absatz 5 stellt die Saldierung der Monatsergebnisse nach abschließender Entscheidung dar und regelt den Erstattungsanspruch, soweit nach Saldierung noch rechtswidrig erbrachte Leistungen verbleiben.
Bewertung:
Die BAGFW begrüßt, dass der Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende über Geldleistungen gem. Absatz 1 vorläufig zu entscheiden hat, wenn die leistungserheblichen Umstände im Entscheidungszeitpunkt noch nicht abschließend geklärt werden konnten.
Absatz 2 erscheint grundsätzlich sinnvoll. Er trägt der Notwendigkeit, eine Prognoseentscheidung treffen zu müssen, angemessen Rechnung. Reichen ALG II-Empfänger ihre Gehalts-/Lohnabrechnungen oder Einkommensbescheinigungen freiwillig sofort nach Erhalt ein, ist sicherzustellen, dass leistungserhebliche Änderungen während einer vorläufigen Leistungsgewährung berücksichtigt werden. So können Schulden beim Jobcenter oder eine Unterdeckung des Existenzminimums vermieden werden.
Die hier erforderliche Prognoseentscheidung birgt unvermeidlich das Risiko von Fehlschlüssen, die im Interesse eines rechtmäßigen Verwaltungshandelns der Korrektur bedürfen. Dass für die Korrektur diese Prognoseentscheidungen nur für die Zukunft, nicht aber auch in die Vergangenheit wirksam und die Verweisung
§ 45 Abs. 1 SGB X entsprechend eingeschränkt wird, erscheint deshalb sinnvoll.
Absatz 3 regelt, wann und nach welchen Regelungen die abschließende Entscheidung zustande kommt. Sofern nicht der Antragsteller eine solche Regelung erbittet, ist sie nur dann erforderlich, wenn ein Korrekturbedarf offenbar wird. Auch in diesem Fall gelten nicht nur wegen § 40 Abs. 1 Satz 1 der in § 20 SGB I verankerte Untersuchungsgrundsatz, sondern auch die in §§ 60, 61, 65 und 65a verankerten Mitwirkungspflichten. Die Folgen fehlender Mitwirkung für die Leistungsberechtigten erscheinen angemessen und entsprechen der in § 66 SGB I vorgesehenen Regelung, die sich wegen der besonderen Konstellation im Rahmen der vorläufigen Leistungsbewilligung nicht ohne Weiteres übertragen lässt.
Nicht nachvollziehbar erscheint die Notwendigkeit eines Feststellungsbescheides, dass kein Leistungsanspruch bestanden hat. An sich dürfte hier der Erlass eines Rücknahmebescheides ausreichen, der die fehlerhafte Wertung im vorläufigen Verwaltungsakt kassiert und für die Zukunft die beantragte Leistung verweigert.
Vorzeitige Auszahlung und Unpfändbarkeit der Leistungen (§ 42 SGB II-E)
In § 42 Abs.1 wird geregelt, dass Arbeitslosengeld II und Sozialgeld in aller Regel monatlich erbracht werden. In Abs. 2 wird die Möglichkeit eingeführt, eine teilweise vorzeitige Auszahlung des kommenden Leistungsanspruches in Höhe von bis zu 100 Euro zu erhalten. Der zusätzliche Leistungsbetrag wird sofort mit der nächsten Monatszahlung verrechnet. Die vorzeitige Auszahlung erfolgt nur auf Antrag der leistungsberechtigten Person, die damit wählen kann, ob die vorzeitige Auszahlung oder ein Darlehen für einen unabweisbaren Bedarf nach § 24 Absatz 1 SGB II-E beantragt wird. Bei laufenden Aufrechnungen oder Minderungen des Leistungsanspruches im Folgemonat durch Sanktionen ist die vorzeitige Auszahlung ausgeschlossen, weil in diesem Fall der Lebensunterhalt im Folgemonat nicht gesichert wäre. Erforderlichenfalls kann in diesen Fällen ein Darlehen nach § 24 Absatz 1 SGB II-E erbracht werden.
Mit dem neuen Abs. 4 wird geregelt, dass der Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nicht abgetreten, übertragen, verpfändet oder gepfändet werden kann.
Bewertung:
Die BAGFW begrüßt es, dass sich Leistungsberechtigte zukünftig auf Antrag einen Betrag von bis zu 100 Euro vorzeitig auszahlen lassen können. So können verwaltungsaufwändige Darlehen vermeiden werden. Sinnvoll ist das bestehende Wahlrecht zwischen vorzeitiger Auszahlung und Darlehensbeantragung.
Mit der Änderung in Abs. 4 wird die Regelung zur Unpfändbarkeit des Anspruchs auf Sozialhilfe (§ 17 Abs. 1 SGB XII) entsprechend auf das SGB II übertragen. Wie die Sozialhilfe dienen die Lebensunterhaltsleistungen nach dem SGB II - insbesondere Arbeitslosengeld II und Sozialgeld - der Sicherung des Existenzminimums und sollen daher bei den leistungsberechtigten Personen verbleiben. Für die Träger der Grundsicherung entfällt der Aufwand zur Ermittlung der pfändbaren Beträge nach den §§ 850 c ff ZPO. Dieser entsteht, auch wenn sich in aller Regel keine pfändbaren Beträge errechnen. Daher ist es sachgerecht, die Leistungen von vornherein als unpfändbar auszugestalten. Zusätzlich wird entsprechend der Regelung in § 17 Abs. 1 SGB XII der Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II als nicht übertragbar oder pfändbar ausgestaltet.
Unklar bleibt, wie in diesem Zusammenhang mit der de facto Unterhaltsverpflichtung von Stiefvätern/-müttern umgegangen werden soll, die nach dem BGB nicht zum Unterhalt verpflichtet sind. Es kann in solchen Fällen dazu kommen, dass zwar die ausbezahlte SGB II-Leistung zukünftig vor Pfändung schützt, nicht aber das Gehalt des Stiefvaters bzw. der Stiefmutter, das in die Bedarfsgemeinschaft eingebracht wird und zu einem ergänzenden Leistungsbezug der Bedarfsgemeinschaft führt. Denn in diesen Fällen gibt es mangels einklagbaren Unterhaltsanspruchs keinen Pfändungsschutz, sondern nur die Unterhaltsvermutung des Jobcenters, die zum Konstrukt der Bedarfsgemeinschaft führt. Hier gibt es einen Widerspruch zwischen zwei Rechtskreisen. Gleiches trifft auf Eltern nicht unterhaltsberechtigter Kinder zwischen 18 und 25 Jahren zu. Es bleibt offen, wie hier die Regelung des § 9 Abs. 2 Satz 3 (Bedürftigkeit) im Verhältnis zu den Regelungen des BGB und der ZPO angewandt werden soll.
Aufrechnung, Zusammentreffen mehrerer Aufrechnungen (§ 43 SGB II-E)
In Abs. 1 wird klargestellt, dass die Forderungen der Jobcenter aus Ersatz- und Erstattungsansprüchen gegen die Ansprüche von leistungsberechtigten Personen auf Geldleistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes aufgerechnet werden können.
Abs. 2 regelt, dass künftig die laufenden, älteren Aufrechnungen immer fortzuführen sind, wenn eine neue Aufrechnungserklärung dazukommt. Eine neue Forderung kann jedoch zusätzlich aufgerechnet werden, wenn die Höhe aller Aufrechnungen einen Betrag von 30 Prozent nicht übersteigt. Kommt zu einer laufenden Aufrechnung von 10 Prozent eine Forderung, die mit 30 Prozent aufgerechnet werden könnte hinzu, so kann diese wegen der Höchstgrenze nur mit 20 Prozent aufgerechnet werden.
Das Verhältnis von Aufrechnungen der Jobcenter mit Erstattungsansprüchen nach Absatz 1 zu Aufrechnungen von Darlehen nach § 42a Absatz 2 wird künftig auch in Absatz 2 geregelt. Es gilt - wie bisher - die Obergrenze von 30 Prozent. Auch durch eine zu einer laufenden Aufrechnung hinzukommenden Aufrechnung von Darlehen soll sich die laufende Aufrechnung nicht erledigen; vielmehr ist auch hier die laufende Aufrechnung fortzuführen. Da aber Darlehen nach § 42a Absatz 2 zwingend aufzurechnen sind, kann die Aufrechnung des Darlehens wegen der Höchstgrenze von 30 Prozent zu Änderungen in der Aufrechnungshöhe bei der laufenden Aufrechnung führen. Wird eine bestehende Forderung wegen Erstattungsansprüchen mit 30 Prozent aufgerechnet, so ist diese Aufrechnung entsprechend zu senken, wenn eine Aufrechnung von Darlehen hinzutritt. Eine Kumulation mehrerer Aufrechnungen ist stets nur bis zur Höchstgrenze von 30 Prozent zulässig.
Abs. 3 regelt das Zusammentreffen einer Minderung aufgrund von Pflichtverletzungen nach den §§ 31 bis 32 mit einer Aufrechnung. Danach soll eine Aufrechnung ausgeschlossen werden, sofern Aufrechnung und Minderung einen Betrag von 30 Prozent des maßgebenden Regelbedarfs übersteigen.
Bewertung:
Nach Ansicht der BAGFW ist es sinnvoll, die Forderungen grundsätzlich zeitlich chronologisch nach ihrem Entstehen, beginnend mit der ältesten Forderung zu erledigen.
Die Aussetzung der Aufrechnung bei Sanktionen bei einer Minderung des Regelbedarfs um mehr als 30 Prozent stellt aus Sicht der BAGFW eine deutliche Verbesserung für die Leistungsbeziehenden dar, denn das Kumulieren von Sanktionstat-beständen und die Minderung des Regelbedarfs um Aufrechnungen oder Darlehensraten greifen andernfalls zu stark in das Existenzminimum ein.
Automatisierter Datenabgleich (§ 52 SGB II-E)
Nichtleistungsberechtigte Mitangehörige der Bedarfsgemeinschaft werden in den automatisierten Datenabgleich zwecks Eindämmens des Leistungsmissbrauchs einbezogen. Die Voraussetzungen für eine Erhöhung der Frequenz der Datenabgleiche werden geschaffen.
Bewertung:
Selbst wenn in den Datenabgleich laut Referentenentwurf bereits nach bisherigem Recht durch Auslegung nichtleistungsbeziehende Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft einbezogen wurden, ist der nunmehr vorgesehenen gesetzlichen Ergänzung mit Vorsicht gegenüber zu treten, da sie den Generalverdacht eines Leistungsmissbrauchs nahelegt. Vor dem Hintergrund der beabsichtigten Verwaltungsvereinfachung ist die mögliche Erhöhung der Frequenz des Datenabgleichs besonders fraglich. Die bisherige vierteljährliche Kontrolle scheint ausreichend, um relevante Leistungsmissbräuche festzustellen.
Anzeige- und Bescheinigungspflicht bei Arbeitsunfähigkeit (§ 56 SGB II-E)
Mit der Änderung in § 56 SGB II-E wird die Anzeige- und Bescheinigungspflicht bei Arbeitsunfähigkeit flexibilisiert. Diese Pflicht gilt künftig nicht mehr kraft Gesetzes, sondern muss in der Eingliederungsvereinbarung individuell geregelt sein. Wer keinen Integrationsbemühungen in den Arbeitsmarkt unterliegt, z. B. Erwerbsaufstockende, Maßnahmenteilnehmende, Schülerinnen und Schüler, muss bei Krankheit damit keine Arbeitsunfähigkeit mehr anzeigen.
Bewertung:
Die Einschränkung der Anzeige- und Nachweispflicht bestimmter Personengruppen bei eingetretener Arbeitsunfähigkeit wird von der BAGFW ausdrücklich begrüßt, denn es handelt sich um eine sinnvolle Vereinfachung nicht nur im Sinne der Betroffenen, sondern auch im Sinne einer Entlastung der Ärzteschaft. Dennoch wäre es im Sinne der Klarheit und Verständlichkeit wünschenswert, in der Norm deutlicher zu benennen, dass z. B. Schüler allgemeinbildender Schulen nach Vollendung des 15. Lebensjahres hiervon betroffen sind. Dies ergibt sich aktuell nur aus dem Zusammenspiel von Gesetzestext und Gesetzesbegründung.
Bagatellgrenze bei Einkommen; Einführung eines Freibetrags für geringfügige Kapitalerträge (§ 11a SGB II-E, § 1 Alg II V-E)
Die geltende Bagatellgrenze von 10 Euro monatlich (§ 1 Absatz 1 Nummer 1 Alg II-V) erfasst nicht Kapitalerträge, die nur einmal jährlich anfallen und wenn auch nur geringfügig - darüber liegen. Da es sich um eine Bagatellgrenze handelt, sind Kapitalerträge, die höher als 10 Euro sind, in voller Höhe als Einkommen zu berücksichtigen. Betroffen sind insbesondere Sparbücher von Kindern mit geringen Zinseinnahmen. Mit einem jährlichen Freibetrag von 100 Euro für Kapitalerträge sollen diese Kapitalerträge weitestgehend anrechnungsfrei werden.
Bewertung:
Der Vorschlag einer Ausweitung der Bagatellgrenze bei Einkommen und Einführung eines Freibetrages für geringfügige Kapitalerträge wird begrüßt. Jedoch ist die Festsetzung des jährlichen Freibetrags von 100 Euro nicht nachvollziehbar. Um eine Ungleichbehandlung gegenüber Personen, die monatlich bis zu 10 Euro an anrechnungsfreiem Einkommen erhalten zu vermeiden, wäre ein Freibetrag von 120 Euro konsequent. Die BAGFW regt daher an, die Bagatellgrenze auf 120 Euro anzuheben.
Pauschbeträge für vom Einkommen abzusetzende Beträge (§ 11b SGB II-E,
§ 6 Alg II V-E)
Zur Vereinfachung soll der "Riester-Renten"-Abzug pauschaliert werden: 3 Prozent des monatlichen Bruttoeinkommens, mindestens aber 5 Euro. Dieser Betrag mindert sich um 0,5 Prozent für jedes zulagenberechtigte Kind, höchstens um 2 Prozentpunkte.
Der bisherige Pauschbetrag in Höhe von 15,33 Euro für allgemeine Werbungskosten wird gestrichen, um eine nicht näher benannte Gegenfinanzierung von Ausgaben an anderer Stelle zu erzielen.
Bewertung:
Der Wunsch nach einer Pauschalierung der in Absatz zu bringenden Aufwendungen für eine „Riester-Rente“ erscheint unter dem Gesichtspunkt der Verfahrensvereinfachung für die Jobcenter nachvollziehbar. Dennoch darf in diesem Zusammenhang nicht außer Betracht bleiben, dass in den unteren Einkommensbereichen nur sehr wenige Personen überhaupt privat für ihr Alter vorsorgen können. Insoweit steht der Vorschlag, den „Riester-Renten“-Abzug zu pauschalieren, im Widerspruch zur politischen Forderung, mehr Menschen dazu zu bewegen, privat zusätzlich Altersvorsorge zu betreiben. Leistungsberechtigte sollten nach Ansicht der BAGFW deshalb eine andere Absetzung beantragen können, wenn sie mit der Pauschale ihren Riester-Mindestbeitrag nicht decken können.
Problematisch ist aus Sicht der BAGFW auch, die Pauschale an die Höhe des aktuellen monatlichen Bruttoeinkommens anzuknüpfen. Denn § 86 Abs. 1 Satz 2 EStG sieht als Mindesteigenbetrag 4 Prozent der Einnahmen des vorangegangenen Kalenderjahres vor. Dies berücksichtigt nicht die zum Teil erheblichen Einkommenseinbußen infolge einer länger anhaltenden Arbeitssuche. Hier kann insbesondere nach dem Übergang von Arbeitslosengeld zu Arbeitslosengeld II der Vergleich mit dem Einkommen des vorvergangenen Jahres erhebliche Differenzen ergeben, die der vorgeschlagene pauschale Absetzbetrag in einer Vielzahl der Fälle nicht abdeckt und den die Leistungsberechtigten dann aus ihrem Regelbedarf finanzieren müssten. In den Fällen, in denen der Absetzbetrag nicht ausreicht, müsste dann der Riester-Vertrag ruhend gestellt werden. Kritisch wird auch die Möglichkeit der Minderung des Pauschalbetrages gesehen. Es ist nicht nachvollziehbar, warum sich der Pauschalbetrag für jedes zulagenberechtigte Kind um weitere 0,5 Prozentpunkte mindern soll.
Insgesamt kann damit ein zu niedrig angesetzter Pauschalbetrag für Beiträge zur geförderten Altersvorsorge Menschen davon abhalten, für ihr Alter vorzusorgen bzw. diese dazu zwingen, ihre Verträge ruhend zu stellen, was die Gefahr künftiger Altersarmut weiter erhöht.
Die Streichung des Pauschbetrags für Werbekosten aus Einspargründen lehnt die BAGFW ab.
Weitergehende Vorschläge:
Die BAGFW regt dringend an, insbesondere folgende Anliegen einer Verwaltungsvereinfachung zügig umzusetzen, die zudem geeignet sind, die Servicequalität der Jobcenter zu verbessern:
Die Methode der horizontalen Einkommensanrechnung hat sich in der Praxis der Jobcenter als extrem verwaltungsaufwändig, im Ergebnis aber wenig nutzbringend erwiesen. Sie ist zudem für die Leistungsberechtigten oft undurchschaubar und die Höhe des im Leistungsbescheid berechneten Anspruchs in der Regel nicht verständlich. Analog zum SGB XII sollte auf die vertikale Einkommensanrechnung umgestellt werden. Damit würde Einkommen bis zur Bedarfsdeckung bei der Person angerechnet werden, die das Einkommen erzielt hat. Allein der den individuellen Bedarf übersteigende Teil des Einkommens würde im Verhältnis zum jeweiligen individuellen Bedarf auf die weiteren Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft verteilt.
Zur Verwaltungsvereinfachung und einfacheren Gewährleistung von Bildungs- und Teilhabeleistungen (BuT) wäre es sehr sinnvoll, dass diese gleichzeitig mit der Beantragung von ALG II bundeseinheitlich durch einen sogenannten Globalantrag dem Grunde nach beantragt werden. Bisher werden nur die Leistungen für den Schulbedarf ohne gesonderten Antrag gewährt. Von der Möglichkeit, Globalanträge oder ähnliche Ansätze zu verfolgen, machen manche Kommunen Gebrauch, andere nicht. Die Einführung eines Globalantrags trägt nach Erfahrung aus Kommunen, die entsprechende Regelungen bereits getroffen haben, deutlich dazu bei, den ungleichen Nutzungsgrad bei den einzelnen BuT-Leistungen abzubauen und Bildung und Teilhabe aller Kinder sicherzustellen.
Zudem regt die BAGFW dringend an, die Übernahme der Fahrtkosten, die im Zusammenhang mit der Inanspruchnahme von Teilhabeleistungen entstehen, gesetzlich klarzustellen.
Eingeführt werden sollte auch die von der Bund-Länder-AG Rechtsvereinfachung vorgeschlagene Bagatellgrenze bezüglich der Erstattung von durch das Jobcenter erfolgten Überzahlungen. Der Erlass eines Aufhebungs- und Erstattungsbescheids ist für die Sachbearbeiter bei den Jobcentern sehr verwaltungsaufwändig. Wenn hiergegen Widerspruch und dann Klage erhoben wird, stehen die damit verursachten Kosten bei Kleinstbeträgen in keinem sinnvollen Verhältnis zum Ertrag.
]]>Allerdings besteht in der Sozialen Arbeit wie auch in den benachbarten wissenschaftlichen Disziplinen Einigkeit, dass sich das Thema Wirkungsmessung aktuell noch in einem Entwicklungsprozess befindet, der teilweise noch am Anfang steht. Insofern verstehen die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege das vorliegende Positionspapier als einen Beitrag zur Weiterentwicklung der Wirkungsorientierung und ?messung sowie zugleich als einen Appell an eine fachlich solide Auseinandersetzung mit dem Thema und seinen Potentialen. Das Verständnis der Spitzenverbände zum Thema Wirkungsorientierung und ?messung lässt sich in vier Punkten zusammenfassen:
1. Die Wirkungsorientierung stellt ein Kernelement im Selbstverständnis der Freien Wohlfahrtspflege dar.
2. Die Wirkungsorientierung in der Freien Wohlfahrtspflege zeichnet sich durch eine betont sozialorientierte Zielsetzung sowie eine Multi-Stakeholder-Perspektive aus.
3. Die Messung von Wirkungen bedarf einer intensiven Kenntnis der Arbeitsfelder der Sozialen Arbeit, fachlich fundierter sowie valider Indikatoren, Instrumente und Verfahren.
4. Die nachhaltige Entwicklung und Umsetzung fachspezifischer Erhebungsinstrumente und -verfahren erfordert eine Kooperation von Freier Wohlfahrtspflege, Fachwissenschaft sowie Interessenverbänden und Kostenträgern.
Wirkungsorientierung in der Freien Wohlfahrtspflege
Das Thema Qualität der Angebote und Leistungen und ihrer Weiterentwicklung ist seit vielen Jahren auf Basis verbandsspezifischer Qualitätsmanagementsysteme in der Freien Wohlfahrtspflege fest verankert.[1] Insofern reiht sich die aktuelle Diskussion um die Wirkungsorientierung, d.h. Ergebnisqualität der Sozialen Arbeit, und ihrer Messung in einen kontinuierlichen Entwicklungsprozess der Freien Wohlfahrtspflege ein. Dieser wird seit vielen Jahren von den Spitzenverbänden – sozialpolitisch wie auch praktisch in verschiedenen Modellprojekten und im eigenen Qualitätsmanagement – aktiv gestaltet.
1. Die Wirkungsorientierung stellt ein Kernelement im Selbstverständnis der Arbeit der Freien Wohlfahrtspflege dar.
Für die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege ist das Streben nach der bestmöglichen Wirksamkeit ihrer Arbeit ein grundlegendes Element der Sozialen Arbeit. Ziel der Freien Wohlfahrtspflege ist es, eine gewünschte Wirkung bei den Nutzer/innen, ihrem sozialen Umfeld sowie in der Gesellschaft im Sinne der Verbesserung von Lebenslagen und sozialer Mitgestaltung zu erreichen. Hierbei stellt ein humanistisches und religiöses Werteverständnis die Basis ihrer Arbeit dar. Die Förderung sowie Einbindung von Ehrenamt und Selbsthilfe nehmen dabei eine zentrale Rolle ein. Ihre handlungsleitende Fragestellung lautet: Welche Ansätze lösen gesellschaftliche und individuelle Probleme – und was sind die Wirkungsfaktoren dabei? Diese Perspektive fokussiert einen qualitativen Wettbewerb um wirksame Konzepte und hat die Nutzenmaximierung für die Gesellschaft zum Ziel.
- Die Wirkungsorientierung ist in der Sozialen Arbeit letztendlich das zielgerichtete Anstreben einer jeweils zu definierenden Ergebnisqualität – der Wirkung. Wirkungsorientierung dient der Steigerung der Wirksamkeit der Angebote in der sozialen Arbeit und damit der Minimierung von sozialen Risiken unter Berücksichtigung von verschiedenen Perspektiven, vorweg der direkten Nutzer/innen, ihrer Angehörigen, Kosten- und Leistungsträger, der Gesellschaft sowie auch der eigenen Mitarbeitenden. Der Prozess dazu ist häufig im verbandsspezifischen Qualitätsmanagement erfasst. Es geht um die Erreichung von vereinbarten Zielsetzungen und die ständige (Neu-) Ausrichtung sowie qualitative Verbesserung der angewendeten Methoden und Instrumente.
- Die valide Messung von intendierter Wirkung und deren qualitative Bewertung ermöglichen den Einrichtungen und Diensten einen Wettbewerb um gute Konzepte und Methoden sowie ihre bestmögliche Umsetzung. Zugleich sind auch nicht intendierte Wirkungen zu berücksichtigen. Ein solcher Wettbewerb dient der Weiterentwicklung von sozialen Qualitätsstandards.
- Die Messung der Wirkung ist für die Freie Wohlfahrtspflege von grundlegender Bedeutung für die stetige Weiterentwicklung ihrer Angebote sowie die Qualifizierung ihrer Mitarbeitenden und die Schaffung von Innovationen. Im Rahmen des Qualitätsmanagements wird der stetige Weiterentwicklungsprozess systematisch betrieben.
- Zugleich stellt die Messung der Wirkung einen Beitrag zur sozialpolitischen Legitimation der Freien Wohlfahrtspflege dar. Sie ermöglicht die Darstellung einer Input-Outcome-Relation einzelner Maßnahmen sowie der sozialpolitischen Arbeit der Freien Wohlfahrtspflege. Auf diese Weise kann Transparenz hergestellt werden, die das Vertrauen in die Einrichtungen und Dienste vor Ort wie auch in die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege stärkt sowie die eingesetzten öffentlichen und privaten Ressourcen legitimiert.
2. Die Wirkungsorientierung in der Freien Wohlfahrtspflege zeichnet sich durch eine betont sozialorientierte Zielsetzung sowie eine Multi-Stakeholder-Perspektive aus.
Eine Wirkungsbewertung ist immer abhängig von der jeweiligen Perspektive der Stakeholder. Daher ist es für die Spitzenverbände grundlegend, dass die Wirkung sowohl in der Sozialen Arbeit als auch in der sozialpolitischen Arbeit primär an der sozialen Dimension auszurichten ist. Eine Beschränkung der individuellen und der gesamtgesellschaftlichen Wirkung auf rein monetäre Aspekte bzw. auf eine rein ökonomische Dimension, lehnen die Wohlfahrtsverbände ab.
Bei der Betrachtung der Wirkung sind verschiedene Dimensionen zu unterscheiden, die sich wechselseitig beeinflussen (siehe Abbildung). Diese leiten sich unter anderem aus dem Aufgaben- und Selbstverständnis der Freien Wohlfahrtspflege – Gemeinwohlorientierung, anwaltschaftliche Funktion und sozialer Dienstleister – ab.[2] Für ein Arbeitsmodell zur wirkungsorientierten Steuerung bedeutet dieses, Wirkungsprozesse in drei (Haupt-) Dimensionen zu differenzieren:
- die subjektive Perspektive der konkreten Nutzer/innen und ihrer Angehörigen,
- die (objektivierend) fachliche Perspektive des Personals sowie der Einrichtungen und Dienste,
- die gesellschaftliche Perspektive, der sozialen Umwelt (z.B. Bevölkerung, Staat)
<link file:3881 download> | Grundlage für die Bewertung der Wirkung ist das Verhältnis des erzielten Outcome zum Input. So ist eine klare Zielsetzung der Maßnahme bzw. der Aktivitäten elementar. Hierzu zählt die Aushandlung von konsensfähigen Zielen inkl. der unterschiedlichen Erwartungen und Rahmenbedingungen (gesetzliche Regelungen, Ressourcenausstattung etc.). Soziale Arbeit ist Beziehungsarbeit und zeichnet sich durch einen dialogischen Prozess aus. |
Dabei stehen die Nutzer/innen im Mittelpunkt der Sozialen Arbeit. Die Wohlfahrtsverbände stellen – basierend auf ihrem humanistischen und religiösen Werteverständnis – Lösungsansätze sowie fachlich spezifische Konzepte zur Verfügung. Darüber hinaus bringen sich in den Einrichtungen und Diensten neben dem professionellen Personal zu einem Großteil auch freiwillig engagierte Bürger/innen ein. Weiter sind die Rahmenbedingungen in der Sozialen Arbeit zum Teil als förderlich (gesetzliche Regelungen, Planungssicherheit) wie auch als beschränkend (Ressourcenausstattung) zu beschreiben. Zusammenfassend ist eine klare Zielsetzung der Maßnahme bzw. der Aktivitäten und die Sicherstellung der qualitativ geeigneten Strukturen (ausreichend Personal mit entsprechendem Know-how, Ausrüstung) und Prozessen elementar. Der passende Input stellt die Voraussetzung für die gewünschte Qualität der zu erzielenden Ergebnisse dar.
Die Prozesse selbst umfassen gesellschaftspolitische Aktivitäten, soziale Dienstleistungen und Maßnahmen. Die Prozessqualität wird bereits durch systematische Verfahren überwacht. Zusätzlich zur Erbringung von sozialen Dienstleistungen nimmt die Freie Wohlfahrtspflege als Partner der Politik ihre anwaltschaftliche Rolle für sozial Schwache und Benachteiligte bei der Ausgestaltung der Sozialgesetzgebung wahr. Durch die Monitoringfunktion können Wirkungen von Sozialgesetzgebung und deren kritische Analyse in Bezug auf gesellschaftliche Entwicklungen sichtbar gemacht werden. Des Weiteren bringen sich die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege in die Mitgestaltung der rechtlichen Rahmenbedingungen für die Durchführung der sozialen Dienstleistungen durch Aushandlungsprozesse über ihre Qualität und Finanzierung (Stellungnahmen zu Gesetzen, Kampagnen, Beteiligung an Fachgremien) ein.
Der Output umfasst die Darstellung der in vereinbarter Struktur- und Prozessqualität erbrachten Dienstleistungen, Maßnahmen etc., die in fachlicher, subjektiver und gesellschaftlicher Dimension bewertet werden können. Die Anzahl von Maßnahmen, deren Leistungsqualität, die eingesetzten Fachkräfte, die Anzahl der Schulungen von Freiwilligen u. a. bilden den Output ab.
Die Ergebnisqualität ist dann der Outcome – die intendierte Wirkung sowie auch nicht intendierte „Nebeneffekte“ – die erzielt werden. Auch diese ist bei ein und derselben Maßnahme/ Aktivität aus der jeweiligen Perspektive unterschiedlich zu beschreiben. So kann auf der subjektiven Ebene eine Veränderung der Lebensqualität angeführt werden. Auf der (objektivierend) fachlichen Ebene ist der Outcome in erfolgreichen Problemlösungen (Befähigungen, Stabilisierung sozialer Beziehungen u.a.) abbildbar. Die Wirkung auf der gesellschaftlichen Ebene kann einerseits im Sozialraum der Nutzer/innen beobachtbar sein aber auch gesamtgesellschaftliche Dimensionen umfassen. Zu diesem Bereich zählen neben der Freien Wohlfahrtspflege auch die Stabilität und Rechtssicherheit von Sozialstrukturen sowie die gesellschaftliche Mitgestaltung durch Bürger/innen und deren Förderung.
Die Identifizierung des Impact – der Wirkung, die explizit der Maßnahme bzw. Organisation zugerechnet werden kann – stellt eine besondere Herausforderung dar, da viele Einflussfaktoren innerhalb der Gesellschaft Wirkungen miterzeugen bzw. beeinflussen. Eine eindeutige Zurechnung von Wirkungen zu Maßnahmen ist dabei nur begrenzt oder unter hohem Aufwand möglich. Auch setzt sich die Wirkung von Maßnahmen und Angeboten in der Sozialen Arbeit immer aus subjektiven, fachlichen und gesellschaftlichen Dimensionen sowie ihren wechselseitigen Einflüssen zusammen. Ein Auseinanderdividieren der einzelnen Dimensionen ist in der Praxis kaum möglich. Insofern ist in den Arbeitsbereichen der Freien Wohlfahrtspflege eine Messung des Impacts nur bedingt realisierbar.
Hierbei wird deutlich, dass aus einer fachlichen Perspektive dem beabsichtigten Outcome in all seinen Dimensionen eine elementare Bedeutung zukommt. So dass – im Sinne einer qualifizierten Wirkungsorientierung – die Ressourcen und Rahmenbedingungen sowie die Prozesse selbst aber auch die Erhebungsinstrumente und -verfahren ausgehend von der angestrebten Wirkung bereits im Input anzulegen sind. Besonders zu benennen sind die Zielsetzung und die daraus abzuleitenden Wirkungsindikatoren. Die stetige Auseinandersetzung mit Wirkungsannahmen, Wirkungsmodellen und Wirkungsindikatoren in der fachpolitischen Arbeit ist eine grundlegende Voraussetzung für wirkungsorientierte Arbeitsweisen.
3. Die Messung von Wirkung bedarf einer intensiven Kenntnis der Arbeitsfelder der Sozialen Arbeit, fachlich fundierter sowie valider Indikatoren, Instrumente und Verfahren.
Für eine nachhaltige Entwicklung der Sozialen Arbeit und ihrer Wirkungsmessung ist es grundlegend, dass Gütekriterien wie Objektivität, Reliabilität und Validität von Erhebungsinstrumenten und -verfahren beachtet werden. Eine aussagekräftige Messung von Wirkung erfordert valide fachspezifisch ausdifferenzierte Indikatoren, die der fall- und nutzerbezogenen Arbeit in den unterschiedlichen Arbeitsbereichen gerecht werden. Eine Messung der Wirkung muss den methodischen Anforderungen sozialwissenschaftlichen Arbeitens entsprechen.
Darüber hinaus setzt eine Messung der Wirkung voraus, dass die Erhebungsinstrumente und -verfahren praxistauglich sind. Sie müssen in den Alltag der Einrichtungen und Dienste – unter Berücksichtigung der vorhandenen Ressourcen und Strukturen sowie der bestehenden Qualitätsmanagementsysteme – implementierbar sein.
Die Erfassung von Wirkung in einer Vielfalt von Arbeitsfeldern mit unterschiedlicher Komplexität sowie heterogenen Struktur- und Rahmenbedingungen erfordert intensive Kenntnisse der Arbeitsfelder sowie passende Methoden und Instrumente. Eine besondere Herausforderung stellt die Messung der gesellschaftlichen Wirkung der Freien Wohlfahrtspflege dar, die aktuell an methodische und ethische Grenzen kommt. Daher sollten auch deskriptive Verfahren zur Wirkungserfassung genutzt werden.
So verstehen die Spitzenverbände die „Wirkungsmessung“ als sehr weitgefasten Begriff, der sowohl quantitative Ergebnisse in Form von Kennzahlen als auch qualitative Ergebnisse, Beschreibungen und ggf. auch Illustrationen umfasst. Darüber hinaus können im Rahmen der Prozess- und Strukturqualität Kriterien genutzt werden, die zumindest Hinweise auf Wirkungspotentiale oder eine hohe Plausibilität für Wirkungen bieten.
Ein Paradigmenwechsel von einer leistungsbezogenen auf eine primär wirkungsbezogene Steuerung der Finanzierung sozialer Dienstleistungen ist angesichts der enormen methodischen Beschränkungen und dem Fehlen valider Indikatoren zum aktuellen Zeitpunkt nicht zielführend.
4. Die nachhaltige Entwicklung und Umsetzung fachspezifischer Erhebungsinstrumente und -verfahren erfordert eine Kooperation von Freier Wohlfahrtspflege, Fachwissenschaft sowie Interessenverbänden und Kostenträgern.
Die Wohlfahrtsverbände haben in ihrer gemeinsam beschriebenen Qualitätspolitik Ziele, Qualitätsanforderungen, Prüfkriterien und exemplarische Ergebnisqualitätsindikatoren dargestellt, die in ihrer Arbeit in den Einrichtungen und Diensten angewendet werden. Sie haben mit eigenen Initiativen Beiträge zur Entwicklung von fachbezogenen Ergebnisindikatoren zur Wirkungsmessung geleistet.[3]
Darüber hinaus bedarf es einer engen Abstimmung über Entwicklung und Einsatz von Messinstrumenten und -verfahren zwischen den Stakeholdern – insbesondere Fach- und Interessenverbänden, Leistungserbringern sowie Kostenträgern. Des Weiteren ist es zielführend und sinnvoll, die Entwicklung von Erhebungsinstrumenten und -verfahren im engen Austausch mit Experten aus Praxis und Wissenschaft weiter zu entwickeln, um die praktische Anwendung und Kompatibilität zu bestehenden Instrumenten (z.B. in Bezug auf bereits etablierte Verfahren, die Einbindung in das Qualitätsmanagement sowie die Nutzung von Regeldaten etc.) zu sichern.
Dieses erfordert jedoch Spielräume für Innovation. Hierzu zählen zeitliche, personelle und sachliche Ressourcen für Modell- und praxisorientierte Forschungsprojekte sowie förderliche politische Rahmenbedingungen für die Skalierung neuer Instrumente und Verfahren. Zugleich ist es eine Investition in die Qualität und Entwicklung der sozialen Sicherungssysteme.
Für die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege stellt das Erreichen einer gesellschaftlichen wie auch individuellen Wirkung ihrer Arbeit einen aktuellen Schwerpunkt dar. Hierzu zählt auch die Darstellung von Wirkungen in Kooperation mit Fachwissenschaft, Interessenverbänden und Kostenträgern weiterzuentwickeln.
[1] siehe auch BAGFW Grundsatzpapier (2014): Qualitätsziele der Wohlfahrtsverbände zur Erreichung ihrer spezifischen Dienstleistungsqualität (<link file:1240>www.bagfw.de/uploads/media/2014-08-27_Grundsatzpapier_QZiele_02.pdf)
[2] siehe auch: BAGFW (2014): Die Freie Wohlfahrtspflege. Von Menschen für Menschen (<link file:1925>www.bagfw.de/uploads/media/BAGFW_Imagbrosch_Webversion.pdf)
[3] siehe z.B.: Entwicklung und Erprobung von Instrumenten zur Beurteilung der Ergebnisqualität in der stationären Altenhilfe; Wie misst man Teilhabe in der Eingliederungshilfe? (WmmT); Evaluation erzieherischer Hilfen (EVAS); Wirkungsevaluation in der Erziehungsberatung (Wir.EB); Transparenzgutachten des Center für soziale Investition und Innovation (CSI)
Da sich die Verbände der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege und die ihr angeschlossenen Verbände unter anderem über Spenden finanzieren, sind die Regelungen zu § 50 EStDV in Artikel 6 des Entwurfs von besonderer Bedeutung.
Für den Steuerpflichtigen stellt es in der Tat eine Erleichterung dar, wenn er eine Zuwendungsbestätigung nur noch nach Aufforderung durch das Finanzamt vorlegen muss. Allerdings werden die Zuwendungsempfänger bei Versand der Zuwendungsbestätigung kommunizieren müssen, dass die Zuwendungsbestätigung dennoch bis zum Ablauf eines Jahres nach Bekanntgabe der Steuerfestsetzung aufzubewahren ist. Ansonsten ist damit zu rechnen, dass Steuerpflichtige die Zuwendungsbestätigung nicht ausreichend lange aufbewahren und – sofern sie nachträglich von der Finanzverwaltung angefordert werden – beim Zuwendungsempfänger ein Duplikat anfordern. Das kann den Verwaltungsaufwand gemeinnütziger Organisation weiter erhöhen.
Die Möglichkeit der elektronischen Übermittlung der Angaben über die Zuwendung an das Finanzamt ist differenziert zu werten. Die elektronische Datenübermittlung ist so schon seit 2009 in § 50 Abs. 1a vorgesehen. Obwohl die gesetzliche Grundlage seit nun mehr sechs Jahren besteht, ist es bisher offensichtlich nicht gelungen den Zuwendungsempfängern eine funktionsfähige und datensichere Schnittstelle für die Datenübertragung bereit zu stellen.
Die elektronische Datenübermittlung an die Finanzverwaltung setzt voraus, dass die Spenden dem jeweiligen Steuerzahler eindeutig zugeordnet werden können. Hierfür muss der Datensatz mit der persönlichen Identifikationsnummer des Spenders versehen werden. Dies bedeutet für gemeinnützige Organisationen, dass neben dem Namen und der Adresse des Spenders ein weiteres Datenfeld für die Steueridentifikationsnummer geschaffen werden muss. Aus der Umstellung der EDV-Systeme wird sich ein einmaliger Aufwand ergeben.
Dieser fällt unabhängig davon an, wie viele Spenderinnen und Spender letztendlich eine elektronische Zuwendungsbestätigung wünschen. Darüber hinaus wird sich auch der laufende Aufwand aus der Erfassung und Pflege des zusätzlichen Datenfeldes auswirken. Bei der Steueridentifikationsnummer handelt es sich um eine elfstellige Ziffer, die nicht durch EDV-unterstützte Prüfroutinen plausibilisiert werden kann (wie beispielsweise die Iban-Nummer). Erfassungsfehler (wie Drehfehler in der Ziffernreihenfolge) oder Auslesefehler bei Banküberweisungen sind wahrscheinlich. Zwar erhält der Spender eine Mitteilung über den gemeldeten Datensatz. Es ist jedoch nicht davon auszugehen, dass der Spender jeden Erfassungsfehler in der Steueridentifikationsnummer erkennen wird. Die Falschmeldungen fallen dann erst nach Ablauf eines Jahres bei Erstellung der Einkommensteuererklärung auf. Ein deutlicher Mehraufwand wird sich folglich auch aus der Bearbeitung von fehlgemeldeten Datensätzen ergeben. Um Falschmeldungen zeitnah nach der Datenübermittlung bearbeiten zu können, wäre es hilfreich, wenn nach Übermittlung der Datensätze auf Ebene der Finanzverwaltung eine Plausibilitätsprüfung hinsichtlich Name und Steueridentifikationsnummer des Zuwendenden und ein Fehlerprotokoll an den Zuwendungsempfänger erfolgen würde.
Offen ist unseres Erachtens auch die datenschutzrechtliche Frage, ob die einmalige Übermittlung der Steueridentifikationsnummer an die Spenden sammelnde Organisation bereits eine grundsätzliche Zustimmung zur Übermittlung aller Spenden (im gleichen Jahr oder auch in den folgenden Jahren) an die Finanzverwaltung darstellt, oder ob nicht vielmehr bei jeder Spende die Zustimmung des Spenders eingeholt werden muss. Letztendlich ist ein Spender gesetzlich nicht verpflichtet, seine Spenden steuerlich geltend zu machen. Der Steuerpflichtige kann hier – anders als bei Zinserträgen – bei jeder einzelnen Spende nach eigenem Ermessen entscheiden.
In der Begründung zum Referentenentwurf wird weiterhin ausgeführt, dass für den Zuwendungsempfänger bei einer elektronischen Datenübermittlung die Pflicht zur Aufbewahrung eines Doppels der Zuwendungsbestätigung entfällt. Für Zuwendungsbestätigungen, die in Papierform ausgestellt werden, gilt hingegen nach wie vor die Pflicht zur Archivierung eines Doppels der Zuwendungsbestätigung. Hinzukommt, dass bei einer elektronischen Übermittlung die übermittelten Daten 7 Jahre archiviert werden müssen. Auch muss der Zuwendungsempfänger schon aufgrund der möglichen Haftung nach § 10b Abs. 4 EStG entsprechende Nachweise aufbewahren bzw. speichern. Da vermutlich nicht alle Spenderinnen und Spender einer gemeinnützigen Organisation zur elektronischen Datenübermittlung optieren werden, werden Zuwendungsempfänger zukünftig eine zweigleisige Archivierung vornehmen müssen.
Gemäß § 50 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2 EStDV - neu genügt für die steuerliche Geltendmachung der geleisteten Spende der Bareinzahlungsbeleg oder die Buchungsbestätigung eines Kreditinstituts. Voraussetzung ist, dass entweder die Zuwendung zur Hilfe in Katastrophenfällen innerhalb eines von der Finanzverwaltung bestimmten Zeitraums auf ein Sonderkonto einer (Mitglieds)Organisation der Freien Wohlfahrtspflege eingezahlt wurde oder der Zuwendungsbetrag 200 Euro nicht übersteigt. In beiden Fällen werden von gemeinnützigen Organisationen in der Regel keine Zuwendungsbestätigungen ausgestellt, was in der Vergangenheit den Verwaltungsaufwand erheblich reduziert hat. Hiervon profitieren insbesondere auch kleinere Organisationen, die nur über begrenzte technische und personelle Ressourcen verfügen. Verlangt ein Spender vom Zuwendungsempfänger nun die elektronische Übermittlung aller Spenden, was konsequent wäre, denn nur dann lohnt sich für ihn das elektronische Meldeverfahren, dann müssen zukünftig auch Spenden in Katastrophenfällen oder Kleinspenden den einzelnen Spendern zugeordnet werden. Dies wird zum einen den Verwaltungsaufwand auf Ebene des Zuwendungsempfängers weiter erhöhen. Zum anderen erhöht sich die Spendenhaftung nach § 10b Abs. 4 EStG.
Überdacht werden sollte in 50 Abs. 2 Nr. 2 EStDV die Formulierung „… auf einem von ihm (= Zuwendungsempfänger) herstellten Beleg aufgedruckt sind … “. Ziel des Gesetzes zur Modernisierung des Besteuerungsverfahrens ist unter anderem die Anpassung des Besteuerungsverfahrens an die verstärkte Nutzung der Informationstechnik. Auch im Bereich der Spendenwerbung und des Fundraisings wird zunehmend Informationstechnik genutzt. Spenderinnen und Spender werden per E-Mail und Internet elektronisch angesprochen. Auch nutzen unsere Spenderinnen und Spender ebenfalls zunehmend elektronische Bezahlsysteme. Um hier zukunftsfähig zu sein, sollte sich die in § 50 Abs. 2 Nr. 2 EStDV gewählte Formulierung nicht mehr an vom Zuwendungsempfänger gedruckten Belegen ausrichten, da die klassischen, per Post verschickten Mailings mit angehängtem Zahlschein voraussichtlich an Bedeutung verlieren werden. Letztendlich kann der Nachweis der Zahlung dann nur über den Kontoauszug des Spenders und/oder die Buchhaltung und elektronische Meldung des Zuwendungsempfängers erfolgen.
Überdacht werden sollte ferner die Ausrichtung der Verwaltungsvereinfachung in Katastrophenfällen (§ 50 Abs. 2 Nr. 1 EStDV) ausschließlich an der Einrichtung eines Sonderkontos. Da auch die Hilfswerke ihre Kontoauszüge elektronisch verarbeiten, ist die Einrichtung eines Sonderkontos mit erheblichem Aufwand verbunden. Üblich ist deshalb die Platzierung nur eines Bankkontos und die Zuordnung der eingehenden Spenden zu den jeweiligen Projekten über (elektronisch ausgelesene) Stichwörter. In § 50 Abs. 2 Nr. 1 EStDV sollte deshalb zusätzlich zu einem Sonderkonto auch die Verwendung von Stichwörtern zugelassen werden, da ansonsten die Vereinfachungsregel bei vielen Hilfswerken ins Leere läuft.
Kritisch zu sehen ist zudem das Wahlrecht in § 50 Abs. 1a EStDV. Hier ist vorgesehen, dass den Spenderinnen und Spendern als Nachweis der elektronischen Datenübermittlung wahlweise eine elektronische Mitteilung oder ein (Papier)Ausdruck zur Verfügung gestellt werden soll. Sprechen sich die Spender für den Papierausdruck aus, dann ergibt sich für den Zuwendungsempfänger aus der elektronischen Datenübermittlung keine Kostenentlastung, da nach wie vor insbesondere die vergleichsweise hohen Portokosten für den Versand der Bestätigung anfallen.
Insgesamt ist festzuhalten, dass für den Zuwendungsempfänger eine Verwaltungsvereinfachung oder ein Bürokratieabbau durch das seit Jahren angekündigte elektronische Meldeverfahren nicht zu erkennen ist. Vielmehr ist das Gegenteil der Fall, insgesamt wird sich der Kommunikations- und Verwaltungsaufwand gemeinnütziger Organisationen weiter erhöhen. Dies reduziert die Mittel, die für die gemeinnützigen und mildtätigen Projekte verwendet werden können. Zudem können insbesondere kleinere Organisationen, die derzeit in der Regel nicht über die für ein elektronisches Meldeverfahren erforderlichen technischen und personellen Ressourcen verfügen, schnell überfordert werden.
Korrekterweise sollte im letzten Absatz unter Punkt 4. auf Seite 50 des Referentenentwurfs nicht formuliert werden, dass das elektronische Meldeverfahren „ein Serviceangebot [der Finanzverwaltung] an die Steuerpflichtigen und Zuwendungsempfänger“ darstellt. Wägt man Kosten und Nutzen ab, dann handelt es sich vielmehr um ein Serviceangebot des Zuwendungsempfängers an die Steuerpflichtigen und auch an die Finanzverwaltung. Durch die Einführung eines elektronischen Meldeverfahrens wird der Kontrollaufwand auf Ebene der Finanzverwaltung signifikant sinken.
Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege bedauern nach wie vor, dass der Gesetzgeber sich für ein elektronisches Meldeverfahren entschieden hat, und nicht für eine elektronische Zuwendungsbestätigung, die die Spenderinnen und Spender einfach „per Maus-Klick“ in ihre elektronische Steuererklärung einbinden können. Zwar wären auf Ebene gemeinnütziger Organisationen auch bei diesem Verfahren Aufwendungen aus der (einmaligen) Umstellung der EDV-Systeme entstanden, jedoch wäre der laufende Aufwand aus der Erfassung und Verwaltung der Steueridentifikationsnummern und der Zustimmung bzw. des Widerrufs zur Datenübermittlung sowie für die Bearbeitung fehlgemeldeter Datensätze entfallen.
Als Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege und der ihnen angeschlossenen Verbände für Menschen mit Behinderungen ist des Weiteren § 65 Abs. 3 und 3a EStDV von Bedeutung. Für die Geltendmachung des Behinderten-Pauschbetrags stellt es für die betroffenen Personen eine Erleichterung dar, wenn der Steuerpflichtige die Behinderung nicht mehr erneut nachweisen muss, wenn eine mehrjährige Gültigkeit des Schwerbehindertenausweises besteht. Der Verzicht auf den Nachweis in Papierform, wenn der Steuerpflichtige um die Übermittlung seiner persönlichen Daten an die Finanzverwaltung bittet, stellt für die Personengruppe ebenfalls eine Erleichterung dar.
Die entsprechende Datensicherheit ist durch die Finanzverwaltung bzw. die übermittelnde Behörde zu gewährleisten.
Zu kritisieren ist jedoch, dass es ein Nebeneinander von Papierform und elektronischer Form nicht mehr geben wird und dem Steuerpflichtigen, welcher den Behinderten-Pauschbetrag geltend machen will, keine Wahlmöglichkeit eingeräumt bekommt. Denn ausweislich der Begründung auf S. 125 des Entwurfs kann der Behinderten-Pauschbetrag nicht mehr gewährt werden, wenn der Steuerpflichtige seine Identifikationsnummer nicht mitteilt. Die Feststellung, dass „der Steuerpflichtige selbst bestimmen könne, ob seine persönlichen Daten an die Finanzverwaltung übermittelt werden“ geht fehl, wenn der Steuerpflichtige keine Alternative zur Übermittlung der Daten hat. Denn weiter heißt es in der Begründung: „Mit Einführung der elektronischen Datenübermittlung ist ein Nachweis der festgestellten Behinderung in Papierform nicht mehr möglich.“
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1) Ausreichende Fristen für Rückmeldung
In den Eckdaten zum Bericht wird nach jetzigem Stand mitgeteilt, dass der Berichtsentwurf Ende Dezember zu erwarten ist. Die Stellungnahmen von Sozialpartnern, Wohlfahrts- und Sozialverbänden sowie der Länder- und Kommunalebene sollen zum Jahreswechsel eingeholt werden. Erfahrungsgemäß sind in den Wochen um den Jahreswechsel die Büros nur teilweise besetzt. Eine fundierte Auseinandersetzung mit dem Bericht und eine gemeinsame Rückmeldung der BAGFW erfordern jedoch ausreichend Zeit. Die BAGFW bittet daher um eine Änderung dieses Zeitplans bzw. um eine großzügigere Fristsetzung für die Stellungnahme zum Berichtsentwurf.
2) Eigener Berichtsteil der BAGFW
Die BAGFW regt einen eigenen Berichtsteil an, in dem sie die aus ihrer Sicht größten sozialen Herausforderungen in Deutschland beschreibt. Dies würde die Berichterstattung der Bundesregierung um die Sichtweise der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege ergänzen und dem von der EU geforderten Prinzip der partnerschaftlichen Zusammenarbeit entsprechen.
3) Veröffentlichung der eingeholten Stellungnahmen zur Strategischen Sozialberichterstattung
Ebenfalls im Sinne der partnerschaftlichen Zusammenarbeit ist es wünschenswert, dass die eingeholten Stellungnahmen zur Strategischen Sozialberichterstattung veröffentlicht werden. Sinnvoll wäre es, dies im Anhang des veröffentlichten Dokuments zu tun. Eine Alternative wäre zumindest eine Verlinkung im Internet.
4) Schwerpunkte setzen bei der Bildung von benachteiligten Menschen, Maßnahmen für Flüchtlinge, bei der Bekämpfung von Armut und Langzeitarbeitslosigkeit - zukünftige Herausforderungen benennen
Nach den Vorgaben zur Strategischen Sozialberichterstattung sollen Reformen in bestimmten Bereichen während des Berichtszeitraums aufgezeigt werden. Hier sind schon jetzt einige Reformen zu nennen, wie zum Beispiel das Versorgungsstärkungsgesetz oder die „Assistierte Ausbildung“ als Regelinstrument. Bezüglich der Berichterstattung setzt sich die BAGFW dafür ein, Schwerpunkte bei Maßnahmen zu setzen, die zur Anhebung des Bildungsniveaus benachteiligter Gruppen dienen (z. B. Stand „Assistierte Ausbildung“, Stand „Inklusionsinitiative Ausbildung und Beschäftigung“). Auch der Stand des Europäischen Hilfsfonds für die am stärksten benachteiligten Personen (EHAP) und der „Perspektive Wiedereinstieg“ sind von Interesse. Die Wohlfahrtsverbände plädieren dafür, es hierbei nicht bei der reinen Aufzählung und Beschreibung unterschiedlicher Programme und Gesetzesinitiativen zu belassen, sondern darzulegen, auf welche potentiellen Gesamtzielgruppen die neuen Maßnahmen abzielen und wie viele Personen hiervon erreicht werden konnten. In den genannten Bereichen sollte zudem nicht nur über Maßnahmen berichtet werden, sondern auch Herausforderungen benannt werden.
Darüber hinaus sieht die BAGFW einen Schwerpunkt bei Maßnahmen für Flüchtlinge und Geduldete. Der Bericht sollte ausführlich darlegen, inwieweit die Bundesregierung ihre Versorgungs- und Integrationsangebote angesichts der steigenden Anzahl der Flüchtlinge auf den Gebieten des Wohnens, der Sicherung des Lebensunterhalts, beim Zugang zur gesundheitlichen Versorgung sowie der Bildung und Integration auf dem Arbeitsmarkt ausrichtet. Über die Umsetzung des Konzepts „Chancen eröffnen – soziale Teilhabe sichern“ zum Abbau der verfestigten Langzeitarbeitslosigkeit, sollte nach Ansicht der BAGFW schwerpunktmäßig berichtet werden. Dabei sollte nicht nur über die Umsetzung der neuen Bundesprograme, sondern auch über die angestrebten strukturellen Veränderungen, etwa bei der Betreuung von Langzeitarbeitslosen durch die Jobcenter oder bei der verbesserten institutionenübergreifenden Gesundheitsförderung, ausführlich berichtet werden.
So sieht die BAGFW z. B. auch die Verhinderung von Altersarmut, die Bekämpfung der Wohnungslosigkeit und die Schaffung bezahlbaren Wohnraumes als wichtige Herausforderungen der kommenden Jahre an.
Ergänzend weist die BAGFW darauf hin, dass Maßnahmen zur Verbesserung der sozialen Inklusion und der Armutsbekämpfung nicht nur als arbeitsmarktpolitische Maßnahmen verstanden werden können. Eine Verbesserung der sozialen Teilhabemöglichkeiten und der sozialen Situation von Personengruppen, die aufgrund umfassender Vermittlungshemmnisse trotzdem absehbar lange im Leistungsbezug verweilen werden, hat eine eigene Wertigkeit und Fachlichkeit, auf die im Bericht mit eingegangen werden sollte. Diese kann nicht nur durch arbeitsmarktpolitische Indikatoren erfasst werden.
5) Berichterstattung über Armut und soziale Ausgrenzung auch im Rahmen des Nationalen Reformprogramms
Die Wohlfahrtsverbände sehen in der Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung weiterhin eine der drängendsten gesellschaftlichen Aufgaben und plädieren für einen eigenen Berichtschwerpunkt hierzu. In den vergangenen Jahren wurde in den Nationalen Reformprogrammen bei den Ausarbeitungen zum Thema Armut und soziale Ausgrenzung häufig auf die Strategische Sozialberichterstattung verwiesen. Die BAGFW ist der Ansicht, dass auch im Nationalen Reformprogramm ausführlich über das Thema berichtet werden muss. Dieses erhält größere politische Aufmerksamkeit und Verbindlichkeit.
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Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege teilt die Einschätzung des Bundes und der Länder vom 18. Juni 2015, dass die Aufnahme von Flüchtlingen in Deutschland eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung ist. Die Verbände der BAGFW nehmen diese Verantwortung seit langem wahr und bieten darüber hinaus ihre Unterstützung an.
In der aktuellen Diskussion über eine strukturelle Beteiligung des Bundes an der Aufnahme von Schutzsuchenden und Flüchtlingen liegt der Fokus in der Verteilung von Kosten zwischen Bund, Ländern und Kommunen, die aufgrund bestehenden und erhöhten Zugangs von Asylsuchenden steigen. Aus Sicht der Verbände können diese Kosten durch eine schnelle Integration der Asylsuchenden begrenzt werden. Dazu bedarf es qualifizierter Beratung und Begleitung. Die Verbände verweisen auf die dringende Notwendigkeit, auch die Qualität der Aufnahme nicht aus dem Blick zu verlieren bzw. diese an einigen Stellen deutlich zu verbessern. Hierzu sehen sich die Verbände insbesondere aufgrund ihrer langjährigen Erfahrung in der Begleitung, Beratung und Versorgung von Flüchtlingen aufgerufen. Auch und gerade in Zeiten steigender Flüchtlingszahlen ist es wichtig, menschenwürdige Aufnahmebedingungen zu schaffen. Die aktuelle Situation in Deutschland stellt eine große Herausforderung auf allen Ebenen dar. Mit einem entsprechenden Ausbau und einer Verbesserung der Regelstrukturen kann dazu beigetragen werden, dass auch langfristig mehr Menschen gut aufgenommen werden können. Die zügige qualifizierte Beratung und Begleitung der Asylsuchenden sowie der Zugang zu Bildung, Gesundheitsversorgung und Arbeitsmarkt etc. sind nicht nur aus menschenrechtlicher Sicht geboten, sondern können auch dazu beitragen, die Kosten der Aufnahme zu senken.
Im Rahmen des Flüchtlingsgipfels der Bundeskanzlerin mit den Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder vom 18. Juni 2015 wurden einige wichtige Aspekte angesprochen, wie etwa die Einführung einer Gesundheitskarte, die Öffnung der Integrationskurse, die Versorgung und Betreuung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen etc. – Aspekte zu denen die Verbände sich bereits positioniert haben, bzw. gesondert Stellung nehmen werden.
Die Verbände der BAGFW möchten im Folgenden auf weiteren dringenden Handlungsbedarf hinweisen, der in der aktuellen Diskussion nicht oder nicht ausreichend Berücksichtigung findet. Dies betrifft vor allem folgende Bereiche:
· Sicherstellung der gesundheitlichen und psychosozialen Versorgung von Flüchtlingen
· Feststellung und Sicherstellung der Bedarfe besonders schutzbedürftiger Asylsuchender
· Einführung einer flächendeckenden und unabhängigen Asylverfahrensberatung
1. Einführung einer flächendeckenden und unabhängigen Asylverfahrensberatung
Aus der Beratungspraxis wissen wir, dass Asylsuchende oftmals den Ablauf und die Anforderungen des Asylverfahrens nicht kennen. Häufig ist ihnen nicht bekannt, dass die Anhörung der Zeitpunkt ist, in dem sie ihre Fluchtgründe so darlegen müssen, dass der Entscheider zu voller Kenntnis aller Fluchtgründe gelangen kann. So besteht teils die Annahme, je kürzer die Anhörung, desto sicherer sei eine Anerkennung. Auch die Verunsicherung der Schutzsuchenden führt teilweise dazu, dass die Asylsuchenden in der Anhörung tendenziell zu wenig als zu viel über ihre Erlebnisse, die zur Flucht geführt haben, berichten. All dies kann dazu beitragen, dass sich die Betroffenen in späteren Gerichtsverfahren dem Vorwurf „gesteigerten Vorbringens“ ausgesetzt sehen, dessen Glaubhaftigkeit in der Regel als gering eingeschätzt wird. Traumatisierte Schutzsuchende ohne angemessene Vorbereitung sind teils bereits überfordert, ad hoc ihre Geschichte nachvollziehbar darzustellen. Gerade Asylsuchende, die im Kontext ihrer Verfolgung problematische Erfahrungen mit staatlichen Stellen gemacht haben, kann eine unabhängige und individuelle Beratung, die auf die Besonderheiten ihre Falles eingeht, dazu ermutigen, ihre Geschichte so zu erzählen, wie sie sich tatsächlich zugetragen hat, und kann dazu beitragen, das Vergessenwollen in der Anhörung zu überwinden. Eine umfassende Vorbereitung der Flüchtlinge auf das Asylverfahren entlastet zudem sowohl das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge als auch die Gerichte. Es ermöglicht den Asylsuchenden die Entwicklung einer realistischen Einschätzung ihrer Erfolgsaussichten und kann klären, ob eine Asylantragstellung überhaupt sinnvoll ist.
Die Verbände, Flüchtlingsorganisationen und Kirchen halten seit Jahren aus eigenen Mitteln wie auch aus europäischen und Landesmitteln unabhängige Beratungsangebote zum Asylverfahren vor. Dieses ohnehin keineswegs bedarfsdeckende Angebot wird durch die hohen Zahlen von Schutzsuchenden in den letzten Jahren enorm herausgefordert. Die Folge ist, dass nur ein kleiner Teil der Asylsuchenden derzeit überhaupt beraten werden kann. Eine Art. 19 der EU-Asylverfahrensrichtlinie entsprechende Asylverfahrensberatung ist in Deutschland somit nicht gewährleistet.
Die avisierte Auskunftserteilung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge – wie sie derzeit in einem Pilotprojekt in Bielefeld erprobt wird - kann aus unserer Sicht den Bedarf an unabhängiger und individueller Beratung der Asylsuchenden keinesfalls decken. Aus der Beratungspraxis wissen wir, dass es Flüchtlingen wichtig ist, Informationen nicht allein von Staaten zu erhalten, da sie in der Regel in ihrem Herkunftsland oder auf der Flucht bereits negative Erfahrungen mit staatlichen Stellen gemacht haben. Gerade Angebote der Wohlfahrtsverbände haben viele Asylsuchende aber bereits in der Vergangenheit als unterstützend empfunden und bringen ihnen, aber auch anderen unabhängigen Beratungsstellen daher das für eine gute Beratung erforderliche Vertrauen entgegen. Daher sollte für neu einreisende Asylsuchende eine individuelle Beratung zum Asylverfahren durch unabhängige Stellen generell gewährleistet sein. Sie sollte deutlich über eine reine Auskunftserteilung hinausgehen, um den Asylsuchenden bereits von Anfang an über die Erfolgsaussichten seines Asylantrags zu informieren und über individuelle Anforderungen bei der Geltendmachung der Verfolgungsgründe aufzuklären, die sich von Fall zu Fall unterscheiden. Darüber hinaus müssen sie über verschiedene Beratungssprachen verfügen und daher qualifizierte Sprachmittler bzw. Dolmetscher einbeziehen. Dies erfordert, dass in jeder Erstaufnahmeeinrichtung ein der Zahl der Asylsuchenden entsprechendes Beratungsangebot installiert wird, um Asylsuchende frühestmöglich zu erreichen.
Insofern die Asylantragstellung und die Anhörung nicht während der Zeit der Unterbringung in der Erstaufnahme durchgeführt werden, müssen auch unabhängige Beratungsangebote in den Kommunen, in die die Asylsuchenden verteilt werden, zur Verfügung stehen. Damit das Angebot für die Asylsuchenden tatsächlich erreichbar ist, kann dieses auch mobil sein.
2. Feststellung der besonderen Bedürfnisse schutzbedürftiger
Asylsuchender
Die EU-Aufnahmerichtlinie fordert die Feststellung der Bedürfnisse besonders schutzbedürftiger Asylsuchender innerhalb einer angemessenen Frist sowie deren Sicherstellung während des gesamten Asylverfahrens. Berücksichtigt werden soll die spezielle Situation von schutzbedürftigen Personen wie Minderjährigen, unbegleiteten Minderjährigen, Menschen mit Behinderung, älteren Menschen, Schwangeren, Alleinerziehenden mit minderjährigen Kindern, Opfern des Menschenhandels, Personen mit schweren körperlichen Erkrankungen, Personen mit psychischen Störungen und Personen, die Folter, Vergewaltigung oder sonstige schwere Formen psychischer, physischer oder sexueller Gewalt erlitten haben, z. B. Opfer der Verstümmelung weiblicher Genitalien.[1] Bedürfnisse besonders schutzbedürftiger Asylsuchender können insbesondere gesundheitliche Bedarfe, aber auch leistungsrechtliche Ansprüche oder Besonderheiten für das Asylverfahren sein (z. B. kein beschleunigtes Verfahren). Die Mitgliedsstaaten müssen, um gemäß Art. 21ff EU-Aufnahmerichtlinie eine Versorgung der besonderen Bedarfe zu gewährleisten, geeignete Maßnahmen ergreifen, um diese Bedarfe festzustellen. Aus Sicht der Verbände ist es zu diesem Zweck einerseits notwendig, Hinweise auf besondere Bedarfe möglichst frühzeitig festzustellen und ihnen nachzugehen, aber auch die Asylsuchenden nach Feststellung des Bedarfs aufzuklären, welche Möglichkeiten der Versorgung bestehen und sie dabei zu unterstützen, die entsprechende Versorgung tatsächlich zu erhalten. Idealerweise erfolgt eine solche frühzeitige Erkennung im Umfeld der Erstaufnahme, wobei diese nicht abschließend sein darf, da auch später auftretende Bedarfe berücksichtigt werden müssen. Die Feststellung der besonderen Schutzbedürftigkeit, die sich v.a. im Hinblick auf psychische Störungen, bestimmte Erkrankungen oder frühe Schwangerschaften schwierig gestalten kann, kann aber nur dann wirksam erfolgen, wenn die Erstaufnahme die entsprechenden Rahmenbedingungen erfüllt. Hierzu gehören aus unserer Sicht die Betreuung und Sozialberatung durch qualifizierte Personen wie Sozialarbeiter oder -pädagogen mit einem angemessenen Betreuungsschlüssel. Diese können Hinweise für eine besondere Schutzbedürftigkeit feststellen und Brücken zu Angeboten der Regelversorgung, aber auch zu spezialisierten Angeboten staatlicher wie auch nichtstaatlicher Stellen bauen. Auch hierfür muss gewährleistet sein, dass ausreichend qualifizierte Sprachmittler bzw. Dolmetscher zur Verfügung stehen.
3. Sicherstellung der gesundheitlichen und psychosozialen Versorgung von Flüchtlingen
Ein erheblicher Teil der Asylsuchenden ist traumatisiert oder psychisch belastet. Ihre gesundheitliche und psychosoziale Versorgung ist in weiten Teilen Deutschland nicht gewährleistet: Niedergelassene Ärzte und Psychotherapeuten verfügen oftmals über wenig Erfahrung in der spezialisierten Diagnostik und Behandlung der Zielgruppe, die besondere Anforderungen mit sich bringt, und nehmen deshalb oder aus Gründen bereits bestehender Überlastung keine traumatisierten Asylsuchenden an. Darüber hinaus sind die Angebote der Regelversorgung - selbst wenn trotz der Einschränkungen nach dem AsylbLG und den Sprachschwierigkeiten der Zugang gelingt - häufig nicht ausreichend für eine Rehabilitation der Betroffenen geeignet, die für eine Stabilisierung ihres Gesundheitszustandes auch eine Stabilisierung der gesamten Lebensverhältnisse brauchen. Diese sind aber in der Regel durch die Flucht aus den Fugen geraten und bedürfen einer vollkommenen Neuordnung. In den letzten Jahrzehnten wurden aus diesem Grund spezialisierte psychosoziale Behandlungszentren für Flüchtlinge und Folteropfer aufgebaut, die medizinische und psychologische Betreuung mit Beratungs- und (Aus-)Bildungsangeboten sowie familien- und community-orientierten Hilfen kombinieren. Soweit verfügbar, sind sie in der Lage, ein entsprechend der Aufnahmerichtlinie gefordertes Versorgungsangebot zu gewährleisten. Diese Zentren sind jedoch weder flächendeckend vorhanden, noch sind sie auf die steigenden Zahlen von Asylsuchenden vorbereitet und arbeiten somit am Rande ihrer Kapazitäten. Darüber hinaus sind sie prekär finanziert, oftmals abhängig von Projektmitteln der Europäischen Union, die keinen Ersatz für eine Regelfinanzierung darstellen können und sollen. Da sie ein sehr komplexes und erfolgreiches Versorgungsangebot bieten, ist eine Sockelfinanzierung der psychosozialen Zentren erforderlich und deren flächendeckender bundesweiter Ausbau anzugehen. Darüber hinaus sollte geprüft werden, ob die Psychosozialen Zentren (zum Beispiel analog der Psychiatrischen Institutsambulanzen i.S. d. § 118 SGB V) als Regelangebot der Gesundheitsversorgung in das SGB V aufgenommen werden können bzw. wie die umfassende medizinische und psychologische Versorgung - inklusive der Sprachmittler - der schutzsuchenden Flüchtlinge im Regelangebot der GKV gewährleistet wird.
[1] Art. 21 der EU Aufnahmerichtlinie (RL 2013/33/EU vom 26. Juni 2013).
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Seit dem 1. Januar 2013 erstattet der Bund den Ländern 75 Prozent, ab 2014 100 Prozent der Nettoausgaben in der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung. Infolge der damit verbundenen Bundesauftragsverwaltung besteht gesetzgeberischer Handlungsbedarf im Vierten Kapitel des SGB XII. Die Bundesregierung hat aus diesem Anlass einen Gesetzentwurf eines Dritten SGB XII-Änderungsgesetzes vorgelegt. Neben Regelungen zur Nachweispflicht der Länder sollen bei der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung Ergänzungen bei der Berücksichtigung von Einkommen, Verwaltungsvereinfachungen ermöglichende Änderungen, Klarstellungen zu bestehenden Auslegungsfragen sowie Vereinheitlichung von Begrifflichkeiten und redaktionelle Korrekturen vorgenommen werden. Einzelne Änderungen bewertet die BAGFW im Hinblick auf deren Wirkung auf die Antragsteller/-innen. Der Gesetzentwurf enthält darüber hinaus Neuregelungen im Dritten Sozialgesetzbuch und im Berufsausbildungsförderungsgesetz zur beruflichen Eingliederung von geduldeten Flüchtlingen.
B. Zusammenfassung
Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege plädieren insbesondere dafür, die Freibetragsgrenze für die Anrechnung von Zinseinkünften im SGB XII den Regelungen des SGB II anzugleichen und diese auch bei der Hilfe zum Lebensunterhalt und den Hilfen nach dem 5. bis 9. Kapitel SGB XII anzuwenden. Zugunsten der Leistungsberechtigten und im Sinne einer Verwaltungsvereinfachung soll ein Globalantrag eingeführt werden. Soweit bei der Anrechnung einmaliger Einnahmen für die Betroffenen Verschlechterungen gegenüber der heutigen Rechtslage eintreten, werden die Neuregelungen abgelehnt.
Weitergehend fordert die BAGFW insbesondere eine gesetzliche Klarstellung zur Zuordnung von volljährigen Menschen mit Behinderung ohne eigenen Haushalt in die Regelbedarfsstufe 1. Außerdem sollen Vermögen stärker freigestellt werden, gerade dann, wenn dies der Altersvorsorge dient. Die Neuregelungen zur beruflichen Eingliederung von jungen Flüchtlingen bewerten die Wohlfahrtsverbände als unzureichend und fordern, allen in Deutschland legal lebenden Ausländer/innen (auch Geduldete) zügig Unterstützung bei ihrer Ausbildung anzubieten.
Bewertung der einzelnen Maßnahmen
I. Einführung von Freibeträgen für Zinseinkünfte und Unfallrenten
(§ 43 Abs. 2 und 3 SGB XII)
Der Gesetzentwurf sieht in Absatz 2 einen neuen Freibetrag von 26 Euro im Kalenderjahr für Einnahmen aus Kapitalvermögen (Zinserträge und Ähnliches) vor. Bislang gab es für Zinseinkünfte keinen Freibetrag. Zudem wird mit dem neuen Absatz 3 ein Freibetrag für Leistungsberechtigte geschaffen, die während ihrer Wehrdienstzeit bei der Nationalen Volksarmee der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (DDR) einen Unfall erlitten haben.
Bewertung
Die BAGFW begrüßt es, dass in der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung ein Freibetrag für Einnahmen aus Kapitalvermögen eingeführt wird. Das führt dazu, dass diese Einkünfte aus dem bescheidenen Schonvermögen auch bei den Leistungsbeziehern verbleiben können. Eine ähnliche Regelung gibt es auch im SGB II. Dort beträgt die Bagatellgrenze für Erträge oder Zinsen jedoch monatlich 10 Euro. Dagegen sind im SGB XII kalenderjährlich künftig nur 26 Euro, damit monatlich 2,17 Euro anrechnungsfrei. Die Höhe des Freibetrags entspricht einem Prozent des Schonvermögensbetrags von 2.600 Euro bei Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung. Nach der Gesetzesbegründung wird mit dem auf dieser Basis berechneten Freibetrag der überwiegende Teil der Leistungsberechtigten zwar vor dem Hintergrund des aktuell sehr niedrigen Zinsniveaus in Deutschland von der Einkommensanrechnung von Zinseinkünften freigestellt. Die Zinseinkünfte sollten jedoch auch dann noch freigestellt sein, wenn die Zinsen wieder steigen.
Zudem sieht die BAGFW bereits die unterschiedlichen Vermögensfreigrenzen des SGB II und SGB XII kritisch. Dies ist im Hinblick auf die Sicherung des Lebensunterhalts insbesondere nicht nachvollziehbar, sofern sie Menschen mit Behinderung betrifft, die auf Grundsicherung wegen Erwerbsminderung angewiesen sind. Auch bei ihnen müssen in gleichem Maße z. B. Freibeträge für Vermögen, das der Altersvorsorge dient, anerkannt werden. Zudem betreffen die Vermögensfreigrenzen auch die Leistungen nach dem 5. bis 9. Kapitel. Für Menschen mit Behinderung, die erwerbstätig sind, aber zugleich Leistungen der Eingliederungshilfe beziehen, besteht aktuell keine Möglichkeit, aus ihrem Erwerbseinkommen nennenswerte Beträge anzusparen. Hier besteht Änderungsbedarf.
Im Übrigen machen wir darauf aufmerksam, dass derzeit an dem Entwurf eines Bundesteilhabegesetzes gearbeitet wird. In diesem Zuge hat die BAGFW bereits darauf hingewiesen, dass das in einem Bundesteilhabegesetz zu verankernde Prinzip des Nachteilsausgleichs nicht mehr mit dem in der Sozialhilfe geltenden Bedürftigkeitsprinzip vereinbar ist. Dies bedeutet, dass weder der Leistungsberechtigte noch sein Ehepartner bzw. eingetragene/r Lebenspartner/-in und/oder seine Angehörigen mit seinem/ihrem jeweiligen Einkommen und Vermögen zu den Teilhabeleistungen herangezogen werden können. Teilhabeleistungen sollen dementsprechend nicht mehr dem Bedürftigkeitsprinzip unterliegen.
Die BAGFW begrüßt, dass mit der Einführung von Freibeträgen für Unfallrenten, die wegen während Wehrdienstzeiten bei der Nationalen Volksarmee der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik erlittenen Arbeitsunfällen gezahlt werden, zukünftig alle Betroffenen, hinsichtlich der Berücksichtigung ihrer Renten als Einkommen in der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung gleich behandelt werden. Damit wird die derzeitige Ungleichbehandlung gegenüber Personen, die eine Grundrente nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) und nach den Gesetzen, die eine entsprechende Anwendung des BVG vorsehen, aufgehoben.
Vorschlag
Die BAGFW schlägt vor, den Freibetrag für Einkünfte aus Kapitalvermögen entsprechend zur Regelung im SGB II auf 120 Euro im Jahr, d. h. monatlich 10 Euro anzuheben, damit die Freistellung unabhängig von den Entwicklungen auf dem Finanzmarkt auch nachhaltig wirken kann.
Die BAGFW schlägt vor, den Freibetrag für Einkünfte aus Kapitalvermögen nicht nur bei der Grundsicherung im Alter, sondern auch bei der Hilfe zum Lebensunterhalt und bei den Hilfen nach dem 5. bis 9. Kapitel freizustellen. Es besteht hier kein Grund für eine Ungleichbehandlung.
Die BAGFW fordert, in § 90 SGB XII Vermögen, das der Altersvorsorge dienen soll, von der Anrechnung freizustellen, insofern Hilfe zum Lebensunterhalt und Grundsicherung bei Erwerbsminderung bezogen werden.
Leistungen der Eingliederungshilfe sollen von der Anrechnung von Einkommen und Vermögen freigestellt werden.
II. Antragserfordernis, Änderungen zulasten der Leistungsberechtigten
(§ 44 Abs. 1 SGB XII)
Aus systematischen Gründen wird künftig in § 44 Abs. 1 SGB XII geregelt, dass Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung auf Antrag erbracht werden. Das Antragsprinzip fand sich zuvor in § 41 SGB XII. Darüber hinaus wird in Abs. 1 nun klargestellt, dass einmalige Bedarfe (§ 31 SGB XII), Bedarfe für eine angemessene Alterssicherung (§ 33 SGB XII) und die Bedarfe für Bildung und Teilhabe (§§ 34 bis 34 b SGB XII) sowie ergänzende Darlehen (§ 37 SGB XII), gesondert zu beantragen sind.
Nicht aus § 44 Absatz 1 SGB XII a. F. wird hingegen dessen Satz 4 übernommen, nach dem eine Änderung zulasten der leistungsberechtigten Person erst ab dem Folgemonat zu einer Änderung führt. Änderungen, unabhängig davon, ob sie sich begünstigend oder belastend auswirken, sollen sich, wie im Dritten Kapitel des SGB XII oder auch in der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II in dem Monat des Ereignisses auswirken.
Bewertung
Die BAGFW spricht sich für eine Regelung aus, durch die die Leistungsberechtigten im SGB XII grundsätzlich zu beantragende Leistungen durch einen einzigen Antrag beantragen können. Dies könnte wie auch im SGB II bereits in der Praxis praktiziert durch einen sog. Globalantrag erfolgen. Dadurch kann zum einen der Verwaltungsaufwand beschränkt werden. Zum anderen werden auch die betroffenen Leistungsberechtigten entlastet.
Darüber hinaus spricht sich die BAGFW dafür aus, dass eine Änderung zulasten der leistungsberechtigten Person weiterhin erst ab dem Folgemonat zu einer Änderung führt. Hierdurch wird der Verwaltungsaufwand begrenzt, da ansonsten eine Rückforderung bereits erbrachter Leistungen erforderlich wird.
Vorschlag
Der sog. Globalantrag soll für im SGB XII zu beantragende Leistungen eingeführt werden.
Der bisherige § 44 Absatz 1 Satz 4 SGB soll fortbestehen.
III. Änderungen bei der Einkommensanrechnung
(§ 82 Abs.4 SGB XII)
Der Gesetzentwurf sieht vor, dass die Vorschrift über die Anrechnung von Einkommen um eine Regelung über einmalige Einnahmen ergänzt wird. Zukünftig sollen einmalige Einnahmen, bei denen für den Monat des Zuflusses bereits Leistungen ohne Berücksichtigung der Einnahme erbracht worden sind, im Folgemonat berücksichtigt werden (Satz 1). Entfiele der Leistungsanspruch durch die Berücksichtigung in einem Monat, ist die einmalige Einnahme künftig auf einen Zeitraum von sechs Monaten gleichmäßig aufzuteilen und mit einem entsprechenden Teilbetrag zu berücksichtigen (Satz 2).
Bewertung
Nach Auffassung der BAGFW ist bei einmaligen Einnahmen eine Regelung notwendig für den Fall, dass die einmalige Leistung bereits aufgezehrt wurde und nicht mehr als bereites Mittel zur Verfügung steht. Auch in diesem Fall müssen Leistungen als Zuschuss erbracht werden können.
Die BAGFW lehnt die geplante Änderung in § 82 Abs. 4 Satz 2 ab. Zwar wird nach der Gesetzesbegründung eine Regelungslücke geschlossen, die bestand, wenn die einmalige Einnahme höher als der monatliche Leistungsanspruch ist. Dies hat nach derzeitiger Gesetzeslage zur Folge, dass für den Monat des Zuflusses keine Hilfebedürftigkeit besteht und damit ein Leistungsanspruch entfällt. Zumindest in der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem Vierten Kapitel des SGB XII bedeutet dies, dass im Folgemonat, beziehungsweise nach Verbrauch der einmaligen Einnahme, ein erneuter Antrag zu stellen ist. Durch die Gesetzesänderung soll deshalb eine Verteilung der einmaligen Einnahme auf einen Zeitraum von sechs Monaten erfolgen. Die Regelung hat künftig zur Folge, dass die einmalige Leistung vollständig angerechnet wird und nicht mehr wie nach derzeitigem Recht nach Ablauf des Zuflussmonats ein Teilbetrag dem Schonvermögen zugerechnet wird. Sie trifft damit aber gerade Menschen hart, die bei Beginn des Leistungsbezugs kein Vermögen im Rahmen der ohnehin sehr niedrigen Schonvermögensgrenzen hatten und es infolge der geplanten Regelung auch nicht mehr ansparen könnten.
Ungelöst bleibt weiterhin das Problem bei Rentenneuzugängen durch Renten, die immer erst am Monatsende ausgezahlt werden. Diese sind laufende Einnahmen und werden auf den im Monat des Zuflusses bestehenden Bedarf angerechnet. Dadurch entsteht eine Bedarfsunterdeckung bis zum Ende des jeweiligen Monats. Die BAGFW fordert, diese Bedarfslücke zu schließen.
Vorschlag
§ 82 Abs. 4 Satz 2 wird gestrichen. Stattdessen ist nach § 82 Abs. 4 Satz 1 folgender Satz einzufügen: „Bei Hilfebedürftigkeit nach Verbrauch der einmaligen Einnahme sind Leistungen als Zuschuss zu erbringen.“
Die BAGFW spricht sich dafür aus, dass die Anrechnung von Einkommen und Leistungen aus der gesetzlichen Rentenversicherung erst bei tatsächlichem Zufluss erfolgen und das Instrument der Überleitung in Bezug auf den Rentenversicherungsträger stärker genutzt werden sollte.
IV. Keine Berücksichtigung der Heizkosten bei der Ermittlung der Einkommensgrenze (§ 85 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 SGB XII)
In § 85 Abs. 1 SGB XII wird gesetzlich klargestellt, dass künftig bei der Berechnung der Einkommensgrenze für Leistungen nach dem Fünften bis Neunten Kapitel die Heizkosten nicht mehr eingehen. Dies führt im Ergebnis dazu, dass die Einkommensgrenze, die sicherstellen soll, dass ein angemessener Betrag zur Bestreitung des Lebensunterhalts und der sonstigen allgemeinen Lebensbedürfnisse verbleibt, sinkt. Das darüber hinaus liegende zu berücksichtigende Einkommen ist bei der Hilfe nach dem Fünften bis Neunten Kapitel einzusetzen.
Bewertung
Das Bundessozialgericht hat in seinem Urteil vom 25.04.2013 (B 8 SO 8/12 R) die Auslegungsfrage noch anders entschieden und keinen ersichtlichen Grund erkennen können, „warum Gelder für angemessene Heizkosten, die normativ und auch tatsächlich notwendigerweise für den allgemeinen Lebensunterhalt zur Verfügung stehen müssen, von § 85 Abs. 1 Nr. 2 SGB XII nicht erfasst sein sollten.“ Diese Auslegung ist nach der gesetzlichen Klarstellung nicht mehr möglich. Die Änderung kann dazu führen, dass höhere Eigenanteile aus dem Einkommen erbracht werden müssen, z. B. für die Eingliederungshilfe oder die Hilfe zur Pflege. Dies ist auch vor dem Hintergrund, dass künftig die Leistungen der Eingliederungshilfe nicht mehr einkommens- und vermögensabhängig gewährt werden soll, eine deutliche Verschlechterung für die Betroffenen.
Vorschlag
Die Änderung ist zu streichen. Die BAGFW schlägt eine gesetzliche Klarstellung dahingehend vor, die die angemessenen Aufwendungen für die Heizung in die Berechnung der Einkommensgrenze einbezieht.
V. Fehlende gesetzliche Klarstellung zur Zuordnung von volljährigen behinderten Menschen, die keinen eigenen Haushalt führen
Der Gesetzgeber hat es unterlassen, eine gesetzliche Klarstellung im SGB XII für volljährige erwerbsunfähige behinderte Menschen, die keinen eigenen Haushalt führen, sondern bei ihren Eltern oder in einer WG leben, dahingehend einzufügen, dass diese Menschen der Regelbedarfsstufe 1 zuzuordnen sind.
Die BAGFW spricht sich dafür aus, dass die Anrechnung von Einkommen und Leistungen aus der gesetzlichen Rentenversicherung erst bei tatsächlichem Zufluss erfolgen und das Instrument der Überleitung in Bezug auf den Rentenversicherungs-träger stärker genutzt werden sollte.
Bewertung
Das Bundessoziallgericht hat in seinem Urteil vom 23.07.2014 (Az.: B 8 SO 14/13 R) entschieden, dass ein gemeinsamer Haushalt nicht voraussetzt, dass der behinderte Mensch nach seinen individuellen Fähigkeiten einen Haushalt auch ohne Unterstützungsleistungen eines anderen allein meistern kann. Ausreichend ist die Beteiligung an der Haushaltsführung im Rahmen der jeweiligen geistig-seelischen und körperlichen Leistungsfähigkeit. Lediglich dann, wenn keinerlei Haushaltsführung beim Zusammenleben mit einer anderen Person festgestellt werden kann, ist ein Anwendungsfall der Regelbedarfsstufe 3 denkbar. Für die Zuordnung zur Regelbedarfsstufe 1 ist auch nicht entscheidend, dass ein eigener Haushalt vollständig oder teilweise geführt wird; es genügt vielmehr, dass der Leistungsberechtigte einen eigenen Haushalt gemeinsam mit einer Person - gegebenenfalls mit Eltern oder einem Elternteil - führt, die nicht sein Partner ist. Hintergrund der Entscheidung ist die Praxis der Sozialleistungsträger, volljährigen Menschen mit Behinderung, die bei ihren Eltern oder in einer Wohngemeinschaft leben, nur Leistungen für den Lebensunterhalt in Höhe der Regelbedarfsstufe 3, damit lediglich 80 Prozent der Regelleistung zu gewähren. Zwischenzeitlich hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) eine Weisung an die obersten Landessozialbehörden erlassen. Danach sollen die betreffenden Personen zwar weiterhin formell der Regelbedarfsstufe 3 zugeordnet werden, jedoch Leistungen in Höhe der Regelbedarfsstufe 1 erhalten: statt derzeit 320 nun 399 Euro. Diese verwaltungsinterne Weisung kann aber nur eine Zwischenlösung sein. Auf Dauer bedarf es hier einer einklagbaren gesetzlichen Regelung, auf die sich die Leistungsberechtigten (ohne einen Rückgriff auf die Selbstbindung der Verwaltung) unmittelbar berufen können.
Vorschlag
Die BAGFW fordert, dass im SGB XII gesetzlich klargestellt wird, dass die betreffenden Menschen der Regelbedarfsstufe 1 zuzuordnen sind.
VI. Partielle Öffnung der Arbeits- und Ausbildungsförderung für Geduldete und bestimmte Personengruppen mit Aufenthaltserlaubnis (§ 78 SGB III, Art. 6, Abs. 4 25. BAföGÄndG)
Mit dem hier vorliegenden Gesetzentwurf werden partielle Erleichterungen beim Zugang zu Maßnahmen der Arbeits- und Ausbildungsförderung geschaffen. Geduldete Flüchtlinge erhalten einen Zugang zu ausbildungsbegleitenden Hilfen. Der Zugang zu Leistungen nach dem BAföG und im SGB III wird für Geduldete und bestimmte Personengruppen mit einer Aufenthaltserlaubnis von derzeit vier Jahren auf 15 Monate abgesenkt. Hierdurch wird eine bereits für den 1. August 2016 im 25. Gesetz zur Änderung des Bundesausbildungsförderungsgesetzes (25. BAföGÄndG) normierte Neuerung auf den 1. Januar 2016 vorgezogen.
Personen mit einer Duldung und einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen haben ohne Wartefrist ab dem ersten Tag des Aufenthalts in Deutschland Zugang zum Ausbildungsmarkt, ohne dass die Zentrale Auslands- und Fachvermittlung (ZAV) der Bundesagentur für Arbeit zustimmen muss. Für Personen mit einer Aufenthaltsgestattung, also noch im Asylverfahren befindliche Personen, hat sich die Wartefrist für den Zugang zum Arbeitsmarkt von bisher neun bzw. zwölf Monaten auf die ersten drei Monate des Aufenthalts verkürzt. In allen drei Fällen besteht jedoch ein nachrangiger Arbeitsmarktzugang, d.h. es muss für die konkrete Beschäftigung eine Beschäftigungserlaubnis der Ausländerbehörde vorliegen.
Bereits im Zuge des Gesetzes zur Neuordnung des Bleiberechts und der Änderung der Beschäftigungsverordnung ist es zu Verbesserungen beim Arbeitsmarktzugang für Geduldete und Asylbewerber gekommen. So wurde durch einen Zusatz in § 60a des AufenthG klargestellt, dass eine Berufsausbildung ein dringender persönlicher Grund für die Erteilung einer Duldung sein kann und für deren gesamte Dauer eine Duldung erteilt werden kann.
Bewertung
Die BAGFW begrüßt die Öffnung der Arbeits- und Ausbildungsförderung für Geduldete. Die vorstehend geschilderten Ansätze zur verbesserten Unterstützung und zum erleichterten Zugang zu BAföG-Leistungen sind jedoch nur punktuelle Unterstützungen. Asylsuchende bleiben weiterhin dauerhaft von der Ausbildungsförderung ausgeschlossen. Vor dem Hintergrund, dass viele der jungen asylsuchenden Menschen letztlich doch als Flüchtlinge anerkannt oder aus anderen Gründen - auch nach einem negativen Asylbescheid - in Deutschland bleiben werden, sollte ihnen möglichst schnell ein Zugang zu einer Ausbildung und damit gesellschaftlicher Teilhabe eröffnet werden. Die Wohlfahrtsverbände halten dies für geboten. Hierfür gibt es wichtige Gründe: Nach drei Monaten folgen die Zuweisung in die Kommunen und die Schulpflicht. Es ist nicht zielführend, dass dann Regelinstrumente nach dem SGB III (z. B. Förderung aus dem Vermittlungsbudget, Berufliche Weiterbildung, Einstiegsqualifizierung usw.) weitestgehend in Anspruch genommen werden können, Leistungen der Ausbildungsförderung aber nicht. In den ersten 15 Monaten können neben einer Ausbildung Leistungen nach dem AsylbLG bezogen werden. Es schließt sich jedoch an diesen Zeitraum – anders als bei Geduldeten – kein Anspruch auf Ausbildungsförderung an. Das kann sogar dazu führen, dass die bereits begonnene Ausbildung abgebrochen werden muss. Problematisch ist auch, dass Personen mit bestimmten Aufenthaltserlaubnissen, unter anderem Opfer schwerer Straftaten oder illegaler Arbeitsausbeutung (§25 Abs. 4a und Abs. 4b AufenthG) sowie Familienangehörige von anerkannten Flüchtlingen (§ 36 AufenthG) von den Verbesserungen ausgeschlossen bleiben. Nur ein Teil der ausbildungsfördernden Instrumente wird für Geduldete zügiger bereitgestellt, während etwa berufsvorbereitende Bildungsmaßnahmen oder die Förderung einer außerbetrieblichen Berufsbildung für lange Zeit verschlossen bleiben. Für diese gelten die ausländerrechtlichen Einschränkungen nach § 8 Abs. 3 BAföG und § 59 Abs. 3 SGB III fort. Sie sind somit an eine Voraufenthaltsdauer und Erwerbstätigkeit von fünf Jahren oder eine mindestens dreijährige Voraufenthaltsdauer und Erwerbstätigkeit der Eltern innerhalb der letzten sechs Jahre vor Beginn der Ausbildung geknüpft. Darüber hinaus ist die Wartezeit von 15 Monaten für einen jungen Menschen, der bereit ist, seine Zukunft zu gestalten und damit letztlich auch einen gesamtgesellschaftlichen Beitrag zu leisten, unangemessen lange.
Vorschlag
Die BAGFW fordert, dass alle Ausländer(innen) mit Aufenthaltserlaubnis oder Duldung, die eine Ausbildung machen und nicht eigens zu diesem Zweck eingereist sind, ohne Frist Unterstützung bei Ausbildung und Qualifizierung erhalten sollen. Die Voraufenthaltsdauer von 15 Monaten ist als Kriterium zu streichen. Die Maßnahmen zur Vorbereitung und Unterstützung eines Berufsabschlusses sind insgesamt zu öffnen und bedarfsgerecht bereitzustellen. Dementsprechend sind auch die berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahmen sowie die Förderung einer außerbetrieblichen Berufsausbildung für alle Ausländer(innen) mit Aufenthaltserlaubnis oder Duldung zu öffnen.
Asylsuchenden sollte ebenfalls möglichst schnell Zugang zu Arbeits- und Ausbildungsförderung eröffnet werden
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Für das Gesetzgebungsvorhaben halten wir vor allem folgende Punkte für wichtig, die Beachtung und Eingang in das neu gefasste GWB finden müssen:
· Klarstellungen zum Anwendungsbereich des Vergaberechts
· Ausnutzen der Gestaltungsspielräume der EU-Richtlinien
· Absicherung eines Qualitätswettbewerbes
I. Allgemein
1. Charakteristika und Rahmenbedingungen sozialer Dienstleistungen
Soziale Dienstleistungen heben sich von anderen Dienstleistungen dadurch ab, dass sie ihre Wirkung erst im Zusammenspiel zwischen dem Personal des sozialen Dienstleisters und dem Klienten/der Klientin entfalten (sog. Koproduktion sozialer Dienstleistungen). Entsprechend muss bei der Definition und Beschreibung dieser Leistungen stets ein Spielraum bleiben, der es erlaubt, die Leistung den Bedürfnissen anzupassen, die die Klienten/Klientinnen im Einzelfall haben. Diese methodisch zwingende Offenheit von sozialen Dienstleistungen setzt der Standardisierung und engmaschigen Definition von Dienstleistungen enge Grenzen.
Soziale Arbeit ist stets personenbezogene Beziehungsarbeit, die von den Mitarbeitenden des sozialen Dienstleisters hohe Fachkompetenz und ausreichende Erfahrung verlangt. Vor diesem Hintergrund hängt die Qualität der Gesamtleistung wesentlich von denjenigen ab, die die Leistungen tatsächlich ausführen, also dem „mit der Ausführung … beauftragten Personal(s)“ (vgl. Artikel 67 Abs. 2 lit. b EU-Vergaberichtlinie). Eine hohe Fluktuation von Beschäftigungsverhältnissen beeinträchtigt den Erfolg dieser Arbeit, da sie eine ständige erhebliche Unruhe in die jeweilige Beziehungsarbeit trägt. Ungeachtet der Qualifikation der jeweiligen Mitarbeitenden stellt eine solche Instabilität auch den Erfolg der Arbeit mit den Klientinnen/Klienten in Frage. Damit ist auch die verlässliche Verfügbarkeit von qualifizierten Mitarbeitenden eine wichtige Voraussetzung für das Gelingen der fachlich benötigten Beziehungsarbeit.
Dass der vorgelegte Entwurf es bei der Definition von Leistung, Eignungs- und Zuschlagskriterien ebenso wie bei der Ausformulierung von Ausführungsbedingungen ermöglicht, qualitative, soziale, umweltbezogene oder innovative Aspekte einzubeziehen, ist ein Schritt in die richtige Richtung. Dies schafft, wenn die maßgeblichen Auftraggeber diese Impulse aufgreifen, einen guten Ansatzpunkt, um den Besonderheiten der sozialen Dienstleistungen Rechnung zu tagen.
Eine weitere Besonderheit der sozialen Dienstleistungen ist, dass in diesem Bereich viele gemeinnützige Anbieter tätig sind, die sich tariflich gebunden oder satzungsrechtlich verpflichtet haben, ihren Mitarbeitenden eine angemessene tariflich oder im Wege des kirchlichen Arbeitsrechts festgelegte Vergütung zu zahlen. Allerdings reichen derzeit weder der seit 2015 geltende allgemeine Mindestlohn noch der besondere Mindestlohn für den Weiterbildungsbereich aus, die über eine solche Bindung entstehenden Personalkosten abzudecken. Damit entsteht der für die Anbieter unzumutbare Widerspruch, dass zwar die Einhaltung dieser Selbstverpflichtung rechtlich gefordert ist und deren Verletzung zum Ausschluss vom Vergabeverfahren führen kann (§ 124 Abs.1 Nr. 1 GWB-E), gleichzeitig aber die EuGH-Rechtsprechung zur Tarifbindung es den Bietern unmöglich macht, die zu leistenden Tarife refinanziert zu bekommen.
Während es mit dem 1. Pflegestärkungsgesetz vom 17.12.2014 gelungen ist, einen vergleichbaren Widerspruch im Pflegerecht aufzuheben und die Selbstverpflichtung zur Zahlung von Tariflöhnen als maßgeblicher Gesichtspunkt für die Refinanzierung anerkannt ist (s. § 84 Abs. 2 Satz 5 SGB XI), besteht der Widerspruch im Vergaberecht fort. Als solcher stellt er eine existenzgefährdende und verfassungsrechtlich fragwürdige Belastung der Anbieter dar. Ein Verhalten kann nicht einerseits verfassungsrechtlich sogar mit einer Drittwirkung der Tariffreiheit geschützt sein, um im Kontext der Finanzierung, also in dem für die wirtschaftliche Existenz ausschlaggebenden Aspekt, als rechtlich unbeachtlich behandelt zu werden. Die BAGFW fordert deshalb den Gesetzgeber auf,
• dem Leerlauf der verfassungsrechtlich sowohl mit Artikel 9 Abs. 3 Grundgesetz als auch dem kirchlichen Selbstbestimmungsrecht abgesicherten Garantien Einhalt zu gebieten,
• nicht weiterhin zuzulassen, dass dieser Konflikt zwischen der EuGH-Rechtsprechung und dem innerdeutschen Verfassungsrecht einseitig zulasten der tariflich gebundenen Arbeitgeber unentschieden bleibt und deshalb
• ähnlich wie in § 84 Abs. 2 Satz 5 SGB XI eine angemessene Lösung für dieses Problem zu finden und eine Refinanzierung der auf der Grundlage von Tarifverträgen bzw. kirchlichem Arbeitsrecht eingegangenen Tarifbindungen sicherzustellen.
Die Vergabe von Arbeitsmarktdienstleistungen ist von einer starken Abhängigkeit der Bieter von den Auftraggebern geprägt, die einem Nachfragemonopol gleichkommt. Die Praxis der Bundesagentur für Arbeit, den größten Teil der Ausschreibungen deutschlandweit in einem einzigen Zeitfenster abzuwickeln, macht es Anbietern nahezu unmöglich, den Misserfolg in einer Bewerbung durch eine erfolgreiche Ausschreibung an anderer Stelle zu kompensieren. Die für den Bereich der Daseinsvorsorge typische Abhängigkeit der Anbieter von den Auftraggebern lässt sich mit den von der Bundes-agentur in Aussicht gestellten längeren Vertragslaufzeiten allenfalls für den erfolgreichen Bieter abmildern. Für die nicht berücksichtigten Bieter hingegen verstärken solche längeren Vertragslaufzeiten die Auswirkungen ihres Misserfolges sogar noch und beschleunigen die Verdrängung der unterlegenen Konkurrenten aus dem Wettbewerb. Eine solche Marktbereinigung wäre selbst unter den Bedingungen eines strengen Qualitätswettbewerbs rechtfertigungsbedürftig. Denn sie stellt das breit aufgestellte Bieterfeld, das Grundlage eines innovativen und qualitätsvollen Wettbewerbs ist, in Frage. Solange der Wettbewerb zudem de facto einseitig vom Preiskriterium dominiert wird, sind die von ihm ausgelösten Verdrängungseffekte in jeder Hinsicht kontraproduktiv.
2. Verhältnis Vergaberecht und Sozialrecht
In der Gesamtsumme der Vergabeverfahren nehmen die Ausschreibungen von sozialen Dienstleistungen nur einen geringen Anteil ein. Vor allem kommen diese Verfahren bei den Maßnahmen der Arbeitsförderung nach dem 2. und 3. Buch des Sozialgesetzbuches zur Anwendung. Weitere Anwendungsfälle des Vergaberechts können sich im Rahmen atypischer Formen der Zusammenarbeit von öffentlichen und freien Trägern ergeben, wenn wegen einer pauschal zu leistenden Finanzierung das Betriebsrisiko nach den in § 106 Abs. 2 GWB-E niedergelegten Kriterien beim öffentlichen Träger verbleibt[1].
Vergaberecht ist nur anzuwenden, wenn ein öffentlicher Auftrag vorliegt. Dies ist der Fall, wenn ein Leistungsträger im Rahmen eines entgeltlichen Beschaffungsvorganges unter den konkurrierenden Anbietern einen Anbieter auswählt und mit diesem einen exklusiven Vertrag abschließt.
Die BAGFW begrüßt, dass der Gesetzentwurf die im Sozialrecht typischen Zulassungsverfahren an mehreren Stellen der Entwurfsbegründung deutlich vom vergaberechtlichen Wettbewerbsmodell abgrenzt, hält aber eine gesetzliche Klarstellung für erforderlich.
Für die Unterwerfung der Zulassungsverträge unter das Vergaberecht besteht auch deshalb kein Bedarf, weil die für das sozialrechtliche Dreiecksverhältnis typischen Vereinbarungen den Anbietern den Zugang zum Wettbewerb lediglich eröffnen, aber nicht entscheiden. Damit schaffen sie die Voraussetzung dafür, dass im späteren Wettbewerb um die leistungsberechtigen Menschen möglichst viele Angebote zur Wahl stehen. Die Trägerpluralität ist damit gelichzeitig Voraussetzung für einen Wettbewerb wie auch die Verwirklichung des Wunsch- und Wahlrechts (vgl. §§ 17 und 33 SGB I). Die Leistungsberechtigten treffen die Auswahlentscheidung für zum Beispiel einen Pflegedienst oder eine Rehabilitationseinrichtung. Den Umfang der zu erbringenden Leistung bestimmt und kontrolliert der Leistungsträger im Rahmen des individuellen Leistungsbescheides.
Damit stellt die klassische Organisationsform der sozialrechtlichen Leistungserbringung im Dreiecksverhältnis nach den Abgrenzungsmerkmalen des GWB-E keinen auszuschreibenden Auftrag dar. Die Erwägungsgründe der Konzessionsrichtlinie und in Ziffer 114 der Auftragsrichtlinie bestätigen dies ausdrücklich.
3. Neugestaltung des Vergaberechts maßgeblich im GWB
Die BAGFW begrüßt ausdrücklich die im Gesetzentwurf angelegte neue Struktur des Vergaberechts, die maßgebliche Aussagen im förmlichen, vom Bundestag erlassenen Gesetzesrecht verankert und damit dem Vergaberecht eine deutlich stärkere demokratische Legitimation verschafft.
Da die Richtlinienumsetzung allerdings nur für Vergabeverfahren oberhalb der EU-Schwellenwerte zum Tragen kommt, stellt sich die Frage, ob und wie die Reform und die damit verbundenen Verbesserungen (namentlich die Stärkung des Qualitätswettbewerbs) auch für Verfahren unterhalb der Schwellenwerte zum Tragen kommen können. Ohne eine explizit vorgesehene Übertragbarkeit dieser reformierten Regelungen gelten wie bisher die Vergabeordnungen für Dienst-, Bau- oder freie Leistungen. Jedenfalls für den Bereich der sozialen Dienstleistungen muss gesichert sein, dass für Beschaffungen unterhalb des Schwellenwertes keine strengeren Regelungen (z. B. der Vorrang der öffentlichen Ausschreibung aus § 3 Abs. 2 VOL/A) gelten, sondern im Ergebnis die gleichen Regelungen gelten.
Bei aller Zustimmung zum Gesetzentwurf im Ganzen kommt die BAGFW jedoch nicht umhin festzustellen, dass der Gesetzentwurf weder dem eigenen Anspruch, die Richtlinie 1:1 umzusetzen noch den Vorgaben der Vergaberichtlinie gerecht wird.
Besonders deutlich wird dies bei der Umsetzung der Artikel 74 ff der Vergaberichtlinie. Diese geht davon aus, dass sozialen Dienstleistungen selbst bei Überschreiten des Schwellenwertes nur eingeschränkte Binnenmarktrelevanz zukommt. Vor diesem Hintergrund sieht es der Gesetzentwurf als gerechtfertigt an, die Anforderungen an deren Ausschreibung so gering wie möglich zu halten. Allerdings verlangt die Richtlinie von den Mitgliedstaaten auch, einen Ausgleich zwischen den wettbewerblichen Belangen von Transparenz und Chancengleichheit auf der einen und den besonderen Belangen im Zusammenhang mit sozialen Dienstleistungen auf der anderen Seite zu schaffen, die Art. 76 Abs. 2 RL 2014/24/EU aufzählt. Die BAGFW ist der Ansicht, dass es dem Sinn der Art. 74 ff am nächsten käme, wenn wesentliche Grundsätze des allgemeinen Vergaberechts hinsichtlich der Besonderheiten der sozialen Dienstleistungen in einem Sonderregime konkretisiert würden. Damit ließe sich auch die europarechtliche Vorgabe „so viel Vergaberecht wie nötig und so viel Sozialrecht wie möglich“ realisieren.
Der vorliegende Gesetzentwurf wird diesem Anspruch nicht gerecht.
Problematisch ist dabei nicht nur, dass der Entwurf das sogenannte Sonderregime auf eine einzige kurze Regelung reduziert. Vor allem bleiben die sozialen Dienstleistungen systematisch in das allgemeine Vergaberecht eingebettet mit wenigen punktuellen Ausnahmen. (Weiteres hierzu unter II.9)
Letztlich wird sich erst im Gesamtzusammenhang von Gesetz- und Verordnungsentwurf beurteilen lassen, ob und inwieweit das VergModG und die VgV die ihnen durch die Vergaberichtlinie eingeräumten Gestaltungsmöglichkeiten nutzen. Der aktuelle Entwurf lässt aber eher vermuten, dass Möglichkeiten zu eigenständigen Gestaltungen der Hoffnung auf ein möglichst konfliktfreies Gesetzgebungsverfahren aufgeopfert worden sind.
Zu einzelnen Vorschriften des Gesetzentwurfs nimmt die BAGFW wie folgt Stellung:
II. Regelungen im Einzelnen
1. § 97 GWB-E – Grundsätze der Vergabe
Die ausdrückliche Verankerung des Wirtschaftlichkeitsbegriffs und des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes als Grundsatz des gesamten Vergaberechts in § 97 Abs. 1 GWB-E stellt gegenüber den bisherigen Regelungen einen deutlichen Gewinn dar. Um eine effiziente Beschaffung sicherzustellen, muss das Vergaberecht den Auftraggebern weitgehende Gestaltungsspielräume einräumen. Damit verschaffen sie den Auftraggebern allerdings auch Freiräume, die von der Rechtsprechung nur in begrenztem Umfang kontrollierbar sind. Vor diesem Hintergrund erweitert der Entwurf den Abs. 1 um Maßstäbe für Verfahrensentscheidungen der Auftraggeber, die deren Gestaltungsfreiheit nicht auf bestimmte Ergebnisse festlegen, wohl aber als Kriterien für eine korrekte Ermessensausübung in Betracht kommen. Insbesondere bewirkt die Verankerung der Wirtschaftlichkeit als allgemeinem Maßstab des Vergaberechts, dass sich Wertungsentscheidungen nur noch in begründeten Ausnahmefällen auf bloße Preisvergleiche reduzieren lassen.
Im Zusammenhang mit diesen neu verankerten Grundsätzen spricht sich die BAGFW dafür aus, Absatz 6 um eine an § 40 VwVfG bzw. § 39 SGB I angelehnte Regelung zu ergänzen.
Obwohl bereits der gegenwärtig in Absatz 6 Satz 1 enthaltene Anspruch auf Einhaltung des Vergaberechts eine Rechtskontrolle ermöglicht, relativieren die vergaberechtstypischen weitgehenden Einschätzungs- und Ermessensspielräume deren Reichweite erheblich. Die nunmehr vorgeschlagene Ermessensregelung zeigt die Grenzen auf, in denen sich die Auftraggeber bei der Ausübung von Ermessensspielräumen bewegen. Zudem ermöglicht sie eine Vergewisserung über deren ordnungsgemäßen Gebrauch. Damit trägt sie dazu bei, den Anspruch der Bieter auf ermessensfehlerfreie Entscheidungen zu verwirklichen und so die von der Rechtsprechung längst bestätigte umfassende Bindung staatlicher Institutionen an die Grundrechte sowie an Recht und Gesetz aus Artikel 20 Abs. 3 Grundgesetz sicherzustellen[2].
Ergänzend zum Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in Abs. 1 schafft diese Ergänzung einen angemessenen Ausgleich zwischen den Verhandlungspositionen der Auftraggeber und der Bieter. Während das in Abs. 1 verankerte Verhältnismäßigkeitsprinzip einseitig übermäßige Belastungen der strukturell unterlegenen Seite verhindert, sichert die Ermessenskontrolle das Willkürverbot. Gerade bei der Umsetzung des wettbewerbsrechtlich ausgerichteten EU-Vergaberechts erscheint die Ermessensregel sinnvoll, um die Rechtsposition der Bieter konsequent zu schützen.
Besonders beim „Einkauf“ sozialer Dienstleistungen wird deutlich, dass eine Ermessensentscheidung im Sinne § 39 SGB I vorweg genommen wird. Im Interesse der Leistungsberechtigten muss sie der gleichen Rechtskontrolle unterliegen wie eine unmittelbar an die Leistungsberechtigten gerichtete Entscheidung.
Vorschlag:
Abs. 6 wird um folgende Sätze ergänzt:
„Ist der Auftraggeber ermächtigt, nach seinem Ermessen zu handeln, hat er sein Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten. Dies gilt entsprechend, wenn die Anwendung eines unbestimmten Rechtsbegriffs einen Beurteilungsspielraum des öffentlichen Auftraggebers eröffnet.“
2. § 103 GWB-E Öffentlicher Auftrag
Gegenüber dem Referentenentwurf ist nun in der Begründung klargestellt, dass das Vergaberecht auf Verträge im sozialrechtlichen Dreiecksverhältnis nicht anwendbar ist. Bedauerlicherweise wird der einschränkende Begriff sozialhilferechtliches Dreiecksverhältnis benutzt. Die korrekte Bezeichnung lautet sozialrechtliches Dreiecksverhältnis.
3. § 105 GWB-E Konzessionen
Die BAGFW begrüßt, dass in der Begründung zu § 105 GWB-E eine klare Abgrenzung zwischen Ausschreibungen und Zulassungsverträgen erfolgt. Wie in der Begründung zu § 103 GWB-E ist auch hier wie folgt zu korrigieren. Die korrekte Bezeichnung lautet sozialrechtliches Dreiecksverhältnis.
4. § 107 GWB-E Allgemeine Ausnahmen
Die BAGFW begrüßt die Präzisierung des § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB-E gegenüber dem Referentenentwurf hinsichtlich der Bereichsausnahme für den Rettungsdienst. Damit wird dem politischen Willen in Deutschland sowie dem Gestaltungszweck des EU-Legislativpakets und damit dem erklärten Willen des EU-Richtliniengebers Rechnung getragen.
5. § 118 GWB-E bevorzugte Auftragsvergabe
Die BAGFW begrüßt die Regelung ausdrücklich. Die bevorzugte Auftragsvergabe an diese Unternehmen trägt dem Anliegen der EU-Richtlinie Rechnung, die soziale und berufliche Eingliederung für unterschiedliche Personenkreise, die am Arbeitsmarkt und in der Gesellschaft benachteiligt sind, zu befördern. Sie leistet damit einen Beitrag zur weiteren Beschäftigungs- und Erwerbsmöglichkeit dieser Personengruppen.
Auch hier stellt sich jedoch wieder die Frage nach der praktischen Umsetzung dieser Regelung. Solange der Gesetzgeber sich damit begnügt, Impulse zu setzen und deren Verwirklichung dem freien Ermessen der Auftraggeber zu überlassen, sieht die BAGFW die Gefahr, dass die Vergaberechtsreform in diesem wichtigen Punkt über Absichtserklärungen nicht hinausgeht und es Auftraggebern ermöglicht, ihre bisherige Beschaffungspolitik fortzusetzen. Der deutsche Gesetzgeber sollte deshalb seinen Gestaltungsspielraum zur Umsetzung der EU-Richtlinie nutzen und die öffentlichen Auftraggeber verpflichten, regelmäßig vorbehaltene Aufträge zum Zweck der Beschäftigung von benachteiligten Zielgruppen zu vergeben.
6. § 121 GWB-E Barrierefreiheit
Die BAGFW hält die Bestimmung des gegenüber dem Referentenentwurf neu eingefügten Abs. 2 grundsätzlich für sinnvoll, wonach die Anforderungen an eine barrierefreie Ausgestaltung der nachgefragten Leistung „außer in ordnungsgemäß begründeten Fällen“ bereits in der Leistungsbeschreibung zu verankern sind.
Allerdings bedarf die Umsetzung dieser Regelung in den einzelnen Leistungsbeschreibungen unbedingt einer Konkretisierung dieser Anforderungen. Es ist wichtig, an dieser Stelle deutlich zu machen, welche konkreten Zugangshindernisse sich aus dem Auftragszuschnitt für künftige Nutzerinnen und Nutzer ergeben können und wie diese behoben werden sollen. Gerade diese Aspekte einer Leistungserbringung sollten sinnvollerweise im Rahmen von Verhandlungsverfahren erörtert werden.
Demgegenüber wäre eine unmodifizierte Verpflichtung zur Umsetzung der Barrierefreiheit als weder mit dem in § 97 Abs. 1 GWB verankerten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit noch mit der Anforderung vereinbar, dass die Anforderung an die Leistungen und die Auftragsausführung einen Bezug zum Auftrag aufweisen müssen. Für Aspekte der Barrierefreiheit, die sich nicht aus dem Auftrag ableiten lassen und deshalb auch nicht Gegenstand der Leistungsbeschreibung werden können, müssen die Träger von sozialen Dienstleistungen realistische Umsetzungsfristen eingeräumt bekommen.
Die BAGFW hält eine entsprechende Erläuterung in der Begründung für unerlässlich. Ansonsten lässt gerade das ausdrückliche Begründungserfordernis befürchten, dass die Auftraggeber es bei einer allgemeinen Maximalforderung belassen und die Belastung mit deren sinnvoller Umsetzung in unangemessener Weise auf die Bieter abwälzen.
7. § 124 GWB-E Ausschlussgründe
Die BAGFW begrüßt es ausdrücklich, dass nach § 124 Abs. 1 Nr. 1 Verstöße gegen das Umwelt-, Arbeits- und Sozialrecht zum Ausschluss von unzuverlässigen Bietern führen können und es so jedenfalls erlaubt ist, für die Zukunft Konsequenzen aus einer früheren Fehlentscheidung zu ziehen. An dieser Stelle begrüßt die BAGFW auch die Klarstellung dazu, welche Arbeitsrechtsregelungen im Zusammenhang mit Nr. 1 maßgeblich sein können. Gerade angesichts der Bedeutung, die der EuGH-Rechtsprechung zu vergabespezifischen Mindestlöhnen beigemessen wird, erscheint es wichtig, die Bedeutung von „einfachen“ Arbeitsrechtsregelungen zu stärken. Die BAGFW bittet darum, in diesem Zusammenhang auch das kirchliche Arbeitsrecht zu erwähnen, dessen Vorgaben für die Mitgliedseinrichtungen der Diakonie und der Caritas nicht minder verbindlich sind als die Bestimmungen eines Tarifvertrages.
Allerdings stellt sich die Frage, weshalb der Gesetzgeber nicht von seiner Möglichkeit Gebrauch macht, Verstöße gegen das Umwelt-, Arbeits- und Sozialrecht nach Nr. 1 als zwingenden Ausschlussgrund zu behandeln. Art. 57 IV a) Richtlinie 2014/24/EU hätte eine solche Regelung mitgetragen, wobei es den Mitgliedsstaaten überlassen geblieben wäre, die Anforderungen an den geeigneten Nachweis eines solchen Verstoßes festzulegen. § 123 GWB-E wäre ein geeigneter Kontext für einen solchen Ausschlussgrund.
Die höchst preis- und qualitätssensiblen Wettbewerbsbedingungen bei den sozialen Dienstleistungen, insbesondere Arbeitsmarktdienstleistungen, brauchen das zusätzliche Korrektiv einer effektiven Preiskontrolle. So bedarf die in Artikel 69 Abs. 3 der Vergaberichtlinie geregelte Nachprüfung von auffällig niedrigen Angeboten und der Ausschluss von nicht hinreichend erläuterten Angeboten einer Rechtsgrundlage im GWB. Die Kontrolle ungewöhnlich niedriger Angebote ist ein wichtiger Bestandteil der Angebotsprüfung. Denn sie indiziert, ob der Bieter gesetzliche und tarifliche Regelungen zu Löhnen und anderen Arbeitsbedingungen einhält. Nur durch eine solche strenge Prüfpflicht kann verhindert werden, dass sich Bieter unter Umgehung der verbindlichen Arbeitsbedingungen Aufträge erschleichen.
8. § 127 GWB-E Zuschlag
Die BAGFW begrüßt, dass Abs. 1 die Relevanz des Wirtschaftlichkeitskriteriums für die Zuschlagsentscheidung und die Notwendigkeit einer Preis-Leistungs-Relation deutlich heraushebt und klarstellt. Der Entwurf stellt damit klar, dass der Preis oder die Kosten grundsätzlich nicht der einzige Wertungsgesichtspunkt sein dürfen.
9. § 130 GWB-E Ausschreibung von sozialen und anderen besonderen Dienstleistungen
Verglichen mit den in Art. 76 der Vergaberichtlinie enthaltenen weitgehenden Gestaltungsspielräumen für die Ausschreibung von sozialen Dienstleistungen verfolgt der Gesetzentwurf mit der Einbettung des § 130 GWB-E in das allgemeine Vergaberecht genau den umgekehrten Ansatz und reduziert die Umsetzung von Artikel 76 auf einige wenige punktuelle Ausnahmen vom allgemeinen Vergaberecht.
Aus unserer Sicht ist die in § 113 Nr. 5 GWB-E aufgenommene Ermächtigung ungenügend, die für die nähere Ausgestaltung des Sonderregimes für soziale Dienstleistungen auf die Vergabeverordnung verweist. Vielmehr fehlen wesentliche Aspekte der Umsetzung des Art.76 Abs. 2 der Vergaberichtlinie, die der parlamentarische Gesetzgeber selbst zu bestimmen hat.
Selbst wenn die Spielräume des allgemeinen Vergaberechts in der Theorie weitgehende Möglichkeiten zu Einzelfall-Gestaltungen lassen, fehlt es an verbindlichen Impulsen, diese Freiräume auch zu nutzen. Wir schlagen vor, dass der Entwurf den Artikel 76 Abs. 2 der Vergaberichtlinie im Wortlaut übernimmt. Dies würde den Rechtsanwender dafür sensibilisieren, dass es eines Ausgleichs zwischen den formalen Anforderungen des Vergaberechts und den Zielen des Sozialrechts bedarf.
Zur Umsetzung der Vergaberichtlinie reicht es nach Ansicht der BAGFW nicht aus, im Gesetz und in der Vergabeverordnung punktuelle Ausnahmen vom allgemeinen Vergaberecht zu verankern. Dem formellen Parlamentsgesetz kommt vielmehr eine Leitfunktion zu, der der Entwurf nicht gerecht wird. Gerade wenn der Entwurf eine 1:1-Umsetzung der Richtlinie anstrebt, hätte er die Übernahme von Artikel 76 Abs. 2 der Vergaberichtlinie vorsehen müssen.
Soweit Vergaberecht überhaupt zur Anwendung kommt, müssen der Gesetzgeber und jeder einzelne Auftraggeber sicherstellen, dass sozialverträgliche Gestaltungen hinreichend zum Tragen kommen. Der Gesetzgeber sollte einen allein von Preisaspekten dominierten Unterbietungs- und Verdrängungswettbewerb verhindern. Im 10. Jahr seit Anwendung des Vergaberechts auf Arbeitsmarktdienstleistungen sieht die BAGFW den Gesetzgeber ebenso wie die zuständigen Aufsichtsbehörden der Auftrag gebenden Leistungsträger in der Verantwortung, mit den neuen Gestaltungsmitteln des Vergaberechts die Folgen eines kontraproduktiven, Qualitätsaspekte vernachlässigenden Preiswettbewerbs für Anbieter und Nutzer der Leistungen zu begrenzen. Besondere Berücksichtigung muss deshalb zukünftig bei der Erteilung des Zuschlags die angebotene Qualität der sozialen Dienstleistungen erlangen. Die BAGFW fordert, im Vergabeverfahren die Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität abzubilden.
Die im Gesetzentwurf vorgeschlagene Freigabe nahezu aller Verfahrensarten hält die BAGFW für sehr wichtig. Der Gesetzentwurf bietet eine gute Grundlage, um zukünftig eine größere Vielfalt von Vergabeverfahren und damit mehr Passgenauigkeit beim Einkauf zu ermöglichen. Entscheidend wird sein, dass Auftraggeber wie die Bundesagentur für Arbeit und die Jobcenter die sich neu eröffnenden Möglichkeiten auch tatsächlich nutzen. Im Sinne einer stärkeren Einbeziehung der Bedürfnisse der Teilnehmenden bei der Erbringung sozialer Dienstleistungen können z. B. im Verlaufe eines dialogischen Vergabeverfahrens Bedarfe der Teilnehmenden sowie besondere methodische Kompetenzen der Träger schon bei der Auftragsformulierung berücksichtigt werden. Das nicht offene Verfahren sollte etwa genutzt werden, um kurzfristig auftretende bzw. bekannt gewordene Bedarfe der Nutzerinnen und Nutzer zu decken oder im Rahmen des Teilnahmewettbewerbs eine qualitative Vorauswahl der Angebote vorzunehmen.
Das Sozialrecht ist geprägt vom Subsidiaritätsprinzip. Das heißt, die Leistungserbringung durch Private hat Vorrang vor der Eigenerbringung durch die öffentliche Hand. Dieser Grundsatz darf nicht durch Nutzung der erweiterten Möglichkeiten des § 108 GWB-E unterlaufen werden.
Erfreulicherweise wird an geeigneten Stellen der Entwurfsbegründung darauf hingewiesen, dass Zulassungsverträge im sozialrechtlichen Dreiecksverhältnis nicht unter das Vergaberecht fallen. Allerdings gibt es – weniger mit dem Blick auf den Wettbewerb als vielmehr mit dem Ziel, gemeinnützige Anbieter zu verdrängen - ordnungspolitischen Widerspruch gegen diese Bewertung; so beispielsweise von der Monopolkommission im XX. Hauptgutachten 2014 zum Jugendhilferecht des Sozialgesetzbuchs VIII. Um diese Diskussion zu beenden und um die in Artikel 1 Absatz 5 der Vergaberichtlinie ausdrücklich anerkannte Vielfalt an Modellen der Leistungserbringung abzusichern, fordert die BAGFW eine gesetzliche Verankerung des sachgerechten und bewährten Modells des Wettbewerbs im sozialrechtlichen Dreiecksverhältnis.
Nachfolgend wird ein Formulierungsvorschlag zu § 130 GWB-E unterbreitet. Erwägenswert ist auch eine Verortung in § 103 GWB-E.
Vorschlag:
Die bisher in § 130 GWB-E getroffene Regelung wird zu § 130 Abs. 2 GWB-E. Ihr wird folgender Abs. 1 vorangestellt:
(1) „Bei der Ausschreibung von Dienstleistungen im Sinne des Anhangs XIV der Richtlinie 2014/24/EG tragen die öffentlichen Auftraggeber der Notwendigkeit, Qualität, Kontinuität, Zugänglichkeit, Bezahlbarkeit, Verfügbarkeit und Vollständigkeit der Dienstleistungen, sowie den spezifischen Bedürfnissen verschiedener Nutzerkategorien, einschließlich benachteiligter und schutzbedürftiger Gruppen, der Einbeziehung und Ermächtigung der Nutzer und dem Aspekt der Innovation Rechnung.“
Nach Absatz 2 werden folgende Absätze 3 bis 5 eingefügt:
(3) „Die Bestimmung des aus der Sicht des öffentlichen Auftraggebers wirtschaftlich günstigsten Angebots erfolgt anhand einer Bewertung auf der Grundlage des Preises oder der Kosten, mittels eines Kosten-Wirksamkeits-Ansatzes (zum Beispiel der Lebenszykluskostenrechnung). Bei Leistungen im Sinne von Abs. 1 beinhaltet diese Bestimmung das beste Preis-Leistungs-Verhältnis, das auf der Grundlage von Kriterien — unter Einbeziehung qualitativer und/oder sozialer Aspekte — bewertet wird, die mit dem Auftragsgegenstand des betreffenden öffentlichen Auftrags in Verbindung stehen. Zu diesen Kriterien gehören Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität.“
(4) „Vor einer Zusammenarbeit im Sinne des § 108 zur Erbringung sozialer Dienstleistungen prüfen die Partner, ob in ihrem Zuständigkeitsbereich geeignete Einrichtungen und Dienste Dritter vorhanden sind, ausgebaut oder in Kürze geschaffen werden können.“
(5) „Die nicht entgeltlichen Zulassungsverträge nach Maßgabe des Sozialgesetzbuchs unterfallen nicht diesem Gesetz.“
[1] So insb. OLG Hamburg Beschluss vom 8.7.2008, 1 Verg 1/08)
[2] So OLG Brandenburg NVwZ 1999, 1142, 1146, VK Bund NJW 2000, 151, 153; BVerfGE 116, 135; s. zusammenfassend mit entsprechendem Regelungsvorschlag Robin Ricken in Beurteilungsspielräume und Ermessen im Vergaberecht – Zur Dogmatik der Entscheidungsspielräume öffentlicher Auftraggeber, 2014, S 210, 263 bis 266
]]>Seit dem 1. Januar 2013 erstattet der Bund den Ländern 75 Prozent, ab 2014 100 Prozent der Nettoausgaben in der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung. Infolge der dadurch eingetretenen Bundesauftragsverwaltung besteht gesetzgeberischer Handlungsbedarf im Vierten Kapitel des SGB XII. Die Bundesregierung hat aus diesem Anlass einen Referentenentwurf eines Dritten SGB XII-Änderungsgesetzes vorgelegt. Neben Regelungen zur Nachweispflicht der Länder sollen bei der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung Ergänzungen bei der Berücksichtigung von Einkommen, Verwaltungsvereinfachungen ermöglichende Änderungen, Klarstellungen zu bestehenden Auslegungsfragen sowie Vereinheitlichung von Begrifflichkeiten und redaktionelle Korrekturen vorgenommen werden. Einzelne Änderungen bewertet die BAGFW im Hinblick auf deren Wirkung auf die Antragsteller/-innen.
B. Zusammenfassung
Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege plädieren insbesondere dafür, die Freibetragsgrenze für die Anrechnung von Zinseinkünften im SGB XII den Regelungen des SGB II anzugleichen und diese auch bei der Hilfe zum Lebensunterhalt und den Hilfen nach dem 5. bis 9. Kapitel SGB XII anzuwenden. Zugunsten der Leistungsberechtigten und im Sinne einer Verwaltungsvereinfachung soll ein Globalantrag eingeführt werden. Soweit bei der Anrechnung einmaliger Einnahmen für die Betroffenen Verschlechterungen gegenüber der heutigen Rechtslage eintreten, werden die Neuregelungen abgelehnt.
Weitergehend fordert die BAGFW insbesondere eine gesetzliche Klarstellung zur Zuordnung von volljährigen Menschen mit Behinderung ohne eigenen Haushalt in die Regelbedarfsstufe 1. Außerdem sollen Vermögen stärker freigestellt werden, gerade dann, wenn dies der Altersvorsorge dient.
Bewertung der einzelnen Maßnahmen
I. Einführung von Freibeträgen für Zinseinkünfte und Unfallrenten
(§ 43 Abs. 3 und 4 SGB XII)
Gesetzentwurf
Der Gesetzentwurf sieht in Absatz 3 einen neuen Freibetrag von 26 Euro im Kalenderjahr für Einnahmen aus Kapitalvermögen (Zinserträge und Ähnliches) vor. Bislang gab es für Zinseinkünfte keinen Freibetrag. Zudem wird mit dem neuen Absatz 4 ein Freibetrag für Leistungsberechtigte geschaffen, die während ihrer Wehrdienstzeit bei der Nationalen Volksarmee der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (DDR) einen Unfall erlitten haben.
Bewertung
Die BAGFW begrüßt es, dass in der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung ein Freibetrag für Einnahmen aus Kapitalvermögen eingeführt wird. Das führt dazu, dass diese Einkünfte aus dem bescheidenen Schonvermögen auch bei den Leistungsbeziehern verbleiben können. Eine ähnliche Regelung gibt es auch im SGB II. Dort beträgt die Bagatellgrenze für Erträge oder Zinsen jedoch monatlich 10 Euro. Dagegen sind im SGB XII kalenderjährlich künftig nur 26 Euro, damit monatlich 2,17 Euro anrechnungsfrei. Die Höhe des Freibetrags entspricht einem Prozent des Schonvermögensbetrags von 2.600 Euro bei Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung. Nach der Gesetzesbegründung wird mit dem auf dieser Basis berechneten Freibetrag der überwiegende Teil der Leistungsberechtigten zwar vor dem Hintergrund des aktuell sehr niedrigen Zinsniveaus in Deutschland von der Einkommensanrechnung von Zinseinkünften freigestellt. Die Zinseinkünfte sollten jedoch auch dann noch freigestellt sein, wenn die Zinsen wieder steigen.
Zudem sieht die BAGFW bereits die unterschiedlichen Vermögensfreigrenzen des SGB II und SGB XII kritisch. Dies ist im Hinblick auf die Sicherung des Lebensunterhalts insbesondere nicht nachvollziehbar, sofern sie Menschen mit Behinderung betrifft, die auf Grundsicherung wegen Erwerbsminderung angewiesen sind. Auch bei ihnen müssen z. B. Freibeträge für Vermögen, das der Altersvorsorge dient, anerkannt werden. Zudem betreffen die Vermögensfreigrenzen auch die Leistungen nach dem 5. bis 9. Kapitel. Für Menschen mit Behinderung, die erwerbstätig sind, aber zugleich Leistungen der Eingliederungshilfe beziehen, besteht aktuell keine Möglichkeit, aus ihrem Erwerbseinkommen nennenswerte Beträge anzusparen. Hier besteht Änderungsbedarf.
Im Übrigen machen wir darauf aufmerksam, dass derzeit an dem Entwurf eines Bundesteilhabegesetzes gearbeitet wird. In diesem Zuge hat die BAGFW bereits darauf hingewiesen, dass das in einem Bundesteilhabegesetz zu verankernde Prinzip des Nachteilsausgleichs nicht mehr mit dem in der Sozialhilfe geltenden Bedürftigkeitsprinzip vereinbar ist. Dies bedeutet, dass weder der Leistungsberechtigte noch sein Ehepartner bzw. eingetragene/r Lebenspartner/-in und/oder seine Angehörigen mit seinem/ihrem jeweiligen Einkommen und Vermögen zu den Teilhabeleistungen herangezogen werden können.
Die BAGFW begrüßt, dass mit der Einführung von Freibeträgen für Unfallrenten, die wegen während Wehrdienstzeiten bei der Nationalen Volksarmee der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik erlittenen Arbeitsunfällen gezahlt werden, zukünftig alle Betroffenen, hinsichtlich der Berücksichtigung ihrer Renten als Einkommen in der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung gleich behandelt werden. Damit wird die derzeitige Ungleichbehandlung gegenüber Personen, die eine Grundrente nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) und nach den Gesetzen, die eine entsprechende Anwendung des BVG vorsehen, aufgehoben.
Vorschlag
Die BAGFW schlägt vor, den Freibetrag für Einkünfte aus Kapitalvermögen auf 120 Euro im Jahr, d. h. monatlich 10 Euro zu erhöhen, damit die Freistellung unabhängig von den Entwicklungen auf dem Finanzmarkt auch nachhaltig wirken kann.
Die BAGFW schlägt vor, den Freibetrag für Einkünfte aus Kapitalvermögen nicht nur bei der Grundsicherung im Alter, sondern auch bei der Hilfe zum Lebensunterhalt und bei den Hilfen nach dem 5. bis 9. Kapitel freizustellen. Es besteht hier kein Grund für eine Ungleichbehandlung.
Die BAGFW fordert, in § 90 SGB XII Vermögen, das der Altersvorsorge dienen soll, von der Anrechnung freizustellen, insofern Hilfe zum Lebensunterhalt und Grundsicherung bei Erwerbsminderung bezogen werden.
Leistungen der Eingliederungshilfe sollen von der Anrechnung von Einkommen und Vermögen freigestellt werden.
II. Antragserfordernis, Änderungen zulasten der Leistungs-berechtigten
(§ 44 Abs. 1 SGB XII)
Gesetzentwurf
Aus systematischen Gründen wird künftig in § 44 Abs. 1 SGB XII geregelt, dass Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung auf Antrag erbracht werden. Das Antragsprinzip fand sich zuvor in § 41 SGB XII. Darüber hinaus wird in Abs. 1 nun klargestellt, dass einmalige Bedarfe (§ 31 SGB XII), Bedarfe für eine angemessene Alterssicherung (§ 33 SGB XII) und die Bedarfe für Bildung und Teilhabe (§§ 34 bis 34 b SGB XII) sowie ergänzende Darlehen (§ 37 SGB XII), gesondert zu beantragen sind.
Nicht aus § 44 Absatz 1 SGB XII a. F. wird hingegen dessen Satz 4 übernommen, nach dem eine Änderung zulasten der leistungsberechtigten Person erst ab dem Folgemonat zu einer Änderung führt. Änderungen, unabhängig davon, ob sie sich begünstigend oder belastend auswirken, sollen sich, wie im Dritten Kapitel des SGB XII oder auch in der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II, in dem Monat des Ereignisses auswirken.
Bewertung
Die BAGFW spricht sich für eine Regelung aus, durch die die Leistungsberechtigten im SGB XII grundsätzlich zu beantragende Leistungen durch einen einzigen Antrag beantragen können. Dies könnte wie auch im SGB II bereits in der Praxis praktiziert durch einen sog. Glo-balantrag erfolgen. Dadurch kann zum einen der Verwaltungsaufwand beschränkt werden. Zum anderen werden auch die betroffenen Leistungsberechtigten entlastet.
Darüber hinaus spricht sich die BAGFW dafür aus, dass eine Änderung zulasten der leistungsberechtigten Person weiterhin erst ab dem Folgemonat zu einer Änderung führt. Hierdurch wird der Verwaltungsaufwand begrenzt, da ansonsten eine Rückforderung bereits erbrachter Leistungen erforderlich wird.
Vorschlag
Der sog. Globalantrag soll für im SGB XII zu beantragende Leistungen eingeführt werden.
Der bisherige § 44 Absatz 1 Satz 4 SGB XII soll fortbestehen.
III. Änderungen bei der Einkommensanrechnung
(§ 82 Abs.4 SGB XII)
Gesetzentwurf
Der Gesetzentwurf sieht vor, dass die Vorschrift über die Anrechnung von Einkommen um eine Regelung über einmalige Einnahmen ergänzt wird. Zukünftig sollen einmalige Einnahmen, bei denen für den Monat des Zuflusses bereits Leistungen ohne Berücksichtigung der Einnahme erbracht worden sind, im Folgemonat berücksichtigt werden (S. 1). Entfiele der Leistungsanspruch durch die Berücksichtigung in einem Monat, ist die einmalige Einnahme künftig auf einen angemessenen Zeitraum gleichmäßig aufzuteilen und monatlich mit einem entsprechenden Teilbetrag zu berücksichtigen (S. 2).
Bewertung
Nach Auffassung der BAGFW ist bei einmaligen Einnahmen eine Regelung notwendig für den Fall, dass die einmalige Leistung bereits aufgezehrt wurde und nicht mehr als bereites Mittel zur Verfügung steht. Auch in diesem Fall müssen Leistungen als Zuschuss erbracht werden können.
Die BAGFW lehnt die geplante Änderung in § 82 Abs. 4 S. 2 ab. Zwar wird nach der Gesetzesbegründung eine Regelungslücke geschlossen, die bestand, wenn die einmalige Einnahme höher als der monatliche Leistungsanspruch ist. Dies hat nach derzeitiger Gesetzeslage zur Folge, dass für den Monat des Zuflusses keine Hilfebedürftigkeit besteht und damit ein Leistungsanspruch entfällt. Zumindest in der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem Vierten Kapitel des SGB XII bedeutet dies, dass im Folgemonat, beziehungsweise nach Verbrauch der einmaligen Einnahme, ein erneuter Antrag zu stellen ist. Durch die Gesetzesänderung soll deshalb eine Verteilung der einmaligen Einnahme auf einen „angemessenen“ Zeitraum erfolgen. Die Regelung hat künftig zur Folge, dass die einmalige Leistung vollständig angerechnet wird und nicht mehr wie nach derzeitigem Recht nach Ablauf des Zuflussmonats ein Teilbetrag dem Schonvermögen zugerechnet wird. Sie trifft damit aber gerade Menschen hart, die bei Beginn des Leistungsbezugs kein Vermögen im Rahmen der ohnehin sehr niedrigen Schonvermögensgrenzen hatten und es infolge der geplanten Regelung auch nicht mehr ansparen könnten.
Ungelöst bleibt weiterhin das Problem bei Rentenneuzugängen durch Renten, die immer erst am Monatsende ausgezahlt werden. Diese sind laufende Einnahmen und werden auf den im Monat des Zuflusses bestehenden Bedarf angerechnet. Dadurch entsteht eine Bedarfsunterdeckung bis zum Ende des jeweiligen Monats. Die BAGFW fordert, diese Bedarfslücke zu schließen.
Vorschlag
§ 82 Abs. 4 Satz 2 wird gestrichen. Stattdessen ist nach § 82 Abs. 4 Satz 1 folgender Satz einzufügen: „Bei Hilfebedürftigkeit nach Verbrauch der einmaligen Einnahme sind Leistungen als Zuschuss zu erbringen.“
Die BAGFW spricht sich dafür aus, dass die Anrechnung von Einkommen und Leistungen aus der gesetzlichen Rentenversicherung erst bei tatsächlichem Zufluss erfolgen und das Instrument der Überleitung in Bezug auf den Rentenversicherungsträger stärker genutzt werden sollte.
IV. Fehlende gesetzliche Klarstellung zur Zuordnung von volljährigen behinderten Menschen, die keinen eigenen Haushalt führen
Gesetzentwurf
Der Gesetzgeber hat es unterlassen, eine gesetzliche Klarstellung im SGB XII für volljährige erwerbsunfähige behinderte Menschen, die keinen eigenen Haushalt führen, sondern bei ihren Eltern oder in einer WG leben, dahingehend einzufügen, dass diese Menschen der Regelbedarfsstufe 1 zuzuordnen sind.
Die BAGFW spricht sich dafür aus, dass die Anrechnung von Einkommen und Leistungen aus der gesetzlichen Rentenversicherung erst bei tatsächlichem Zufluss erfolgen und das Instrument der Überleitung in Bezug auf den Rentenversicherungsträger stärker genutzt werden sollte.
Bewertung
Das Bundessoziallgericht hat in seinem Urteil vom 23.07.2014 (Az.: B 8 SO 14/13 R) entschieden, dass ein gemeinsamer Haushalt nicht voraussetzt, dass der behinderte Mensch nach seinen individuellen Fähigkeiten einen Haushalt auch ohne Unterstützungsleistungen eines anderen allein meistern kann. Ausreichend ist die Beteiligung an der Haushaltsführung im Rahmen der jeweiligen geistig-seelischen und körperlichen Leistungsfähigkeit. Lediglich dann, wenn keinerlei Haushaltsführung beim Zusammenleben mit einer anderen Person festgestellt werden kann, ist ein Anwendungsfall der Regelbedarfsstufe 3 denkbar. Für die Zuordnung zur Regelbedarfsstufe 1 ist auch nicht entscheidend, dass ein eigener Haushalt vollständig oder teilweise geführt wird; es genügt vielmehr, dass der Leistungsberechtigte einen eigenen Haushalt gemeinsam mit einer Person - gegebenenfalls mit Eltern oder einem Elternteil - führt, die nicht sein Partner ist. Hintergrund der Entscheidung ist die Praxis der Sozialleistungsträger, volljährigen Menschen mit Behinderung, die bei ihren Eltern oder in einer Wohngemeinschaft leben, nur Leistungen für den Lebensunterhalt in Höhe der Regelbedarfsstufe 3, damit lediglich 80 Prozent der Regelleistung zu gewähren. Zwischenzeitlich hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) eine Weisung an die obersten Landessozialbehörden erlassen. Danach sollen die betreffenden Personen zwar weiterhin formell der Regelbedarfsstufe 3 zugeordnet werden, jedoch Leistungen in Höhe der Regelbedarfsstufe 1 erhalten: statt derzeit 320 nun 399 Euro. Hier braucht es hingegen nicht nur eine vorübergehende, sondern eine dauerhafte transparente Klarstellung im Gesetz.
Vorschlag
Die BAGFW fordert, dass im SGB XII gesetzlich klargestellt wird, dass die betreffenden Menschen der Regelbedarfsstufe 1 zuzuordnen sind.
Berlin, 16.07.2015
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Über diese grundlegende Ausrichtung hinaus enthält der Entwurf sowohl positiv zu bewertende Elemente als auch Bestimmungen, die dem formulierten Ziel aus Sicht der BAGFW nicht förderlich sind. Zu ausgewählten Punkten nimmt die BAGFW im Folgenden detailliert Stellung.
Artikel 1 Änderung des Achten Buches Sozialgesetzbuch
§6 Abs. 2 Geltungsbereich
Sachstand
In Abs. 2 werden die Voraussetzungen, unter denen ausländische Kinder und Jugendliche Zugang zu den Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe erhalten, konkretisiert. Demnach können sie nun unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus Leistungen aus dem Leistungsspektrum des SGB VIII erhalten. Diese Regelung stellt die Rechtslage klar, wie sie sich bereits jetzt aus dem Völkerrecht ergibt. Dieser Zugang ausländischer Kinder und Jugendlicher zu den Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe gilt mit dem Zeitpunkt ihrer Einreise.
Bewertung
Die BAGFW begrüßt diese Klarstellung, die den Zugang zu bedarfsgerechten Leistungen sichert und damit einen Beitrag zur Chancengerechtigkeit für alle in Deutschland lebenden Kinder und Jugendlichen leistet.
§42a Vorläufige Inobhutnahme von ausländischen Kindern und Jugendlichen nach Einreise
Sachstand
Mit Abs. 1 wird das Primat der Jugendhilfe für die Unterbringung, Versorgung und Betreuung des ausländischen Kindes oder Jugendlichen sichergestellt.
Abs. 2 regelt die Maßnahmen, die im Rahmen einer vorläufigen Inobhutnahme durchgeführt werden sollen. Das beschriebene Screening dient der Klärung einer eventuellen Kindeswohlgefährdung durch eine Verteilung sowie eine ärztliche Untersuchung, welche die Reisefähigkeit des unbegleiteten minderjährigen jungen Menschen prüfen und insbesondere eine Ansteckungsgefahr für andere Personen ausschließen soll. Ferner soll während der vorläufigen Inobhutnahme geklärt werden, ob sich verwandte Personen im Inland aufhalten und ob die Verteilung gemeinsam mit anderen Kindern und Jugendlichen erfolgen sollte. Für die vorläufige Inobhutnahme sind sieben Werktage vorgesehen, das Clearing zur Klärung des Jugendhilfebedarfs soll erst nach der Verteilung am Zuweisungsort erfolgen.
Abs. 3 enthält die Verpflichtung des Jugendamtes, notwendige Entscheidungen im Interesse des Kindes oder des Jugendlichen zu treffen sowie einen Vormund zu bestellen, wenn innerhalb von sieben Werktagen keine Verteilung erfolgt ist.
Abs. 4 regelt die Meldepflichten des aufnehmenden Jugendamtes im Rahmen der Verteilung, während
Abs. 5 die konkreten Bedingungen einer Verteilung sichert. Hierzu gehört die Begleitung und Übergabe des jungen Menschen zum aufnehmenden Jugendamt durch eine geeignete Person ebenso wie die Verpflichtung zur Übermittlung der notwendigen Daten. Der Absatz schließt mit der Klarstellung, dass die unbegleiteten minderjährigen ausländischen Kinder und Jugendlichen angemessen zu beteiligen sind.
Bewertung
Unbegleitete minderjährige ausländische Kinder und Jugendliche haben vielfach traumatisierende Erfahrungen im Herkunftsland und auf der Flucht hinter sich gebracht. Die Sicherstellung des Primats der Kinder- und Jugendhilfe für die Unterbringung, Versorgung und Betreuung ist notwendig und angemessen, um dieser Situation Rechnung zu tragen und entsprechende Hilfemaßnahmen einleiten zu können.
Grundsätzlich erkennt die BAGFW an, das eine Verteilung der jungen Menschen im Kontext der Überlastung einzelner Kommunen notwendig sein kann. Die konkrete Einzelfallentscheidung muss jedoch nachweisbar dem Kindeswohl dienen, ein Vorrang anderer Gründe ist an dieser Stelle abzulehnen. Die Formulierung im aktuellen Gesetzentwurf, die lediglich auf eine Gefährdungseinschätzung fokussiert, hält die BAGFW für unzureichend, da der Gesetzentwurf damit hinter den völkerrechtlichen Vereinbarungen der Bundesregierung und den europarechtlichen Verpflichtungen aus Art. 23 Abs. 1 EU-2013/33/EU (Aufnahmerichtlinie) zurück bleiben würde. Sie schlägt deshalb für Abs. (2) 1. folgende Formulierung vor:
1. ob dem Wohl des Kindes oder Jugendlichen durch die Verteilung gedient würde,
Die Berücksichtigung bereits in Deutschland lebender Verwandter der jungen Menschen bei der Umverteilungsentscheidung wird von der BAGFW ausdrücklich begrüßt. Zu prüfen wäre aus ihrer Sicht jedoch, inwieweit der dort genutzte Verwandtschaftsbegriff auch Bezugspersonen einschließt, zu denen es zwar keine direkte verwandtschaftliche Beziehung, wohl aber bereits persönliche Bindungen gibt. Aus Sicht der BAGFW sind solcherart bereits bestehende Bindungen auch im Kontext einer Verteilung zu berücksichtigen, da in diesen Fällen zwar in der Regel keine direkte Unterbringung bei den benannten Bezugspersonen möglich ist, eine Prüfung dieser Möglichkeit vor Ort jedoch dem Kindeswohl dienen kann. Dazu muss jedoch der Wohnort der Bezugsperson bei der Wahl des Zuweisungsortes Berücksichtigung finden können. In diesem Zusammenhang begrüßt die BAGFW ausdrücklich die Berücksichtigung von Bindungen unter den Kindern und Jugendlichen, die während der Flucht entstanden sind. Durch eine gemeinsame Verteilung kann die individuell möglicherweise empfundene Härte einer Verteilungsentscheidung deutlich gemildert werden.
Die Ermittlung des Gesundheitszustandes des jungen Menschen ist ebenfalls ausdrücklich zu begrüßen. Unzureichend erscheint jedoch die Reduzierung dieser Untersuchung auf eine Maßnahme des Seuchenschutzes. Die BAGFW hinterfragt an dieser Stelle die in Abs. (2) 4. formulierte Frist von 14 Werktagen, innerhalb derer eine Verteilung aus Gründen des Seuchenschutzes ausgeschlossen sein soll. Da bis zu einem Monat nach der Erstaufnahme verteilt werden kann, bleibt hier unklar, welche Konsequenz die gesetzte Frist für den betroffenen jungen Menschen hat. Gerade wenn man die Entscheidung über die Verteilung am Kindeswohl ausrichtet, muss es aus Sicht der BAGFW bei der ärztliche Untersuchung um eine Klärung des gesundheitlichen Allgemeinzustandes und damit auch um die Frage der Transportfähigkeit gehen sowie, soweit bereits möglich, beispielsweise um die Feststellung eines Verdachts auf eventuelle Traumatisierungen oder Behinderungen, um dem bei der Auswahl eines geeigneten Zuweisungsjugendamtes Rechnung tragen zu können.
Aus Sicht der BAGFW ist es nicht sinnvoll, die rechtliche Vertretung eines unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings und die Entscheidung über eine Verteilung in eine Hand zu geben, da hier die Gefahr eines Interessenskonfliktes für das zuständige Jugendamt besteht. Daher spricht sich die BAGFW nachdrücklich für die unverzügliche Bestellung eines gesetzlichen Vertreters aus, der eine effektive Vertretung des betroffenen jungen Menschen gewährleisten kann. Die in Abs. 3 formulierte 7-Tage-Regelung ist an dieser Stelle nicht nachvollziehbar. Die BAGFW ist sich darüber bewusst, dass die Bestellung eines Vormunds den Familiengerichten obliegt. Die Vormundbestellung ist für die Vertretung des Minderjährigen von großer Bedeutung. Das sieht der Gesetzentwurf auch vor, in dem die Vertretung des Minderjährigen auf den Vormund übergehen soll. Warum dies allerdings erst nach sieben Tagen erfolgen soll, erschließt sich nicht in Anbetracht der Tatsache, dass die Bestellung in der Regel sehr lange dauert und damit weiter verzögert würde. Dementsprechend sollte die Bestellung des Vormunds sofort nach der vorläufigen Inobhutnahme eingeleitet werden. Soweit das oft langfristige Verfahren nicht allein durch administrative Maßnahmen verkürzt werden kann, könnte es auch erheblich beschleunigt werden, wenn im Falle unbegleiteter minderjähriger ausländischer Kinder und Jugendlicher grundsätzlich vom Ruhen der elterlichen Sorge ausgegangen würde. Die BAGFW spricht sich an dieser Stelle im Interesse der betroffenen jungen Menschen für eine solche Regelung aus.
Die in Abs. 5 formulierten Maßgaben zur konkreten Umsetzung der Verteilung sind grundsätzlich zu begrüßen. Sowohl die Begleitung durch eine geeignete Person zum Aufnahmeort als auch die Verpflichtung zur Übermittlung notwendiger Daten sind im Interesse der Kinder und Jugendlichen und dem weiteren Hilfeprozess förderlich.
Im Blick auf die abschließend benannten Beteiligungsrechte der Kinder und Jugendlichen stellt die BAGFW fest, dass es grundsätzlich notwendig ist, sie über den Verlauf des Verfahrens und ihre Rechte und Pflichten im Verfahren in angemessener Weise aufzuklären. Nur so ist es möglich, ihren Willen in angemessener Weise zu berücksichtigen. Dazu ist sowohl die Hinzuziehung von Sprachmittlern notwendig als auch, solange noch kein Vormund verfügbar ist, eine Instanz, die die Verantwortung für die Wahrung der Interessen der jungen Menschen übernimmt. Obwohl das zuständige Jugendamt hier grundsätzlich in der Pflicht ist, darf der oben beschriebene Interessenkonflikt nicht außer Acht gelassen werden. Die BAGFW empfiehlt daher die verpflichtende Einrichtung von Ombudsstellen vorrangig an den Orten, die nach aktueller Datenlage Verteilungsentscheidungen zu treffen haben, um den Anforderungen von § 8b sowie §45 Abs. 2, 3. SGB VIII im Blick auf die Situation unbegleiteter minderjähriger ausländischer Kinder und Jugendlicher mit den notwendigen spezifischen Qualifikationen gerecht werden zu können. Damit könnte dem Interessenkonflikt des örtlichen Jugendamtes im Rahmen der Verteilungsentscheidung und gleichzeitig der Informationsverpflichtung angemessen begegnet werden.
Altersfestsetzung
Die Festsetzung der Minderjährigkeit ist die Grundvoraussetzung für die Zuständigkeit der Kinder- und Jugendhilfe. Um Unsicherheiten für die betroffenen jungen Menschen zu minimieren, sollte die am Ort der Einreise vorgenommene Einschätzung durch Inaugenscheinnahme von einer pädagogischen Fachkraft maßgeblich für das weitere Verfahren sein. Die BAGFW fordert bereits an dieser Stelle, die Frage der Altersfestsetzung anhand eindeutiger Kriterien und Standards gesetzlich zu sichern und in Zweifel im Interesse des Kindeswohls grundsätzlich den Angaben des unbegleiteten minderjährigen ausländischen Kindes oder Jugendlichen zu folgen und von dessen Minderjährigkeit ausgehen.
§42b Verfahren zur Verteilung unbegleiteter ausländischer Kinder und Jugendlicher
Sachstand
Hier wird das Verfahren geregelt, indem Fristen und Verantwortlichkeiten festgelegt werden.
Bewertung
Nachdem im §42a ausführlich die Kriterien benannt sind, die neben der Aufnahmequote für eine Verteilung berücksichtigt werden müssen, scheint nicht nachvollziehbar, warum in §42b Abs. 1 lediglich die Aufnahmequote benannt wird. Hier sollte die Bedeutung unterstrichen werden, die dem Screening nach §42a gerade in diesem Zusammenhang zukommt. Die BAGFW votiert deshalb für eine entsprechende Klarstellung in Abs. 1:
(1) (…) Maßgebend dafür ist die Aufnahmequote nach § 42c sowie die Kriterien nach § 42a Abs. 2.
Abs. 2 regelt die regionale Verteilung. Dabei ist grundsätzlich davon auszugehen, dass im Rahmen der Quote innerhalb des Bundeslandes und erst nach Erfüllung der Aufnahmequote in anliegende Bundesländer verteilt wird. Die vorgelegte Formulierung in Abs. 2, Satz 1, wird dieser Vorgabe nicht gerecht; hier bedarf es eines nachdrücklichen Verweises auf die Aufnahmequote: Die BAGFW empfiehlt daher folgende Formulierung:
(2) Im Rahmen der Aufnahmequote nach §42c wird das Land benannt (…).
Die BAGFW begrüßt das Vorhaben des Bundes, die Verteilung der unbegleiteten minderjährigen ausländischen Kinder und Jugendlichen bundesweit nach fachlichen Kriterien zu steuern. Die in Abs. 3 Satz 1 auf Dauer festgeschriebene Zuständigkeit des aufnehmenden Jugendamtes stellt jedoch im Blick auf ggf. später auftretende Bedarfe der Betroffenen oder eine Familienzusammenführung an einem entfernten Ort einen erheblichen Mangel an Flexibilität dar. Aus Sicht der BAGFW muss es Regelungen geben, die den Kindern und Jugendliche den Wechsel an einen geeigneten Ort mit gleichzeitigem Zuständigkeitswechsel des Jugendamtes ermöglichen. Für die BAGFW ist außerdem nicht nachvollziehbar, warum das aufnehmende Jugendamt lediglich geeignet sein soll. Allerdings hält sie es für unabdingbar zu konkretisieren, worauf sich diese Eignung bezieht, in diesem Fall die Unterbringung, Versorgung und Betreuung unbegleiteter minderjähriger ausländischer Kinder und Jugendlicher. Die Verbände der BAGFW sind sich darüber im Klaren, dass im Blick auf die fachliche Eignung zur Unterbringung, Versorgung und Betreuung unbegleiteter minderjähriger ausländischer Kinder und Jugendlicher bundesweit noch erheblicher Qualifizierungsbedarf besteht. Im Interesse der betroffenen jungen Menschen fordert sie an dieser Stelle trotzdem eine verbindlichere Regelung im Gesetzestext und schlägt folgende Formulierung vor:
(3) (…) Das Jugendamt, dem das Kind oder der Jugendliche zugewiesen wird, muss für die Unterbringung, Versorgung und Betreuung unbegleiteter minderjähriger ausländischer Kinder geeignet sein. (…)
Die BAGFW verweist in diesem Zusammenhang auf die „Handlungsempfehlungen zum Umgang mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen“ der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter vom Mai 2014. Die dort formulierten Kriterien bilden eine gute Grundlage für Ausbau und Qualifizierung von Jugendämtern im Kontext der Umverteilung.
Abs. 5 regelt die gemeinsame Verteilung von Geschwisterkindern sowie Kindern, die während der Flucht Bindungen zueinander aufgebaut haben und konkretisiert damit die Regelung in §42a (2). Die BAGFW votiert an dieser Stelle entsprechend ihrer Ausführungen zu §42a (2) dafür, den Absatz wie folgt zu ändern:
(5) Unbegleitete ausländische Kinder und Jugendliche werden im Rahmen der Aufnahmequote nach §42c gemeinsam verteilt und nach §42 in Obhut genommen, wenn es dem Kindeswohl dient. (…)
§42c Aufnahmequote
Sachstand
Hier werden die Aufnahmequote in Anlehnung an den Königsteiner Schlüssel sowie die Möglichkeit zur Aufnahme über die Quote hinaus geregelt.
Bewertung
Die BAGFW hält den Königsteiner Schlüssel nicht für das richtige Instrument zur Verteilung der minderjährigen unbegleiteten ausländischen Kinder und Jugendlichen, begrüßt aber, dass mit der Festlegung der Möglichkeit einer Aufnahme von jungen Menschen über die Quote hinaus der Situation in den Ländern Rechnung getragen werden soll, die ihre Aufnahmekapazitäten in den vergangenen Jahren ausgebaut haben und die Zuwanderung unbegleiteter Minderjähriger z.B. im Kontext des demografischen Wandels offensiv begleiten. Kritisch zu hinterfragen ist an dieser Stelle aus Sicht der BAGFW, welchen Anreiz der Bund im Rahmen der Kostenerstattung für den Erhalt vorhandener Kapazitäten zu geben bereit ist. Es ist nicht davon auszugehen, dass im Rahmen einer Quotenregelung Länder und Kommunen ohne entsprechenden Kostenausgleich bereit sind, über die Quote hinaus Kapazitäten bereit zu. Aufnahmen über die Quote hinaus sollten deshalb grundsätzlich auf die Quote angerechnet werden mit der Konsequenz, dass im Nachgang ein Ausgleich erfolgen kann.
§99 Erhebungsmerkmale (Kinder- und Jugendhilfestatistik)
Sachstand
Zur Verbesserung der Datenlage zur Situation unbegleiteter ausländischer minderjähriger Kinder und Jugendlicher sollen die Erhebungsmerkmale der Kinder- und Jugendhilfestatistik um Daten zu deren Unterbringung, Versorgung und Betreuung erweitert werden.
Bewertung
Die beabsichtigte Regelung stellt eine folgerichtige Erweiterung dar, um die Folgen der Gesetzesänderungen zur Verbesserung der Unterbringung, Versorgung und Betreuung ausländischer Kinder- und Jugendlicher evaluieren und ggf. nicht intendierte Gesetzesfolgen korrigieren zu können.
Die BAGFW begrüßt die Regelung, weist aber vorsorglich darauf hin, dass der geplante Umfang der Datenerhebung nicht ausreichen wird, um die Situation der betroffenen jungen Menschen angemessen darzustellen.
Artikel 2 Änderung des Aufenthaltsgesetzes
§ 80 Handlungsfähigkeit
Sachstand
Die formulierte Änderung fixiert die Anhebung der Altersgrenze zur Begründung der Handlungsfähigkeit in asyl- und ausländerrechtlichen Verfahren auf das Datum der Volljährigkeit gesetzlich.
Bewertung
Die geplante Gesetzesänderung setzt die Koalitionsvereinbarung von SPD und CDU/CSU um. Sie stellt eine Anpassung des Asyl- und Ausländerrechts an das Kinder- und Jugendhilferecht dar und stellt sicher, dass die Kinder- und Jugendhilfe auch bei unbegleiteten Jugendlichen, die das 18. Lebensjahr vollendet haben, Vorrang hat.
Die BAGFW hat die Anhebung der Altersgrenze seit langem gefordert und begrüßt die geplante Änderung im Aufenthaltsgesetz ausdrücklich. Gleichzeitig stellt sie fest, dass diese Änderung im Blick auf die geplanten Neuregelungen im SGB VIII zu Problemen in der praktischen Umsetzung führen könnte, wenn die jungen Menschen nicht zeitnah nach ihrer Inobhutnahme einen Rechtsbeistand erhalten, der sie im Blick auf die Asylantragstellung qualifiziert berät bzw. den Antrag für sie stellt.
Fazit
Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege erkennt die Notwendigkeit an, die Kommunen an den Transitrouten zu entlasten und unbegleitete minderjährige ausländische Kinder und Jugendliche zum eigenen Wohl gerechter zu verteilen. Nach Auffassung der BAGFW muss eine Verteilung in erster Linie dem Wohl der bereits durch die Fluchterfahrung hoch belasteten jungen Menschen dienen. Das Primat der Kinder- und Jugendhilfe, gesichert durch die Unterbringung, Versorgung und Betreuung in geeigneten Einrichtungen, sowie die unverzügliche Bestellung eines Vormunds sind dazu aus Sicht der BAGFW unerlässlich.
Bei einer Verteilung der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge ist zudem sicherzustellen, dass am Zuweisungsort die für die geeignete Unterbringung, Versorgung und Betreuung erforderlichen Bedingungen gewährleistet sind. Dies geht weit über die reine Kapazitätsfrage hinaus und umfasst Sprachmittler_innen, eine fachärztliche Versorgung und das Vorhandensein qualifizierter Vormünder bzw. Ergänzungspfleger_innen mit fundierten Kenntnissen im Asyl- und Aufenthaltsrechts. Letztendlich bedarf es der Entwicklung verbindlicher Standards für die Arbeit mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen.
Um zu vermeiden, dass die jungen Menschen gleichmäßig auf über 600 Jugendamtsbezirke verteilt werden, von denen die weit überwiegende Mehrheit bisher keinerlei Erfahrungen im Umgang mit unbegleiteten minderjährigen ausländischen Kindern und Jugendlichen und deren Bedarfen hat, bekräftigt die BAGFW ihren bereits im März 2015 formulierten Vorschlag zur Schaffung von Kompetenzzentren[1] hiermit noch einmal. Die Einrichtung neuer und die Weiterentwicklung bereits vorhandener Kompetenzzentren kann aus Sicht der BAGFW nur durch die Verlagerung der sachlichen Zuständigkeit von örtlichen Trägern auf den überörtlichen Träger sachgerecht im Sinne dieser Stellungnahme gewährleistet werden. Generell sollten aus Sicht der BAGFW bereits bestehende Kompetenzen in den bisher in diesem Arbeitsfeld erfahrenen Bundesländern ausgebaut werden. Dazu ist es unerlässlich, einen gerechten finanziellen Ausgleich zu schaffen. Hier lediglich auf das Prinzip der Freiwilligkeit zu bauen und keine Regelungen zu treffen, die die Refinanzierung der Unterbringung von unbegleiteten minderjährigen ausländischen Kindern und Jugendlichen über die verpflichtende Kapazität des jeweiligen Landes hinaus sichern, ist unverantwortlich und konterkariert die bisherigen Bemühungen einzelner Länder um eine dem Kindeswohl entsprechende Unterbringung, Versorgung und Betreuung der dort ankommenden jungen Menschen. Die Möglichkeiten und Grenzen der noch „unerfahrenen Bundesländern“ sollten berücksichtigt werden, denn nur ein sukzessiver, prozesshafter Aufbau von Strukturen kann eine Qualität der Arbeit im besten Interesse des Kindes sichern.
[1] Vgl. „Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge schützen, fördern und beteiligen! Ein Vorschlag der BAGFW für eine geänderte Zuständigkeitsregelung“, Berlin, 10.3.2015.
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Die BAG Freie Wohlfahrtspflege nimmt das Werkstattgespräch des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales zu unabhängiger Beratung im Rahmen des zu schaffenden Bundesteilhabegesetzes zum Anlass, um die aus ihrer Sicht notwendigen Anforderungen an zukünftige Beratungsleistungen und -strukturen für Menschen mit Behinderungen zu Rechtsansprüchen im System der Sozialgesetzgebung vorzulegen.
Die BAGFW begrüßt ausdrücklich, dass das Bundesministerium für Arbeit und Soziales die Stärkung der Beratung als ein zentrales Anliegen im Zuge des neu zu schaffenden Bundesteilhabegesetzes benennt.
Barrierefrei zugängliche und verständliche Informationen über Rechte und Rechtsansprüche im gegliederten System der Sozialgesetzgebung sind nach Ansicht der BAGFW eine unabdingbare Voraussetzung für Menschen mit Behinderungen, um sich selbstbestimmt für eine weitgehende unabhängige Lebensführung entscheiden zu können. Dazu gehören insbesondere Informationen über rechtliche Grundlagen und verschiedene Formen von Unterstützungsleistungen als auch Informationen zu Arten von Behinderungen und den damit verbundenen medizinischen, psychischen, rechtlichen oder sozialen Problemlagen.
Der Bedarf an Beratung wird steigen, wenn wie beabsichtigt, bisherige pauschale Leistungsgestaltungen in einem inklusionsorientierten Hilfesystem der Eingliederungshilfe in neue personenzentrierte Einzelleistungen differenziert werden und ein neues Verständnis von Behinderung entsprechend UN-Behindertenrechtskonvention (ICF-Orientierung) bei der Bedarfsfeststellung zur Anwendung kommen soll. Hierfür sind vielfältige Beratungs-, Koordinierungshilfen und Unterstützungsoptionen notwendig, die eine selbstbestimmte Auswahlentscheidung aller Menschen mit Behinderung und deren Angehörige im neuen System der Leistungsgewährung ermöglichen und ihre Selbsthilfekompetenzen stärken.
Daraus leiten sich nach Ansicht der BAGFW folgende Anforderungen an zukünftige Beratungsinhalte und -strukturen ab
· Der Rechtsanspruch auf eine qualifizierte, ausschließlich den Interessen der zu beratenden Person verpflichtete, anwaltschaftliche Beratung und Information ist eine wesentliche Voraussetzung für die Planung und Ausgestaltung personenbezogener Assistenz- und Unterstützungsleistungen und muss in das Bundesteilhabegesetz aufgenommen werden.
· Beratungsleistungen sind bei Feststellung eines entsprechenden individuellen Bedarfes vor, während und oder nach Abschluss der Inanspruchnahme von Teilhabeleistungen als eigenständige zu finanzierende Leistung zur Teilhabe zu gewähren, die vom Rechtsanspruch erfasst und ggf. einklagbar ist. Eine Anrechnung bzw. Verrechnung der Beratungsleistungen zu Lasten anderweitiger Teilhabeleistungen ist auszuschließen.
· Die Beratungsleistungen müssen kostenlos sein und umfassende Informationen zu Rechtsansprüchen auf Leistungen und deren Finanzierung sowie Informationen zu Assistenz- und Dienstleistungsangeboten beinhalten, um entsprechende Wahl- und Entscheidungsmöglichkeiten für die betreffenden Personen zu eröffnen.
· Beratungsleistungen haben sich je nach Beratungsbedarf inhaltlich auf die Teilhabe und damit vorrangig auf die Lebensbereiche Familie, Wohnen, Arbeitsleben und/oder Freizeitgestaltung zu beziehen.
· Die Beratungsangebote müssen dabei stets niedrigschwellig und barrierefrei gestaltet werden. Dazu gehört es auch, dass sie so flächendeckend organisiert sind, dass keine unzumutbaren Wegstrecken zum Aufsuchen eines Beratungsangebotes entstehen. Für Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf im Bereich der Mobilität müssen Beratungsleistungen überdies auf Wunsch in Form aufsuchender Beratung erbracht werden.
· Der Rechtsanspruch auf das Hinzuziehen einer Person des Vertrauens im Beratungsprozess muss wie bisher gewährleistet sein.
· Es muss Freiheit bezüglich der Wahl eines Beratungsangebotes bestehen: Menschen mit Behinderungen und / oder eine Person ihre Vertrauens treffen die Entscheidung, wo sie beraten werden wollen.
· Demgemäß müssen Leistungserbringer, Leistungsträger, Verbraucherzentralen, Freie Wohlfahrtspflege, Behindertenverbände und Verbände der Selbsthilfe als Anbieter von Beratungsleistungen in Frage kommen. Unberührt von der Stärkung unabhängiger Beratung muss die Beratungs- und Aufklärungspflicht der Leistungsträger bestehen bleiben.
· Die Beratungsleistungen sind ausschließlich den Interessen der zu beratenden Person verpflichtet und mit entsprechenden Qualitäts- und Fachstandards zu versehen.
Qualifizierte Beratung kann nicht ehrenamtlich geleistet werden. Sie ist angemessen zu finanzieren und als eigene Leistungsart in das Bundesteilhabegesetz aufzunehmen.
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Für das Gesetzgebungsvorhaben halten wir vor allem folgende Punkte für wichtig, die bei der weiteren Arbeit an dem Entwurf Beachtung und Eingang in das neu gefasste GWB finden sollten:
- Klarstellungen zum Anwendungsbereich des Vergaberechts
- Ausnutzen von Gestaltungsspielräumen in der Richtlinie und in der Anwendung des reformierten Vergaberechts durch die Auftraggeber
- Absicherung eines Qualitätswettbewerbes
I. Allgemein
1. Charakteristika sozialer Dienstleistungen
Soziale Dienstleistungen heben sich von anderen Dienstleistungen dadurch ab, dass sie ihre Wirkung erst im Zusammenspiel zwischen dem Personal des sozialen Dienstleisters und dem Klienten/der Klientin entfalten (sog. Koproduktion sozialer Dienstleistungen). Entsprechend muss bei der Definition und Beschreibung dieser Leistungen stets ein Spielraum bleiben, der es erlaubt, die Leistung den Bedürfnissen anzupassen, die die Klienten/Klientinnen im Einzelfall haben. Diese methodisch zwingende Offenheit von sozialen Dienstleistungen setzt der Standardisierung und engmaschigen Definition von Dienstleistungen enge Grenzen.
Soziale Arbeit ist stets personenbezogene Beziehungsarbeit, die von den Mitarbeitenden des sozialen Dienstleisters hohe Fachkompetenz und ausreichende Erfahrung verlangt. Vor diesem Hintergrund hängt die Qualität der Gesamtleistung wesentlich von denjenigen ab, die die Leistungen tatsächlich ausführen, also dem „mit der Ausführung … beauftragten Personal(s)“ (vgl. Artikel 67 Abs. 2 lit. b). Eine hohe Fluktuation von Beschäftigungsverhältnissen beeinträchtigt den Erfolg dieser Arbeit, da sie eine ständige erhebliche Unruhe in die jeweilige Beziehungsarbeit trägt. Ungeachtet der Qualifikation der jeweiligen Mitarbeitenden stellt eine solche Instabilität auch den Erfolg der Arbeit mit den Klientinnen/Klienten in Frage. Damit ist auch die verlässliche Verfügbarkeit von qualifizierten Mitarbeitenden eine wichtige Voraussetzung für das Gelingen der fachlich benötigten Beziehungsarbeit.
Dass der vorgelegte Entwurf es bei der Definition von Leistung, Eignungs- und Zuschlagskriterien ebenso wie bei der Ausformulierung von Ausführungsbedingungen ermöglicht, qualitative, soziale, umweltbezogene oder innovative Aspekte einzubeziehen, ist ein Schritt in die richtige Richtung. Dies schafft, wenn die maßgeblichen Auftraggeber diese Impulse aufgreifen, einen guten Ansatzpunkt, um den Besonderheiten der sozialen Dienstleistungen Rechnung zu tagen.
Eine weitere Besonderheit der sozialen Dienstleistungen ist, dass in diesem Bereich viele gemeinnützige Anbieter tätig sind, die sich tariflich gebunden oder satzungsrechtlich verpflichtet haben, ihren Mitarbeitenden eine angemessene tariflich oder im Wege des kirchlichen Arbeitsrechts festgelegte Vergütung zu zahlen. Allerdings reichen derzeit weder der seit 2015 geltende allgemeine Mindestlohn noch der besondere Mindestlohn für den Weiterbildungsbereich aus, die über eine solche Bindung entstehenden Personalkosten abzudecken. Damit entsteht der für die Anbieter unzumutbare Widerspruch, dass zwar die Einhaltung dieser Selbstverpflichtung rechtlich gefordert ist und deren Verletzung zum Ausschluss vom Vergabeverfahren führen kann (§ 124 Nr. 1 GWB-E), gleichzeitig aber die EuGH-Rechtsprechung zur Tarifbindung es den Bietern unmöglich macht, die zu leistenden Tarife refinanziert zu bekommen.
Während es mit dem 1. Pflegestärkungsgesetz vom 17.12.2014 gelungen ist, einen vergleichbaren Widerspruch im Pflegerecht aufzuheben und die Selbstverpflichtung zur Zahlung von Tariflöhnen als maßgeblicher Gesichtspunkt für die Refinanzierung anerkannt ist (s. § 84 Abs. 2 Satz 5 SGB XI), besteht der Widerspruch im Vergaberecht fort. Als solcher stellt er eine existenzgefährdende und verfassungsrechtlich fragwürdige Belastung der Anbieter dar. Ein Verhalten kann nicht einerseits verfassungsrechtlich sogar mit einer Drittwirkung der Tariffreiheit geschützt sein, um im Kontext der Finanzierung, also in dem für die wirtschaftliche Existenz ausschlaggebenden Aspekt, als rechtlich unbeachtlich behandelt zu werden. Die BAGFW fordert deshalb den Gesetzgeber auf,
- dem Leerlauf der verfassungsrechtlich sowohl mit Artikel 9 als auch dem kirchlichen Selbstbestimmungsrecht abgesicherten Garantien Einhalt zu gebieten
- nicht weiterhin zuzulassen, dass dieser Konflikt zwischen der EuGH-Rechtsprechung und dem innerdeutschen Verfassungsrecht einseitig zulasten der tariflich gebundenen Arbeitgeber unentschieden bleibt und deshalb
- ähnlich wie in § 84 Abs. 2 Satz 5 SGB XI eine angemessene Lösung diese Problems zu finden und eine Refinanzierung der auf der Grundlage von Tarifverträgen bzw. kirchlichem Arbeitsrecht eingegangenen Tarifbindungen sicherzustellen
2. Ausschreibungen im Kontext des Sozialrechts
In der Gesamtsumme der Vergabeverfahren nehmen die Ausschreibungen von sozialen Dienstleistungen nur einen geringen Anteil ein. Vor allem finden diese Verfahren ihre Anwendung bei den Maßnahmen der Arbeitsförderung nach dem 3. und 2. Buch des Sozialgesetzbuchs; insbesondere schreiben demnach die Bundesagentur für Arbeit und zugelassenen kommunalen Träger als zuständige Leistungsträger Maßnahmen zur Aktivierung und beruflichen Eingliederung (gem. § 45 SGB III und über die Verweisungsnorm in § 16 SGB II) und Integrationsfachdienst-Leistungen nach § 46 SGB III i. V. m. § 109 SGB IX aus. Weitere Anwendungsfälle des Vergaberechts können sich im Rahmen atypischer Formen der Zusammenarbeit von öffentlichen und freien Trägern ergeben, wenn wegen einer pauschal zu leistenden Finanzierung das Betriebsrisiko nach den in § 106 Abs. 2 GWB-E niedergelegten Kriterien beim öffentlichen Träger verbleibt[1].
Sofern die Voraussetzungen für die Anwendung des Vergaberechts erfüllt sind, sind die Auswirkungen auf die Bieter erheblich. Gerade der Vorrang des sog. offenen Verfahrens im gegenwärtigen Vergaberecht (§ 3 Abs. 1 EG VOL/A) bewirkt einen weitgehend vom Auftraggeber gesteuerten Kommunikationsvorgang, der praktisch keinen Raum für Initiativen des Bieters lässt. Dieses Vorgehen mag strikten Transparenzanforderungen entgegenkommen. Es blockiert allerdings die Kommunikationswege, die im Rahmen des sozialen Leistungsgeschehens die Qualität der Dienstleistungen sicherstellen.
In der Praxis sind die Ausschreibungen von Arbeitsmarktdienstleistungen seitens der Bundesagentur für Arbeit durch einen zentralen Einkauf mit weitgehend standardisiertem Maßnahme-Katalog dominiert, der den Bietern kaum Möglichkeiten eröffnet, sich mit individuellen Angeboten hervorzutun und Bedarfe der geförderten Klienten/Klientinnen im Verlauf der Maßnahmen ausreichend flexibel umzusetzen (s. dazu auch die Begründung zu den §§ 127 und 130 GWB-E, RefE S. 129 und 134). Die zentralen Einkaufsstrukturen sind nicht im Stande, die spezifischen Bedarfe der Klienten/Klientinnen flexibel genug aufzunehmen, die auf der lokalen Ebene der Arbeitsagenturen und Jobcenter festgestellt werden. Gestaltungsspielräume, die das Vergaberecht gewährt (z. B. die Möglichkeit zu Nebenangeboten o.ä.), werden wegen der damit verbundenen Prozessrisiken kaum genutzt.
Vor dem Hintergrund der mit dieser Standardisierung verbundenen Qualitätseinbuße stellte die Neufassung des § 4 VgV im Jahr 2013 einen ersten Korrekturansatz dar. Es bedarf aber noch weiterer Umsetzungsschritte, um tatsächlich aussagekräftige Kriterien zu entwickeln, die der von der Einrichtung geleisteten Qualität Rechnung tragen können.
Schließlich wirken sich die Rahmenbedingungen des Vergaberechts auch auf die wirtschaftliche Existenz der Träger und damit auch auf den Bestand der von ihnen begründeten Arbeitsverhältnisse aus: die Vergabe von Sozialleistungen ist gerade in ihrem hauptsächlichen Anwendungsbereich der Arbeitsmarktdienstleistungen von einer starken Abhängigkeit der Bieter von den Auftraggebern geprägt, die einem Nachfragemonopol gleich kommt. Die Praxis der Bundesagentur für Arbeit, den größten Teil der Ausschreibungen deutschlandweit in einem einzigen Zeitfenster abzuwickeln, macht es Anbietern nahezu unmöglich, den Misserfolg in einer Bewerbung durch eine erfolgreiche Ausschreibung an anderer Stelle zu kompensieren. Die für den Bereich der Daseinsvorsorge typische Abhängigkeit der Anbieter von den Auftraggebern lässt sich mit den von der Bundesagentur in Aussicht gestellten längeren Vertragslaufzeiten allenfalls für den erfolgreichen Bieter abmildern. Für die nicht berücksichtigten Bieter hingegen verstärken solche längere Vertragslaufzeiten hingegen die Auswirkungen ihres Misserfolges sogar noch und beschleunigen die Verdrängung der unterlegenen Konkurrenten aus dem Wettbewerb. Eine solche Marktbereinigung wäre selbst unter den Bedingungen eines strengen Qualitätswettbewerbs rechtfertigungsbedürftig. Denn sie stellt das breit aufgestellte Bieterfeld, das Grundlage eines innovativen und qualitätsvollen Wettbewerbs ist, in Frage[2]. Solange der Wettbewerb zudem de facto einseitig vom Preiskriterium dominiert wird, sind die von ihm ausgelösten Verdrängungseffekte in jeder Hinsicht kontraproduktiv.
Einige der vorstehend beschriebenen Effekte mögen sich bei einer restriktiven Verfahrensgestaltung verstärken bzw. bei einer flexibleren Nutzung von Gestaltungsspielräumen zugunsten der Bieter beeinflussen lassen. Die grundlegenden Auswirkungen von Vergabeverfahren sind hingegen struktureller Natur und deshalb entsprechend unvermeidlich. Abgesehen davon, dass Ausschreibungen rechtlich ausgeschlossen sind, wenn die Beziehungen zwischen Leistungsträgern und Leistungserbringern im Sozialrechtlichen Dreiecksverhältnis gestaltet sind (s. unter I.3), hält die BAGFW Ausschreibungen und Vergabeverfahren als Wettbewerbsmodell zur Organisation von sozialen Dienstleistungen deshalb grundsätzlich für ungeeignet. Andere Marktordnungsformen wie z. B. die Förderung, erweisen sich unter den spezifischen Bedingungen sozialer Dienstleistungen als angemessener.
3. Verhältnis Sozial- und Vergaberecht
Wann Vergabeverfahren stattfinden müssen, regelt § 103 GWB-E. Ausschlaggebend hierfür ist gem. § 103 GWB-E das Vorliegen eines öffentlichen Auftrages, also eines entgeltlichen Beschaffungsvorgangs. Einen weiteren wichtigen Aspekt enthält die Legaldefinition der Konzession in § 105 Abs. 2 GWB-E mit dem Kriterium des wirtschaftlichen Risikos. In diesem Zusammenhang grenzt die Entwurfsbegründung anknüpfend an Erwägungsgrund (EG) 13 der Konzessionsrichtlinie die Konzession von den für das sozialrechtliche Dreiecksverhältnis charakteristischen Zulassungsverträgen ab (RefE S. 90). Weitere Ausführungen zu der Sonderrolle sozialer Dienstleistungen finden sich in der Kommentierung zu § 130 GWB-E (RefE S. 133).
Die BAGFW begrüßt diese Abgrenzung der auszuschreibenden selektiven Auswahlverfahren der öffentlichen Hand vom Dreiecksverhältnis ausdrücklich. Insbesondere setzt der Referentenentwurf zutreffend am Kriterium der exklusiven Auswahlentscheidung an, die mit Beschaffungsvorgängen notwendigerweise verbunden, aber bei reinen Zulassungsverträgen z. B. nach § 75 SGB XII gerade nicht gegeben ist.
Die für das Dreiecksverhältnis typischen Vereinbarungen eröffnen erst den Zugang zum Wettbewerb und klären, zu welchen Leistungskonditionen ein freier Träger an diesem teilnimmt. Damit schaffen sie die Voraussetzung für den späteren Wettbewerb. Entschieden wird dieser jedoch erst, wenn ein Leistungsberechtigter eine bestimmte Leistung in Anspruch nimmt und dafür im Rahmen seines Wunsch- und Wahlrechts einen Anbieter auswählt. In diesem Zusammenhang würde die Ausschreibung der Vereinbarungen z. B. von § 75 SGB XII einen zusätzlichen Wettbewerb schaffen und die z. B. im SGB VIII und XII ausdrücklich geforderte Trägerpluralität in Frage stellen[3].
Sowohl die Abgrenzungsmerkmale des GWB-E als auch die EU-Erwägungsgründe stellen damit klar, dass die klassische Organisationsform der sozialrechtlichen Leistungserbringung im Dreiecksverhältnis in keiner Weise dem Vergaberecht unterliegt. Diesen dogmatisch folgerichtigen Beitrag zu einer nach wie vor anhaltenden Diskussion um die richtige Zuordnung dieser Verträge begrüßt die BAGFW ausdrücklich.
Dass das Vergaberecht solche alternativen Organisationsformen nicht verdrängt und mithin auch der Vorrang des Europarechts nicht bedeutet, dass die Auftragsvergabe das einzig zulässige Wettbewerbsmodell des deutschen Sozialstaates ist, belegt Artikel 1 Abs. 5 der Vergaberichtlinie und überlässt die Organisation sozialer Dienstleistungen ausdrücklich den Mitgliedstaaten. Die Richtlinie widerlegt damit unmissverständlich die in der innerdeutschen Diskussion über die Einführung von Vergabeverfahren immer wieder vorgebrachte Behauptung, dass das Europarecht diese Umstellung erzwinge. Der mit dem sog. Vorrang des EU-Rechtes allerdings verbundene wettbewerbsrechtliche Zwang zur Anwendung von Vergaberecht ergibt sich erst, wenn die gewählte Organisationsform als Auftrag i.S.d. Vergaberechts einzustufen ist.
Eine weitere Aussage zur Reichweite des GWB-E in Bezug auf die Organisation sozialer Dienstleistungen findet sich in der Kommentierung zu § 130 GWB-E (RefE S. 133). Danach kommt das GWB-E insgesamt nicht zur Anwendung, wenn Dienstleistungen im Rahmen der Sozialversicherung „als nicht-wirtschaftliche Dienstleistungen von allgemeinem Interesse organisiert werden“. Diese Ausführung erscheint hier missverständlich und wenig relevant. Sie betrifft nur einen Ausschnitt der tatsächlich im Rahmen des Dreiecksverhältnisses erbrachten Leistungen. Da dieser aber keinen wirtschaftlichen Bezug entfaltet, unterliegen diese Leistungen weder der Vergaberichtlinie noch dem im AEUV-Vertrag niedergelegten EU-Primärrecht.
Vor diesem Hintergrund hält die BAGFW diese Erläuterung zu § 130 GWB-E für missverständlich. Sie bittet, diese zu streichen und stattdessen auf folgende Erwägungsgründe zur Vergaberichtlinie hinzuweisen:
- EG 5 Satz 1: „Es sei darauf hingewiesen, dass die Mitgliedstaaten durch diese Richtlinie in keiner Weise dazu verpflichtet werden, die Erbringung von Dienstleistungen an Dritte oder nach außen zu vergeben, wenn sie diese Dienstleistungen selbst erbringen oder die Erbringung durch andere Mittel als öffentliche Aufträge im Sinne dieser Richtlinie organisieren möchten
- EG 114: „Den Mitgliedstaaten und Behörden steht es auch künftig frei, diese Dienstleistungen selbst zu erbringen oder soziale Dienstleistungen in einer Weise zu organisieren, die nicht mit der Vergabe öffentlicher Aufträge verbunden ist, beispielsweise durch die bloße Finanzierung solcher Dienstleistungen oder durch Erteilung von Lizenzen oder Genehmigungen — ohne Beschränkungen oder Festsetzung von Quoten — für alle Wirtschaftsteilnehmer, die die vom öffentlichen Auftraggeber vorab festgelegten Bedingungen erfüllen; Voraussetzung ist, dass ein solches System eine ausreichende Bekanntmachung gewährleistet und den Grundsätzen der Transparenz und Nichtdiskriminierung genügt.
4. Neugestaltung des Vergaberechts maßgeblich im GWB
Die BAGFW begrüßt ausdrücklich die im Referentenentwurf angelegte neue Struktur des Vergaberechts, die maßgebliche Aussagen im förmlichen, vom Bundestag erlassenen Gesetzesrecht verankert und damit dem Vergaberecht eine deutlich stärkere demokratische Legitimation verschafft. Das ist nicht zuletzt angesichts der weitreichenden Steuerungsbefugnisse angezeigt, die das Vergaberecht der öffentlichen Hand einräumt und die auf Seiten der Bieter den Schutzbereich des Artikels 12 GG tangieren. Zudem gewährleistet diese Umstrukturierung weitaus mehr Transparenz beim Zustandekommen des maßgeblichen Vergaberechts als dies bislang bei der Rechtssetzung in den Verdingungsausschüssen möglich und üblich ist. Gerade im Sinne der Wesentlichkeitstheorie ist diese Umstrukturierung und die damit einhergehende teilweise Aufgabe der Vergabeordnungen ein wichtiger und richtiger Schritt.
Da die Richtlinienumsetzung allerdings nur für Vergabeverfahren oberhalb der EU-Schwellenwerte zum Tragen kommt, stellt sich die Frage, ob und wie die Reform und die damit verbundenen Verbesserungen (namentlich die Stärkung des Qualitätswettbewerbs z. B. durch die bessere Möglichkeit zur Berücksichtigung von Qualitätskriterien bei der Zuschlagsentscheidung, s. Artikel 67 Abs. 2 Vergaberichtlinie) auch für Verfahren unterhalb der Schwellenwerte zum Tragen kommen können. Ohne eine explizit vorgesehene Übertragbarkeit dieser reformierten Regelungen gelten wie bisher die Vergabeordnungen für Dienst-, Bau- oder freie Leistungen. Jedenfalls für den Bereich der sozialen Dienstleistungen muss gesichert sein, dass für Beschaffungen unterhalb des Schwellenwertes keine strengeren Regelungen (z. B. der Vorrang der Öffentlichen Ausschreibung aus § 3 Abs. 2 VOL/A) gelten dürfen, sondern im Ergebnis die gleichen Regelungen gelten. Wenn diese Aufträge selbst bei Überschreitung des Schwellenwertes nur eingeschränkte Binnenmarktrelevanz besitzen (RefE S. 133 und EG 114 der Vergaberichtlinie), erscheint die Anwendung des formstrengen Vergaberechts erst recht unangemessen, wenn der Wert eines solchen Auftrags die Bagatellgrenze überhaupt nicht erreicht. Eine solche modifizierte Geltung des Vergaberechts lässt sich z. B. durch eine Anordnung im Abschnitt 1 der VOL/A sicherstellen, wonach die GWB-Regelungen auf die Verfahren unterhalb des Schwellenwertes sinngemäß Anwendung finden.
5. Verhältnis Richtlinie und mitgliedsstaatliches Gesetz
Bei aller Zustimmung zum Gesetzentwurf kommt die BAGFW jedoch nicht umhin festzustellen, dass das Bestreben des Referentenentwurfs, die Richtlinie 1:1 umzusetzen, dem Gestaltungszweck des EU-Legislativpakets nicht in vollem Umfang Rechnung trägt. Richtlinien sollen den Mitgliedsstaaten schon begrifflich nur eine wenngleich detaillierte Orientierung für deren eigene Rechtssetzung vorgeben, deren Umsetzung über eine bloße gesetzestechnische Einfügung einer EU-Bestimmung in die Rechtsordnung des Mitgliedsstaates deutlich hinausgeht und eigene inhaltliche Gestaltungen verlangt.
Besonders deutlich wird dies bei der Umsetzung der Artikel 74 ff der Vergaberichtlinie. Anders als auch bei der Umsetzung der Konzessionsbestimmungen reduzieren sich die Bestimmungen über die Vergabe sozialer Dienstleistungen auf eine einzige Regelung. Problematisch ist damit vor allem, dass diese in den Kontext des allgemeinen Vergaberechts eingebettet ist und deshalb die übrigen Bestimmungen des Vergaberechts ohne weiteres zur Anwendung gelangen. Demgegenüber geht die Prämisse der Vergaberichtlinie dahin, dass sozialen Dienstleistungen selbst bei Überschreiten des Schwellenwertes nur eingeschränkte Binnenmarktrelevanz zukommt. Dieser Befund rechtfertige es, die Anforderungen an deren Ausschreibung so gering wie möglich zu halten. Damit läuft die Vorgabe der Richtlinie auf die Formel „soviel Vergaberecht wie nötig und soviel Sozialrecht wie möglich“ hinaus. Diese Relation stellt der Entwurf trotz weitgehender Übernahme der Erwägungsgründe in der Begründung nahezu vollständig in Frage. (Weiteres hierzu unter II.9)
Letztlich wird sich erst im Gesamtzusammenhang von Gesetz- und Verordnungsentwurf beurteilen lassen, ob und inwieweit das VergModG und die VgV die Gestaltungsmöglichkeiten nutzen und den Gestaltungsaufträgen der Richtlinie nachkommen. Derzeit allerdings besteht der Anschein, dass Möglichkeiten zu eigenständigen Gestaltungen der Hoffnung auf ein möglichst konfliktfreies Gesetzgebungsverfahren aufgeopfert worden sind.
Zu einzelnen Vorschriften des Gesetzentwurfs nimmt die BAGFW wie folgt Stellung:
II. Regelungen im Einzelnen
1. § 97 GWB – Grundsätze der Vergabe
§ 97 GWB-E behält seine gegenwärtige Funktion bei und legt die Grundsätze der Vergabeverfahren fest, erweitert aber die bisherigen Grundsätze in einigen Punkten.
Abs. 1: Verankerung des Wettbewerbs, der Transparenz, der Wirtschaftlichkeit und der Verhältnismäßigkeit
§ 97 Abs. 1 GWB-E ergänzt die im geltenden GWB aufgezählten Grundsätze von Wettbewerb und Transparenz um Wirtschaftlichkeit und Verhältnismäßigkeit.
Mit dem Grundsatz der Wirtschaftlichkeit greift der Entwurf einen Maßstab auf, der bereits jetzt in speziellen Vergaberegelungen verankert ist, insb. in § 97 Abs. 5 GWB und Einzelbestimmungen der VOL/A. Für die Betrachtung gibt der wirtschaftliche Gesamtvorteil den Ausschlag, der auf der Grundlage des Preis-Leistungs-Verhältnisses zu ermitteln ist. Mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit übernimmt der Entwurf die Regelung des Artikel 18 Abs. 1 Vergaberichtlinie. Nach der Begründung kommt dieser Maßstab zum Beispiel zum Tragen, um Anforderungen an die Leistungsbeschreibung und Ausführungsbedingungen zu überprüfen und unangemessene Belastungen der Bieter zu rügen.
Bewertung:
Die ausdrückliche Verankerung des Wirtschaftlichkeitsbegriffs und des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes als Grundsatz des gesamten Vergaberechts in § 97 Abs. 1 GWB-E stellt gegenüber den bisherigen Regelungen einen deutlichen Gewinn dar. Um eine effiziente Beschaffung sicherzustellen, muss das Vergaberecht den Auftraggebern weitgehende Gestaltungsspielräume einräumen. Damit verschaffen sie den Auftraggebern allerdings auch Freiräume, die von der Rechtsprechung nur in begrenztem Umfang kontrollierbar sind. Vor diesem Hintergrund erweitert der Entwurf den Abs. 1 um Maßstäbe für Verfahrensentscheidungen der Auftraggeber, die deren Gestaltungsfreiheit nicht auf bestimmte Ergebnisse festlegen wohl aber als Kriterien für eine korrekte Ermessensausübung in Betracht kommen.
Zudem macht der Entwurf die so verstandene Wirtschaftlichkeit zu einem allgemeinen Maßstab des Vergaberechts. Wertungsentscheidungen im Rahmen eines Vergabeverfahrens lassen sich damit nur noch in begründeten Ausnahmefällen auf bloße Preisvergleiche reduzieren.
Auch die Übernahme des Verhältnismäßigkeitsbegriffs an dieser herausgehobenen Stelle ist ein wichtiger Schritt. Das Vergaberecht regelt zwar das privatrechtliche Handeln der öffentlichen Hand. Gleichwohl verschaffen die weitgehenden Steuerungsbefugnisse den Auftraggebern ein erhebliches Übergewicht bei der Vertragsanbahnung. Die für das Privatrecht an sich charakteristische Vorstellung von Verhandlungen auf Augenhöhe kommt unter diesen Umständen gerade nicht zum Tragen. In diesem Rahmen schafft der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ein wichtiges Korrektiv zur Kompensation dieses Ungleichgewichts. Zwar überprüft die Rechtsprechung immer wieder einzelne Klauseln auf ihre Zumutbarkeit (so OLG Düsseldorf, Beschluss v. 07.12.2011, Az.: Verg 96/11, OLG München, Beschluss v. vom 06.08.2012, Az.: Verg 14/12). Es trägt aber zu der von der Reform angestrebten Verbesserung der Rechtssicherheit bei, wenn dieser Grundsatz nunmehr auch seine ausdrückliche Verankerung im Vergaberecht findet.
Abs. 4 Schutz mittelständischer Unternehmen
Die ausdrückliche Verpflichtung der Auftraggeber zum Mittelstandsschutz bleibt weiterhin Grundsatz des Vergaberechts.
Bewertung:
Die BAGFW begrüßt, dass der Mittelstandschutz Teil der Vergabegrundsätze bleibt. Denn die Markttendenzen führen gerade bei der Ausschreibung von Arbeitsmarktdienstleistungen eindeutig zu einem Auftragszuschnitt, der insbesondere auch die Leistungsfähigkeit kleiner und mittlerer Unternehmen erheblich übersteigen und damit die erfolgreiche Teilnahme an Auftragsvergaben künftig erschweren wird.
Im Zuge öffentlicher Ausschreibungen in der Arbeitsmarktförderung hat sich bereits jetzt eine deutliche Marktkonzentration eingestellt, die sich zukünftig absehbar noch verstärken wird. Bereits im Jahr 2012 deckten nach Angaben der Bundsagentur für Arbeit die fünf größten/umsatzstärksten Bildungsträger 19,4 % des gesamten Einkaufsvolumens ab. In den 10 Regionaldirektionen der Bundesagentur betrug dieser Anteil durchschnittlich 35 %. Die massiven Kürzungen der Mittel für die aktive Arbeitsmarktpolitik und der anhaltende Preisdruck bei öffentlichen Ausschreibungen tragen zudem dazu bei, diese Entwicklung zulasten kleiner und mittlerer Unternehmen zu verstärken.
Gerade die kleinen und mittelständischen Unternehmen leisten einen wichtigen Beitrag zur Sicherstellung eines funktionierenden Wettbewerbs, zu dem es auch gehört, dass die Teilnehmer unter unterschiedlichen Anbietern auswählen können. Ein effektiver Mittelstandsschutz ist ein wichtiger Garant dieser Trägerpluralität.
Abs. 6 Rechtsanspruch auf Einhaltung der Bestimmungen des Vergaberechts
Abs. 6 schreibt die bislang in § 97 Abs. 7 GWB verankerte Regelung mit geringfügigen redaktionellen Änderungen fort.
Bewertung:
Der Anspruch der Bieter auf Einhaltung des Vergaberechts ist der Ansatzpunkt für den Bieterschutz, mit dem sich das wettbewerbsrechtlich ausgerichtete EU-Vergaberecht vom bloßen Haushaltsrecht abhebt.
Gerade im systematischen Zusammenhang mit den in Abs. 1 verankerten Grundsätzen der Wirtschaftlichkeit und Verhältnismäßigkeit, spricht sich die BAGFW allerdings dafür aus, den Anspruch auf Einhalten der rechtlichen Vorgaben um eine an § 40 VwVfG angelehnte Regelung zu ergänzen, die auch im Zusammenhang mit Vergabeentscheidungen den pflichtgemäßen Ermessensgebrauch sicherstellt.
Zwar sichert Abs. 6 die rechtliche Überprüfung von Vergabeentscheidungen. Allerdings relativieren die weitgehenden Einschätzungs- und Ermessensspielräume die Reichweite dieser Rechtskontrolle erheblich. Die hier vorgeschlagene Klarstellung, dass Auftraggeber ihre Ermessensspielräume im Sinne der jeweiligen Ermächtigung zu nutzen und sich damit unsachlicher Willkürentscheidungen zu enthalten haben, erweitert nicht die gerichtlichen Kontrollbefugnisse. Aber sie zeigt die Grenzen auf, in denen sich die Auftraggeber bei der Ausübung von Ermessensspielräumen bewegen. Schließlich ermöglicht sie eine Vergewisserung über deren ordnungsgemäßen Gebrauch. Sie trägt dazu bei, in einem nachhaltig von Ermessenspielräumen geprägten Rechtsgebiet den Anspruch der Bieter auf ermessensfehlerfreie Entscheidungen zu verwirklichen.
Obwohl gem. Artikel 20 Abs. 1 GG die Bindung an Gesetz und Recht für alle Bereiche staatlichen Handelns gilt, ist es sinnvoll, parallel zum Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in Abs. 1 auch diesen Hinweis auf die Anforderungen des pflichtgemäßen Ermessensgebrauchs ausdrücklich im GWB zu verankern. Ergänzend zu Abs. 1 schafft dies einen angemessenen Ausgleich zwischen den Verhandlungspositionen der Auftraggeber und der Bieter. Während das in Abs. 1 verankerte Verhältnismäßigkeitsprinzip einseitig übermäßige Belastungen der strukturell unterlegenen Seite verhindert, stellt die Ermessenskontrolle mit dem Willkürverbot eine sachgemäße Verfahrensgestaltung sicher. Gerade im Bereich des wettbewerbsrechtlich ausgerichteten und damit dem Bieterschutz verpflichteten EU-Vergaberechts ist diese Ergänzung notwendig und angemessen, um die Rechtspositionen der Bieter umfassend zu schützen.
Vorschlag:
Abs. 6 wird um folgenden Satz ergänzt:
„Ist der Auftraggeber ermächtigt, nach seinem Ermessen zu handeln, hat er sein Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten.“
2. § 103 GWB-E Öffentlicher Auftrag
Abs. 1 enthält eine Definition des für die Anwendung des Vergaberechts ausschlaggebenden Auftrags und entspricht grundsätzlich der geltenden Regelung in § 99 Abs. 1 GWB. Kernelement der Definition ist das Abstellen auf den Beschaffungsvorgang und die Entgeltlichkeit des Geschäftes.
Bewertung:
Gerade im Kontext der Definition der Konzession enthält die vom Gesetz fortgeschriebene Auftragsdefinition alle erforderlichen Abgrenzungskriterien, die den öffentlichen Auftrag von den sozialrechtlichen Zulassungsverträgen abgrenzt und abhebt.
Wie in der Einleitung dargestellt, fehlt den sozialrechtlichen Zulassungsverträgen sowohl das Merkmal der Entgeltlichkeit als auch das Element einer exklusiven Auswahlentscheidung, die beide typisch für den Auftrag sind.
Gleichwohl hält die BAGFW es für angezeigt, die in der Begründung zu § 105 GWB-E (Konzession) enthaltene Abgrenzung zu den sozialrechtlichen Zulassungsverträgen auch hier aufzugreifen. Dies gilt zum einen im Hinblick auf die Wettbewerbsneutralität der Zulassungsverträge nach dem sozialrechtlichen Dreiecksverhältnis. Zum anderen kann die Abgrenzung eine wettbewerbliche Einordnung atypischer Vertragsgestaltungen sicherstellen. So wirft unter anderem die exklusive Zuweisung von Wohnvierteln für eine pauschal finanzierte Quartiersarbeit immer wieder Abgrenzungsschwierigkeiten auf und erschwert den rechtlichen Umgang mit diesen neuen Formen der Zusammenarbeit.
Vorschlag:
Die BAGFW schlägt vor, die Begründung zu § 103 Abs. 1 GWB-E (RefE S. 87) wie folgt zu ergänzen:
Nach Satz 2 werden folgende Sätze eingefügt:
„§ 103 Abs. 1 definiert den öffentlichen Auftrag und entspricht insofern dem bisherigen § 99 Abs. 1 GWB. Kern der Definition des öffentlichen Auftrags ist, das es sich um die Beschaffung von Leistungen durch den Auftraggeber handeln muss. Insoweit unterscheiden sie sich von den Zulassungsverträgen im sozialrechtlichen Dreiecksverhältnis. Da diese nur den Zugang zum Wettbewerb und gerade keinen einklagbaren Vergütungsanspruch gegen den Leistungsträger verschaffen, fehlt es hier nicht nur an der für den Auftrag erforderlichen Entgeltlichkeit. Vor allem entfällt wie bei der in § 105 GWB-E definierten Konzession die Exklusivität der Entscheidung. Gerade um durch größtmögliche Trägerpluralität einen funktionierenden Wettbewerb zu gewährleisten, haben alle geeigneten freien Träger einen Anspruch auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung des Leistungsträgers über den Abschluss eines Zulassungsvertrages. Eine Beschränkung des Anbieterfeldes durch exklusive Vergaben an eine vom Auftraggeber beschränkte Anzahl von Anbietern würde hier den Wettbewerb einschränken.“
3. § 105 GWB-E Konzessionen
Die Regelung setzt die Konzessionsrichtlinie (2014/23/EU) und die EuGH-Rechtsprechung zu Konzessionen („Parking-Brixen“, Rs. C-458/03 v. 13.10.2005 etc.) um. Dabei lehnt sich die Neuregelung eng an die Richtlinie an.
Abs. 1 macht deutlich, dass Dienstleistungskonzessionen grundsätzlich einen wettbewerbsrechtlichen Vorgang darstellen, der mit einer Selektionsentscheidung und der Vergabe eines exklusiven Tätigkeitsfeldes einhergeht. Die im Gesetzentwurf vorgenommene Abgrenzung der Konzession zu den im sozialrechtlichen Dreiecksverhältnis typischen Zulassungsverträgen erfolgt über die in Abs. 2 enthaltene Beschreibung des betrieblichen Risikos.
Bewertung:
Die BAGFW begrüßt, dass in der Begründung zu § 105 GWB-E eine klare Abgrenzung zwischen Ausschreibungen und Zulassungsverträgen erfolgt. Wichtig ist zudem, dass diese beim Konzessionsbegriff und der Exklusivität ansetzt. Damit macht der Entwurf die für die Abgrenzung maßgeblichen Gesichtspunkte deutlich und unterstreicht nochmals, dass das sozialrechtliches Dreiecksverhältnis weder einen entgeltlichen Vertrag darstellt noch eine selektive Auswahlentscheidung mit sich bringt.
Allerdings fällt gerade vor dem Hintergrund dieser klaren Abgrenzung eine Ungenauigkeit auf, die die BAGFW bittet zu beheben. Die Begründung zu § 105 Abs. 1 GWB-E verweist auf Auswahlentscheidungen im sozialrechtlichen Dreiecksverhältnis (RefE S. 90, Ende dritter Absatz): „Derartige Systeme beruhen … typischerweise auf der Entscheidung einer Behörde, mit der transparente und nichtdiskriminierende Voraussetzungen für den kontinuierlichen Zugang von Unternehmen zur Erbringung bestimmter Dienstleistungen, wie soziale Dienstleistungen, festgelegt werden. Daraus lässt sich schließen, dass die Auswahl von Dienstleistungserbringern im sozialrechtlichen Dreiecksverhältnis nicht der Richtlinie 2014/23/EU unterfällt“ (RefE S. 90 3. Absatz 3 letzter Satz). Der letzte Satz dieser Erläuterung ist mindestens missverständlich. Tatsächlich trifft die Behörde keine Auswahl, sie ist nur für die Zulassung verantwortlich, auf die ein Leistungserbringer einen Anspruch hat, wenn er die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt. Die eigentliche Wahl trifft der Leistungsberechtigte (s.a. EG 13 a. E.: „…, wobei dem Kunden die Wahl zwischen den Anbieter freisteht.“).
Vorschlag:
Die BAGFW schlägt vor, den Charakter der Zulassungsverträge stärker zu präzisieren und den zitierten Satz der Erläuterung folgendermaßen zu fassen: „Daraus lässt sich schließen, dass die Zulassung von Dienstleistungserbringern im sozialrechtlichen Dreiecksverhältnis nicht der Richtlinie 2014/23/EU unterfällt.“
4. § 108 GWB-E Ausnahmen bei öffentlich-rechtlicher Zusammenarbeit
§ 108 GWB-E erlaubt es öffentlichen Auftraggebern, unter bestimmten Voraussetzungen gemeinsam mit anderen öffentlichen Auftraggebern oder eigenen Unternehmen Aufgaben zu erbringen, ohne dass das Vergaberecht für sie hierbei zur Anwendung kommt. Wettbewerbsverzerrungen zulasten privater Unternehmen sollen ausweislich der Begründung durch entsprechende Einschränkungen vermieden werden.
Bewertung:
Um zu verhindern, dass eine solche Kooperation das ordnungspolitische und sozialrechtlich verankerte Subsidiaritätsprinzip unterläuft, bedarf diese Regelung jedenfalls im Zusammenhang mit der Erbringung sozialer Dienstleistungen einer weiteren Konkretisierung.
§ 17 SGB II setzt diesen Grundsatz in der Form eines Vorrangs zugunsten sog. Dritter und eines korrespondierenden Zurückhaltungsgebots für die Leistungsträger um.[4] Die zuständigen Leistungsträger, also die Bundesagentur für Arbeit und die kommunalen Träger, sollen von der Schaffung eigener Dienste und Einrichtungen absehen, soweit Dritte sie unter Beachtung der benötigen Leistungsfähigkeit und Flexibilität vorhalten, ausbauen oder in Kürze schaffen können.
Vorschlag:
S. unter 10. Ergänzung des § 130 GWB-E.
5. § 113 GWB-E Verordnungsermächtigung
§ 113 GWB-E enthält die für die Rechtssetzung durch die Exekutive erforderliche Ermächtigung.
Bewertung:
Der Gesetzentwurf greift viele wesentliche Gesichtspunkte der Richtlinie auf und erreicht damit eine verglichen mit der geltenden Fassung erheblich größere Regelungsdichte auf der Ebene des förmlichen Gesetzesrechts. Trotzdem sind nach Auffassung der BAGFW viele Aspekte noch nicht aufgegriffen, die für eine sinnvolle Umsetzung der Richtlinie wichtig sind.
Ob diese ergänzenden Regelungen ihre sedes materiae in der Vergabeverordnung finden können, hängt davon ab, dass sich ihre künftige Regelung aus der Ermächtigung in § 113 GWB-E ableiten lässt.
Dies betrifft insbesondere zwei Gesichtspunkte, deren Regelung die BAGFW für essentiell hält:
- So bedarf die in Artikel 69 Abs.3 der Vergaberichtlinie geregelte Nachprüfung von auffällig niedrigen Angeboten und der Ausschluss von nicht hinreichend erläuterten Angeboten einer Rechtsgrundlage.
Die Kontrolle ungewöhnlich niedriger Angebote ist ein wichtiger Bestandteil der Angebotsprüfung. Denn sie indiziert, ob der Bieter gesetzliche und tarifliche Regelungen zu Löhnen und anderen Arbeitsbedingungen einhält. Nur durch eine solche strenge Prüfpflicht kann verhindert werden, dass sich Bieter unter Umgehung der verbindlichen Arbeitsbedingungen Aufträge erschleichen - Daneben ist die Bedeutung des Begriffs „Auswahl“ nicht ganz deutlich. Wenn der in § 113 Nr. 5 GWB-E verwendete Begriff der „Auswahl“ auch deren Kehrseite, die Ablehnung eines nicht zur Überzeugung des Auftraggebers erläuterten Angebotes umfasst (Artikel 69 Abs. 3), dürfte die Ermächtigung insoweit ausreichend sein. Da das Vergaberecht deutlich zwischen den unterschiedlichen Prüfungs- und Wertungsstadien trennt, erscheint es allerdings fraglich, ob der Begriff „Auswahl“ tatsächlich sowohl Entscheidungen im Zusammenhang mit der Eignungs- und der Angebotsprüfung auf der einen und die Zuschlagsentscheidung auf der andern Seite umfasst. Eine begriffliche Trennung zwischen der Ablehnung von ungeeigneten Angeboten und der eigentlichen Zuschlagsentscheidung scheint gerade im Hinblick auf die Bedeutung des § 113 GWB-E als Ermächtigungsgrundlage i.S.v. Artikel 80 GG angezeigt.
Vor diesem Hintergrund empfiehlt die BAGFW hier eine differenzierte Beschreibung der von § 113 Nr. 5 GWB-E umfassten Entscheidungen. Diese stellt sicher, dass die im Gesetzentwurf noch offen gebliebenen Aspekte sämtlich in der Vergabeverordnung geregelt werden können.
Vorschlag:
§ 113 Nr. 5 GWB-E wird wie folgt gefasst:
„Nr. 5 die Prüfung der Unternehmen und Angebote, die Ablehnung ungeeigneter Unternehmen und Angebote und die Zuschlagsentscheidung,“
6. § 118 GWB-E bevorzugte Auftragsvergabe
Die BAGFW begrüßt die Regelung ausdrücklich. Die bevorzugte Auftragsvergabe an diese Unternehmen trägt dem Anliegen der EU-Richtlinie Rechnung, die soziale und berufliche Eingliederung für unterschiedliche Personenkreise, die am Arbeitsmarkt und in der Gesellschaft benachteiligt sind, zu befördern. Sie leistet damit einen Beitrag zur weiteren Beschäftigungs- und Erwerbsmöglichkeit dieser Personengruppen.
Auch hier stellt sich jedoch wieder die Frage nach der praktischen Umsetzung dieser Regelung. Solange der Gesetzgeber sich damit begnügt, Impulse zu setzen und deren Verwirklichung dem freien Ermessen der Auftraggeber zu überlassen, sieht die BAGFW die Gefahr, dass die Vergaberechtsreform in diesem wichtigen Punkt über Absichtserklärungen nicht hinausgeht und die Auftraggeber ihre bisherige Beschaffungspolitik fortsetzen. Der deutsche Gesetzgeber sollte deshalb seinen Gestaltungsspielraum zur Umsetzung der EU-Richtlinie nutzen und die öffentlichen Auftraggeber verpflichten, regelmäßig vorbehaltene Aufträge zum Zweck der Beschäftigung von benachteiligten Zielgruppen zu vergeben.
7. § 122 GWB-E Eignung
Abs. 2 zählt die relevanten Eignungskriterien abschließend auf.
Bewertung:
Die vorgeschlagene separate Behandlung der Zuverlässigkeit und deren Operationalisierung als während des gesamten Verfahrens zu beachtende Ausschlussgründe erscheinen plausibel.
Daneben stellt sich allerdings die Frage, wie die noch verbleibenden Kriterien der Eignung voneinander abzugrenzen sind. Nr. 1 stellt auf die „Befähigung und Erlaubnis zur Berufsausübung“ ab, nach Nr. 3 ist die „technische und berufliche Leistungsfähigkeit“ zu prüfen. Leider geht aus der Gesetzesbegründung nicht hervor, welche selbstständige Bedeutung neben der Kriteriengruppe Nr. 1 dem Gesichtspunkt der beruflichen Leistungsfähigkeit in Nr. 3 zukommt. Im Hinblick auf das vergaberechtliche Doppelverwertungsverbot sollte der Entwurf die genannten Oberbegriffe deutlich von einander abgrenzen.
Die BAGFW bittet deshalb um eine weitergehende Erläuterung und Abgrenzung in der Begründung des Entwurfs.
8. § 123 und 124 GWB-E Ausschlussgründe
Zu den fakultativen Ausschlussgründen zählen insbesondere nachgewiesene Verstöße gegen das Umwelt-, Arbeits- und Sozialrecht (Nr. 1) und sanktionierte Schlechtleistungen bei vorherigen Aufträgen (Nr. 7).
Bewertung:
Die BAGFW begrüßt es ausdrücklich, dass diese beiden Fallgruppen nunmehr zum Ausschluss von unzuverlässigen Bietern führen und es so jedenfalls erlauben, für die Zukunft Konsequenzen aus einer früheren Fehlentscheidung zu ziehen. An dieser Stelle begrüßt die BAGFW auch die Klarstellung dazu, welche Arbeitsrechtsregelungen im Zusammenhang mit Nr. 1 maßgeblich sein können. Gerade angesichts der Bedeutung, die der EuGH-Rechtsprechung zu vergabespezifischen Mindestlöhnen beigemessen wird, erscheint es wichtig, die Bedeutung von „einfachen“ Arbeitsrechtsregelungen zu stärken. Die BAGFW bittet darum, in diesem Zusammenhang auch das kirchliche Arbeitsrecht zu erwähnen, dessen Vorgaben für die Mitgliedseinrichtungen der Diakonie und der Caritas nicht minder verbindlich sind als die Bestimmungen eines Tarifvertrages. (Zu dem Widerspruch, der sich aus der individuellen Verbindlichkeit dieser Regelungen auf der einen Seite und der fortdauernden Unbeachtlichkeit der damit zusammenhängenden Kosten im Kontext der Finanzierung s. unter I.1.)
Allerdings stellt sich die Frage, weshalb der Gesetzgeber nicht von seiner Möglichkeit Gebrauch gemacht hat, Verstöße gegen das Umwelt-, Arbeits- und Sozialrecht nach Nr. 1 als zwingenden Ausschlussgrund zu behandeln. Art. 57 IV a) Richtlinie 2014/24/EU hätte auch eine solche Regelung mitgetragen, wobei es den Mitgliedsstaaten überlassen geblieben wäre, die Anforderungen an den geeigneten Nachweis eines solchen Verstoßes festzulegen.
Die BAGFW hält es deshalb für notwendig, die in § 124 Abs. 1 Nr. 1 und 7 GWB-E genannten fakultativen zu zwingenden Ausschlussgründen für bietende Unternehmen i.S.v. § 123 Abs. 5 GWB-E zu machen, die neben der rechtskräftigen Verurteilung auch andere geeignete Nachweise für das Fehlverhalten zulassen. Entsprechend sind dann auch die Kündigungsmöglichkeiten gem. § 133 Nr. 2 GWB-E anzupassen. Dabei ist die zusätzliche Einbeziehung von § 123 Abs. 5 GWB-E essentiell, um den vergaberechtlichen Anforderungen in der Praxis zu Relevanz zu verhelfen.
Vorschlag:
§ 123 Abs. 5 GWB-E wird wie folgt gefasst:
Öffentliche Auftraggeber schließen ein Unternehmen von der Teilnahme an einem Vergabeverfahren aus, wenn
1. das Unternehmen seinen Verpflichtungen zur Zahlung von Steuern, Abgaben und Beiträgen zur Sozialversicherung nicht nachgekommen ist
2. das Unternehmen bei der Ausführung öffentlicher Aufträge gegen geltende umwelt-, sozial- und arbeitsrechtliche Verpflichtungen verstoßen hat,
3. das Unternehmen eine wesentliche Anforderung bei der Ausführung eines früheren öffentlichen Auftrags oder Konzessionsvertrags erheblich oder fortdauernd mangelhaft erfüllt hat und dies zu einer vorzeitigen Beendigung, zu Schadensersatz oder zu einer vergleichbaren Sanktion geführt hat.
Die Verstöße im Sinne der Nr. 1 und 2 müssen durch eine rechtskräftige Gerichts- oder bestandskräftige Verwaltungsentscheidung festgestellt worden sein oder auf sonstige geeignete Weise nachgewiesen werden können. Satz 1 findet keine Anwendung, wenn das Unternehmen seinen Verpflichtungen dadurch nachgekommen ist, dass es die Zahlung vorgenommen oder sich zur Zahlung der Steuern, Abgaben und Beiträge zur Sozialversicherung einschließlich Zinsen, Säumnis- und Strafzuschlägen verpflichtet hat.
9. § 127 GWB-E Zuschlag
§ 127 GWB-E trifft grundsätzliche Aussagen über die Zuschlagserteilung und deren Kriterien. Weitere Einzelheiten muss daneben die Neufassung der VgV regeln. Insbesondere betrifft dies die Umsetzung des Artikel 67 Abs. 2 Satz 2 Buchst. b der Vergaberichtlinie, dessen Umsetzung bereits jetzt in § 4 der VgV erfolgt. Abs. 4 formuliert Anforderungen an die Auswahl der Zuschlagskriterien und verlangt, dass diese bei wirksamer Überprüfbarkeit einen wirksamen Wettbewerb ermöglichen und Willkürentscheidungen verhindern.
Bewertung:
Die BAGFW begrüßt, dass Abs. 1 die Relevanz des Wirtschaftlichkeitskriteriums für die Zuschlagsentscheidung und die Notwendigkeit einer Preis-Leistungs-Relation deutlich heraushebt und klarstellt, dass der Preis oder die Kosten grundsätzlich nicht der einzige Wertungsgesichtspunkt sein dürfen. Tatsächlich ist nachvollziehbar, dass bei standardisierten Beschaffungsgegenständen eine inhaltliche Differenzierung zwischen den einzelnen Angeboten kaum möglich ist und dass deshalb der angebotene Preis tatsächlich das einzige aussagekräftige Unterscheidungskriterium ist (RefE S. 129). Gleichwohl bleibt festzustellen, dass gerade an dieser Stelle eine wesentliche Stellschraube für die gesamte Verfahrensgestaltung liegt. Die Einstufung einer Leistung als Standardleistung und die damit einhergehende Entscheidung für einen Preiswettbewerb bewirkt in einem sehr frühen Verfahrensstadium eine erhebliche Engführung, die sich durch die gesamte weitere Verfahrensgestaltung (insb. die Ausgestaltung der Zuschlagskriterien in den Vergabeunterlagen und die spätere Zuschlagsentscheidung) hindurchzieht. Selbst wenn eine solche Einschätzung gerichtlich überprüfbar sein dürfte, obliegt die Widerlegung einer solchen Fehleinschätzung zunächst den klagenden Bietern, was das Ungleichgewicht zwischen Bietern und Auftraggebern nochmals zulasten der Bieter verstärkt.
So nachvollziehbar die in Abs. 4 beschriebenen Anforderungen an die Auswahl der Zuschlagskriterien im Allgemeinen sind, bringt dies in der Praxis und vor allem bei der Ausschreibung von Dienstleistungen im Sinne von Anhang XIV zur Vergaberichtlinie immer wieder erhebliche Herausforderungen mit sich. Diese Dienstleistungen lassen sich, wie EG 114 zur Richtlinie und in dessen Umsetzung auch die Begründung zu
§ 130 GWB-E deutlich machen, nicht ohne weiteres in rein technischen Beschreibungen erfassen. Gleichwohl kommt es gerade bei den Ausschreibungen von Arbeitsmarktdienstleistungen in großem Umfang zu einer bedenklichen Engführung der Leistungen zu weitgehend standardisierten „Massenprodukten“, bei denen die Angebotswertung allein nach dem Preis erfolgt. Eine Korrektur dieser Fehlentwicklung durch die Einführung von Qualitätskriterien verursacht zurzeit noch Probleme, weil es in diesem Bereich noch an verlässlichen, messbaren und gleichzeitig aussagekräftigen Qualitätskriterien fehlt.
Nach Ansicht der BAGFW muss die Öffnung der Zuschlagsentscheidung für die Berücksichtigung von Qualitätsaspekten allen Dimensionen des Qualitätsbegriffs, also der Struktur- Prozess- und Ergebnisqualität, Rechnung tragen können. Die Verankerung dieser Dimensionen in den maßgeblichen Vergaberegelungen erleichtert die Zuordnung der im einzelnen Vergabeverfahren herangezogenen Kriterien, was wiederum eine bessere Einschätzung ihrer Aussagekraft und Tragfähigkeit ermöglicht.
Da hier vieles noch in der Entwicklung begriffen ist und die Festlegung der Zuschlagskriterien letztlich allein dem konkreten Auftraggeber obliegt, appelliert die BAGFW vor allem an die Aufsichtsbehörden der zuständigen Leistungsträger, auf einen konstruktiven Umgang mit den Gestaltungsspielräumen zu achten. Abs. 4 bekräftigt zu Recht die Verantwortung der Auftraggeber für einen wirksamen Wettbewerb, der auch von einem hinreichend vielseitigen Anbieterfeld abhängt. Bei der Ausschreibung sozialer Dienstleistung tritt die Strukturverantwortung der Leistungsträger und ihrer Aufsichtsbehörden hinzu, für die der zu gewährleistende Wettbewerb nur einer von vielen Aspekten eines funktionierenden Leistungssystems ist und bleiben muss.
Vorschlag:
(1) § 127 Abs. 4 GWB-E wird um folgenden Satz 2 ergänzt:
„Die Bestimmung des aus der Sicht des öffentlichen Auftraggebers wirtschaftlich günstigsten Angebots erfolgt anhand einer Bewertung auf der Grundlage des Preises oder der Kosten, mittels eines Kosten-Wirksamkeits-Ansatzes (zum Beispiel der Lebenszykluskostenrechnung). Bei Leistungen im Sinne von Abs. 1 beinhaltet diese Bestimmung das beste Preis-Leistungs-Verhältnis, das auf der Grundlage von Kriterien — unter Einbeziehung qualitativer und/oder sozialer Aspekte — bewertet wird, die mit dem Auftragsgegenstand des betreffenden öffentlichen Auftrags in Verbindung stehen. Zu diesen Kriterien gehören die Prozess- Struktur- und Ergebnisqualität“.
(2) Ergänzung der Begründung zu Abs. 1
Die Begründung zu Abs. 1 konkretisiert die Aussagen betreffend die zulässigen Standardisierungen mit differenzierten Kriterien oder Beispielen für zulässige Standardisierungen (s. insofern auch die Ausführungen zu § 130 GWB-E).
10. § 130 GWB-E Ausschreibung von sozialen und anderen besonderen Dienstleistungen
§ 130 GWB-E setzt nach der Einschätzung des Entwurfs die Vorgaben aus Artikel 74 bis 76 der Vergaberichtlinie um. Diese umfassen eine weitgehende Freistellung der Auswahl der Verfahrensarten von den im allgemeinen Vergaberecht geltenden Anwendungsvoraussetzungen. Ausgenommen von dieser Freistellung ist das Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb. Im Übrigen kommt für die Ausschreibung von sozialen und anderen besonderen Dienstleistungen das allgemeine Vergaberecht zur Anwendung.
Bewertung:
Angesichts der in Artikel 76 der Vergaberichtlinie enthaltenen weitgehenden Gestaltungsfreiräume und –aufträge für die Ausschreibung von sozialen Dienstleistungen verwundert die Konzentration des Entwurfs auf eine einzige Vorschrift. Dies umso mehr, als die Begründung selber auf eine andere Herangehensweise und Regelungsintention und an mehreren Stellen auf ein vereinfachtes Verfahren hinweist. Die nunmehr im Entwurf gestaltete Umsetzung verfolgt mit der Einbettung des § 130 GWB-E in das allgemeine Vergaberecht genau den umgekehrten Ansatz und reduziert die Umsetzung von Artikel 76 auf eine einzige Ausnahme vom allgemeinen Vergaberecht. Selbst wenn die Gestaltungsspielräume des allgemeinen Vergaberechts in der Theorie weitgehende Möglichkeiten zu notwendigen Einzelfall-Gestaltungen lassen, fehlt es an verbindlichen Impulsen, diese Freiräume auch zu nutzen. Der Entwurf muss mindestens eine Bestimmung enthalten, die klarstellt, dass die Ziele und vor allem die Wertungskriterien des Sozialrechts wie Artikel 76 Abs. 2 sie beispielhaft aufzählt, nicht von der Verfahrenslogik des Vergaberechts überlagert werden dürfen. Diese richtungsweisende Intention der Vergaberichtlinie zählt zu den grundlegenden europarechtlichen Gestaltungsaufträgen im Zusammenhang mit der Vergaberechtsreform, kommt aber in dieser Stringenz im geplanten Normtext in keiner Weise zum Tragen. Insofern reicht es nach Ansicht der BAGFW auch nicht aus, gegebenenfalls auf der Ebene der Vergabeverordnung einzelne Verfahrensvorschriften zu verankern, die diesen Grundsatz in praktischen Einzelaspekten umsetzen. Dem formellen Gesetz kommt insoweit eine Leitfunktion zu, der der Entwurf noch nicht gerecht wird. Gerade wenn der Entwurf eine 1:1-Umsetzung der Richtlinie anstrebt, hätte mindestens die Übernahme von Artikel 76 Abs. 2 nahegelegen.
Eine Übernahme des Art. 76 Abs. 2 stellte klar, dass es zwischen den Zielen sowie Wertungen des Sozialrechts und den Sachzwängen des Vergaberechts Ausgleichsbedarf gibt, der der maximalen Ausnutzung der vergaberechtstypischen Steuerungsinstrumente entgegensteht. In der gegenwärtigen Fassung des Entwurfs sieht die BAGFW eine effektive Berücksichtigung der sozialrechtlichen Belange nicht als sichergestellt an.
Soweit die Auftragsvergabe überhaupt zum Tragen kommt, soll sie die Organisation und Erbringung von sozialen Dienstleistungen befördern. Damit dies zweckgemäß geleistet werden kann, müssen der Gesetzgeber und jeder einzelne Auftraggeber sozialverträglichen Gestaltungen nicht nur Raum lassen, sondern auch sicherstellen, dass diese hinreichend zum Tragen kommen. Der Gestaltungsauftrag nicht zuletzt des Gesetzgebers geht dahin, zu verhindern, dass falsch verstandenes Objektivitätsstreben einen allein von Preisaspekten dominierten Unterbietungs- und Verdrängungswettbewerb fördert. Im 10. Jahr seit Einführung des Vergaberechts in das sozialrechtliche Leistungserbringungsrecht sieht die BAGFW den Gesetzgeber ebenso wie die zuständigen Aufsichtsbehörden der auftraggebenden Leistungsträger in der Verantwortung, mit den neuen Gestaltungsmitteln des Vergaberechts die Folgen eines kontraproduktiven, Qualitätsaspekte vernachlässigenden Preiswettbewerbs für Anbieter und Nutzer der Leistungen zu begrenzen, den sinnvollen Einsatz von Steuermitteln sicherzustellen und damit auch den Zielen und Zielsetzungen des Vergaberechts Rechnung zu tragen.
Zu der im Referentenentwurf tatsächlich getroffenen Regelung stellt die BAGFW fest, dass unter den zur Auswahl gestellten Verfahren insbesondere der wettbewerbliche Dialog geeignet erscheint, Bedarfe der Bieterinnen und Bieter sowie besondere methodische Kompetenzen frühzeitig bei der Auftragsformulierung zu berücksichtigen. Demgegenüber scheinen nicht offene Verfahren geeignet, um kurzfristig auftretende bzw. bekannt gewordene Bedarfe der Nutzerinnen und Nutzer zu decken. Das nicht offene Verfahren würde zudem die Möglichkeit eröffnen, bereits im Rahmen des Teilnahmewettbewerbs eine qualitative Vorauswahl vorzunehmen.
Vorschlag:
(1) Die bisher in § 130 GWB-E getroffene Regelung wird zu § 130 Abs. 2 GWB-E.
Ihr wird folgender Abs. 1 vorangestellt:
„Bei der Ausschreibung von Dienstleistungen im Sinne des Anhangs XIV der Richtlinie 2014/24/EG tragen die öffentlichen Auftraggeber der Notwendigkeit, Qualität, Kontinuität, Zugänglichkeit, Bezahlbarkeit, Verfügbarkeit und Vollständigkeit der Dienstleistungen, sowie den spezifischen Bedürfnissen verschiedener Nutzerkategorien, einschließlich benachteiligter und schutzbedürftiger Gruppen, der Einbeziehung und Ermächtigung der Nutzer und dem Aspekt der Innovation Rechnung.“
(2) Sofern dies nicht bereits in § 127GWB-E erfolgt ist, wird nach Abs. 2 folgender Abs. 3 eingefügt:
„Die Bestimmung des aus der Sicht des öffentlichen Auftraggebers wirtschaftlich günstigsten Angebots erfolgt anhand einer Bewertung auf der Grundlage des Preises oder der Kosten, mittels eines Kosten-Wirksamkeits-Ansatzes (zum Beispiel der Lebenszykluskostenrechnung). Bei Leistungen im Sinne von Abs. 1 beinhaltet diese Bestimmung das beste Preis-Leistungs-Verhältnis, das auf der Grundlage von Kriterien — unter Einbeziehung qualitativer und/oder sozialer Aspekte — bewertet wird, die mit dem Auftragsgegenstand des betreffenden öffentlichen Auftrags in Verbindung stehen. Zu diesen Kriterien gehören die Prozess- Struktur- und Ergebnisqualität.“
(3) Es wird ein weiterer Absatz angefügt:
„Vor einer Zusammenarbeit im Sinne des § 108 zur Erbringung sozialer Dienstleistungen prüfen die Partner, ob in ihrem Zuständigkeitsbereich geeignete Einrichtungen und Dienste Dritter vorhanden sind, ausgebaut oder in Kürze geschaffen werden können.“
11. § 133 GWB-E Kündigung von öffentlichen Aufträgen
§ 133 GWB-E regelt die Kündigung eines öffentlichen Auftrags während der Vertragslaufzeit. Zu diesen Kündigungsgründen zählt auch das nicht erkannte Vorliegen eines zwingenden Ausschlussgrundes im Zeitpunkt der Zuschlagserteilung.
Bewertung:
Die BAGFW hält die Berücksichtigung der zwingenden Ausschlussgründe in diesem Zusammenhang für eine sinnvolle Maßnahme zur Durchsetzung der Rechtstreue im Vergabeverfahren. Vor diesem Hintergrund regt die BAGFW allerdings an, den Verweis in § 133 Nr. 2 GWB-E konsequent zu erweitern und auch die unter § 123 Abs. 5 GWB-E aufgezählten von Unternehmen als solchen gesetzten Ausschlussgründe als Kündigungsgrund einzubeziehen.
Vorschlag:
§ 133 Nr. 2 GWB-E wird wie folgt gefasst:
„2. zum Zeitpunkt der Zuschlagserteilung ein zwingender Ausschlussgrund nach § 123 Absatz 1 bis 5 vorlag oder …“
Berlin, 26.05.2015
[1] So insb. OLG Hamburg Beschluss vom 8.7.2008, 1 Verg 1/08)
[2] Der Inkaufnahme eines solchen Verdrängungswettbewerbs liegt offenbar die Vorstellung zugrunde, dass sich in jedem Ausschreibungsverfahren genügend Bieter einstellen, die für die jeweilige Gelegenheit kurzfristig ein Angebot konzipieren, das sie bei einem Misserfolg ohne wesentliche Kosten wieder zurückziehen können, Wie unter I.1 dargelegt, entspricht eine solche Arbeitsweise in keiner Weise dem fachlichen Selbstverständnis sozialer Arbeit. Tatsächlich wird aber gerade diese fachliche Ausrichtung durch die beschriebene Wettbewerbsgestaltung gerade nicht in Frage gestellt sondern unterwandert.
[3] Eine begrenzte Marktzulassung ist nur geboten, wenn die Menge der erbringbaren und nachgefragten Leistungen von vornherein beschränkt ist. Gegen einen solchen Ansatz spricht folgende Überlegung: beim Zulassungsmodell geht es darum, einklagbare Rechtsansprüche von Dritten zu erfüllen. Diese Ausgangslage verbietet jegliche Kontingentierung und Begrenzung der zur Verfügung zu stellenden Dienstleistungen. Der Umfang der benötigten und entsprechend zu erbringenden Dienstleistungen ist vielmehr im Einzelfall individuell festzustellen (so z. B. § 9 SGB XII Sozialhilfe im Einzelfall). Da der Zahlungsanspruch erst mit der Erbringung einer konkreten Dienstleistung und rechtlich betrachtet dann auch nur gegen den Leistungsberechtigten entsteht, begründet die Zulassung der Anbieter selber keine Refinanzierungsansprüche gegen bzw. Zahlungsverpflichtungen für den Leistungsträger. Von daher besteht kein sozialrechtlich gerechtfertigtes Interesse an einer solchen Verringerung der Anzahl der Anbieter und einer Infragestellung der z. B. vom SGB VIII und SGB XII ausdrücklich geforderten sog. Trägerpluralität.
[4] Siehe die Gesetzesbegründung zu § 17 SGB II („Einrichtungen und Dienste für Leistungen zur Eingliederung“, Gesetzentwurf der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Entwurf eines Vierten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt, Drucksache 15/1516; siehe auch Prof. Dr. Johannes Münder (Hrsg.) (2011): Sozialgesetzbuch II. Grundsicherung für Arbeitsuchende. Lehr- und Praxiskommentar. Baden-Baden.
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Soziale Berufe sind attraktiv! Menschen finden bei der Arbeit mit Menschen große Motivation, Sinnstiftung und Zufriedenheit. Die Freie Wohlfahrtspflege als Arbeitgeber bietet Arbeits- und Ausbildungsplätze, die von der wertschätzenden Verantwortung gegenüber den zu betreuenden Menschen und Mitarbeitenden geprägt sind und in denen hohe Qualitätsanforderungen umgesetzt werden.
Die Anzahl der Beschäftigten in sozialen Diensten und Einrichtungen hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Sie ist seit dem Jahr 2000 allein im Gesundheitswesen um rund 23 Prozent gestiegen; Ende des Jahres 2012 waren rund 5,2 Millionen Menschen und damit etwa jede/r achte Beschäftige in Deutschland im Gesundheitswesen tätig. In der Kinder- und Jugendhilfe lag die Zahl der pädagogischen Fachkräfte 2010 insgesamt bei 733 000 Personen[1], davon waren 490 000 in der Kindertagesbetreuung beschäftigt. Bis Ende 2014 wuchs die Anzahl der Fachkräfte in der frühen Bildung um mehr als ein Viertel auf 610 000 an.[2]
Der Arbeitsmarkt in Deutschland steht allerdings aufgrund der demographischen Entwicklung vor einem Wandel. In den kommenden Jahren wird der Anteil der Menschen im erwerbsfähigen Alter anteilig und in absoluten Zahlen zurückgehen. Gleichzeitig nehmen der Anteil und die absolute Zahl älterer Menschen zu. Dies wird dazu führen, dass zum Beispiel die Nachfrage nach Dienstleistungen in der Altenpflege deutlich steigt. Durch den fortlaufenden Ausbau der Kindertagesbetreuung und den steigenden Bedarf nach Angeboten für Kinder unter drei Jahren bleibt auch die Nachfrage nach pädagogischen Fachkräften konstant auf hohem Niveau. Insgesamt wird es immer schwieriger werden, den Bedarf an Fach- und Hilfskräften im Sozial- und Gesundheitswesen zu decken. Die Bundesagentur für Arbeit stellt in ihrer Fachkräfteengpassanalyse vom Juni 2014 fest, dass in den Gesundheits- und Pflegeberufen in nahezu allen Bundesländern eine deutliche Mangelsituation vorliegt, insbesondere in der Altenpflege.[3]
Eine Erweiterung des Potenzials an Erwerbspersonen kann durch eine Anwerbung von Fachkräften oder durch eine Ausbildung internationaler Fachkräfte im Rahmen einer Ausbildungspartnerschaft erreicht werden. Diese Zuwanderung internationaler Fachkräfte darf aber nicht dazu missbraucht werden, bestehendem Handlungs- und Reformdruck in verschiedenen Arbeitsfeldern auszuweichen. Weder darf dies zu einer Absenkung qualitativer Standards noch zu Lohndumping führen. Die gezielte Anwerbung kann nur ein Beitrag zur Reduzierung des Mangels sein und muss nach den Grundsätzen einer ethisch verantwortlichen Anwerbung erfolgen und die Situation in den Herkunftsländern berücksichtigen[4]. In der Regel ist die Anwerbung und die berufliche Integration internationaler Fachkräfte mit vergleichsweise höherem Aufwand für den Träger verbunden und muss in ein trägerbezogenes Konzept zur Fachkräftesicherung eingebunden sein. Die berufliche und gesellschaftliche Integration zugewanderter Fachkräfte ist für Träger eine wichtige Aufgabe.
Die Träger der Dienste und Einrichtungen sind herausgefordert, trotz abnehmenden Fachkräftepotenzials, das Qualitätsniveau ihrer Angebote zu erhalten. Daher müssen in den kommenden Jahren grundsätzliche Überlegungen angestellt und Lösungen gefunden werden, wie bei einem Fachkräftemangel die Leistungen im Sozialsystem weiterhin in gewohntem Umfang und gewohnter Qualität erbracht werden können. Hier sind die Träger und Einrichtungen gefragt, Konzepte der Personalgewinnung und -bindung umzusetzen und dessen qualitativen Ausbau (z.B. Familienfreundlichkeit, Arbeitszeiten) sowie die eigene Arbeitsorganisation zu optimieren. Trotz der Attraktivität des Arbeitsfeldes haben die sozialen Berufe insbesondere in der Altenpflege mit einem Image zu kämpfen, das es erschwert, neue Zielgruppen zu gewinnen und bei dem zukünftigen Wettbewerb um Auszubildende in der „ersten Reihe“ zu stehen.
Es ist notwendig, dass die politisch Verantwortlichen auf Bundes- und Landesebene die erforderlichen Rahmenbedingungen schaffen, um auch in Zukunft die sozialen Berufe und die Gesundheitsberufe attraktiv zu gestalten. Hierzu gehören neben ansprechenden Ausbildungs- und Umschulungsmöglichkeiten, sowie interessanten Karriere- und Entwicklungsmöglichkeiten auch eine ausreichende Finanzierung der Dienstleistungen, eine Reduzierung des bürokratischen Aufwandes in den Einrichtungen und eine Stärkung der Attraktivität der sozialen Berufe. Zu einer befriedigenden Berufssituation gehört die Möglichkeit eine Arbeit leisten zu können, die dem eigenen Qualitätsverständnis entspricht.
Ungeachtet der Anstrengungen der Wohlfahrtsverbände und ihrer Einrichtungen, die Arbeitsbedingungen attraktiv zu gestalten, werden im Folgenden Elemente beschrieben, mit denen politisch Verantwortliche auf Bundes- und Landesebene den Mangel an Fachkräften im Sozial- und Gesundheitswesen lindern und die Attraktivität erhöhen können. Dabei wird insbesondere Bezug genommen auf die Personen, die eine berufliche Ausbildung in den Arbeitsfeldern Erziehung, Kranken- und Altenpflege absolviert haben oder absolvieren möchten. Zukünftig wird es eine besondere Rolle spielen, Menschen, die bislang noch nicht „ihren Platz“ in der sozialen Arbeit gesehen haben, dafür zu gewinnen. Dies gilt ausdrücklich auch für Menschen, die bislang ausschließlich als Empfänger unserer Leistungen, nicht aber als potenzielle Mitarbeitende gesehen werden (z.B. Langzeitarbeitslose).
2. Die Arbeitsfelder der Sozialwirtschaft und die zukünftige Entwicklung
2.1. Allgemeiner Teil
Im Gesundheitswesen waren Ende des Jahres 2012 rund 5,2 Millionen Menschen beschäftigt, gut 75 Prozent davon Frauen. Die Zahl der Arbeitsplätze im Gesundheitswesen wuchs seit dem Jahr 2000 dreimal so stark wie in der Gesamtwirtschaft. Seit dem Jahr 2000 ist die Zahl der Beschäftigten im Gesundheitswesen um rund 23 Prozent gestiegen.
Im Schuljahr 2012/2013 waren im Gesundheitswesen einschließlich Altenpflege rund 208.000 Schülerinnen und Schüler in der Ausbildung. Im Vergleich zu den Vorjahren stieg die Zahl der Auszubildenden in den Berufsfeldern des Gesundheitswesens um rund 5,7 Prozent, in der Altenpflegeausbildung sogar um 6,1%, während gleichzeitig die Zahl aller abgeschlossenen Ausbildungsverträge im Jahr 2013 im Vergleich zum Vorjahr um 3,7 Prozent sank.[5] Für die Erzieher(innen)ausbildung zeigt sich ein ähnliches Bild: seit dem Ausbildungsjahr 2007/08 hat die Zahl der Fachschüler/innen um 60% zugenommen, entsprechend stieg die Anzahl der Absolventen/Absolventinnen.[6]
Der Fachkräftemangel in der Pflege wird in Deutschland regional unterschiedlich wahrgenommen und ist unterschiedlich stark ausgeprägt. Unbestritten ist jedoch, dass wir es in der Pflege bereits jetzt mit einem Fachkräftemangel[7] zu tun haben, der sich durch die demographische Entwicklung in den nächsten Jahren und Jahrzehnten voraussichtlich noch verschärfen wird.
Je nach Szenario (z.B. je nach Einschätzung der Entwicklung des familiären und nachbarschaftlichen Pflegepotenzials) gehen Prognosen inzwischen von bis zu 500.000 fehlenden Vollzeitkräften in der Pflege bis zum Jahr 2030 aus (Bertelsmann, 2012). Der Bedarf besteht dabei nicht nur an Pflegefachkräften, sondern vor allem auch an spezialisierten Fachkräften (z. B. zur Pflege von Menschen mit Demenz oder in Palliativ Care) und an Fachkräften in leitenden Funktionen. Allerdings zeichnet sich in einigen Regionen auch ein Mangel an Pflegehilfskräften ab. [8]
Im Hinblick auf den Unterstützungsbedarf für Menschen mit Behinderungen – gerade auch in einer sich zunehmend als inklusiv verstehenden Gesellschaft – stellt sich die Problematik fehlender Fachkräfte, hier eher im gehobenen Segment, ebenfalls, wenn auch nicht so ausgeprägt wie im Bereich der Pflege.[9]
Für den Bereich der frühkindlichen Bildung, Erziehung und Betreuung kann konstatiert werden, dass bei gleichbleibenden Rahmenbedingungen die Anzahl der Berufseinsteiger nach Fachschulabschluss im Bundesdurchschnitt den prognostizierten Bedarfen entspricht, bzw. regional sogar ein Überangebot an Absolventinnen/Absolventen zu erwarten ist. Dieses Szenario wird sich jedoch ändern, wenn in die Qualität und Ausstattung, also u.a. in zusätzliches Personal investiert wird. Außerdem kann nicht abgesehen werden, inwieweit sich die sinkenden Schülerzahlen und die steigende Zahl von Abiturienten/innen auf die Zahl derjenigen auswirkt, die sich für eine Erzieherausbildung entscheiden.
2.2. Die Freie Wohlfahrtspflege in der Sozialwirtschaft
Arbeiterwohlfahrt, Deutscher Caritasverband, Deutsches Rotes Kreuz, Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband, Diakonie Deutschland – Evangelischer Bundesverband und Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland bilden die Freie Wohlfahrtspflege in Deutschland. Auch durch die Freie Wohlfahrtspflege kann die Politik dem Auftrag des Grundgesetzes gerecht werden, Deutschland als sozialen Bundesstaat zu gestalten und Teilhabe zu ermöglichen.
Die sechs Spitzenverbände bieten in rund 105 000 Einrichtungen und Diensten betroffenen Menschen Hilfe und Unterstützung an. 1 673 000 Mitarbeitende sind hauptamtlich für die Freie Wohlfahrtspflege tätig, dazu kommen rund 2 500 000 ehrenamtlich tätige Menschen, die sich freiwillig engagieren. Neben 30 000 Tageseinrichtungen für Kinder, 16 500 Einrichtungen der Behindertenhilfe und 4 500 Einrichtungen und Dienste der Familienhilfe betreibt die Freie Wohlfahrtspflege 1 300 Einrichtungen der Gesundheitshilfe, 6 200 Beratungsstellen und offene Angebote sowie 18 000 Einrichtungen der Altenhilfe, 38 000 Einrichtungen und Dienste der Jugendhilfe und 1 400 Migrationsdienste und Beratungsstellen.
Die Träger der Freien Wohlfahrtspflege zeichnen sich als Arbeitgeber dadurch aus, dass sie ihre Mitarbeitenden an Prozessen beteiligen. Sie übernehmen für ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Verantwortung und verfügen über Ziele und Werte, die sich über lange Traditionen entwickelt haben.
In vielen Einrichtungen der Freien Wohlfahrtspflege werden bereits zahlreiche Aktivitäten zur Fachkräftesicherung durchgeführt. Die Träger sind sich bewusst, dass sie ihren Teil beitragen müssen, um dem Fachkräftemangel zu begegnen und attraktive Arbeitsplätze anzubieten. Bei den Trägern und in den Einrichtungen gibt es gute Konzepte zur Personalent-wicklung, -bindung und -gewinnung, zum Gesundheitsmanagement, zur Gestaltung von familienfreundlichen Arbeitsbedingungen usw., die erfolgreich umgesetzt werden.
3. Potenzielle Zielgruppen für die sozialen Berufe
3.1. Beschäftigte und Jugendliche Migrantinnen/Migranten
Die Ausbildung und Qualifizierung von Menschen, die nach Deutschland zuwandern oder bereits zugewandert sind, kann ein Beitrag zur Fachkräftegewinnung sein, allerdings müssen die Möglichkeiten einer Anerkennung im Ausland erworbener Qualifikationen ausgeschöpft werden. Insbesondere in Regionen mit einem hohen Anteil an Migrantinnen und Migranten in der Gesellschaft ist es wünschenswert, dass auch in Belegschaften der sozialen Einrichtungen Personen mit Migrationshintergrund tätig sind, um den Bedarfen der Klientinnen und Klienten besser gerecht werden zu können.
Eine Anerkennungs- und Willkommenskultur für Migrantinnen und Migranten zu schaffen, ist dafür eine unabdingbare Voraussetzung. Dabei sind auch die Auswirkungen der Fachkräftewerbung auf die Herkunftsländer zu beachten. Die Zuwanderung internationaler Fachkräfte darf auch nicht dazu missbraucht werden, dem bestehendem Handlungs- und Reformdruck im Arbeitsfeld der Altenpflege auszuweichen.
3.2. Berufsrückkehrer und Berufsrückkehrer/innen und Wiedereinstieg
Für Fachkräfte in der Altenpflege ist es nach der Familienphase nicht selbstverständlich, wieder in ihren Beruf als Altenpfleger/in zurückzukehren. Dies ist ein Zeitpunkt, an dem sich viele Altenpfleger/innen beruflich umorientieren. Unzureichende Kinderbetreuungsmöglichkeiten[10], aber auch neue fachliche Anforderungen im Beruf bilden die Hintergründe für die Entscheidung. Eine Aufgabe für die Einrichtungen der Freien Wohlfahrtspflege und die politischen Entscheider wird es sein, die Rahmenbedingungen für Beschäftigte in der Sozialwirtschaft so zu gestalten, dass die Vereinbarkeit von Familie und Beruf möglich ist. Die Bindung der Beschäftigten während der Elternzeit ist dabei eine zentrale Aufgabe der Einrichtungen.
3.3. Maßnahmen zur Steigerung des Männeranteils in Care- und Sozialberufen
Die Gewinnung von neuen Zielgruppen für die Pflege- und Sozialberufe ist ein Baustein um dem Fachkräftemangel entgegen zu wirken. Bislang sind Männer nicht nur im Bereich der Kindertagesbetreuung, sondern in sozialen Berufen insgesamt unterrepräsentiert. Mit zielgruppenspezifischen Werbestrategien und einer aktiven Lobbyarbeit für eine höhere gesellschaftliche Anerkennung und Wertschätzung sozialer Berufe sowie attraktiveren Rahmenbedingungen[11] kann die BAGFW dazu beitragen, die Attraktivität der Arbeitsfelder der Sozialwirtschaft auch für Männer zu erhöhen.
3.4. Freiwilligendienst als Möglichkeit zur Personalgewinnung
Das Freiwillige Soziale Jahr bietet seit mehr als 50 Jahren einen festen Rahmen für junge Menschen, um sich in sozialen Einrichtungen zu engagieren und sich beruflich und persönlich zu orientieren. Im Bundesfreiwilligendienst können sich auch Menschen über 27 beteiligen - Menschen, die in der Regel eine Ausbildung und Berufserfahrungen mitbringen. Am Ende des Freiwilligendienstes gibt etwa ein Drittel der Freiwilligen an, einen Beruf im Tätigkeitsfeld ihrer Einsatzstelle anzustreben, weitere 40 % können sich das zumindest teilweise vorstellen. Vor diesem Hintergrund haben die Freiwilligendienste ein ernstzunehmendes Potenzial für die Fachkräftegewinnung in der sozialen Arbeit. Knapp 55.000 junge Freiwillige absolvieren pro Jahr ein FSJ in Einrichtungen und Diensten vor allem der Wohlfahrtspflege, im BFD sind es mindestens 35.000, unter ihnen etwa ein Drittel älter als 27. Die Nachfrage nach Freiwilligendienstplätzen ist in den letzten 10 Jahren immens gewachsen und kann bei entsprechender Öffentlichkeitsarbeit auch unter sich verändernden demographischen Verhältnissen hoch bleiben. Eine gesonderte Betrachtung verdient der BFD für die Altersgruppe der über 27jährigen. Gerade dort, wo deren Anteil sehr hoch ist – bis zu 80% in den östlichen Bundesländern – dominiert das Motiv, über den BFD wieder einen Anschluss an den Arbeitsmarkt zu bekommen. Hier wird es u.a. darauf ankommen, vor allem für die große Altersgruppe der über 55jährigen sinnvolle Möglichkeiten zur beruflichen Orientierung zu bieten, ohne den BFD aufgrund fehlender arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen zu instrumentalisieren.
3.5. Menschen mit Behinderung
Dem Fachkräftemangel steht eine hohe Zahl arbeitsloser Menschen mit Behinderung gegenüber. Der allgemeine Aufschwung am Arbeitsmarkt ging in den letzten Jahren an ihnen vorbei, ihre Arbeitslosenquote liegt mit 14 Prozent doppelt so hoch wie die allgemeine Quote. (Quelle: Der Arbeitsmarkt in Deutschland – Kurzinformation: Der Arbeitsmarkt für schwerbehinderte Menschen, Bundesagentur für Arbeit, Oktober 2014) Menschen mit Behinderung zukünftig gezielt für Ausbildung und Beschäftigung in sozialen Arbeitsfeldern anzusprechen und zu qualifizieren, kann ein Beitrag zur Fachkräftegewinnung sowie gleichzeitig ein Beitrag zur Unterstützung ihrer gesellschaftlichen Teilhabe bzw. zur Entwicklung eines inklusiven Arbeitsmarktes sein. Um diese win-win-Situation zu erreichen, ist die Schaffung geeigneter Rahmenbedingungen erforderlich. Hierzu gehören u. a. die gezielte Ansprache und Information dieses Personenkreises über Ausbildungs- und Beschäftigungsmöglichkeiten in sozialen Arbeitsfeldern, die Umsetzung angemessener Vorkehrungen, u. a. durch die Schaffung barrierefreier Ausbildungsstätten und Arbeitsplätze, flexible Gestaltung von Arbeitszeiten sowie die Gewährung von Nachteilsausgleichen, z.B. durch die Finanzierung evtl. erforderlicher Arbeitsassistenz (auch im Rahmen von Praktika) und/oder Lohnkostenzuschüsse.
4. Allgemeine Forderungen zur Fachkräftesicherung
· Anerkennung von tariflichen Regelungen bei den Verhandlungen von Leistungsentgelten
Die Leistungen der Einrichtungen und Dienste werden größtenteils durch die Pflegekassen, die Krankenkassen und durch die öffentlichen Haushalte sowie durch Eigenbeteiligungen der Klienten/innen und Eigenmittel der Träger finanziert. Die Vergütungssätze werden im Rahmen von Verhandlungen festgelegt, bei denen die Kostenträger die Vergütungssätze möglichst gering halten möchten. Tarifliche Personalkosten werden häufig nicht angemessen berücksichtigt, bzw. können trotz grundsätzlich möglicher Anerkennung am Markt nicht realisiert werden.
Dieser Druck auf die Leistungsentgelte und damit auf die tariflichen Regelungen in der Sozialwirtschaft wirkt sich negativ auf die Attraktivität und damit die Wettbewerbsfähigkeit der sozialen Berufe aus. Um die Attraktivität der sozialen Berufe sicherzustellen, ist auch eine ausreichende und faire Entlohnung notwendig.
Bei einer unzureichenden Finanzierung der Dienstleistungen steigt der finanzielle Druck auf die Einrichtungen, da Finanzierungslücken entstehen. Gleichzeitig stehen die Einrichtungen bei der Gewinnung von Auszubildenden und Fachkräften auch im Wettbewerb mit der gewerblichen Wirtschaft, die Lohnanpassungen einfacher realisieren kann.
Können tarifliche Personalkosten nicht refinanziert werden, führt dies dazu, dass der Träger der Einrichtung mit Eigenmitteln einspringen muss, was auf Dauer existenzgefährdend für die Einrichtung ist. Oder aber die Träger fühlen sich gezwungen aus Tarifverträgen auszusteigen und untertariflich zu zahlen. Ein fairer und ausreichender Lohn muss jedoch gezahlt werden können, um die Attraktivität der sozialen Berufe zu erhalten.
· Aufbau von bundesweit kompatiblen Ausbildungs- und Fortbildungsangeboten
Kompetenzen, die durch Berufstätigkeit, Pflege oder Betreuung in der Familie sowie durch ehrenamtliche Tätigkeit erworben wurden, müssen bei der Umschulung und Weiterqualifizierung zur Fachkraft anerkannt werden. Deshalb ist es sinnvoll, auf der Grundlage eines Kompetenzfeststellungsverfahrens Nachqualifizierungsmaßnahmen als Regelangebot zu etablieren. Kompetenzanerkennungsverfahren erfassen non-formal und informell erworbene Kompetenzen. Dadurch können sie auf formale Qualifizierungsprozesse angerechnet oder für eine berufliche Tätigkeit genutzt werden. Sie sollten als Grundlage für die Zulassung zu Bildungsgängen, Zulassung zu Abschlussprüfungen sowie als Basis für die Anrechnung von Qualifikationen dienen.
Im Rahmen der BMBF-Initiative „Perspektive Berufsabschluss“ werden modulare Nachqualifizierungsprojekte gefördert, um Personen mit Berufserfahrung verkürzte, auf ihren Erfahrungen aufbauende Qualifizierungsangebote anzubieten, die zu einem anerkannten Abschluss führen. Diese Projekte werden im Rahmen der Modellklausel im AltPflG umgesetzt.
· Schaffung der Möglichkeit, während der schulischen Ausbildung in sozialen Berufen BAföG für die Zweit-Ausbildung bzw. ohne Altersgrenze in Anspruch zu nehmen.
Für schulische Ausbildungen besteht der BAföG-Anspruch nur für die Erst-Ausbildung oder bis zum Alter von 30 Jahren. Die sozialen Berufe sind jedoch häufig auch für Personen interessant, die bereits eine Ausbildung absolviert haben und sich durch persönliche Erfahrungen in der Kindererziehung oder der Pflege von Angehörigen für einen sozialen Beruf entscheiden. Für diese Personen besteht oft keine Möglichkeit, BAföG in Anspruch zu nehmen, da sie die Altersgrenze von 30 Jahren überschritten oder bereits eine Ausbildung absolviert haben. Eine Ausbildung kann daher aus finanziellen Gründen häufig nicht absolviert werden.
· Schaffung eines Rechtsanspruchs auf Finanzierung der Umschulung für die gesamte Ausbildungsdauer in sozialen Berufsfeldern von drei bzw. vier Jahren als Regelinstrument im SGB III
Eine berufliche Neuorientierung nach der Familienphase wird von vielen zu einem Einstieg in eine Altenpflegeausbildung genutzt. Gerade diese Gruppe weist oft einen vergleichsweise langen Berufsverbleib auf.
Umschulungskosten sind durch die Bundesagentur für Arbeit (BA) nur für zweijährige Ausbildungen förderfähig. Eine Ausnahme bildet die „Ausbildungs- und Qualifizierungsoffensive Altenpflege“, die bis Ende 2015 die Finanzierung der Umschulung zur Altenpflegerin/zum Altenpfleger sichert.
Für alle anderen Ausbildungen mit einer Dauer von drei Jahren wird die Umschulung weiterhin nur für zwei Jahre finanziert, ebenso ab dem Jahr 2016 (voraussichtlich wieder) für die Altenpflege. Eine Verkürzung der Ausbildung in den Pflegeberufen sowie im Erzieherberuf ist jedoch nur mit entsprechender Vorqualifikation möglich.
Um entsprechende Umschulungen zu ermöglichen, ist es erforderlich, dass die Finanzierung der Umschulung zur Alten- bzw. Krankenpflegefachkraft für die gesamte dreijährige Ausbildung sichergestellt wird. Dazu ist die Förderung der dreijährigen Ausbildung bzw. Umschulung zum/zur Altenpfleger/in bzw. Krankenpfleger/in als unbefristetes Regelinstrument im SGB III einzuführen, auf die ein Rechtsanspruch besteht. Für Personen mit Familienverantwortung ist eine gesicherte Finanzierung über die gesamte Ausbildungsdauer hinweg erforderlich. Das gleiche gilt auch für die Ausbildung zur Erzieherin/zum Erzieher.
· Sicherstellung und Ausweitung der Kinderbetreuungsmöglichkeiten
Die Kosten für Kindertagesbetreuung, insbesondere für Kinder unter drei Jahren, können für Familien eine hohe Belastung darstellen. Zugleich sind die Arbeitszeiten im Schichtdienst oftmals nicht mit den Öffnungszeiten der örtlichen Kindertageseinrichtungen vereinbar. Der Ausbau einer bedarfsgerechten Infrastruktur ist daher dringend erforderlich. Eine Möglichkeit, insbesondere mit Blick auf den Umfang und die zeitliche Gestaltung der Betreuungszeiten, ist die Einrichtung von Betriebskitas und/oder die Anmietung von Plätzen in betriebsnahen Einrichtungen durch Träger der Freien Wohlfahrtspflege.
· Wiedereinstiegsprogramme, finanziert u.a. durch die Bundesagentur für Arbeit mit Vermittlung fachlichen Wissens für Soziale Berufe
Eine Hemmschwelle für Wiedereinsteiger/innen nach langen Familienpausen stellt die erforderliche kontinuierliche fachliche Weiterentwicklung dar, da die fachlichen Standards wie z.B. Bildungspläne in den Kitas oder Pflegestandards in der Altenhilfe zwar vorausgesetzt werden, aber nicht immer bekannt sind. Für Personen, die nach einer längeren Familienphase wieder in den Beruf einsteigen möchten, ist es sinnvoll, fachliche Programme für den Wiedereinstieg anzubieten, bei denen insbesondere eine Auffrischung des fachlichen Wissens und eine Vermittlung der aktuell gültigen Standards erfolgt. Die Finanzierung könnte u.a. durch die Bundesagentur für Arbeit erfolgen.
· Verbesserung der gesellschaftlichen Anerkennung von sozialen Berufen
Im Rahmen von verschiedenen Maßnahmen ist dafür zu sorgen, dass die Attraktivität und die gesellschaftliche Anerkennung der sozialen Berufe steigen. Dies kann erreicht werden durch eine bessere Bezahlung und durch eine Verbesserung der Rahmenbedingungen, z.B. die Erhöhung der Personalschlüssel, die Unterstützung durch Assistenzkräfte sowie mitarbeiter(innen)orientierte Organisation und inhaltliche Gestaltung der Prozesse in den Einrichtungen (z.B. Arbeitszeiten, Betriebskultur). Reduzierung des bürokratischen Aufwandes. Darüber hinaus sind die Träger aufgerufen, stärker auf persönliche Entwicklungs- und Karrieremöglichkeiten hinzuweisen, Vollzeit- und Teilzeitarbeitsplätze bedarfsgerecht zu ermöglichen und befristete Arbeitsverträge möglichst zu vermeiden.
· Erleichterung des Wechsels in Arbeitsfelder der sozialen Arbeit durch Kompetenzanerkennung und eine bessere Durchlässigkeit zwischen den Berufen
Die Durchlässigkeit innerhalb der verschiedenen Qualifikationsebenen eines Berufes entscheidet in erheblichem Maße über dessen Attraktivität. Hierbei darf nicht nur die Durchlässigkeit in den akademischen Bereich in den Blick genommen werden. Um so vielen Menschen wie möglich einen Einstieg in einen sozialen Beruf zu eröffnen, sollten v.a. auch niedrigschwellige Zugangswege zu sozialen Berufen mehr Beachtung erfahren. Durch niedrigschwellige Qualifikationsangebote im Vorfeld der Fachkraftausbildungen werden oft erst Grundsteine für die Weiterqualifizierung im Berufsfeld Pflege gelegt. Wichtig dabei ist, dass die unterschiedlichen Qualifikationen immer anschlussfähig an die nächst höhere Qualifikationsebene sein sollten.
Hierdurch soll ein möglichst unbürokratischer Aufstieg im Berufsfeld ermöglicht werden. Die Attraktivität der Berufe wird auch durch persönliche Karriere- und Entwicklungsmöglichkeiten und die Arbeitsbedingungen bestimmt.
Derzeit gibt es zwischen den einzelnen Feldern der sozialen Berufe – vor allem der Familienhilfe, Kinder- und Jugendhilfe, Alten- und Behindertenhilfe – zahlreiche Barrieren, die den Wechsel in andere Fachbereiche nahezu unmöglich machen. Obwohl multiprofessionelle Teams die Arbeit in den Diensten und Einrichtungen bereichern und sich fachliche Anforderungen verändern, ist eine Fachkraftanerkennung von Absolvent/innen in anderen Bereichen oftmals nicht oder nur mit erheblichem Aufwand möglich. Die Orientierung an Kompetenzen – wie im europäischen und deutschen Qualifikationsrahmen vorgesehen – könnte hier zu leichteren Übergängen führen.
Bürokratische Hemmnisse für die Fachkraftanerkennung und den Wechsel in andere soziale Felder müssen abgebaut werden. Eine kompetenzorientierte Auswahl des Personals und Zusatzqualifizierungen fördern eine breitere Fachlichkeit in multiprofessionellen Teams. Die Anerkennung von erworbenen Kompetenzen erhöht die Attraktivität der Berufsfelder in der sozialen Arbeit und der Pflege. So werden alternative Karrieremodelle möglich. Hierzu ist die weitere Entwicklung von Kompetenzanerkennungsverfahren bedeutsam.
· Eingliederung in das Berufsbildungssystem
Es ist grundsätzlich zu überlegen, ob die Ausbildung sozialer Berufe im normalen System der beruflichen Bildung, z.B. in Berufsfachschulen verortet werden können. Der Status „Schule besonderer Art“ wie er u.a. noch teilweise für Schulen der Gesundheits- und Krankenpflege und der Altenpflege gilt, birgt viele Nachteile, so bspw. hinsichtlich der Finanzierung, der rechtlichen Stellung oder der fehlenden Anschlussfähigkeit der Abschlüsse an Schulen und Hochschulen.
· Ethisch verantwortliche Anwerbung von ausländischen Arbeits- und Fachkräften[12]
Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege setzt sich dafür ein, dass die Anwerbung von Fach- und Arbeitskräften auf ethischen Grundsätzen erfolgt. Bei den Anwerbungen müssen immer die Gegebenheiten im Herkunftsland, die individuellen Umstände der Person und die Anforderungen in Deutschland berücksichtigt werden. Das heißt, dass der WHO-Kodex berücksichtigt wird, und daher nicht aus Ländern angeworben wird, die selbst mit Gesundheitsfachkräften unterversorgt sind. Auch dürfen Kinder z.B. von Haushaltshilfen nicht unversorgt zurückbleiben.
Von den angeworbenen Personen darf keine Vermittlungsgebühr o.ä. verlangt werden und sie müssen zu gleichen Bedingungen arbeiten und bezahlt werden wie die anderen Beschäftigten in den Einrichtungen.
Es bedarf verlässlicher Arbeitsbedingungen für die Angeworbenen und das Recht der Angeworbenen dauerhaft in Deutschland mit ihren Familien bleiben zu können.
In den Herkunftsländern stehen die Vor- und Nachteile der Migration häufig in einem Spannungsfeld. Denn neben der Gefahr des „brain drain“ können sowohl die finanziellen Transferleistungen von Seiten der Arbeitsmigranten/innen als auch der Transfer von Wissen und Erfahrungen in das Herkunftsland einen positiven Aspekt der Anwerbung darstellen.
Vorstellbar sind beispielsweise Partnerschaftsprogramme mit Wohlfahrtsverbänden in den Herkunftsländern, die mittelfristig zur Verbesserung der dortigen Lebensbedingungen beitragen können. Das internationale Netzwerk der Verbände der Freien Wohlfahrtspflege bietet sich für Kooperationen mit den betroffenen Drittstaaten in besonderer Weise an.
Eine Option der Fachkräftegewinnung ist eine Ausbildung nach deutschem Recht.
· Schaffung einer Willkommens- und Anerkennungskultur
Für eine erfolgreiche Anwerbung und Arbeitszuwanderung als Fachkraft oder Auszubildende sind intensive Begleitmaßnahmen notwendig: Diese umfassen sowohl eine sprachliche und kulturelle Vorbereitung im Herkunftsland, die sowohl eine Vorbereitung auf den Beruf in Deutschland als auch eine weitere Unterstützung des Spracherwerbs und gegebenenfalls der Begleitung und Beratung in Deutschland beinhaltet. Das sind wichtige Aspekte einer Willkommenskultur.
Hierzu gehört neben dem ausreichenden Angebot von Sprachkursen, das Kennenlernen der deutschen Kultur und des Zusammenlebens. Menschen, die nach Deutschland kommen, um in einem sozialen Beruf zu arbeiten, sollten den Berufsalltag möglichst schon im Vorfeld ihrer Zuwanderung kennen lernen.
Zur Anerkennungskultur gehört, dass die Ressourcen, Fähigkeiten und Erfahrungen der sich Bewerbenden und bereits Beschäftigten mit Migrationshintergrund wahrgenommen und wertgeschätzt werden.
Eine Willkommens- und Anerkennungskultur muss gesamtgesellschaftlich begriffen und rechtlich ausgestaltet werden, um den gleichberechtigten Zugang zu Bildung, Ausbildung und Arbeitsmarkt zu schaffen, rechtliche Gleichstellung zu fördern sowie den Abbau von Diskriminierung voranzutreiben.
Gleichzeitig dürfen Frauen, Männer und Kinder, die aus anderen Ländern nach Deutschland kommen, nicht auf Instrumente volkswirtschaftlichen Erfolgs reduziert werden. Sie sind Subjekte mit Ressourcen, Ansprüchen und Rechten.
· Erleichterungen für Mangelberufe im Sozial- und Gesundheitswesen
Aufgrund der Arbeitnehmerfreizügigkeit innerhalb der Europäischen Union ist es grundsätzlich möglich, Fachkräfte aus anderen EU-Staaten für eine Tätigkeit in Deutschland anzuwerben. Bei Ausländer/innen aus anderen Staaten hat der bereits seit den 1970er Jahren geltende Anwerbestopp im Grundsatz noch immer Bestand. Allerdings gibt es Ausnahmen, wie die Zuwanderung über die „Blue Card“.
Gem. § 19a AufenthG können Ausländer/innen aus Drittstaaten mit einem Hochschulabschluss ohne Vorrangprüfung eine Arbeit in Deutschland aufnehmen, wenn sie mit dem Jahresgehalt über der in § 41a BeschV genannten Grenze von derzeit 46.400 Euro liegen. Für Mangelberufe gilt als Grenze 36.192 Euro. In der Definition der Mangelberufe in § 41a Abs. 2 sind u.a. Naturwissenschaftler, Mathematiker, Ingenieure und Ärzte genannt. Es sollten auch nicht akademische Krankenpflege- und Geburtshilfefachkräfte sowie akademische und vergleichbare Fachkräfte in der traditionellen und komplementären Medizin (Gruppen 222 und 223 der Internationalen Standardklassifikation der Berufe) sowie Erzieher/innen im Vorschulbereich (Gruppe 2342) und Sozialarbeiter/innen (Gruppe 2635) in Deutschland beschäftigt werden können. Insoweit ist an eine Ausdehnung der Regelung des § 18c AufenthG, der für Ausländer mit Hochschulabschluss und gesichertem Lebensunterhalt gilt, auch auf die Gesundheitsberufe zu denken.
· Vereinheitlichung der Berufsanerkennungsverfahren auf der Grundlage von Kompetenz-Anerkennungsverfahren
Die Qualifikation zur Krankenschwester/zum Krankenpfleger wird nach der EU-Berufsanerkennungsrichtlinie (2005/36/EG / 2013/55/ EU) innerhalb Europas automatisch anerkannt, wenn sie nach dem Beitritt des Landes zur EU erworben worden ist. Allerdings müssen ausreichende Deutschkenntnisse nachgewiesen werden.
Für die Altenpflege-, die Erzieher/innen-, und die nicht in der EU erworbene Krankenpflegeausbildung bedarf es einer Anerkennung durch die Bundesländer[13]. Hier geht es insbesondere um die Feststellung der Gleichwertigkeit der vorhandenen Qualifikation mit den deutschen Ausbildungen sowie dem Nachweis von ausreichenden Sprachkenntnissen.
Mit dem Berufsqualifikationsfeststellungsgesetz wurde ein wichtiger Schritt getan, die Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse von Nicht-EU-Ausländern und Ausländerinnen zu verbessern. Allerdings ist die Umsetzung durch die zuständigen Verwaltungen in den Bundesländern noch unzureichend und auch unterschiedlich. Für Arbeitgeber, die Personen mit im Ausland erworbenen Qualifikationen beschäftigen wollen, sind einheitliche, transparente und beschleunigte Anerkennungsverfahren notwendig.
Das Angebot, fehlende Teilqualifikationen (auch Praxisphasen) nachzuholen, muss verbessert werden. Die Anerkennungszahlen werden nur steigen, wenn die dafür nötigen Anpassungsqualifikationen angeboten, auf eine sichere finanzielle Grundlage gestellt und ausreichend bekannt gemacht werden.
· Neuregelung der Zulassung zur Ausbildung im Sozial- und Gesundheitswesen für Nicht- EU-Ausländer/innen
Es ist wünschenswert, nicht nur ausgebildete Fachkräfte anzuwerben, sondern Zuwandernden und Angeworbenen auch in Deutschland die Ausbildung zu ermöglichen. Für die Zulassung zur schulischen Ausbildung z.B. in den Bereichen Pflege und Erziehung besteht jedoch derzeit nach § 16 Abs. 5 AufenthG nur in Ausnahmefällen die Möglichkeit einen Aufenthaltstitel zu erlangen. Wird eine Berufsausbildung in Deutschland absolviert, besteht die Möglichkeit, nach Abschluss der Ausbildung und bei einer Anstellung in einer der Ausbildung entsprechenden Tätigkeit von der Ausländerbehörde einen entsprechenden Aufenthaltstitel zu bekommen (§ 16 Abs. 5b AufenthG). Um den Zugang zur Ausbildung für Personen aus Nicht-EU-Staaten zu verbessern, bedarf es einer Änderung des § 16 Abs. 5 AufenthG dahingehend, dass eine Aufenthaltserlaubnis zum Zweck der schulischen Ausbildung in der Regel und nicht nur als Ausnahme erteilt wird.
4.1. Altenpflege
Bei den Anstiegen der Ausbildungszahlen in den Gesundheitsberufen war in der Altenpflegeausbildung der höchste Zuwachs zu verzeichnen. Vom Schuljahr 2007/2008 bis zum Schuljahr 2011/2012 ist die Zahl der Auszubildenden dort um 36,2% (Vergleich Krankenpflegeausbildung plus 7,6%) auf 55.966 gestiegen. Trotz dieser Zuwachssteigerungen, wird allen Prognosen zu Folge deutlich, dass der weiter steigende Bedarf hierdurch nicht abgedeckt werden kann. Die Bundesagentur für Arbeit stuft den Altenpflegeberuf als Fachkräfteengpass ein[14]. Neben der Steigerung der Attraktivität von Berufs- und Bildungswegen, der Qualifizierung geeigneter Seiteneinsteiger und Berufsrückkehrer/innen sowie transparenter und verbindlicher Verfahren zur Anerkennung von Kompetenzen sind weiterhin erhebliche Anstrengungen zur Steigerung der Eintritte in die Altenpflegeausbildung und damit der Ausbildungskapazitäten erforderlich[15].
· Aufhebung der Begrenzung der Zahl der schulischen Ausbildungsplätze in sozialen Ausbildungsberufen von Seiten der Länder
Ausbildung und Qualifizierung stellen nach wie vor die wichtigsten Faktoren zur Fachkräftegewinnung in der Altenpflege dar. Im Bundesgesetz über die Berufe in der Altenpflege ist die Ausbildung bundesweit geregelt. Aufnahmevoraussetzung ist u.a. ein Ausbildungsvertrag mit einer ausbildenden Einrichtung. Der Unterricht findet an Altenpflegeschulen statt, die auch die formale Gesamtverantwortung für die Ausbildung tragen. Daher stellt die Begrenzung der Zahl der schulischen Ausbildungsplätze in der Altenpflege, die in einigen Bundesländern vorgenommen wird, ein wesentliches Hemmnis dar. Die Begrenzung der Ausbildungskapazitäten von Seiten der Länder führt dazu, dass trotz großen Bedarfs, nicht alle geeigneten Personen, die gerne in der Altenpflege tätig werden wollen, die Möglichkeit einer Ausbildung erhalten. Auch Interessierte, die bereits über einen Ausbildungsplatz in einer Einrichtung verfügen, gehen so der Altenpflegeausbildung verloren. Die Aufhebung der Begrenzung der Ausbildungsplätze ist für die Gewinnung einer gesteigerten Anzahl examinierter Fachkräfte in der Altenpflege unabdingbar notwendig.
· Ausreichende Finanzierung der Altenpflegeschulen
Für die Bereitstellung ausreichender Finanzierungsgrundlagen der Ausbildungsplätze an den Altenpflegeschulen sind die Bundesländer zuständig.
Dabei handelt es sich um länderspezifisch sehr heterogene Systeme. In der Regel werden keine kostendeckenden Finanzierungsgrundlagen für die Altenpflegeschulen, sondern frei festgelegte „Zuschüsse“ bereitgestellt. Dadurch können Finanzierungslücken entstehen, die in manchen Ländern teilweise auch auf die Auszubildenden umgelegt werden. Durch die Erhebung von Schulgeld sinkt die Attraktivität der Ausbildung gegenüber anderen Berufen. Dies kann dazu führen, dass sich Personen trotz bestehender Motivation aus finanziellen Gründen doch für eine andere Ausbildung entscheiden und somit dem Arbeitsmarkt der Altenpflege nicht mehr zur Verfügung stehen. Eine ausreichende Versorgung der Pflege mit Fachkräften ist als gesamtgesellschaftliche Aufgabe zu bewerten. Es liegt in der Zuständigkeit der Länder geeignete Rahmenbedingungen für eine auskömmliche Finanzierung der Altenpflegeschulen zu schaffen und bestehende Finanzierungslücken zu beseitigen.
· Beteiligung aller Altenhilfeeinrichtungen an der Refinanzierung der praktischen Ausbildungskosten durch eine Ausbildungsumlage zugunsten der ausbildenden Einrichtungen.
Die Refinanzierung der praktischen Altenpflege-Ausbildung in Einrichtungen ist in den Bundesländern unterschiedlich geregelt.
In vielen Bundesländern werden in der stationären Altenhilfe die Kosten für die Ausbildung derzeit über höhere Entgelte im Pflegesatz refinanziert. Dies führt zur Wettbewerbsverzerrung und einer Benachteiligung der ausbildenden Einrichtungen. Demgegenüber ist es erforderlich, die Beteiligung aller Altenhilfeeinrichtungen an der Refinanzierung der praktischen Ausbildungskosten durch eine Ausbildungsumlage zugunsten der ausbildenden Einrichtungen anzustreben. Gegenwärtig wird die Ausbildungsumlage in Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen sehr erfolgreich umgesetzt. Alle Altenpflegeeinrichtungen leisten einen Beitrag zur Ausbildung, wodurch die ausbildenden Einrichtungen unterstützt werden und deren Nachteil ausgeglichen wird. Darüber hinaus wäre zu prüfen, in wie weit solche Umlageverfahren vom Erfordernis eines „drohenden Mangels“ an Ausbildungsplätzen entkoppelt werden könnten, um für eine weitere Verbreitung der Entlastung von ausbildenden Einrichtungen auch in anderen Bundesländern zu sorgen.
4.2. Frühkindliche Bildung, Erziehung und Betreuung
Der Bedarf an Erzieher/innen ist seit dem Inkrafttreten des Rechtsanspruches auf einen Betreuungsplatz für Kinder unter drei Jahren kontinuierlich gestiegen. In den letzten Jahren waren die Zuwachsraten für Beschäftigungsverhältnisse in den Kindertageseinrichtungen so hoch wie noch nie. Bislang gehört das pädagogische Personal für Kindertageseinrichtungen nicht zu den Mangelberufen, d.h. der Personalbedarf kann (noch) bundesweit gedeckt werden. Allerdings gibt es erhebliche regionale Disparitäten. Die Suche nach geeignetem Personal gestaltet sich vor allem in den Ballungsräumen sehr schwierig.
Die Personalbindung und die Schaffung von förderlichen Rahmenbedingungen sind für Beschäftigte in der Kindertagesbetreuung von besonderer Bedeutung. Nach ein bis zwei Jahren im Tätigkeitsfeld verlassen viele pädagogisch Tätige das Arbeitsfeld wieder und wechseln in andere Berufe und Branchen. Die nun folgenden Maßnahmen dienen dazu, die Qualität der Arbeit zu verbessern.
· Erhöhung der Personalausstattung in den Kindertageseinrichtungen
Die Personalschlüssel sind in den Bundesländern sehr unterschiedlich und unterscheiden sich vor allem zwischen den westlichen und den östlichen Bundesländern erheblich. Sie haben sich zwar in den letzten Jahren leicht verbessert, eine weitere Verbesserung ist grundsätzlich und insbesondere in den östlichen Bundesländern notwendig, da sie eine zentrale Bedeutung für die Gewährleistung der pädagogischen Qualität hat und zur Gesunderhaltung und Bindung des dringend benötigten Fachpersonals beitragen kann. Der Wunsch vieler Beschäftigter in den östlichen Bundesländern, den Beschäftigungsumfang zu erhöhen, zeigt, dass hier personelle Ressourcen vorhanden sind. Allerdings erfordert eine Erhöhung der Personalschlüssel eine Anpassung der gesetzlichen Landesregelungen sowie der Finanzierungsgrundlagen.
· Bedarfsgerechte Arbeitszeiten ermöglichen
Veränderte und ausgeweitete Angebotsformen der Kindertagesbetreuung erfordern auf der einen Seite eine flexible Arbeitszeitgestaltung. Auf der anderen Seite gibt es unterschiedliche Bedarfe der Mitarbeitenden an die Arbeitszeitgestaltung. Es kann nicht grundsätzlich von einem Wunsch der Beschäftigten nach Ausweitung der Teilzeit hin zu Vollzeit bzw. vollzeitnaher Beschäftigung (mindestens 32 Wochenstunden) ausgegangen werden. Der Bedarf von Teilzeit und Vollzeit verändert sich im Berufsverlauf und orientiert sich an den jeweiligen Lebensphasen. Darüber hinaus gibt es eine unterschiedliche Bedarfsorientierung zwischen den ost- und westdeutschen Bundesländern. Kindertageseinrichtungen befinden sich in dem schwierigen Spannungsfeld zwischen pädagogischen Anforderungen der Betreuung der Kinder, einer Dienstleistungsfunktion gegenüber den Eltern sowie den finanziellen und lebensphasenorientierten Bedarfen der Beschäftigten. Der Aufbau von verlässlichen Arbeitszeit- und Betreuungsstrukturen ist an eine entsprechende finanziell zuverlässige Ausstattung gebunden.
· Vergütung und gesellschaftliche Anerkennung
In den letzten Jahren erlangte die frühkindliche Bildung, Erziehung und Betreuung eine wachsende Bedeutung. Somit sind auch die Erwartungen und Anforderungen an die Kompetenzen der Beschäftigten in den Kindertageseinrichtungen gestiegen. Allerdings spiegeln sich diese gewachsenen Anforderungen nicht in der bisherigen tariflichen Bewertung der Tätigkeit von Erzieher/innen wider. Die tarifliche Eingruppierung hat sich trotz der gestiegenen Anforderungen durch den Bildungsauftrag der Kindertageseinrichtungen noch durch die Einordnung des Berufes in die Stufe 6 des DQR geändert.
Darüber hinaus gibt es immer mehr Beschäftigte mit einem akademischen Abschluss in Frühpädagogik. Gleichzeitig müssen aber Karrierewege für die Fachkräfte ohne akademischen Abschluss bestehen bleiben bzw. durchlässige kompetenzbasierte Weiterbildungsangebote geschaffen werden.
· Förderung von Alternativen zur Vollzeitausbildung – weiterer Ausbau der Praxisintegrierten Ausbildung
Für die Ausbildung zur/zum/r Erzieher/in gibt es einen bundesweiten Standard, der in der „Rahmenvereinbarung über Fachschulen“ der Kultusministerkonferenz festgelegt ist, die Umsetzung liegt bei den Bundesländern. Zumeist wird die Ausbildung im Rahmen einer zwei- bis dreijährigen vollzeitschulischen Ausbildung, an die ein einjähriges Berufsanerkennungsjahr anschließt, durchgeführt. Eine Vergütung der schulischen Ausbildung erfolgt nicht, stattdessen ist teilweise ein Schulgeld durch die Auszubildenden zu entrichten. Nur im Berufsanerkennungsjahr kann eine Vergütung durch die Einrichtung bezahlt werden, wobei es auch hierfür unterschiedliche Regelungen in den Ländern gibt. Diese Art der Ausbildung ist für berufliche Um- oder Quereinsteiger und Personen, die das klassische Ausbildungsalter überschritten haben, wenig attraktiv. In der praxisintegrierten Ausbildung, in der vergleichbar mit der Dualen Ausbildung eine Ausbildungsvergütung bezahlt wird, sind die Auszubildenden während der gesamten Ausbildung bereits in einer Einrichtung beschäftigt. Diese Möglichkeit der Ausbildung besteht bislang nur in einigen Bundesländern. Um die Attraktivität der Ausbildung zu erhöhen sollte dieses Angebot weiterausgebaut werden.
4.3. Krankenpflege
· Personalausstattung, Arbeitsbedingungen, Anhaltszahlen
Der Gemeinsame Bundesausschuss und die Länder machen inzwischen zahlreiche Strukturvorgaben, wie viel Personal vorzuhalten ist. Die Krankenhäuser und die Verbände stellen sich offen und konstruktiv dieser Diskussion und sind bereit, an der Entwicklung von Personalanhaltszahlen (z.B. auf der Basis der im Jahr 1993 eingeführten Pflege-Personalregelung) mitzuwirken. Ausreichende personelle Ressourcen sind Grundvoraussetzung für eine pflegerische Versorgung und Behandlung der Patienten auf hohem qualitativem Niveau. Alle Anstrengungen müssen darauf gerichtet sein, qualifiziertes Personal zu gewinnen, attraktive Arbeitsbedingungen zu schaffen und eine Refinanzierung der Kosten zu gewährleisten.
Der Wandel der Ausbildung ist notwendig. Durch eine kürzere Verweildauer im Krankenhaus müssen immer mehr ältere Menschen in stationären Pflegeeinrichtungen und durch ambulante Pflegedienste medizinisch weiterversorgt werden. Gleichzeitig steigt die Zahl älterer Patienten in den Krankenhäusern. In der Akutversorgung sind daher mehr sozialpflegerische und gerontologische Kenntnisse notwendig.
[1] Die Erhebung erfolgt alle vier Jahre, aktuelle Zahlen sind erst 2015 verfügbar.
[2] Vgl. Fachkräftebarometer Frühe Bildung 2014 (wiff, Autorengruppe Fachkräftebarometer, 2014)
[3] Vakante Stellen in der Altenpflege können im Durchschnitt erst nach 129 Tagen besetzt werden, auf 100 gemeldete Arbeitsstellen kommen nur 44 Arbeitslose. Für die Krankenpflege ist die Situation zwar entspannter, doch auch hier kommen auf 100 freie Stellen lediglich 84 Arbeitslose.
[4] Siehe auch „Altenpflege in Deutschland-Ethisch vertretbare Anwerbung von ausländischen Arbeits- und Fachkräften in der Pflege“, BAGFW, Juli 2014
[5] Vgl. Berufsbildungsbericht 2014, S. 62 www.bmbf.de/pub/bbb_2014.pdf, Im Schuljahr 2013/2014 ist die Zahl der Eintritte in eine Altenpflegeausbildung um 14,2% im Vergleich zum Vorjahr gestiegen. In jenem Jahr begannen 26.740 Menschen eine Altenpflegeausbildung und damit so viele wie noch nie zuvor (vgl. Zwischenbericht zur Ausbildungs- und Qualifizierungsoffensive Altenpflege 2015 unter <link http: www.bmfsfj.de bmfsfj>www.bmfsfj.de/BMFSFJ/aeltere-menschen,did=212456.html)
[6] Vgl. Fachkräftebarometer Frühe Bildung 2014
[7] Die Bundesagentur für Arbeit stellt in ihrer Fachkräfteengpassanalyse vom Dezember 2013 fest, dass sich in den Gesundheits- und Pflegeberufen in nahezu allen Bundesländern eine deutliche Mangelsituation zeigt, insbesondere in der Altenpflege. Vakante Stellen können im Durchschnitt erst nach 131 Tagen besetzt werden, auf 100 gemeldete Arbeitsstellen kommen nur 39 Arbeitslose. Für die Krankenpflege ist die Situation zwar entspannter, doch auch hier kommen auf 100 freie Stellen lediglich 76 Arbeitslose.
[8] Roland Berger, 2012, pwc: „112 und keiner hilft“, 2013: Die Unternehmensberatungen pwc und Roland Berger schätzen den Fachkräftemangel im ärztlichen Dienst bis zum Jahr 2030 auf rund 110 000. Damit wäre rund ein Drittel der Stellen nicht mehr besetzt. Im Bereich der Pflegekräfte wird der Fachkräftemangel im Jahr 2030 auf rund 575 000 geschätzt. Damit bliebe rund jede zweite Stelle unbesetzt.
[9] Fachkräftemangel in der Sozialwirtschaft. Eine empirische Studie 2012, in: www.sonderpaedagogik.uni-wuerzburg.de/fileadmin/06040030/Downloads/Ratz/Studie_Fachkraeftemangel_2012_Ergebnisse_Langfassung_01.pdf
[10] Z.B. Kinderbetreuungsmöglichkeiten, die den Arbeitszeiten ebenso wie den Qualitätsansprüchen der Eltern entsprechen
[11] Z.B. die Kampagne „Profis für die Kita“
[12] Vgl. BAGFW, Altenpflege in Deutschland. Ethisch vertretbare Anwerbung von ausländischen
Arbeits- und Fachkräften in der Pflege, Berlin 16.07.2014
[13] Für in Europa erworbene Abschlüsse auf der Basis der Berufsanerkennungsrichtlinie und bei in Drittstaaten erworbenen Qualifikationen auf der Basis des Gesetzes zur Verbesserung der Feststellung und Anerkennung im Ausland erworbener Berufsqualifikationen“ (Anerkennungsgesetz).
[14] Bundesagentur für Arbeit, Arbeitsmarktberichterstattung Februar 2014, Arbeitsmarkt Altenpflege: 100 gemeldete Stellen / 42 arbeitslose Altenpflegefachkräfte (Engpassberuf: Angebot deutlich höher als Nachfrage, hohe Vakanzzeiten)
[15] Im Rahmen der Ausbildungs- und Qualifizierungsoffensive Altenpflege wurde eine jährliche Steigerung der Ausbildungseintritte um 10 Prozent vereinbart ausgehend von einer Größenordnung von rund 23.500 Neueintritten im Schuljahr 2010/11.
]]>§ 10 Pflegebericht der Bundesregierung
Änderungsantrag
Der nächste Pflegebericht, der gemäß des Gesetzeswortlauts alle vier Jahre erscheinen muss und somit turnusgemäß im Jahr 2015 vorgelegt werden müsste, wird auf das Jahr 2016 verschoben.
Bewertung
Die Regelung ist sinnvoll. Das PSG I ist erst zum 1. Januar 2015 in Kraft getreten und hat zahlreiche leistungsrechtliche Änderungen mit sich gebracht. Beispielhaft seien die Möglichkeit zur Umwidmung des Betrags der häuslichen Pflegesachleistung nach §§ 36 und 123 SGB XI in Leistungen niedrigschwelliger Betreuungs- und Entlastungsangebote oder die bessere Kombinierbarkeit von Kurzzeit- und Verhinderungspflege genannt. Das Gesetz hat mit den niedrigschwelligen Entlastungsangeboten nach § 45c Absatz 3a SGB XI auch ganz neue Leistungsangebote eingeführt, die in der Praxis erst im Verlaufe des Jahres 2015 zur Verfügung stehen werden. Ein Pflegebericht soll die Auswirkungen von neuen gesetzlichen Regelungen erfassen und in ihrer Wirksamkeit beurteilen. Eine aktuelle Bestandsaufnahme des PSG I ist in der Kürze der Zeit jedoch nicht möglich. Daher begrüßt die BAGFW die Verschiebung des nächsten Pflegeberichts ins Jahr 2016.
§ 17a: Vorbereitung der Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs
Änderungsantrag
Um die Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs sicherzustellen, soll der Spitzenverband Bund der Pflegekassen unter Beteiligung des MDS die Richtlinien zum Verfahren der Feststellung der Pflegebedürftigkeit (Begutachtungsverfahren) nach § 17 i.V. mit § 53a Satz 1 Nummer 2 SGB XI ändern. Er hat dabei die Kassenärztliche Bundesvereinigung, die Bundesverbände der Pflegeberufe, die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege, die Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger der Sozialhilfe, die kommunalen Spitzenverbände auf Bundesebene, die Bundesverbände privater Alten- und Pflegeheime sowie die Verbände der privaten ambulanten Dienste zu beteiligen. Die auf Bundesebene maßgeblichen Organisationen für die Wahrnehmung der Interessen und der Selbsthilfe der pflegebedürftigen und behinderten Menschen wirken dabei beratend mit. Die geänderten Richtlinien sind dem Bundesministerium für Gesundheit innerhalb von neun Monaten nach Inkrafttreten des Präventionsgesetzes zur Genehmigung vorzulegen.
Mit dem Begutachtungsverfahren, zu dem Richtlinien zu erlassen sind, ist nach § 17a Absatz 2 neu festzustellen, ob die Voraussetzungen der Pflegebedürftigkeit nach dem neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff erfüllt sind und welcher Pflegegrad vorliegt. Bei der Abstufung der Pflegegrade sind Beeinträchtigungen und Fähigkeitsstörungen in den Bereichen Mobilität, kognitive und kommunikative Fähigkeiten, Verhaltensweisen und psychische Problemlagen, Selbstversorgung, Umgang mit krankheits- und therapiebedingten Anforderungen und Belastungen, Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte zu berücksichtigen. Das Begutachtungsverfahren muss die Zuordnung des Pflegebedürftigen zu einem der fünf Pflegegrade ermöglichen. In das Begutachtungsverfahren sind auch die NBA-Module Außerhäusliche Aktivitäten (Modul 7) sowie Haushaltsführung (Modul 8) einzubeziehen.
Das BMG soll im Einvernehmen mit dem BMFSFJ und dem BMAS unter Beteiligung des Spitzenverbandes Bund der Pflegekassen unverzüglich nach Inkrafttreten des Präventionsgesetzes einen Zeitplan vorlegen, der Zielvorgaben für die Änderung der Richtlinie enthält. Der Spitzenverband Bund der Pflegekassen muss dem BMG auf Verlangen jederzeit Auskunft über den Bearbeitungsstand der Richtlinie sowie über mögliche Probleme und Lösungen erteilen.
Die Richtlinien können erst nach Inkrafttreten eines Gesetzes, das den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff einführt, wirksam werden. Sie müssen vom BMG genehmigt werden. Die Genehmigung gilt als erteilt, wenn die Richtlinien nicht innerhalb von 2 Monaten nach Inkrafttreten dieses Gesetzes durch das BMG beanstandet werden. Auch die Nichtbeanstandung kann mit Auflagen verbunden werden, zu deren Erfüllung das BMG eine angemessene Frist setzen muss. Bei Nichtbehebung von Beanstandungen oder bei nicht fristgemäßer Erreichung der Zielvorgaben des Zeitplans kann das BMG selbst die Richtlinien erlassen.
Die Richtlinien sind im Bundesanzeiger und die tragenden Gründe im Internet zu veröffentlichen. Sie sind für die Medizinischen Dienste der Krankenversicherung verbindlich.
Bewertung
Der Expertenbeirat zur konkreten Ausgestaltung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs hat in der Roadmap seines Abschlussberichtes eingeschätzt, dass die Erarbeitung und Fertigstellung der Begutachtungs-Richtlinien durch den GKV-Spitzenverband ca. neun Monate in Anspruch nehmen wird. Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege erachtet es daher als sinnvoll, wenn mit der Erstellung der Richtlinien so rechtzeitig begonnen wird, dass Menschen, die nach Inkrafttreten des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs einen Antrag auf Begutachtung stellen, möglichst zügig nach dem Neuen Begutachtungsassessment (NBA) begutachtet werden können. Nach Einschätzung der BAGFW ist ein Zeitraum von neun Monaten realistisch: So muss vor einer Bearbeitung der Richtlinien die Grundsatzentscheidung getroffen werden, ob die gegenwärtige Trennung der Pflegebedürftigkeits-Richtlinien (PfLRI) und der Begutachtungs-Richtlinien (BRi) beibehalten werden soll. Die Ergebnisse der Praktikabilitätsstudie zur Einführung des Neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs sind ins Manual zum NBA einzuarbeiten und in den Richtlinioen auszuformulieren. Auf der Grundlage des neuen Manuals ist ein neues Formulargutachten zu erstellen.
Die Beteiligung der genannten in § 17a Absatz 1 Satz 2 SGB XI neu genannten Körperschaften und Verbände entspricht dem bisherigen § 17 Absatz 1 Satz 2 SGB XI und der Verordnung nach § 118 SGB XI und ist sachgerecht. Wir begrüßen nachdrücklich, dass auch die auf Bundesebene maßgeblichen Organisationen für die Wahrnehmung der Interessen und der Selbsthilfe der pflegebedürftigen und behinderten Menschen beratend in das Beteiligungsverfahren einbezogen werden.
Der Gesetzestext benennt in § 17a Absatz 2 die acht Module des NBA zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit, von denen die ersten sechs unmittelbar für die Begutachtung relevant sind. Aus Sicht der BAGFW ist zentral, dass auch die Module 7 (außerhäusliche Aktivitäten) und 8 (Haushaltsführung) in die Begutachtung einbezogen werden, um eine umfassende Beratung und Pflege- und Hilfeplanung zu ermöglichen.
Das Neue Begutachtungsassessment, das dem neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff zugrunde liegt, misst den Grad der Beeinträchtigung der Selbständigkeit in den acht Modulen bzw. Bereichen, die der Gesetzestext auch alle aufzählt. In § 17a Absatz 2 Satz 2 SGB XI neu werden jedoch neben den Beeinträchtigungen in diesen acht Bereichen auch Fähigkeitsstörungen benannt. Das widerspricht der Philosophie des Neuen Begutachtungsassessments, das eben nicht mehr defizitorientiert, wie der bestehende Pflegebedürftigkeitsbegriff, das Ausmaß von körperlichen und/oder psychischen oder kognitiven Funktionseinbußen oder Fähigkeitsstörungen erfasst, sondern ressourcenorientiert, präventiv und rehabilitativ auf den Erhalt der Selbstständigkeit der bestehenden Fähigkeiten abzielt. Der Begriff „Fähigkeitsstörungen“ ist daher aus Satz 2 zu streichen.
Das Genehmigungsverfahren der Richtlinien nach § 17a Absatz 4 und 5 SGB XI neu ist § 94 SGB V nachgebildet und aus Sicht der BAGFW sachgerecht.
Lösungsvorschlag
§ 17a Absatz 2 Satz 2 SGB XI neu ist wie folgt zu fassen:
„Bei der Abstufung der Pflegegrade sind Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit in den Bereichen Mobilität, kognitive und kommunikative Fähigkeiten, Verhaltensweisen und psychische Problemlagen, Selbstversorgung, Umgang mit krankheits- und therapiebedingten Anforderungen und Belastungen, Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte zu berücksichtigen.“
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Grundsätzliche Anmerkungen
In § 115 Abs. 1a SGB XI fordert der Gesetzgeber die Veröffentlichung von Prüfergebnissen der Medizinischen Dienste hinsichtlich der Ergebnis- und Lebensqualität. In den Qualitätsprüfungen der Medizinischen Dienste nach den §§ 114 und 114a SGB XI wird aber die Einhaltung normativer Vorgaben des Pflegeversicherungsgesetzes sowie der Maßstäbe und Grundsätze nach § 113 und nicht die Lebens- und Ergebnisqualität geprüft. Somit ist diese Gesetzesvorgabe in dieser Kombination kaum umsetzbar und auch das derzeitige System der Pflege-Transparenzvereinbarungen (PTVen) setzt die gesetzlichen Vorgaben, insbesondere Ergebnis- und Lebensqualität darzustellen, nicht um. Darüber hinaus sind die PTVen wegen grundsätzlicher methodischer Mängel in der Kritik.
Die Probleme sind von Beginn an bekannt und die in der BAGFW kooperierenden Verbände haben in Wahrnehmung ihrer Aufgaben als maßgebliche Verbände gem.
§ 113 SGB XI immer auf ein wissenschaftlich fundiertes System der öffentlichen Qualitätsberichterstattung in der Pflege hingewirkt, welches das bestehende System in der Zukunft ablöst und gleichzeitig die interne Qualitätsentwicklung mit der externen Qualitätsprüfung sinnvoll verzahnt.
Dieses andere System der Qualitätsberichterstattung wurde bereits 2007 durch die BAGFW angeregt und schließlich durch die beiden Bundesministerien für Gesundheit und Familie, Senioren, Frauen und Jugend aufgegriffen. Bereits seit 2011 liegt dazu der Abschlussbericht eines Modellprojekts vor und wartet auf die Realisierung. Die Umsetzung wurde jedoch von den Pflegekassen längste Zeit verweigert. So kann nun auf der Basis der Ergebnisse des Projektes „Entwicklung und Erprobung von Instrumenten zur Beurteilung der Ergebnisqualität in der stationären Altenhilfe“ (sog. „Wingenfeld-Projekt“) begonnen werden, eine Qualitätsberichterstattung nach wissenschaftlich anerkannten Indikatoren zu entwickeln und zu implementieren.
Nach Auffassung der BAGFW muss bis dahin eine geeignete Übergangslösung herbeigeführt werden, die nach der sofortigen bzw. kurzfristigen Abschaffung der Pflegenoten auf der Ebene der Bereichs- und Gesamtnote bis zur erfolgreichen Implementierung der neuen Qualitätsberichterstattung für die Betroffenen ein akzeptables Maß an Transparenz der Qualität bietet.
Die BAGFW unterstützt daher den Antrag der Bundestagsfraktion B90/DIE GRÜNEN in diesem Punkt und nimmt zu den Punkten 1) bis 3) im Einzelnen wie folgt Stellung:
Zu 1) Aussetzung der Veröffentlichung der „Pflege-Noten“ nach der Pflege- Transparenzvereinbarung mit sofortiger Wirkung
Zur immer wieder aufflammenden Kritik, dass wichtige Prüfkriterien mit weniger wichtigen Bereichen „ausgebügelt“ werden können, haben die in der BAGFW kooperierenden Verbände schon vor langer Zeit die passende Lösung vorgelegt: Abschaffung der Gesamtnote.
Aus Sicht der BAGFW sollen in das bestehende System keine weiteren personellen und finanziellen Ressourcen investiert werden. Eine mögliche Übergangslösung muss also vor allem zwei Kriterien erfüllen: Sie muss zeitnah bzw. sofort umsetzbar sein und darf keinen zusätzlichen Aufwand erfordern. Diesbezüglich hat die BAGFW bereits in der Vergangenheit folgende Vorschläge unterbreitet:
Vorschlag 1: Aussetzen der Gesamtnote
Das Bestreben, die Pflegequalität in ihrer Gänze in einer Gesamtnote abzubilden, ist gescheitert. Verbraucher werden hierbei in die Irre geführt, da das Verrechnen einzelner Qualitätsbereiche zu einer Gesamtnote zwangsläufig dazu führt, dass mögliche Qualitätsdefizite durch gute Leistungen in anderen Qualitätsbereichen ausge-glichen werden und damit keine Beachtung finden. Durch das Aussetzen der Gesamtnote wäre dies nicht mehr möglich; Interessierte sähen sich außerdem gezwungen, die einzelnen Qualitätsbereiche zu betrachten, zu analysieren und anhand der individuellen Präferenzen zu bewerten.
Vorschlag 2: Aussetzen der Gesamtnote sowie der Bereichsnoten; Bewertung anhand der einzelnen Kriterien „x von y“
Im Rahmen der Überarbeitung der PTVS wurde festgelegt, dass die einzelnen Indikatoren anhand der erfüllten Fälle bewertet werden. Dies bedeutet, dass der Verbraucher erfährt, bei wie vielen der geprüften Personen das Kriterium wie gewünscht erbracht wurde, z. B. „bei 4 von 5 Personen erfüllt“. Diese Form der Darstellung ist für den Verbraucher verständlich und lässt eine individuelle Bewertung und Gewichtung zu. Sollten neben der Gesamtnote ebenfalls die Bereichsnoten aufgegeben werden, müssten Interessierte die einzelnen Kriterien analysieren und anhand ihrer persönlichen Präferenzen bewerten.
Den Vorschlag von Staatssekretär Laumann, den GKV-Spitzenverband zu beauftragen übergangsweise Regelungen für eine Kurzzusammenfassung der MDK-Prüfberichte zu erarbeiten und zu veröffentlichen, sieht die BAGFW eher skeptisch.
Bereits in der Anfangsphase der Gesetzgebung stand die Idee, ein Auszug aus der MDK-Prüfung als Darstellung der Qualität zu nutzen. Dies ist jedoch nicht möglich, weil Prüfberichte nicht standardisierbar und damit vergleichbar sind.
Eine Veröffentlichung von Mängelprotokollen im Internet wird rechtlich wenig haltbar sein, wenn die erteilten Auflagen in der vorgesehenen Zeit von der Einrichtung abgearbeitet wurden, diese jedoch bis zur nächsten Prüfung öffentlich blieben.
Darüber hinaus zeigt die Erfahrung der Vergangenheit, dass die Erarbeitung von Übergangslösungen mindestens ebenso viel Zeit benötigt, wie die Erarbeitung einer dauerhaften Lösung. Da geht es nicht nur um die Gestaltung von Qualitätsfragen und –bereichen, der Erarbeitung von Bewertungssystematiken, sondern insbesondere auch um eine statistisch einwandfreie Erhebungs- und Darstellungsmethode.
Die Versicherten möchten wissen, welche Pflegeeinrichtung gute Arbeit leistet, die Pflegeeinrichtungen möchten gerecht beurteilt werden. Beide werden sich gegen Fehlurteile öffentlich wehren. Auf den Vorschlag sollte daher verzichtet werden.
Zu 2) Reformierung der Maßstäbe und Grundsätze zur Sicherung und Weiterentwicklung der Pflegequalität, Entwicklung eines indikatorengestützten Qualitätssicherungssystems
Wir erinnern daran, dass der Gesetzgeber den eingeschlagenen Weg (sog. „Wingenfeld-Projekt“) mit der Pflegeversicherungsreform 2012 noch einmal ausdrücklich bestätigt hat und erste gesetzliche Ansätze dafür geschaffen wurden. Nach der Umsetzung der Änderungen in § 113 Abs. 1 Ziff. 4 SGB XI durch die Vertragspartner, ist demnach in einem weiteren Schritt die Nutzung der Qualitätsindikatoren für die Pflege-Qualitätsberichterstattung im Sinne des § 115 Abs. 1a SGB XI anzugehen. Dabei wird es sowohl um die Veröffentlichung gehen als auch insgesamt um eine sinnvolle Verzahnung des internen Qualitätsmanagements mit der externen Qualitätssicherung. Hierzu bedarf es weiterer entsprechender gesetzlicher Änderungen in den Regelungen zur Qualitätsberichterstattung und zur Qualitätsprüfung (§§ 114, 114a und 115 SGB XI). Ein gemeinsames Modellprojekt der Vertragsparteien, das zum 1. Juni 2015 starten soll, soll hierzu noch konkretere Umsetzungserkenntnisse liefern.
Zu 3) Errichtung eines Institut für Qualität in der Pflege
Um die Aufgaben der Selbstverwaltung künftig reibungsloser, zeitnaher und qualitätsorientiert erfüllen zu können, müssen die derzeitigen grundlegenden Defizite und Probleme der Selbstverwaltung identifiziert und gelöst werden. Hierzu ist es notwendig, dass der Gesetzgeber nicht nur die Selbstverwaltungspartner benennt, sondern auch die Grundlagen einer formalen Struktur der Selbstverwaltung schafft, in der die Vertragspartner künftig gleichberechtigt sind. Eine Beibehaltung der derzeitigen Situation ist innovations- und qualitätshemmend, unwirtschaftlich und mit negativen Folgewirkungen für die Versorgung pflegebedürftiger Menschen verbunden. Die BAGFW hat hierzu einen Strukturvorschlag entwickelt, der auf einer neutralen Geschäftsstelle der Selbstverwaltungspartner mit einem unparteiischen Vorsitzenden beruht.
Innerhalb dieser Struktur ist die Einbeziehung von wissenschaftlicher Expertise vorzusehen. Dies geschieht vorzugsweise über die gemeinsame Vergabe von gemeinsamen Aufträgen, auch um die noch junge und ausbaufähige Wissenschaftslandschaft in der Pflege weiter zu fördern. Langfristig könnte auch über die Gründung eines Instituts nachgedacht werden, das die Ausführung dieser Aufträge übernimmt. Zentral ist dabei sicherzustellen, dass dieses Institut dann in die Selbstverwaltungsstrukturen mit eindeutiger Aufgabenzuschreibung eingebunden wird.
]]>Die BAGFW macht ebenso auf Unzulänglichkeiten in der Förderung von benachteiligten Jugendlichen aufmerksam und fordert langfristige, individuell ausgerichtete und damit flexibel gestaltete, kleinschrittige Hilfen (wie Arbeitserprobungen, betriebliche Praktika, modulare Qualifizierungselemente, psychosoziale Hilfen u.a.).]]>
Aufgabe der Grundsicherung für Arbeitsuchende ist es, den Leistungsberechtigten
eine menschenwürdige Lebensführung zu ermöglichen (vgl. § 1 Abs. 1 SGB I). Die Aufgabe des SGB II konkretisiert damit das Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes. In diesem Zusammenhang sind die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zu beachten, um das soziokulturelle Existenzminimum für die hilfebedürftigen Menschen zu gewährleisten und den Leistungsberechtigten die Führung eines menschenwürdigen Lebens und gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen.
Die in der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege zusammengeschlossenen Verbände bewerten die aktuelle Bemessung der Regelbedarfe im SGB II als nicht ausreichend. Zudem führen Leistungslücken an der Schnittstelle zu anderen Bereichen der sozialen Sicherung dazu, dass das soziokulturelle Existenzminimum unterschritten wird. Die im Juli 2014 zuletzt vom Bundesverfassungsgericht getroffenen kritischen Bewertungen, etwa zu den expliziten Gefahren einer Unterdeckung der Regelbedarfe (siehe BVerfG, Beschluss vom 23. Juli 2014 – 1 BvL 10/12, 1 BvL 12/12, 1 BvR 1691/13), sollten zügig von der Politik in einem Gesetzgebungsverfahren aufgegriffen werden.
Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege halten eine Neubemessung der Regelbedarfe für dringend erforderlich, insbesondere um die Bedarfe von Kindern und Jugendlichen sachgerecht zu ermitteln. Darüber hinaus ist es notwendig, verdeckt Arme – also an sich Leistungsberechtigte, die aber keinen Antrag auf Sozialleistungen gestellt haben – aus der Berechnung auszunehmen. Insgesamt ist eine bedarfsgerechte Erhöhung der Regelbedarfe nötig. Die tatsächliche Realisierung eines Rechtsanspruchs auf ein menschenwürdiges Existenzminimum darf nicht von fiskalischen Gründen abhängig gemacht werden. Die finanziellen Mittel die hierfür notwendig sind, müssen bereitgestellt werden.
Für Kinder und Jugendliche bestehen insbesondere nach vielen Jahren im Leistungsbezug massive Benachteiligungen bei ihrer gesellschaftlichen Teilhabe und einer chancengerechten Bildung. Die Umsetzung der neu eingeführten Leistungen zur Bildung und Teilhabe hat diese Situation nicht grundlegend verbessert. Hier müssen die Erbringung der Leistungen weiter verbessert und die Antragswege weiter vereinfacht werden. Die Wohlfahrtsverbände fordern die Bundesregierung auf, zügig weitere Korrekturen bei den Bildungs- und Teilhabeleistungen zugunsten von Kindern und Jugendlichen vorzunehmen.
Im Einzelnen sprechen sich die Wohlfahrtsverbände für diese Veränderungen aus:
Leistungslücken schließen
Offenkundige Leistungslücken sind zu schließen. Beispielsweise haben
ALG II-Empfänger/-innen erhebliche Schwierigkeiten, die Kosten für eine Brille aufzubringen. Von der Gesetzlichen Krankenversicherung wird eine Sehhilfe nur bis zum 18. Lebensjahr und danach nur bei einer sehr schweren Sehbeeinträchtigung übernommen. Die Kosten der Brille werden auch vom Jobcenter grundsätzlich nicht als Zuschuss übernommen. ALG II-Empfänger/-innen können die Brille in der Regel nicht aus dem Regelbedarf bezahlen, der unter der Position „therapeutische Geräte und Mittel“ dafür monatlich einen Betrag in Höhe von 2,26 Euro vorsieht. Vor diesem Hintergrund hat auch das Bundesverfassungsgericht in seiner aktuellen Entscheidung erkannt, dass es zu einer Unterdeckung kommen kann, „wenn Gesundheitsleistungen wie Sehhilfen weder im Rahmen des Regelbedarfs gedeckt werden können, noch anderweitig gesichert sind“ und dem Gesetzgeber aufgetragen, darauf zu achten, dass der existenznotwendige Bedarf insgesamt gedeckt ist. Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege plädiert dafür, dass die Kosten für notwendige Sehhilfen als einmalige Leistungen vom Jobcenter übernommen werden, soweit und solange sie nicht im Rahmen des SGB V als Leistungen der Gesetzlichen Krankenversicherung anerkannt werden.
Unterdeckungen beseitigen
Das Bundesverfassungsgericht hat auch auf die Gefahr einer Unterschreitung des Existenzminimums bei der Anschaffung von existenznotwendigen und zugleich langlebigen Konsumgütern, wie z. B. Haushaltsgeräten (Kühlschrank, Waschmaschine, Herd) hingewiesen. Im aktuellen Regelbedarf werden solche Güter nur mit einem Betrag von unter 3 Euro berücksichtigt, für den zudem auch keine statistisch valide Herleitung vorliegt. Offenkundig können diese seltenen aber teuren Anschaffungen nicht gut in einem pauschalierten Regelsatz abgebildet werden. Die bestehende gesetzliche Möglichkeit, ein Darlehen zur Beschaffung aufzunehmen und dieses über den Regelsatz in den Folgemonaten bzw. Jahren wieder zurückzahlen, ist aus Sicht der Wohlfahrtsverbände problematisch. Die Rückzahlung von Darlehen kann dazu führen, dass das Existenzminimum für längere Zeit unterschritten wird. Darum schlägt die BAGFW vor, dass die Anschaffungskosten für solche Güter nicht mehr wie bisher im Regelbedarf enthalten sind und angespart werden müssen. Die Problematik kann entweder durch die Einführung einer gesonderten monatlichen Anschaffungspauschale in realistischer Höhe zusätzlich zum Regelbedarf gelöst werden (auf die dann bei tatsächlichen Anschaffungen ggf. auch Darlehensrückzahlungen zu begrenzen wären) oder durch einen Wechsel vom pauschalierten Modell zur Erstattung der tatsächlichen Kosten bei Neuanschaffung.
Nach Berechnungen in den Wohlfahrtsverbänden sind die Kosten für Mobilität im Regelbedarf nicht ausreichend gedeckt. Bei der Regelbedarfsermittlung werden die Ausgaben für Kraftstoffe und Kfz-Bedarf nicht berücksichtigt, weil ein eigener PKW vom Gesetzgeber als nicht existenznotwendig definiert wird. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem aktuellen Urteil darauf hingewiesen, dass die Aufwendungen für Mobilität so bemessen sein müssen, dass sie es auch Betroffenen außerhalb von Kernortschaften mit guter öffentlicher Infrastruktur erlauben, ihren täglichen Bedarf zu decken und am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Zur ausreichenden Deckung der Mobilitätskosten im Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) sind nach Auffassung der Wohlfahrtsverbände regionale Maßnahmen erforderlich. Zu denken ist an die Einführung von Sozialtarifen für den ÖPNV oder die Zahlung von Zuschüssen der Jobcenter zu den ÖPNV-Netzkarten. Darüber hinaus muss die Situation im ländlichen Raum besonders berücksichtigt werden, denn oft gibt es hier keinen öffentlichen Nahverkehr.
Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem jüngsten Urteil auf die Gefahren einer Unterschreitung des Existenzminimums u. a. auch durch sprunghafte Preissteigerungen beim Haushaltsstrom hingewiesen. Tatsächlich sind die Kosten für Haushaltsstrom in den letzten Jahren eklatant – (nach Berechnungen der Paritätischen Forschungsstelle) zwischen Januar 2008 und Januar 2014 um rund 37 Prozent angestiegen, ohne dass dies zeitnah im Regelbedarf abgebildet wurde, der für einen Einpersonenhaushalt im gleichen Zeitraum um 8,7 Prozent erhöht wurde. Die Unterdeckung in anderer Weise auszugleichen, gelingt den Leistungsempfängern häufig nicht. Zunehmend mehr Menschen haben erhebliche Stromschulden angehäuft und sind mit Stromsperren konfrontiert. Die Wohlfahrtsverbände sehen es als erforderlich an, den Bedarf für Haushaltsstrom gesondert zu ermitteln und jeweils zeitnah anzupassen.
Härtefällen mit erweiterten Spielräumen der Jobcenter begegnen und für Rechtssicherheit sorgen
Die Leistungen des SGB II umfassen auch „Härtefälle“, bei denen besondere, fortlaufende Bedarfe, etwa für Pflegemittel oder Medikamente, gedeckt werden müssen (Mehrbedarfe gem. § 21 Abs. 6 SGB II). Die Bundesagentur für Arbeit hat für diese Konstellationen einen Härtefallkatalog aufgestellt, der nach Ansicht der BAGFW allerdings zu eng gefasst ist. Darüber hinaus gibt es eine weitergehende Rechtsprechung, die den Betroffenen Leistungen über diesen Katalog hinaus zugesteht. Die Verbände fordern mindestens eine zeitnahe Aktualisierung des Katalogs anhand der aktuellen Rechtsprechung.
Bildungs- und Teilhabepaket besser zugänglich machen
Knapp dreieinhalb Jahre nach Inkrafttreten der Regelungen liegen zahlreiche Befunde und Praxiserfahrungen zum Bildungs- und Teilhabepaket (BuT)
gem. § 28 SGB II vor. Diese zeigen, dass die Inanspruchnahme der BuT-Leistungen – mit Ausnahme der Leistungen für den Schulbedarf, die automatisch ohne Antrag gewährt werden – nach wie vor verbesserungswürdig ist und mit dem BuT bei Weitem nicht alle Kinder und Jugendlichen erreicht werden. Der relativ hohe bürokratische Aufwand hindert viele Familien an einer Nutzung der Leistungen. Die BAGFW ist der Auffassung, dass das Reformvorhaben zur „Rechtsvereinfachung im SGB II“ dazu genutzt werden sollte, Verbesserungen bei den Leistungen für Bildung und Teilhabe nach § 28 SGB II auf den Weg zu bringen. Zum einen sollten die Anträge auf Leistungen des BuT grundsätzlich mit dem Antrag auf ALG II-Regelleistungen gestellt gelten (Globalantrag), sodass die jeweiligen Einzelleistungen bei Bedarf auch rückwirkend für den Bewilligungszeitraum des Antrags auf Regelleistungen gewährt werden können. Schon heute verfahren viele Träger der Grundsicherung mit gutem Erfolg bei der Inanspruchnahme von Leistungen so. Darum sollte dieses Verfahren verbindlich bundesweit festgelegt sein. Zum anderen sollte gesetzlich die Erstattung der Fahrtkosten zur Inanspruchnahme der Leistungen zur Bildung und Teilhabe geregelt werden. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem aktuellen Urteil klargemacht, dass Bildungs- und Teilhabeangebote für die Bedürftigen tatsächlich ohne weitere Kosten erreichbar sein müssen und die bestehende gesetzliche Regelung zur Kostenerstattung gem. § 28 Abs. 7 Satz 2 SGB II nach verfassungskonformer Auslegung auch die Fahrtkosten erfasst.
Ein besonderes Problem ist die freihändige Setzung der Förderbeträge nach dem Bildungs- und Teilhabepaket. So folgen weder die 10 Euro für die Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben (§ 28 Absatz 7 SGB II), noch die 100 Euro für die Ausstattung mit persönlichem Schulbedarf (§ 28 Absatz 3 SGB II) einer gesonderten Bedarfsermittlung. Nach Erhebungen der Diakonie Niedersachsen entstehen Bedarfsgemeinschaften pro Kind 200 – 400 Euro pro Schuljahr tatsächliche Kosten für den schulischen Bedarf. Zur Ermittlung einer angemessenen Pauschale würde sich eine jeweils landesweite Erhebung anbieten, um etwa Ungleichheiten bezüglich eventueller Lehrmittelfreiheit zwischen den Bundesländern abbilden zu können.
Neue Weichenstellungen bei der Regelbedarfsermittlung auf Basis der EVS 2013
Das Bundesverfassungsgericht hat mit seinem aktuellen Urteil den Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers bei der methodischen Herangehensweise ausdrücklich gestärkt und es als politische Aufgabe angesehen, eine optimale Bestimmung des Existenzminimums vorzunehmen.
Die Wohlfahrtsverbände adressieren angesichts der politischen Verantwortung ihre Anliegen zur Bemessung der Regelbedarfe auf Basis der Einkommens- und Verbrauchsstichrobe (EVS) 2013 an den Bundestag und die Bundesregierung und setzten sich für grundlegende Weichenstellungen ein:
Die Verbände bekräftigen das Anliegen, das Bemessungsverfahren der Regelbedarfe für Kinder und Jugendliche zu korrigieren und sachgerechtere, aktuellere Berechnungsmöglichkeiten zu nutzen. Viele der für Kinder und Jugendliche als relevant festgeschriebenen Verbrauchsausgaben sind aufgrund der geringen Stichprobenfälle der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe statistisch nicht hinreichend aussagefähig. Die Bemessung muss sich an kindgerechten Bedarfen orientieren und transparent ausgestaltet sein. Insbesondere sollte eine ausreichend große Stichprobe gewählt werden, um statistisch relevante Daten zu erhalten. Einzelpositionen wie Ernährung und Kleidung sollten auch im Sinne des Kindeswohls dahingehend überprüft werden, ob hier nicht schon in der statistischen Vergleichsgruppe ein so deutlicher Mangel abgebildet wird, dass etwa ausreichende Bekleidung oder gesunde Ernährung mit diesen Beträgen gar nicht gewährleistet werden kann.
Rund 40 Prozent der in Armut lebenden Menschen machen ihre Ansprüche auf Sozialhilfe oder Grundsicherungsleistungen nicht geltend. Angesichts dieser hohen Quote hat das Thema erhebliche Relevanz. Bei der derzeitigen Regelbedarfsermittlung ist nicht sichergestellt, dass diese verdeckt Armen vollständig unberücksichtigt bleiben und „Zirkelschlüsse“ vermieden werden. Die Wohlfahrtsverbände regen an, die Möglichkeit eines sachgerechten Schätzverfahrens zu nutzen, um diese Gruppe aus der Bemessung auszunehmen.
Personen, die über ein Erwerbseinkommen von bis zu 100 Euro verfügen und ihren weiteren Lebensunterhalt durch den Regelbedarf decken, sollen ebenfalls aus der Referenzgruppe herausgenommen werden, da mit diesem Freibetrag nicht mehr als die Aufwendungen abgedeckt werden können, die mit der Erwerbstätigkeit einhergehen. Die Betroffenen überschreiten die Grundsicherungsschwelle damit nicht.
Bei der Wahl der Referenzgruppe bekräftigen die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege ihr Anliegen, zur früheren Praxis zurückzukehren und die unteren 20 Prozent der nach ihrem Einkommen geschichteten Ein-Personen-Haushalte statt der unteren 15 Prozent zu wählen. Es erschließt sich nicht, wieso für die Ermittlung der verschiedenen Regelbedarfsstufen unterschiedliche Referenzgruppen zugrunde gelegt werden, sodass für die Regelbedarfsstufen 1 bis 3 (Erwachsene) die untersten 15 Prozent den Ausschlag geben, während die untersten 20 Prozent für die Regelbedarfsstufen 4 bis 6 (Kinder und Jugendliche) relevant sind.
1. Grundsätze
Personenzentrierter Ansatz, Nachteilsausgleich, Bedarfsdeckung, Transparenz
Fachleistungen zur selbstbestimmten Teilhabe und zum Ausgleich von gesellschaftlichen Zugangsbarrieren sind auf der Grundlage des individuellen Bedarfs und der personenbezogenen Lebensplanung bedarfsdeckend zu gewähren. Dabei steht der Mensch mit seinen Wünschen und Zielen zur Teilhabe am Leben in der Gesellschaft im Mittelpunkt der Leistungsgewährung. Um einen personenzentrierten Bedarf zu ermitteln, bedarf es einer umfassenden und ganzheitlichen Bedarfsermittlung, die auf bundeseinheitlichen ICF- gestützten Kriterien basiert. Das Bedarfsfeststellungsverfahren muss verbindlich geregelt, partizipativ und barrierefrei gestaltet sein. Die Partizipation von Menschen mit Behinderungen und hohem und/ oder komplexem Unterstützungsbedarf ist in diesem Verfahren besonders zu berücksichtigen. Die Beteiligung der Menschen mit Behinderung ist daran zu messen, dass die individuellen Lebensentwürfe und Vorstellungen, die Grundlage für die zu verhandelnden Teilhabeziele und Unterstützungs- und Assistenzmaßnahmen sind. Es muss für den Menschen mit Behinderung klar erkennbar sein, auf welche Leistungen er einen Anspruch hat und wie und von wem er diese erlangen kann. Dies ist Grundvoraussetzung für einen effektiven Rechtsschutz.
Leistungsgerechte Vergütung
Der Grundsatz der Leistungsfähigkeit, der dem Grundsatz der leistungsgerechten Vergütung entspricht, ist sachlogisch auch im Bundesteilhabegesetz beizubehalten. Danach muss die Vergütung den Leistungserbringer in die Lage versetzen, entsprechend seines Konzepts für die in den Leistungsvereinbarungen vereinbarten Leistungsangebote eine bedarfsdeckende Hilfe zu erbringen.
Subsidiarität und Vereinbarungsprinzip
Entsprechend der geltenden Regelungen der §§ 75 ff. SGB XII ist die partnerschaftliche Zusammenarbeit von Leistungsträgern und Leistungserbringern auch in einem neuen Bundesteilhabegesetz als Ausdruck des Subsidiaritätsprinzips zu verankern. Die Zusammenarbeit, insbesondere mit der Freien Wohlfahrtspflege als eine der tragenden Säulen im Sozialstaat (Art. 20 Abs. 1 des GG) ist in §§ 17 Abs. 3, 28 SGB I gesetzlich angeordnet und in vielen Büchern des Sozialgesetzbuchs Grundlage der Leistungserbringung. Die Einbeziehung der Sachkenntnis der Leistungserbringer auf Augenhöhe im Rahmen stabiler Kooperationsbeziehungen und auf Grundlage des Vereinbarungsprinzips garantieren bedarfsgerechte Lösungen.
Trägerpluralität
Trägervielfalt ist Teil des Sicherstellungsauftrags der Leistungsträger und Voraussetzung für das Wunsch- und Wahlrecht der Leistungsberechtigten. Eine selektive Inanspruchnahme der Leistungserbringer durch die Leistungsträger darf es bei gleicher Eignung nicht geben. Das verletzt das Wunsch- und Wahlrecht des Leistungsberechtigten sowie die verfassungsrechtlich geschützte Berufsfreiheit der Leistungserbringer. Leistungserbringer können Unterlassungsansprüche auf eine Verletzung ihrer Grundrechte aus Art. 12 GG oder Art. 3 GG stützen, wenn die Rehabilitationsträger das Recht der freien Berufsausübung oder auf Gleichbehandlung im Wettbewerb beeinträchtigen.
2. Zuordnung von Leistungen und Leistungsbestandteilen
Die Trennung von Teilhabeleistungen und existenzsichernden Leistungen (Personenzentrierung) erfordert zugunsten von Transparenz und Bedarfsdeckung eine neue Leistungs- und Finanzierungsstruktur. Zum einen müssen Teilhabeleistungen und existenzsichernde Leistungen, einschließlich der behinderungsbedingten Mehrbedarfe, anhand bundeseinheitlicher Kriterien klar zugeordnet werden können. Zum anderen müssen alle Leistungsbestandteile, die für eine selbstbestimmte und wirksame Teilhabe notwendig sind, leistungs- wie leistungserbringungsrechtlich hinreichend abgebildet werden. Dazu gehören unter anderem der erhöhte Beratungs- und Assistenzbedarf des Menschen mit Behinderung, wenn er künftig die aufgespaltenen „Leistungsmodule“ selbstbestimmt auswählt und in Anspruch nimmt, Leistungsbestandteile 24-stündiger Assistenz- und Unterstützungsleistungen in Anlehnung an bisherige stationäre Angebote sowie sozialräumliche Infrastrukturleistungen, die durch den Umbau des Hilfesystems umso dringender werden und nicht nur unter die kommunale Daseinsvorsorge (Art. 28 Abs. 2 GG) fallen. Zu klären sind nachfolgende Fragestellungen:
- Nach welchen Kriterien wird über den Mehrbedarf bei den existenzsichernden Leistungen entschieden, der sich aus Einschränkungen und Funktionsstörungen ergibt?
- Welche Kosten, die der Leistungserbringer für seinen Aufwand bei der Leistungserbringung hat, werden wo zugeordnet? Wie können so genannte Overhead-Kosten, Investitionskosten und Kosten für sonstige Infrastrukturelemente berücksichtigt werden?
- Wo werden die ordnungsrechtlich vorgeschriebenen Aufwendungen z. B. durch heimgesetzlich vorgeschriebene Barrierefreiheit von Wohneinrichtungen, die nicht im engeren Sinn behinderungsbedingt sind, verortet (bspw. bauliche Barrierefreiheit von bislang stationärer Wohneinrichtungen für Menschen mit psychischer Erkrankung)?
- Wo werden allgemein in bislang stationären Einrichtungen erforderliche Personalvorhaltungen (bspw. Nachtwache) verortet, wenn nur ein Teil der Bewohner/-innen einen unmittelbaren behinderungsbedingen Bedarf hierfür haben?
Für eine selbstbestimmte bedarfsdeckende Teilhabe der anspruchsberechtigten Menschen mit Behinderung ist die Beibehaltung des offenen Leistungskatalogs erforderlich. Im Rahmen eines offenen Leistungskatalogs sind insbesondere neben
- individuellen, lebensbereichsbezogenen, bedarfsdeckenden Leistungen zur Teilhabe und
- personenbezogenen Beratungs- und Koordinationsleistungen auch
- inklusionsorientierte sozialräumliche Infrastrukturleistungen zu berücksichtigen.
Im Rahmen der Vertrags- und Vergütungssystematik sind Assistenz- und Unterstützungsleistungen für Menschen mit Behinderungen in Personal- und Sachkosten zu differenzieren, insbesondere für direkte Leistungen (personenbezogene Fachleistungen), indirekte Leistungen (z. B. Organisation eines Arztbesuchs, Dokumentation, Teambesprechung, Wegzeiten), Leistungen der Arbeitsorganisation, Rufbereitschaft, Lotsenaufgaben z. B. bei der Auswahl von Gesundheits-, Sozial- und Rehabilitationsleistungen, niedrigschwellige Bildungs-, Beschäftigungs- und Begegnungsangebote sowie sozialraumbezogene Leistungen (einschließlich der erforderlichen Vorhaltekosten); je nach dem, was vertraglich geschuldet ist oder notwendig, um die geschuldete Leistung zu erbringen. Weitere anbieterbezogene Differenzierungen kommen bei den vorbenannten 24-stündigen Assistenz- und Unterstützungsleistungen hinzu. Hier müssen zusätzlich berücksichtigt werden: Strukturleistungen (u. a. Hintergrund- und Krisendienste, einschließlich Bereitschaftsdienste), Arbeits-, Bildungs- und Tagesstrukturangebote, Nachtpräsenz, Koordinations- und Planungsaufgaben, Hauswirtschaft, sozialräumliche Koordinierungs- bzw. Netzwerkarbeit sowie der besondere Investitionsbedarf dieser Angebote. Der Investitionsbedarf von gemeinschaftlichen Wohnformen ist ggf. auch durch die Anforderungen an einen "Sonderbau" gekennzeichnet sowie durch die Vorgaben eines etwaiger Fördermittelgeber. Gleichzeitig sind Bindungsfristen für eine zweckgebundene Nutzung zu beachten.
3. Vergütung
Trias von Bedarfsbemessung, Leistungsangebot und Vergütung
Die Vergütungsgrundlagen müssen mit einer methodischen Bedarfsbemessung und ICF-gestützten Teilhabeplanung korrespondieren. Die Bedarfsbemessung, Kalkulation von Fachleistungen zur Teilhabe, Vereinbarung von Leistungsentgelten und Planung von Angebotsstrukturen dürfen aufgrund ihrer inhaltlichen Zusammenhänge nicht entkoppelt werden. Eine leistungsgerechte Vergütung hat auch die Finanzierung von betriebsnotwendigen Investitionen sicher zu stellen, soweit diese nicht vom Leistungsberechtigen selbst (zum Beispiel über die Wohnraummiete) zu tragen sind.
Wirtschaftlichkeitsmaßstab
Die BAGFW fordert, im Gesetz festzuschreiben, dass die Bezahlung tarifvertraglich vereinbarter Vergütungen an die Beschäftigten sowie entsprechender Vergütungen nach kirchlichen Arbeitsrechtsregelungen nicht als unwirtschaftlich abgelehnt werden kann. (Entsprechend § 84 Absatz 2 Satz 4 SGB XI.) Die Übernahme des modifizierten externen Vergleichs in ein Bundesteilhabegesetz ist derzeit nicht möglich. Dies würde insbesondere bundeseinheitliche Maßstäbe voraussetzen, auf deren Grundlage die diversen Leistungsangebote miteinander verglichen werden könnten. Bei betriebsnotwendigen Investitionen in Immobilien ist sicher zu stellen, dass die Wirtschaftlichkeit hier nicht an den Parametern des freien (Wohnungs-)Markts (z. B. Mietpreisspiegel) festgemacht wird. Maßstab ist vielmehr der besondere Raum- und Ausstattungsbedarf, der für eine bedarfsdeckende Leistungserbringung notwendig ist (z. B. erhöhte rollstuhlgerechte Raumflächen, zusätzliche Raumverkehrsflächen wie z. B. für Hauswirtschaftsräume u. a.). Auch hier ist zu klären, inwieweit bundeseinheitliche „Mindeststandards“ für die Entgeltkalkulation sinnvoll sein könnten, wie etwa zur Höhe des Unternehmerlohns.
Streichung des Mehrkostenvorbehalts
Es ist sicher zu stellen, dass die Leistungsträger nicht über den Mehrkostenvorbehalt (derzeit geregelt in § 9 Abs. 2 S. 3 SGB XII) eine selektive Auswahl zwischen gleich geeigneten Leistungserbringern treffen können. Hiermit wären ansonsten eine unzulässige Bedarfssteuerung und eine Verletzung der Grundsätze der Trägerpluralität und des Wunsch- und Wahlrechts des Leistungsbeziehers verbunden. Der Leistungsträger erkennt mit Abschluss der Vergütungsvereinbarung an, dass die Vergütung des jeweiligen Leistungserbringers den Grundsätzen der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit entspricht. Die Inanspruchnahme dieser Leistungen kann daher nicht mit unverhältnismäßigen Mehrkosten verbunden sein und daher auch nicht über den Mehrkostenvorbehalt versagt werden. Ohnehin kann das Wunsch- und Wahlrecht des Leistungsberechtigten in Anlehnung an die UN - BRK (insbesondere die freie Wahl des Wohnorts nach Artikel 19) nicht durch das Prinzip des Preisvergleichs eingeschränkt werden.
Bestandteile und Kalkulation der Vergütung für Teilhabefachleistungen.
Es müssen alle Leistungsbestandteile, die für eine selbstbestimmte und wirksame Teilhabe notwendig sind, leistungs- wie leistungserbringungsrechtlich hinreichend abgebildet werden. Dementsprechend muss die Vergütung den individuellen Hilfebedarf des Menschen mit Behinderung decken und die Finanzierung der Strukturkosten der Leistungserbringer gewährleisten. Insbesondere bei der Vergütung der Leistungen in Einrichtungen ist die Einhaltung gesetzlicher ordnungsrechtlicher Vorgaben in entsprechender Weise zu berücksichtigen. (z. B. bauliche Standards, Brandschutzbestimmungen) sowie die entsprechenden Investitionskosten anzuerkennen. Zu klären ist, welche Kalkulationsmodelle zukünftig Anwendung finden bzw. inwieweit ein einziges Kalkulationsmodell für alle Leistungsinhalte geeignet ist. Derzeit gibt es unterschiedliche Systeme zur Bemessung und Verpreislichung von Fachleistungen zur Teilhabe bspw. Personengruppen mit vergleichbarem Hilfebedarf, Fachleistungsstundensätze, Personalschlüssel, Pauschalen bzw. Budgets.
4. Schiedsstellenfähigkeit
Zugunsten eines effektiven Rechtsschutzes fordert die BAGFW dringend die Einführung der Schiedsstellenfähigkeit von Leistungs- und Prüfungsvereinbarungen sowie von Landesrahmenverträgen. Ein Schiedsverfahren ist der am besten geeignete Konfliktlösungsmechanismus, um in Fällen gescheiterter Vertragsverhandlungen einen gerechten Ausgleich der widerstreitenden Interessen herbeizuführen. Der gerechte Interessenausgleich wird durch die paritätische Besetzung der Schiedsstelle nebst einem unparteiischen Vorsitzenden gemäß § 80 SGB XII garantiert. Die Komplettierung der schiedsstellenfähigen Vereinbarungstrias vermeidet überflüssige Gerichtsverfahren und fördert die Verhandlungskultur.
Leistungen und Entgelt gehören vor dem Hintergrund von Leistungsfähigkeit, Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit logisch zusammen und müssen daher schiedsstellenfähig sein. Die Schiedsstellenfähigkeit vermeidet überflüssige Gerichtsverfahren und fördert die Verhandlungsstruktur. Darüber hinaus muss geregelt sein, dass Klagen gegen Schiedssprüche keine aufschiebende Wirkung haben.
5. Wirtschaftlichkeits- und Qualitätsprüfungen
Die BAGFW spricht sich dafür aus, dass die Wirtschaftlichkeit und Qualität der Leistungserbringung analog §75 SGB XI nur anlassbezogen und aus organisatorischen Gründen grundsätzlich nur nach vorheriger Anmeldung geprüft werden. Aus Sicht der BAGFW hat eine rechtzeitige und sicher gestellte Anmeldung 48 Stunden vor dem Prüfungstag zu erfolgen, damit personelle Dispositionen getroffen werden können und die Anwesenheit der Dienstleitung sicher gestellt werden kann. Gegenstand und Umfang der Prüfung haben dem Anlass zu entsprechen. Insbesondere durch eine Zusammenarbeit mit anderen Behörden ist sicherzustellen, dass Doppelprüfungen vermieden werden. Hierzu sind vorab in den Rahmenverträgen eindeutige Grundsätze und Maßstäbe für die Wirtschaftlichkeit und die Qualitätssicherung der Leistungen sowie für den Inhalt und das Verfahren zur Durchführung von Wirtschaftlichkeits- und Qualitätsprüfungen zu vereinbaren. Eine jederzeitige und umfassende Prüfung der Buchführungs- und sonstigen Betriebsdaten ist hingegen als Ausspähen des Geschäftsgeheimnisses und als unverhältnismäßiger Eingriff in die Berufsfreiheit der Leistungserbringer zu werten.
Sofern erwogen wird, im Rahmen der Qualitätsprüfung die Wirksamkeit der erbrachten Eingliederungshilfeleistung zu prüfen, so wird das von der BAGFW jedenfalls im Vertragsrecht als unzulässig abgelehnt. Wissenschaftliche Kriterien zur Messung von Wirksamkeit liegen nicht vor. Dementsprechend werden Teilhabeleistungen als Dienstleistung erbracht und nicht etwa auf Grundlage eines Werkvertrags. Ein Erfolg wird nicht geschuldet.
6. Sanktionen
Wenn und soweit Überlegungen angestellt werden, im Fall von Vertragsverletzungen neben der außerordentlichen Kündigung noch weitere Sanktionsmöglichkeiten einzuführen, so spricht sich die BAGFW für ausgewogene Lösungen aus. Dabei muss der Vorrang von Beratung und Nachbesserung erhalten bleiben.
7. Anspruchsübergang nach Tod des Leistungsberechtigten
Es besteht Regelungsbedarf dahingehend, dass der bestehende, aber noch nicht bewilligte Anspruch des Leistungsberechtigten nach dessen Tod auf den Leistungserbringer übergeht, der die Leistung erbracht hat. Bislang geht der Anspruch nach § 19 Absatz 6 SGB XII nur auf stationäre, nicht ambulante Träger über. Diese sind jedoch ebenso schutzwürdig und –bedürftig. Das Thema erlangt umso mehr Brisanz, sollte es aufgrund der Aufspaltung von Existenzsicherung und Fachleistungen bald keine stationären, sondern nur noch ambulante Leistungserbringer geben.
Berlin, 28. April 2015
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Im Koalitionsvertrag wurde 2013 vereinbart, dass die Kommunen im Rahmen der Verab-schiedung des Bundesteilhabegesetzes im Umfang von fünf Milliarden Euro jährlich von der Eingliederungshilfe entlastet werden sollten. Das Bundeskabinett hat im Rahmen seiner Haushaltsplanungen am 18. März 2015 beschlossen, die Entlastung der Kommunen nicht im Rahmen des Bundesteilhabegesetzes vorzunehmen. Die Verbände der Bundesarbeitsge-meinschaft der Freien Wohlfahrtspflege fordern die Bundesregierung auf, die Zusage zur
Finanzierungsbeteiligung des Bundes an einem Bundesteilhabegesetz aufrechtzuerhalten und einzulösen. Teilhabe und Inklusion benötigen finanzielle Investitionen, nur so lassen sich verlässliche Rahmenbedingungen und gesellschaftliche Teilhabechancen von Menschen mit
Behinderung UN-BRK menschenrechtskonform verwirklichen. Inklusion ist kein Sparmodell. Ohne ausreichende Finanzausstattung bleibt ein Bundesteilhabegesetz wirkungslos.
zu 1. Sachverhalt
Bei der Beschreibung des Sachverhaltes im o. g. Arbeitspapier werden zunächst die Grund-lagen des Werkstättenrechts umrissen und einige der Vorstellungen aufgeführt, die in der Fachöffentlichkeit im Hinblick auf die Weiterentwicklung der Teilhabe am Arbeitsleben seit Längerem diskutiert würden. Dies greift aus Sicht der BAGFW deutlich zu kurz.
Nach Auffassung der BAGFW ist Grundlage und Ausgangspunkt für die Weiterentwicklung der Teilhabe am Arbeitsleben Artikel 27 der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, wonach die Vertragsstaaten sich verpflichten, Menschen mit Behinderungen den Zugang zur Teilhabe am Arbeitsleben auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu ermöglichen. Da die UN-BRK keine Differenzierung hinsichtlich Art der Behinderungen und Umfang des Unterstützungsbedarfs vornimmt, sind bei einer Neuausrichtung des Leistungsrechtes deshalb alle Menschen mit Behinderungen und somit auch die Regelungen des SGB II und III sowie eine Reihe weitere Themen in den Blick zu nehmen. Ausführungen hierzu folgen unter Pkt. 3 d). Zunächst soll im Folgenden Bezug auf die Umsetzungsvorschläge des BMAS - Arbeitspapiers genommen werden:
zu 2. Handlungsbedarf
Die BAGFW begrüßt die Weiterentwicklung der Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben auf Grundlage des „Personzentrierten“ Ansatzes. Wichtige Voraussetzungen hierfür sind aus ihrer Sicht die Neudefinition des Behinderungsbegriffs, die Schaffung eines Rechtsanspruchs auf eine ausschließlich den Interessen der Leistungsberechtigten verpflichtete Beratung, ein partizipatives Gesamtplanungsverfahren auf Grundlage des Wunsch- und Wahlrechtes sowie die Beibehaltung des offenen Leistungskatalogs.[1]
Das Ziel, mehr Menschen mit Behinderungen die Teilhabe auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu ermöglichen, ist vor dem Hintergrund der UN-BRK zu unterstützen. Gleichwohl müssen Menschen, die als nicht erwerbsfähig gelten, zukünftig einen Rechtsanspruch erhalten, zwischen der Beschäftigung in einer Werkstatt für behinderte Menschen bzw. einem vergleichbaren Angebot oder einer unterstützten Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt wählen zu können. Handlungsleitend für die Gewährung von Teilhabeleistungen für Menschen mit Behinderungen ist nicht die Leistungsfähigkeit, sondern das Recht auf Teilhabe am Arbeits-leben sowie die Vorstellungen und der Wille der leistungsberechtigten Menschen mit Behinderungen.
Der Rechtsanspruch auf die Komplexleistung WfbM bzw. ggf. alternativer Angebote ist weiterhin in vollem Umfang zu erhalten. Bei Nutzung alternativer Angebote auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt oder bei sog. "Anderen Anbietern" ist ein Rückkehrrecht in die WfbM rechtlich zu verankern. Die bisher an die WfbM gebundenen sozialversicherungsrechtlichen Regelungen und Schutzrechte sind auf die alternativen Leistungsangebote zu übertragen. Es ist zu gewährleisten, dass bei einem Wechsel auf den allgemeinen Arbeitsmarkt keine sozialversicherungsrechtlichen Nachteile für die Menschen mit Behinderungen entstehen.
zu 3. Handlungsoptionen
a) "Öffnung der Werkstätten für behinderte Menschen „nach oben“/„nach außen“
zu a1) "Andere Leistungsanbieter"
Die Schaffung von Alternativen zu einer Beschäftigung in der WfbM ist im Sinne verbesserter Wahloptionen zu unterstützen. Für die geplanten "Anderen Anbieter" müssen bundeseinheitliche und vergleichbare Qualitätsanforderungen beschrieben werden. Die Weiterentwicklung der Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben im Rahmen eines Bundesteilhabegesetzes muss der Verbesserung der Teilhabechancen von Menschen mit Behinderungen dienen. Eine evtl. Absenkung von Standards insbesondere im Hinblick auf Personalschlüssel, Qualifizierung und Vergütung der Fachkräfte, Mitbestimmungsrechte und soziale Absicherung ist abzulehnen. Bei einer Modularisierung der Leistungsangebote in „Leistungen der Eingangsklärung“, Leistungen zur beruflichen Bildung“ und „Leistungen zur Beschäftigung“ ist der Rechtsanspruch auf alle drei Angebotsformen zu sichern. Die Komplexleistung der WfbM ist in der regionalen Struktur weiterhin in ausreichendem Umfang vorzuhalten. Der Erhalt des Rechtsanspruchs und damit das Wahlrecht auf einen Arbeitsplatz in einer in WfbM ist gesetzlich zu verankern.
zu a2) "Budget für Arbeit"
Der Vorschlag, ein sog. "Budget für Arbeit" einzuführen, wurde aus Sicht der BAGFW bislang nicht hinreichend konkretisiert. Auf Grundlage der mündlichen Erörterungen ist davon auszugehen, dass es sich hierbei um ein Angebot in Anlehnung an einzelne, bereits bestehende Ländermodellprojekte handelt. Bei diesen werden im Sinne eines sog. "Minderleistungsausgleichs" ein Lohnkostenzuschuss an den Arbeitgeber " sowie flankierende (begrenzte) Assistenzleistungen gewährt. Angesichts positiver Erfahrungen in einzelnen Bundesländern ist ein solches "Budget für Arbeit" aus Sicht der BAGFW für einen Teil der Menschen mit Behinderungen - und sofern alternativ hierzu im Sinne des Wunsch- und Wahlrechtes auch andere Leistungsangebote zur Verfügung stehen und frei gewählt werden können - grundsätzlich zu begrüßen. Allerdings kommt eine solche Leistungsform, die nur einen geringen und pauschalierten Umfang an begleitender Arbeitsassistenz vorsieht, nur für entsprechend leistungsfähige, relativ selbstständige Personen in Frage. Menschen mit Behinderungen und höherem personalen Unterstützungsbedarf wären damit weiterhin auf WfbM bzw. vergleichbare Angebote verwiesen. Da die UN-BRK keine Einschränkung hinsichtlich der Leistungsfähigkeit der Menschen mit Behinderungen vornimmt, ist dafür Sorge zu tragen, dass auch Menschen mit erhöhtem und dauerhaftem Unterstützungsbedarf Teilhabe am Arbeitsleben auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ermöglicht wird. In entsprechenden Modellprojekten konnte nachgewiesen werden, dass dies häufig möglich ist, sofern die Leistungsberechtigten eine entsprechend bedarfsgerechte Unterstützung erhalten. Hierfür sind die bisher institutionsgebundenen Mittel der Eingliederungshilfe nicht nur als grundsätzlich pauschaliertes Budget, sondern als Arbeitgeberzuschuss in Verbindung mit individuell bedarfsgerechten Assistenzleistungen zur Verfügung zu stellen. Zu diesem Zweck ist neben dem oben beschriebenen "Budget für Arbeit" auch das Persönliche Budget nach § 17 SGB IX für die Berufliche Bildung und die Teilhabe am Arbeitsleben umfassend nutzbar zu machen. Auch bei einer Nutzung des "Budgets für Arbeit" bzw. des Persönlichen Budgets nach § 17 SG IX ist eine Rückkehr in die WfbM oder vergleichbare Angebote auf Wunsch des Leistungsberechtigten zu ermöglichen. Eine entsprechende Regelung ist gesetzlich zu verankern.
zu b1) "Öffnung der Werkstätten „nach unten“/“innen"
Da mit der Überschrift "nach unten", aus Sicht der BAGFW, eine hierarchische Herabsetzung und Diskreditierung des betroffenen Personenkreises verbunden ist, ist diese scharf zu kritisieren. Es wird vorgeschlagen, diese zu ersetzen durch: Umsetzung des Rechtsanspruchs auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben für Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf.
Weiterhin steht die institutionsbezogene Formulierung "Öffnung der Werkstätten" in diesem Zusammenhang im Widerspruch zu dem allgemeinen Ziel der Reform, Leistungen zukünftig „Personzentriert“ auszurichten. Zielsetzung muss sein, die Leistungen der beruflichen Bildung und Teilhabe am Arbeitsleben auch für Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf „Personzentriert“, d. h. auf Grundlage des Wunsch- und Wahlrechtes, individuell bedarfsgerecht und unabhängig vom Ort der Leistungserbringung zu gewähren. Das bedeutet, dass die Leistungen zukünftig nicht nur in WfbM, sondern auch an anderen Orten und von anderen Leistungserbringern erbracht werden können. Damit geht einher, dass zukünftig beispielsweise ggf. auch Tagesförderstätten arbeitsweltbezogene Bildungs- und Beschäftigungsangebote vorhalten können. Wie vom BMAS richtigerweise dargelegt, liegt die Einbeziehung auch von Menschen mit Behinderungen mit einem sehr geringen Leistungsvermögen in die Leistungen der Teilhabe am Arbeitsleben im Verständnis der UN-BRK. Verbände der BAGFW und die weiteren Organisationen der BRK-Verbändeallianz weisen deshalb bereits seit Jahren darauf hin, dass der bisher in den meisten Bundesländern praktizierte Ausschluss von Menschen mit schweren und mehrfachen Behinderungen aus der WfbM eine Diskriminierung darstellt, weshalb eine Änderung der Regelung des § 136 Abs. 3 SGB IX / Streichung des Mindestmaß wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung dringend erforderlich bzw. überfällig ist[2].
Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf sind zukünftig in die Angebote der beruflichen Bildung und Teilhabe am Arbeitsleben bundesweit und verbindlich einzubeziehen.
Die gesetzlichen Regelungen sind dabei so auszugestalten, dass nicht nur der Zugang zur WfbM, sondern Teilhabeleistungen „Personzentriert“ bzw. institutionsunabhängig auch an anderen Orten erbracht werden können. Parallel zur Schaffung angemessener gesetzlicher Regelungen sind auch die konzeptionellen und finanziellen Rahmenbedingungen (Weiterentwicklung der Bildungs-, Förder- und Beschäftigungskonzepte, Anpassung der Personalschlüssel an die individuellen Unterstützungsbedarfe usw.) weiterzuentwickeln bzw. zu schaffen. Um zukünftig bundesweit einheitliche Teilhabechancen zu gewährleisten, fordert die BAGFW das BMAS auf, die Entwicklung eines dementsprechenden Rahmenkonzeptes, in dem bundeseinheitliche Standards und Qualitätsanforderungen an eine Person-zentrierte Gestaltung der Leistungen beschrieben werden, zu veranlassen. Ausgangspunkt muss auch hierfür das Wunsch- und Wahlrecht sowie die individuell bedarfsgerechte Ausgestaltung der Teilhabeangebote sein.
Die Handlungsoption „Einbeziehung der Tagesförderung (nur Arbeitsbereich)“ wird abgelehnt. Das Recht auf Teilhabe des hier im Fokus stehenden Personenkreises darf sich nicht nur auf den Arbeitsbereich bzw. Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben beziehen; der Ausschluss von Menschen mit Behinderungen aus dem Berufsbildungsbereich bzw. von Leistungen der Beruflichen Bildung ist diskriminierend und deshalb aus Sicht der BAGFW strikt abzulehnen. Zudem würde dies einen Rückschritt gegenüber aktuell geltendem Recht bedeuten, da zurzeit entsprechend § 136 SGB IX der Berufsbildungsbereich der WfbM (theoretisch) allen Menschen mit Behinderungen offen steht. Die Handlungsoption, allein die rentenrechtlichen Ansprüche zu gewähren, ist ebenfalls abzulehnen, da die Zielsetzung eben vor allem in der Ermöglichung der Teilhabe an Beruflicher Bildung und am Arbeitsleben besteht.
zu c) Schaffung zusätzlicher Beschäftigungsanreize im Schwerbehindertenrecht
Die Vorschläge c1) (Ausbau der beruflichen Orientierung) und c2) (verstärkte Förderung von Integrationsunternehmen) werden unterstützt, s. Pkt. 3 d)
zu d) Weitere mögliche, in Diskussion stehende Handlungsoptionen im Kontext "Teilhabe am Arbeitsleben"
Erhöhung der Arbeitsentgelte von Werkstattbeschäftigten
Dem Vorschlag des BMAS zur Verbesserung der Entlohnung von Werkstattbeschäftigten durch Anhebung des Arbeitsförderungsgeldes ist im Sinne eines ersten Schrittes zuzustimmen. Darüber hinaus schlägt die BAGFW die Anhebung der 325-Euro-Grenze vor. Darüber hinaus sind weitere tragfähige Lösungen im Sinne der UN-BRK zu entwickeln.
Aus Sicht der BAGFW besteht neben den Umsetzungsvorschlägen des BMAS Handlungsbedarf u. a. in folgenden weiteren Bereichen:
Weiterentwicklung arbeitsmarktpolitischer Instrumente
Damit Menschen mit Behinderungen besser in den ersten Arbeitsmarkt integriert werden können, sind aus Sicht der BAGFW auch nachfolgende Themenbereiche zu bearbeiten:
- Weiterentwicklung des Zugangs, des Assessments und der Beratung,
- Ausrichtung der Arbeitsförderung und Ausgestaltung der Arbeitsmarktinstrumente im SGB II und III auf die Zielgruppe
- Unterstützung der Arbeitsaufnahme und Weiterentwicklung von Arbeitsprojekten. [3]
Förderung des Übergangs Schule/ Beruf
Die Weichen für die Möglichkeit zur Teilhabe am Arbeitsleben auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt werden nicht erst mit Beginn einer beruflichen Qualifizierung, sondern bereits in der Schulzeit gestellt. Festzustellen ist, dass in vielen Bundesländern Kinder und Jugendliche mit Behinderungen noch immer überwiegend in Förderschulen unterrichtet werden. Nach Auffassung der BAGFW ist als Voraussetzung für die Verbesserung der Teilhabe am Arbeitsleben von Menschen mit Behinderungen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt der intensive Ausbau inklusiver Beschulung dringend erforderlich. Dabei ist den jeweiligen Bedarfen der Schülerinnen und Schüler umfassend Rechnung zu tragen. Die hierfür erforderlichen Mittel müssen bereitgestellt werden.
Weiterhin ist die flächendeckende Einführung und verbindliche Finanzierung eines rechtlich verankerten Beruflichen Orientierungsverfahrens (BOV) in den Schulen dringend geboten. Das BOV sollte Teil einer Berufswegeplanung im Rahmen eines ICF-basierten, Person-orientierten und partizipativen Gesamtplanungsverfahren sein. Darüber hinaus ist es aus Sicht der BAGFW notwendig, die Vermittlung erster beruflicher Erfahrungen wie auch bei Schülerinnen und Schülern ohne Behinderungen bereits in der Schulzeit verbindlich zu gestalten. Dabei stellen insbesondere längere und unterstützte Praktika in den Betrieben eine geeignete Möglichkeit dar. Um dies auch Schülerinnen und Schülern mit Behinderungen und Assistenzbedarf zu ermöglichen, muss ein Rechtsanspruch auf die Finanzierung ggf. individuell erforderlicher Assistenzleistungen einschließlich der Sicherstellung angemessener Vorkehrungen geschaffen werden.
Weiterentwicklung Beruflicher bzw. Arbeitsweltbezogener Bildung
Nach Auffassung der BAGFW sind im Sinne eines inklusiven Arbeitsmarktes die Bemühungen um Ausbau und Förderung der betrieblichen Ausbildungsmöglichkeiten zu intensivieren.
In den WfbM sowie bei evtl. zukünftigen alternativen Angeboten ist im Sinne einer inklusiven Ausrichtung der Beruflichen Bildung u. a. eine Anpassung an die übliche Dauer der betrieblichen Ausbildung erforderlich.
Zudem sollten auch hier anerkannte Ausbildungsberufe angeboten werden, um Chancen auf die Aufnahme eines sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnisses zu erhöhen. Darüber hinaus sollte darauf hingewirkt werden, dass von den IHKs, Handwerkskammern und sonstigen zuständigen Kammern die in der WfbM vermittelten Berufsbilder anerkannt und entsprechende Abschlüsse erworben werden können.
Die Gestaltung der beruflichen Bildung muss sich am jeweiligen individuellen Bedarf der Menschen mit Behinderungen orientieren, u. a. sind auch Teilzeitregelungen zu ermöglichen.
Die Berufsbildungskonzepte der WfbM sind bisher meist auf Personen ausgerichtet, die entsprechend § 136 Abs. 2 SGB IX in der Lage sind, ein sog. „Mindestmaß wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung“ zu erbringen. Bei einem zukünftigen Einbezug von Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf in die WfbM oder vergleichbare Angebote ist eine konzeptionelle Weiterentwicklung im Sinne einer arbeitsweltbezogenen Bildungsbegleitung dringend erforderlich.
Weiterentwicklung des Werkstättenrechts
Der Vorschlag des BMAS zur Weiterentwicklung des Werkstättenrechts wird begrüßt. Von zentraler Bedeutung dabei ist die Weiterentwicklung der Werkstättenmitwirkungsverordnung (WMVO) im Sinne verbesserter Mitbestimmungsrechte für die Werkstattbeschäftigten/den Werkstattrat. Die Werkstatträte vertreten in verschiedenen Formen regional und überregional die Interessen der Werkstattbeschäftigten. Die Arbeit der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesarbeitsgemeinschaften der Werkstatträte (BVWR) erfolgt dabei bisher im Rahmen einer befristeten Projektförderung und auch die Finanzierung der Arbeit der Landesarbeitsgemeinschaften der Werkstatträte ist bisher nur in einzelnen Bundesländern geregelt. Um die Mitbestimmungsrechte von Menschen mit Behinderungen auf überregionaler Ebene wirksam zu stärken und zu sichern, muss eine dauerhafte, tragfähige Lösung entwickelt und rechtlich verankert werden, die eine zuverlässige und langfristige Finanzierung der BVWR wie auch der LAGs der Werkstatträte gewährleistet. Zudem sind auch für die geplanten „anderen Anbieter“ vergleichbare Mitbestimmungsregelungen für die dort beschäftigten Menschen mit Behinderungen zu treffen.
Stärkung von Integrationsfirmen
Die Integrationsprojekte nach § 132 SGB IX ermöglichen inklusive Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Nach Auffassung der BAGFW ist deren nachhaltige Förderung dringend geboten. Bestehende und geplante Zuschüsse im Sinne eines „Minderleistungsausgleichs“ sollten auch hier individuell bedarfsgerecht und neben den finanziellen Leistungen nach § 134 SGB IX geleistet werden können.
Die bestehenden Modelle eines sog. Kombilohns durch die Integrationsämter sollten erhalten bleiben und ebenfalls individuell bedarfsgerecht ausgestaltet werden.
Durch eine Bundesverordnung nach § 135 SGB IX sollten die fachlichen Anforderungen und die finanziellen Leistungen bundesweit einheitlich geregelt werden. Ferner sollten die Integrationsprojekte bei Vergabe von Aufträgen durch die öffentliche Hand gemäß § 141 SGB IX neben den Werkstätten für behinderte Menschen ebenfalls bevorzugt berücksichtigt werden.
Regelungen für Zuverdienstprojekte
Beim „Zuverdienst“ handelt es sich um ein niedrigschwelliges Leistungsangebot für voll erwerbsgeminderte Personen nach § 43 Abs. 2 S. 2 SGB VI, § 136 SGB IX, die die Zugangsvoraussetzungen für Leistungen der Eingliederungshilfe erfüllen und für einige Stunden in der Woche (bis zu 15 Stunden) tätig sein können und wollen. Zuverdienstprojekte sind nach Auffassung der BAGFW geeignet, um insbesondere Menschen mit psychischer Erkrankung den Wiedereinstieg ins Arbeitsleben zu erleichtern. Um diese Leistung weiter zu befördern, ist die Schaffung einer bundesweiten Regelung für den Anspruch auf Unterstützung zur Teilhabe am Arbeitsleben notwendig, der in Zuverdienstprojekten eingelöst werden kann.
Berücksichtigung der besonderen Situation und Belange von Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen
Bei der Weiterentwicklung des Leistungsrechtes und der Angebote ist auch den besonderen Bedarfen von Menschen mit psychischer Behinderung zukünftig mehr als bisher Rechnung zu tragen. Die Ermöglichung einer selbstbestimmten Teilhabe am Arbeitsleben erfordert eine stärkere Flexibilisierung der Leistungen, da Menschen mit psychischen Erkrankungen häufig starken Schwankungen ihres Leistungsvermögens unterliegen. Da die unterschiedlichen Maßnahmen und Instrumente der beruflichen Teilhabeförderung verschiedenen Sozialgesetzbüchern zugeordnet sind, sollte bei der Weiterentwicklung des Leistungsrechts eine verbindlichere Kooperation der Rehaträger bei der Gesamtplanung rechtlich normiert werden.
Maßnahmen zur beruflichen Rehabilitation psychisch kranker Menschen werden u. a. in beruflichen Trainingszentren, Rehabilitationseinrichtungen, im Rahmen unterstützter Beschäftigung oder „Zuverdienst“ erbracht. Während die Zugangszahlen dieses Personenkreises in die WfbM steigen, finden nach Einschätzung der BAGFW die anderen Leistungsangebote zu wenig Berücksichtigung. Entsprechende, flächendeckende Strukturen fehlen. Die Verantwortung der Rehaträger für den Aufbau einer notwendigen regionalen Infrastruktur sollte deshalb rechtlich stärker normiert werden. Weiterhin ist auch der Tatsache Rechnung zu tragen, dass gerade Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen in unserer Gesellschaft ein hohes Risiko tragen, vorzeitig aus dem Erwerbsleben ausgeschlossen zu werden. So ist seit einigen Jahren die Entwicklung zu beobachten, dass psychische Gefährdungen am Arbeitsplatz an Bedeutung gewinnen, Krankheitstage aufgrund psychischer Störungen zunehmen und insbesondere Frühberentungen aufgrund einer psychiatrischen Diagnose steigen. In vielen Fällen geschieht dies, ohne dass zuvor eine medizinische Reha stattgefunden hätte; d. h. ein ganzheitlicher Arbeitsschutz unter Berücksichtigung der seelischen Gesundheit, betriebliches Eingliederungsmanagement gerade auch bei psychischen Erkrankungen und ein flächendeckendes Angebot an medizinischer Reha für chronisch psychisch Kranke haben unmittelbar Auswirkungen auf die Erwerbsfähigkeit von Menschen mit seelischer Behinderung und deren Teilhabe am Arbeitsleben. Den Arbeitsschutz gerade auch im Hinblick auf psychische Gefährdungen weiter zu entwickeln, wurde im Koalitionsvertrag verabredet. Dies sollte unter Würdigung bereits vorliegender Studien zügig umgesetzt werden.
Berlin, 27. April 2015
[1] Siehe hierzu auch „Eckpunkte der BAGFW zu einem Bundesleistungsgesetz zur Teilhabe von Menschen mit Behinderungen“ vom 10.12.2013
[2] Positionspapier "Diskriminierung beenden - Rechtsanspruch auf berufliche Bildung und Teilhabe am Arbeitsleben von Menschen mit geistiger und/oder mehrfacher Behinderung sicherstellen!“ Dezember 2011
[3] Siehe hierzu auch BAGFW Position „Wie können SGB II und III Maßnahmen besser nutzbar gemacht werden für Menschen mit Behinderungen/ psychisch kranke Menschen und Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen?“ , März 2015
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Artikel 27 der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) verpflichtet die Vertragsstaaten u.a. „… zu gewährleisten, dass Menschen mit Behinderungen ihre Arbeitnehmer- und Gewerkschaftsrechte gleichberechtigt mit anderen ausüben können.“ Vor diesem Hintergrund begrüßt die BAGFW das Vorhaben der Koalitionsfraktionen, eine Weiterentwicklung der WMVO vorzunehmen.
Weiterhin sind entsprechend der UN-BRK für Werkstattbeschäftigte neben Mitwirkungsrechten zukünftig auch Mitbestimmungsrechte zu schaffen und in der WMVO rechtlich zu verankern. Aus Sicht der BAGFW begründet der mit der Beschäftigung in einer Werkstatt verbundene „arbeitnehmerähnliche Rechtsstatus“ nicht zwangsläufig geminderte Mitbestimmungsrechte. Im Sinne der Zielperspektive Inklusion muss die Zielsetzung sein, die Rechte von Werkstattbeschäftigten und die Regelungen der WMVO soweit wie möglich an das Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) und an das Recht der Schwerbehindertenvertretung anzupassen.
Dass eine erweiterte Mitbestimmung in der Praxis gut realisierbar ist, beweist die seit 2004 geltende Diakonie-Werkstättenmitwirkungsverordnung (DWMVO). Die hier verankerten Mitbestimmungsrechte beziehen sich auf Fragen der Werkstattordnung, Beschäftigungszeit und Pausen, Grundsätze für die Urlaubsplanung und Fortbildung, Grundsätze zur und Gestaltung der Entlohnung, die Anwendung von technischen Einrichtungen, Gestaltung von Sanitär- und Aufenthaltsräumen, die Verpflegung sowie die Gestaltung sozialer Aktivitäten. Aus Sicht der BAGFW sollten mindestens diese Elemente auch in der zukünftigen WMVO enthalten sein.
Die BAGFW weist vorsorglich darauf hin, dass auch für die im Rahmen eines Bundesteilhabegesetztes geplanten zukünftigen „Anderen Anbieter“ im Bereich Teilhabe am Arbeitsleben entsprechende Mitbestimmungsregelungen für die dort beschäftigten Menschen mit Behinderungen zu treffen sind. Die BAGFW fordert, vergleichbare Regelungen ebenfalls für die „anderen Anbieter“ verbindlich zu regeln und diese in die Überlegungen zur Weiterentwicklung der WMVO einzubeziehen.
Weiterhin sind nach Auffassung der BAGFW in einer modernisierten WMVO Regelungen zu schaffen, die sicherstellen, dass zukünftig auch die Rechte von Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf, von denen viele nicht in der Lage sind, sich verbal zu artikulieren, verbindlich berücksichtigt werden. Parallel dazu sind diesbezüglich entsprechende, für den Personenkreis geeignete Verfahren (wie bspw. Teilnehmende Beobachtung im Rahmen von Peer-Group-Settings, technische Hilfen wie z.B. „Talker“ usw.) zu entwickeln und verbindlich zur Anwendung zu bringen.
Mit der Frage der Mitbestimmung unmittelbar verknüpft ist die Frage nach der Funktion der Vermittlungsstelle nach § 6 WMVO. Zur Stärkung der Mitbestimmungsrechte ist es aus Sicht der BAGFW erforderlich, eine Verbindlichkeit der Entscheidung der Schlichtungsstelle festzulegen. Zudem sollte die Möglichkeit arbeitsrechtlicher Überprüfung geschaffen werden.
Die WMVO muss auch in Leichter Sprache zur Verfügung gestellt werden.
2. Zahl der Mitglieder des Werkstattrates
Die BAGFW unterstützt den Vorschlag der Bundesvereinigung der Werkstatträte (BVWR), dass sich in Werkstätten mit über 600 Beschäftigten pro weitere 200 Beschäftigte die Zahl um zwei Werkstatträte erhöht.
3. Zulassung von Werkstatträten in Zweigwerkstätten und Betriebsstätten
Zweigwerkstätten befinden sich häufig räumlich weit entfernt von der Werkstatt. Zudem werden in dieser Organisationsform häufig Angebote für besondere Personenkreise vorgehalten. Um den dort tätigen Beschäftigten eine wirksame Vertretung zu ermöglichen, wird angeregt, auch hier die Regelung der DWMVO zu übernehmen. Demnach sollte ein Werkstattrat gewählt werden können in Werkstätten und Betriebsstätten, die
- eine eigene Organisation und Leitung haben
- räumlich weit entfernt von der Werkstatt sind oder
- in denen ein eigenständiger besonderer Personenkreis beschäftigt ist.
4. Fort- und Weiterbildung
Eine Stärkung der Rechte der Werkstatträte geht mit einem erhöhten Fort- und Weiterbildungsbedarf einher. Im Sinne der UN-BRK sind entsprechende angemessene Vorkehrungen zu schaffen. Vor diesem Hintergrund sieht die BAGFW eine Gleichbehandlung von Betriebs- und Werkstatträten hinsichtlich der Freistellungsregelungen als erforderlich an.
5. Frauenbeauftragte / Gleichstellungsbeauftragte
Nach Auffassung der BAGFW sind Frauenbeauftragte/Gleichstellungsbeauftragte in einer Neufassung der WMVO vorzusehen. Dabei sind eine angemessene Qualifizierung sowie Regelungen zur Freistellung für die Ausübung des Amtes zu entwickeln und gesetzlich zu verankern. Weiterhin sind die erforderlichen räumlichen und finanziellen Ressourcen bereitzustellen sowie die Möglichkeit, eine Unterstützerin analog der Vertrauensperson des Werkstattrates hinzuzuziehen. Bei der Entwicklung der Regelungen sollten die Regelungen zur Funktion der Frauen- bzw. Gleichstellungsbeauftragten im Öffentlichen Dienst als Orientierung dienen. Es wird darüber hinaus angeregt, eine Regelung zu schaffen, die es ermöglicht, in Abhängigkeit zum jeweiligen Bedarf der Werkstatt ein Gleichstellungsteam zu installieren, so dass auch eine Unterstützung weiterer spezieller Personengruppen (wie z.B. Migrantinnen und Migranten, Männer mit Gewalt- bzw. Missbrauchserfahrungen o.a.) gewährleistet werden kann.
6. Finanzierung der Werkstatträte
Die Werkstatträte vertreten in verschiedenen Formen regional und überregional die Interessen der Werkstattbeschäftigten. Die Arbeit der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesarbeitsgemeinschaften der Werkstatträte (BVWR) erfolgt dabei bisher im Rahmen einer befristeten Projektförderung und auch die Finanzierung der Arbeit der Landesarbeitsgemeinschaften der Werkstatträte ist nur in einzelnen Bundesländern bisher geregelt. Um die Mitbestimmungsrechte von Menschen mit Behinderungen auf überregionaler Ebene wirksam zu stärken und zu sichern, muss im Rahmen der Weiterentwicklung der WMVO eine tragfähige Lösung entwickelt und rechtlich verankert werden, die eine zuverlässige und langfristige Finanzierung der BVWR wie auch der LAGs der Werkstatträte gewährleistet.
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1. Zugang, Assessment und Beratung weiterentwickeln
Die Kompetenzen der Integrationsfachkräfte in den Jobcentern, Behinderungen/ psychische Erkrankungen und Suchterkrankungen erkennen und adäquate Problemlösungsstrategien erarbeiten zu können, müssen dringend gestärkt werden. Es ist zukünftig zu verhindern, dass psychisch kranke und suchtkranke Menschen nur über einen Schwerbehindertenstatus den Zugang zu passenden Unterstützungs- bzw. Teilhabeangeboten finden. Denn das Instrument des Schwerbehindertenausweises wird vielfach von den Betroffenen abgelehnt und als stigmatisierend empfunden, so dass psychisch kranken und suchtkranken Menschen viele Förderprogramme verschlossen bleiben. Auch der Integrationsfachdienst, ursprünglich für die Unterstützung psychisch erkrankter Menschen gegründet, kann oft gar nicht mehr tätig werden, wenn kein Schwerbehindertenausweis vorliegt. Selbst wenn Betroffene sich entschließen den Ausweis zu beantragen, bekommen sie ihn oft nicht oder nur einen geringen Grad der Behinderung (GdB), weil es schwerer ist, diese Art von Behinderung nachzuweisen.
Zur realistischen Einschätzung der Erwerbsfähigkeit und der beruflichen Perspektiven ist es hilfreich, ein zielgruppenorientiertes und ggf. trägerübergreifendes Bedarfsermittlungsverfahren mit zeitlich flexiblen Assessments und fachlichen Instrumenten[1] auszubauen und externe relevante Akteure, wie z. B. Psychologen oder medizinische Fachkräfte einzubeziehen.
Solche Assessmentverfahren müssen nach dem Konzept der ICF[2] nicht nur die Bedingungen der Person (Wissen, Fähigkeiten, Haltungen und/ oder Einschränkungen sowie Funktionsstörungen), sondern ihre Lebensvorstellungen und Umweltbedingungen als maßgebliche Kriterien mit validen Indikatoren einbeziehen und messen.
An der Schnittstelle zwischen der medizinischen Rehabilitation in einer stationären medizinischen Behandlung von psychisch kranken und suchtkranken Menschen und der beruflichen Rehabilitation durch die Arbeitsförderung bestehen weiterhin Abstimmungsbedarfe bei der Bedarfsermittlung mit Blick auf die Diagnostik bzw. beim Profiling. Die Unterstützungen müssen miteinander koordiniert und möglichst nahtlos im Sinne der §§ 10, 11 und 12 SGB IX erfolgen und Unterstützungsprozesse ggf. trägerübergreifend organisiert werden. Diese Prozesse finden in der Praxis teilweise zwischen der stationären Behandlung und den Jobcentern statt und sollten weiter flächendeckend gefördert und flächendeckend eingerichtet werden. Grundsätzlich gehören Arbeitsdiagnostik, Arbeitstherapie und Belastungserprobung zum Standard einer stationären Behandlung wie auch die Organisation der Übergänge zum Jobcenter.
2. Ausrichtung der Arbeitsförderung und Ausgestaltung der Arbeitsmarkt-instrumente im SGB II und III
Die derzeitige einseitige Ausrichtung der Arbeitsmarktförderung auf Arbeitslose mit geringen Vermittlungshemmnissen und die damit zusammenhängende Dominanz an kurzfristigen und marktnahen Instrumenten der Arbeitsförderung und deren einseitige Erfolgsmessung an Eingliederungsquoten muss überwunden werden. Dies nicht nur, um der Gruppe von psychisch kranken und suchtkranken Menschen besser gerecht werden zu können, sondern auch um der sehr großen Gruppe der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten mit erheblichem Unterstützungsbedarf Rechnung zu tragen.[3]
Gelingt diese Umsteuerung nicht, besteht die Gefahr, dass insbesondere psychisch kranke und suchtkranke Menschen kein passendes Unterstützungsangebot erhalten und Krankheitsverläufe ggf. chronisch werden. Erfolge aus der medizinischen Rehabilitation drohen zu versickern, wenn nicht zugleich Perspektiven auf eine Arbeitsmarktintegration und die damit verbundene soziale Teilhabe geschaffen werden. Als Folge wird diese Personengruppe mangels individueller Unterstützungsangebote im System des SGB II und III zunehmend die Angebote der Eingliederungshilfe in Anspruch nehmen. Dies wird bereits durch die Entwicklung der Neuzugänge im Bereich der Teilhabe am Arbeitsleben bestätigt[4].
Um dem Unterstützungsbedarf dieses Personenkreises gerecht zu werden, müssen Eingliederungsinstrumente zur Verfügung stehen, die für die Förderung der Beschäftigung arbeitsmarktferner Menschen wirksam genutzt werden können. Die BAGFW fordert im SGB II und SGB III langfristige, individuell passgenaue und flexibel gestaltete, kleinschrittige Hilfen (u. a. mit Arbeitserprobungen, betrieblichen Praktika, modularen Qualifizierungselementen u. a.) für diese Menschen anzubieten und die Maßnahmen mit Fachpersonal auszustatten.
Nach den drastischen Mittelkürzungen der vergangenen Jahre benötigen die Jobcenter für diese Aufgabe mehr finanzielle Ressourcen und die Sicherheit, längerfristige Maßnahmen auch über mehrjährige Budgets absichern zu können.
Arbeitsgelegenheiten nach § 16d SGB II sind sinnvoll, um sehr arbeitsmarktferne Menschen sozial zu stabilisieren und ihre Beschäftigungsfähigkeit schrittweise zu verbessern. Die derzeitige Begrenzung der Förderdauer auf zwei Jahre innerhalb von fünf Jahren ist aufzuheben, da sie zum Ausschluss gerade derjenigen Leistungsberechtigten führt, die längerfristige Unterstützung benötigen, und die Wirkung dieses Instruments auf diese Weise ins Leere läuft. Bei den Arbeitsgelegenheiten muss es zukünftig wieder möglich sein, sozialpädagogische Begleitung oder arbeitsbegleitende Qualifizierung direkt mit dem Instrument zu verknüpfen, ohne diese begleitenden Angebote umständlich zukaufen zu müssen. Die derzeit geltenden Kriterien der Zusätzlichkeit des öffentlichen Interesses und der Wettbewerbsneutralität wirken in ihrer Gesamtheit jedoch kontraproduktiv. Sie sind nicht geeignet, um zentral definiert zu werden. Es sollten die lokalen Akteure des Arbeitsmarktes im örtlichen Beirat Verantwortung für die Ausgestaltung erhalten.
Die BAGFW setzt sich außerdem für einen Sozialen Arbeitsmarkt ein, damit diejenigen Langzeitarbeitslosen, darunter auch erwerbsfähige Menschen mit Behinderung, ein individuelles Unterstützungsangebot erhalten, die weit entfernt davon sind, in den Arbeitsmarkt zurückzufinden und sich in einer Situation aus scheinbar unüberwindlichen Problemlagen, Resignation und Hilflosigkeit befinden. Im Sozialen Arbeitsmarkt werden Angebote sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung bei unterschiedlichen Arbeitgebern erschlossen und so ein Zugang zur Erwerbsarbeit und damit den Schlüssel zur gesellschaftlichen Teilhabe geschaffen.
3. Arbeitsaufnahme unterstützen und Arbeitsprojekte weiterentwickeln
Um eine Arbeitsaufnahme von psychisch kranken und suchtkranken Menschen sowie Menschen mit Behinderungen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu unterstützen und zu ermöglichen, sind die Eingliederungszuschüsse breiter nutzbar zu machen. (u. a. Berücksichtigung des „Fall Gröninger“ des UN-Fachausschusses zur BRK). Daher dürfen die Eingliederungszuschüsse nicht starr nach Höhe und Zeit gedeckelt werden. Die Förderung muss der Höhe nach abhängig von der individuellen Leistungsfähigkeit erbracht werden und auch über zwei Jahre hinaus möglich sein.
Integrationsprojekte nach § 132 SGB IX sind nachhaltig und dauerhaft zu fördern, weil sie Beschäftigung auf dem ersten Arbeitsmarkt ermöglichen. Es sind Möglichkeiten zu prüfen, diese ggf. auch für Menschen im SGB II/ III-Bezug zugänglich zu machen. Die Möglichkeiten der bevorzugten Auftragsvergabe gem. § 97 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen sollten über Werkstätten für Menschen mit Behinderungen hinausgehend auch für Integrationsbetriebe und Sozialunternehmen zur Beschäftigung von benachteiligten Personengruppen (Artikel 20 der Vergaberichtlinie) gelten.
Zuverdienstprojekte sind gemeindenahe und niedrigschwellige Angebote zur sozialen Teilhabe. Die BAGFW fordert den flächendeckenden Ausbau und die tragfähige Finanzierung von Zuverdienstprojekten.
Berlin, 17. April 2015
[1] Vgl. Abschlussbericht zum Projekt „Prüfung von aktuellem Stand und Potential der Bedarfsermittlung von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben unter Berücksichtigung der ICF (Machbarkeitsstudie)“ , S. 55 ff, 60
[2] International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF)” (Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit der WHO)
[3] Vgl. IAB Forschungsbericht 2/2013 : Menschen mit psychischen Störungen im SGB II
[4] Bei den Aufnahmen in den Werkstätten sind ca. 60% Quereinsteiger, die zuvor auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig waren, vgl. Consens-Endbericht: Verbesserung der Datenlage zur strukturellen Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderung, im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales, August 2014, S. 95
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Nahezu alle sozialen Angebote und Dienste der Verbände der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) stehen in einem unmittelbaren Sozialraumbezug und sind (potentiell) in die Netzwerkstrukturen der Nachbarschaften sowie der lokalen Akteure (Verbände, Dienstleister, Verwaltung) eingebunden.
Aus dieser Einsicht heraus wollen die Wohlfahrtsverbände den Themen Sozialraumorientierung und Quartiersentwicklung im Rahmen ihrer Tätigkeit eine größere fachpolitische Rolle einräumen und den Blick auf die strukturellen Rahmenbedingungen und strategischen Entwicklungslinien des Sozialraums für die soziale Arbeit legen.
In der Standortbestimmung „Der Sozialraum als Ort der Teilhabe“ werden die Stärken und Chancen sozialraumorientierter Arbeit von freien Trägern der Sozialen Arbeit herausgearbeitet. Darüber hinaus werden Inhalte und Anforderungen der BAGFW sowohl an das Fachkonzept der Sozialraumorientierung zur Profilierung sozialer Fachdienste im Gemeinwesen als auch an gebietsbezogene Handlungsstrategien, wie sie im Rahmen einer nationalen Stadtentwicklungspolitik zur Anwendung gelangen, dargestellt.
Die Standortbestimmung gliedert sich in drei thematische Schwerpunkte:
· Begriffsbestimmungen von Sozialraum, Sozialraumorientierung und Quartiers-entwicklung (Kapitel 2).
· Sozialraum als Ort der Teilhabe und der strategischen Entwicklung - Bedeutung und Chancen für die Freie Wohlfahrtspflege (Kapitel 3).
· Handlungsempfehlungen für die Freie Wohlfahrtspflege (Kapitel 4).
Mit dem vorliegenden Bericht möchte die BAGFW einen Beitrag zur fachpolitischen Diskussion leisten und bietet sich dafür als Gesprächspartnerin an.
2. Begriffsbestimmungen[i]
2.1 Sozialraum
Die Beschreibung des Sozialraums bezieht sich auf drei Aspekte:
Sozialraum als Erfahrungs- und Verhaltensraum
Menschen gestalten und erfahren ihre Lebenswelt durch ihre Kontakte und Aktivitäten in einem räumlichen Bezug. Der Sozialraum ist „[…] ein Raum, den ich kenne, in dem ich mich auskenne, in dem ich über Beziehungen verfüge, auch über Ressourcen, in dem es Probleme gibt; es ist der Raum, in dem ich konkret meinen Alltag bewältigen muss.“[ii] „Sozialraum ist eine subjektive Kategorie die sich aus den sozialen Beziehungen und Netzwerken eines Menschen ergibt.“[iii]
Sozialraum als Engagement- und Versorgungsraum
Durch gesellschaftliche Mitbestimmung, politische Entscheidungen und nachfrageorientierte Steuerung entsteht ein sozio-kultureller Raum mit Angeboten für Bildung, Arbeit, Kultur, Sport und Soziales. Die Menschen gestalten ihren Lebensraum mit und setzen sich u.a. in Familie, Nachbarschaft, Schulen, Initiativen und Organisationen für bessere Lebensbedingungen und für die Gemeinschaft ein.
Sozialraum als politisch-administrativer Raum
Sozialraum ist ein von geografischen Gegebenheiten und von der öffentlichen Verwaltung definierter Siedlungsraum auf kommunaler Ebene. Er umfasst Kreise, Dörfer und Städte mit ihren Quartieren. „Sozialraum ist eine Stadtplanungs- und Verwaltungskategorie.“[iv] Sozialräume sind institutionalisierte Planungs- und Steuerungsräume mit einem klar umgrenzten Gebiet (vgl. örtliche Sozial- oder Jugendhilfe-planung).
Die drei Zugänge können sich überlagern. Die Grenzen des Sozialraums sind entsprechend fließend und werden von den jeweiligen Perspektiven und Bezügen der Menschen und der durch sie geprägten Institutionen bestimmt.
2.2 Sozialraumorientierung
Die Standards der Sozialraumorientierung sind geeignet, eine sozial- und fachpolitische Position der Freien Wohlfahrtspflege zu beschreiben.
Sozialraumorientierung als Haltung und Perspektive beinhaltet insbesondere eine Vorstellung davon, wie die vielfältigen Potentiale und Ressourcen der Menschen erkannt und für die Gesellschaft genutzt, wie Subsidiarität organisiert und wie sozialer Zusammenhalt und Solidarität nachhaltig unterstützt werden können.
Eine Umfrage unter den Fachausschüssen der BAGFW hatte ergeben, dass diese überwiegend die Sichtweise einnahmen, dass unter Sozialraumorientierung die Orientierung der sozialen Arbeit auf den Sozialraum zu verstehen sei. Dabei nehmen die einzelnen Handlungsfelder der sozialen Arbeit jeweils unterschiedliche Schwerpunktsetzungen und Perspektiven ein[v].
Für diese Standortbestimmung wird folgende Definition für Sozialraumorientierung zugrunde gelegt:
Sozialraumorientierung ist eine Handlungsoption der sozialen Arbeit, eine Fachperspektive als konzeptioneller Hintergrund der Sozialen Arbeit. Die Menschen erfahren in ihrem konkreten Umfeld Unterstützung, ihre Lebensqualität und Lebenssituation zu verbessern, sich für den Zusammenhalt untereinander zu engagieren und so ihren Sozialraum zu einem lebenswerten Ort zu entwickeln. Sozialraumorientierung verhilft Menschen dazu, ihr Recht auf selbstbestimmte Teilhabe einzulösen.
Sozialraumorientierung in diesem Sinne richtet sich an Standards aus, wie sie von Budde, Früchtel, Hinte u.a. beschrieben werden[vi]:
1) Interesse und Wille der Menschen als Ausgangspunkt
Im Mittelpunkt stehen die Bedürfnisse, der erklärte Wille der Menschen. Sie, die Betroffenen, Beteiligten und Interessierten handeln als Experten und Gestalter. Sie steuern maßgeblich ihre Sicht zur Analyse der konkreten Gegebenheiten, zur Auswertung der Befunde sowie zur Entwicklung von Maßnahmen zur Verbesserung der Situation bei.
2) Eigeninitiative und bürgerschaftliches Engagement als starke Motoren
Die Entwicklung eines Sozialraums ist dann sinnvoll möglich, wenn sie von der Bevölkerung und weiteren Akteuren aktiv getragen wird. Es sind die Menschen selbst, die ein Interesse an ihrem Umfeld entwickeln, die sich für die Verbesserung von Lebensqualität einsetzen und gegen Eingriffe verteidigen. Sie ergreifen die Initiative und helfen sich selbst und anderen. Sie organisieren sich und fordern vor Ort von Wirtschaft, Politik, Verwaltung, Kirchen und Verbänden Unterstützung ein. Aktivierende Arbeit hat Vorrang vor betreuender Tätigkeit.
3) Ressourcen im Sozialraum als Potenziale nutzen
Bei der Sozialraumorientierung werden die unterschiedlichen Ressourcen, die im Sozialraum verfügbar sind, genutzt. Einerseits die Ressourcen der Menschen und andererseits die Ressourcen weiterer Akteure des Sozialraums – etwa die dort vorgefundenen nachbarschaftlichen Beziehungen, sozialen Dienste, Schulen, Unternehmen, Kirchengemeinden oder die gesamte Infrastruktur, wie Bauten, Plätze und Parks sowie die Ressourcen der kommunalen Verwaltung. Probleme und Schwierigkeiten können umso leichter gelöst werden, wenn es gelingt, die Problemlösung in der Alltagswelt und in den sozialen Beziehungen der Menschen zu verankern. Jeder Mensch verfügt über Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten, die dazu beitragen können, die eigene Lebenslage oder auch die Lebenssituation von Mitmenschen zu verbessern. Je nach dem Bewusstsein der Selbstwirksamkeit ist dieses Wissen stärker oder schwächer ausgeprägt.
4) Zielgruppenübergreifender Fokus und Zusammenwirken aller Menschen im
Sozialraum als Potenzial
Sozialräume müssen lebenswert für alle sein. Die Wohnbevölkerung eines Sozialraums ist in der Regel heterogen zusammengesetzt. Selbstverständlich sind aber auch von sozialer Ausgrenzung gekennzeichnete Wohngebiete mit einem hohen Anteil von Menschen mit individuellen Benachteiligungen Orte der Vielfalt. Veränderungen können nur auf langfristige Akzeptanz hoffen, wenn sie von Menschen unabhängig von ihrem Alter, ihrem Geschlecht, ihrer kulturellen Herkunft, ihrem Bildungsstand und ihrer sozialen Lage mitgetragen werden.
Beim sozialraumorientierten Denken weitet sich der Blick vom Einzelfall ins Umfeld und in den Raum aus - vom Spezifischen zum Ganzen, ohne jedoch die Interessen und Bedarfe einzelner Menschen und der Akteure des Sozialraums aus dem Blick zu verlieren. Das Prinzip „Der Fall im Feld“ ist neben dem Grundprinzip vom „ Feld zum Fall“ gleichberechtigt zu berücksichtigen.
5) Bereichs- und sektorenübergreifende Kooperation und Vernetzung als
Erfolgsfaktor
Sozialraumorientierte Arbeit nutzt die Kompetenzen und Ressourcen aller Sektoren und Bereiche, indem sie zwischen ihnen belastbare Kooperations- und Verbundstrukturen aufbaut und pflegt.
2.3 Gebietsbezogene Handlungsstrategien zur Quartiersentwicklung
Die Kommunen stehen vor zentralen Herausforderungen, die eine Fülle neuer Aufgaben mit sich bringen und neue strategische Ansätze fordern. Diese lassen sich etwa festmachen an der Steuerung einer alters- und familiengerechten, inklusiven Quartierentwicklung, an der Weiterentwicklung sozialer Infrastruktureinrichtungen
(wie Kitas zu Familienzentren, Schulen zu Stadtteilschulen, Dezentralisierung und Ambulantisierung von Komplexeinrichtungen), am Aufbau stadtteilbezogener Gesundheitsförderung oder an der Entwicklung lokaler Bildungsnetzwerke. Diese Herausforderungen vervielfachen sich, wenn es um die Stabilisierung und Entwicklung benachteiligter Stadtgebiete geht.
Zentrale Praxisfelder gebietsbezogener Handlungsstrategien zur Quartiersentwicklung sind die Städtebauförderung und die Stadterneuerung. Hierzu existieren verschiedene staatliche Programme - wie etwa die Nationale Stadtentwicklungspolitik, das Bund-Länder-Programm „Soziale Stadt“ oder die Programme Stadtumbau West und Ost. Der Städtebauförderung kommt eine große wirtschaftliche, soziale und kulturelle Bedeutung zu. Gerade in städtischen und ländlichen Räumen mit strukturellen Schwierigkeiten kann sie einen wichtigen Beitrag zur Stabilisierung von Stadtteilen und Quartieren leisten, die für gesellschaftlich und räumlich ausgegrenzte Personengruppen aufwändige Integrationsleistungen zu erbringen haben. Damit trägt die Städtebauförderung zur Attraktivität und Zukunftsfähigkeit der Städte und Gemeinden als Wohn- und Wirtschaftsstandorte bei. Städtebauförderung fördert die Demographie gerechte Gestaltung insbesondere durch den Erhalt und die Schaffung neuer Arbeitsplätze, die verbesserte Ausstattung mit Einrichtungen, die der Gesundheit, Bildung und Integration dienen, der Barrierefreiheit oder der Begrünung des Lebensumfeldes und damit auch Möglichkeiten bürgerschaftlichen Engagements eröffnen.
Stadtquartiere sollen an die Bedürfnisse der Bürgerinnen und Bürger angepasst werden - insbesondere der Familien und älterer Menschen. Sie müssen dazu dauerhaft in die Lage versetzt werden – infrastrukturell, materiell und ideell. Als Schlüsselakteure für die Quartiersentwicklung sind die Bürgerinnen und Bürger, die sozialen Einrichtungen und Dienste, Träger und Netzwerke, die lokale Wirtschaft, die zuständige Kommunalverwaltung und Politik Sozialraum kompetent zu stärken, zu qualifizieren und aufzustellen.
Zu den wesentlichen Kernelementen gebietsbezogener Handlungsstrategien zählen:
(1) Ausarbeitung eines gebietsbezogenen integrierten Entwicklungskonzepts
Das integrierte Entwicklungskonzept ist ein strategisches Planungs- und Steuerungsinstrument der Stadtentwicklung; es beruht auf der ganzheitlichen Betrachtung eines Gebiets (Stadt-/Ortsteil/Dorf). Mit seiner Hilfe können städtebauliche oder sozialräumliche Defizite und Anpassungserfordernisse für einen Stadtteil aufgezeigt und bearbeitet werden aber auch dazu beitragen, die vorhandenen Potenziale in den Gebieten zu stärken. Integrierte Handlungskonzepte sollten über baulich-investive Maßnahmen hinausgehen. Sie haben den Stadtteil als Ganzes mit seinen ökonomischen, sozialen und ökologischen Rahmenbedingungen und Entwicklungen in den Blick zu nehmen und ressortübergreifend die vorhandenen Ressourcen zu bündeln. Sie dienen als Basis für Beteiligungsprozesse im Quartier und sind geeignet, wichtige Partner/innen einzubinden.
(2) Vernetzung und Koordination der lokalen Akteure
Aufbau, Mobilisierung und Beteiligung lokaler Netzwerke/Stadtteilgremien bringen öffentliche und private, wirtschaftlich wie zivilgesellschaftlich engagierte Personen und Einrichtungen zusammen und ermöglichen so eine gemeinsame aktive Zusammenarbeit. Diese ist eine unabdingbare Voraussetzung für integrierte Entwicklungskonzepte.
(3) Ressortübergreifende Bündelung von Fördermitteln
Städtebauförderung im Sinne der Nationalen Stadtentwicklungspolitik hat das Ziel, verschiedene Bundes-, Landes- und kommunale Förderprogramme ressortübergreifend zu bündeln und weitere Ressourcen für die Stadtentwicklung zu aktivieren. Hierzu werden auf kommunaler Ebene und in Verantwortung der Kommune Lenkungskreise eingerichtet, die frühzeitig die Bündelung der Mittel abstimmen und steuern, wodurch eine Effizienzsteigerung erreichbar ist.
(4) Einrichtung eines Stadtteil-/Quartiermanagements
Das Quartiermanagement soll im Stadtteil präsent sein und Bürger/innen darin unterstützen Aktivitäten in ihrem Stadtteil zu initiieren und damit positive Entwicklungen anzustoßen. Es führt die Vielfalt der oft unterschiedlichen Interessen und Bedürfnisse der Bewohner/innen zu gemeinsamen Vorhaben zusammen, fordert Schlüsselpersonen aus Politik, Verwaltung und Wirtschaft zur aktiven Mitwirkung auf und moderiert die Abstimmungsprozesse. Die hierdurch entstehenden Netzwerke und die gemeinsame Herangehensweise an die Lösung von Problemen im Quartier sind das Erfolgsrezept des Quartiermanagements.
(5) Aktivierung und Beteiligung der Bewohner/innen
Soziale Aktivitäten und bürgerschaftliches Engagement finden in den Stadtteilen und Quartieren statt. Der Aufbau förderlicher Rahmenbedingungen stellt eine zentrale aber mitunter schwierige Aufgabe in benachteiligten Stadtteilen dar. Um alle Bevölkerungsgruppen für Entwicklungsprozesse im Stadtteil zu gewinnen, sind differenzierte aktivierende und identifikationsfördernde Strategien, Verfahren und Projekte notwendig. Über Gebietsbeiräte, Bürgernetzwerke, Kooperation mit Migrantenselbstorganisationen u.a.m. lassen sich förderliche Strukturen schaffen. Dabei begünstigt das Arbeitsprinzip der Gemeinwesenarbeit die nachhaltige Entwicklung und Verstetigung zivilgesellschaftlicher Orientierungen.
In der vergleichenden Betrachtung des Fachkonzepts Sozialraumorientierung und der gebietsbezogenen Handlungsstrategien gibt es verschiedene Schnittstellen und Überschneidungen insbesondere in einem „Mehr“ an integrierten Denkweisen und Konzepten, an ressort- und akteursübergreifenden Arbeitsformen, an Lebenswelt- und Stadtteilbezug, an Bewohnerorientierung und deren Beteiligung und ein „Mehr“ an Ressourcenorientierung wie Prävention und Stärkenarbeit.
3. Sozialraum als Ort der Teilhabe und der strategischen Entwick-
lung - Bedeutung und Chancen für die Freie Wohlfahrtspflege
Die Träger der Freien Wohlfahrtspflege sind in den Städten und Gemeinden mit ihren vielfältigen Diensten und Einrichtungen vor Ort präsent. Mit diesen leisten sie in den Stadtteilen und Quartieren einen nachhaltigen Beitrag zur Sicherung einer verlässlichen sozialen Infrastruktur in allen Regionen Deutschlands. Mit ihrer verbandlichen Präsenz in den Regionen, die sich überwiegend bis auf die Ortsebene erstreckt, sind sie in sozialräumliche Kommunikations- und Netzwerkstrukturen eingebunden. Vielerorts prägen die Wohlfahrtsverbände den sozial- und kulturpolitischen Diskurs in den lokalen Gemeinwesen maßgeblich mit.
Freie Wohlfahrtspflege als Zivilgesellschaftlicher Akteur
Die Freie Wohlfahrtspflege ist nicht nur Dienstleister am Individuum unmittelbar vor Ort; vielmehr ist sie durch ihre zivilgesellschaftliche Bindung in sozialräumlich verfasste Strukturen (Kirchen-/ Pfarrgemeinde, Ortsverein/-verband, lokale Initiative, Selbsthilfegruppe etc.) ein wesentlicher Basisakteur. Sie wird in ihrer anwaltlichen und auch intermediären Rolle wahrgenommen für die Verbesserung der sozialen Belange insbesondere von Menschen mit Hilfebedarf und deren lokalen Kontexte.
Die Freie Wohlfahrtspflege arbeitet nicht gewinnorientiert sondern gemeinwohlorientiert. Sie ist den Menschen in ihren spezifischen Lebenslagen sowie Lebenswelten verpflichtet. Sie agiert in den konkreten Sozialräumen, um individuelle und strukturelle Rahmenbedingungen positiv zu verändern. Dieses sozialpolitische Mandat setzt ihre Verankerung in lokalen Politikstrukturen voraus.
Freie Wohlfahrtspflege als Teil des „kommunalen Sozialstaats“
Die Freie Wohlfahrtspflege ist entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip konstitutiver Teil des „kommunalen Sozialstaates“. Entsprechend den Vorgaben der Sozialgesetzbücher gestaltet sie den politischen Fachdiskurs durch Mitarbeit in den entsprechenden Fachgremien (z. B. Jugendhilfeausschüsse, Sozialkommissionen, Begleit-ausschüsse). Die Kooperation der Wohlfahrtspflege mit der Städtebauförderung hat im Vergleich zu anderen Handlungsfeldern nicht überall Tradition. Gerade wenn es um die sozialräumliche Weiterentwicklung von Quartieren geht, kann die Wohlfahrtspflege sich jedoch mit ihrer Kompetenz gezielt einbringen.
Durch ihre örtliche Präsenz prägen die Wohlfahrtsverbände den sozialpolitischen Diskurs und sind als „Träger öffentlicher Belange“ gefragt, insbesondere soziale Belange in Planungs- und Abwägungsprozesse einzubringen. Ihr anwaltliches Mandat für Menschen in besonderen Lebenslagen macht sie unverzichtbar als wichtige Akteure in der allgemeinen und fachbezogenen Sozialplanung auf kommunaler und quartiersbezogener Ebene.
Freie Wohlfahrtspflege als Fachinstanz für soziale und kulturelle Belange
Die Freie Wohlfahrtspflege hat durch ihre ausdifferenzierten fachspezifischen Ansätze ein breites Spektrum an Knowhow, welches für Sozialraumorientierung und integriertes Handeln im Quartier abgerufen werden kann. Durch Fachbereichs- und zielgruppenübergreifendes Handeln in den Stadtteilen und Quartieren bestehen vielfältige Möglichkeiten diese unterschiedlichen Ressourcen zu bündeln und so Synergien zu erzielen. Das erfordert Offenheit bei allen beteiligten Akteuren – der Freien Wohlfahrtspflege aber auch der kommunalen Sozial- und Städtebauverwaltung, der lokalen Wohnungswirtschaft und weiteren Akteuren. Hierdurch kann ein „Mehr“ an integrierten Denkweisen und Konzepten, an ressort- und akteursübergreifenden Arbeitsformen, an Lebensweltorientierung und Stadtteilbezug im Sinne der Menschen entstehen. Für die Freie Wohlfahrtspflege bieten sich dadurch Chancen, einen ganzheitlichen und lebensweltbezogenen Ansatz weiterzuentwickeln.
Vielerorts bringt sich die Freie Wohlfahrtspflege in lokale, sozialraumbezogene Verbundaktivitäten (Stadtteilkonferenzen, quartiersbezogene Runde Tische und Abstimmungskonferenzen etc.) ein oder ist selbst Träger von Gemeinwesenarbeit und Gemeinwesen orientierten Projekten. Häufig übernimmt sie eine Schlüsselrolle indem sie etwa Quartiermanagementverfahren koordiniert (Soziale-Stadt-Standorte).
Freie Wohlfahrtspflege als Akteur in Teilhabeplattformen vor Ort
Durch die Verankerung der Akteure der Freien Wohlfahrtspflege in Vor-Ort-Struk-turen besteht ein großes Potential für die Entwicklung und Einbindung von Partizipationsprozessen und somit zur Schaffung von Teilhabeplattformen in den lokalen Gemeinwesen.
Durch die Mitwirkung von Betroffenen werden lokale Bedarfe erkennbar und können besser umgesetzt werden. Es bieten sich Chancen zur Bereitstellung niederschwelliger Angebote und zur Weiterentwicklung bedarfsgerechter Angebote. Durch aktive Gestaltung von Empowermentprozessen kann die Freie Wohlfahrtspflege lokaler Innovationsmotor sein und lebendige Nachbarschaften befördern.
Hierdurch lässt sich „lokales Kapital für soziale Zwecke“ generieren - Potential zur Eröffnung von Teilhabechancen, zur Organisation von Gemeinschaftsleben, nachbarschaftlicher Unterstützung und bedarfsgerechter Versorgung. Auch bieten sich Chancen zur Umsetzung von Inklusion vor Ort
Freie Wohlfahrtspflege als Bereitsteller von Ressourcen
Trotz eingeschränkter Eigen- bzw. Trägermittel stellt die Freie Wohlfahrtspflege vielerorts die Grundausstattung und Basisstrukturen für lokale Projektarbeit bereit. Durch die Generierung von Sozialkapital, das häufig erst durch die Verknüpfung von Ehrenamt und Hauptamt entsteht, kann Bürgerengagement in Verbands- und Projektarbeit zu einer kontinuierlichen personellen Ressource werden, die in lokale Gemeinwesenstrukturen eingebunden ist.
Auch bieten sich häufig vielfältige Nutzungsmöglichkeiten von in den Quartieren vorhandenen Infrastruktureinrichtungen und Raumangeboten freier Träger. Durch die Öffnung der Einrichtungen in die Sozialräume und soweit möglich deren flexible Nutzung über Zielgruppen und fachliche Zuständigkeiten hinaus entstehen Quartiersanreize, die neues Miteinander ermöglichen und Gemeinwesen bezogene Kooperation fördern können.
Freie Wohlfahrtspflege als Garant zur Sicherung nachhaltiger Strukturen
Durch die fast lückenlose verbandliche Präsenz der Freien Wohlfahrtspflege in den Regionen mit unterschiedlich ausgestatteten, oft aus Eigenmitteln finanzierten Basisstrukturen ist die kontinuierliche Mitgestaltung von Entwicklungsprozessen vor Ort möglich und wird auch praktiziert. Zusammen mit Partnern vor Ort sind sie mancherorts auch federführend bei der lokalen Sozialplanung und Konzeptentwicklung beteiligt. Gleiches gilt auch für Prozesse der Evaluation/Monitoring/Qualitätssicherung. Längerfristig bereitgestelltes Fach-Knowhow ermöglicht nachhaltiges Handeln.
4. Handlungsempfehlungen für die Freie Wohlfahrtspflege
Wenn die Wohlfahrtsverbände in ihrem Handeln das Prinzip der Sozialraumorientierung ernst nehmen wollen, hat dies Auswirkungen auf ihr Selbst- und Handlungsverständnis sowie auf ihre Strukturen und ihr Management:
Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege müssen an ihren vorhandenen Stärken ansetzen und diese ausbauen
Dies bedeutet:
· Im Verständnis der Verbände ist das Wunsch- und Wahlrecht der Menschen der Ausgangspunkt für die angebotenen Dienstleistungen.
· Die Menschen werden mit ihren Interessen, Gruppierungen und Sozialräumen umfänglich in die verbandliche Arbeit vor Ort eingebunden. Gemeinsam mit den Beteiligten werden Bündnisse und Netzwerke aufgebaut und Mittel zur gemeinsamen Verfügung bereitgestellt (z. B. durch Einrichtung lokaler Verfügungsfonds).
· Das Gemeinsame ist mehr als die Summe der Einzelteile. Träger- und Arbeitsfeld übergreifend werden Kompetenzen gebündelt, um Ressourcen zu erschließen und Synergien sozialräumlich zu erkennen und herzustellen.
Um zukunftsfähig zu bleiben, müssen Innovationen gefördert und Neues ausprobiert werden.
· Die Sensorfunktion für die Bedarfe der Menschen im Quartier muss geschärft und aktiv wahrgenommen werden.
· Die intermediäre Rolle der Wohlfahrtsverbände in der Gesellschaft entscheidet sich am Ort der Hilfesuchenden – wie können Hilfen bedarfsorientiert und das Selbsthilfepotenzial der Adressaten stärkend bereitgestellt werden?
· Strukturen und Finanzierungswege der Verbände werden transparent gestaltet, um politisch glaubwürdig zu bleiben und als solches wahrgenommen zu werden.
· Innerverbandliche Interessen werden zugunsten gemeinsamer Ziele und Aktionen zusammengeführt.
· Die politische Lobbyarbeit ist für den Anspruch und für die Belange der Sozialraumorientierung zu organisieren und zu pflegen. Dabei gilt es Handlungsfähigkeit gegenüber der Politik zu entwickeln. Verbände übergreifend sind Kooperationen mit Politik und Verwaltung einzugehen und dies auch bei bestehender Konkurrenz im Handlungsfeld Sozialer Arbeit.
Konzepte der Sozialen Arbeit müssen durch eine Philosophie der offensiven Sozialraumorientierung ergänzt werden
Dies bedeutet:
· Die Sozialraumorientierung ist strategischer Kernbestandteil aller sozialen Aktivitäten. Sie wird als eine Fachperspektive verstanden und in vorhandene bzw. neue Handlungskonzepte integriert.
· Die Menschen und ihre Wohnquartiere sind als Ressourcen zu sehen und ihre Potenziale zielgerichtet in das Grundverständnis und in die Ansätze sozialen Handelns einzubeziehen.
· Zivilgesellschaftliches Engagement muss unterstützt und konstruktiv eingebunden werden - ebenso die Selbstorganisation und Mitbestimmung der Betroffenen.
· Ganzheitlich angelegte Handlungskonzepte führen unterschiedliche Handlungsansätze zusammen; ihre Umsetzung erfolgt im Rahmen integrierter Entwicklungskonzepte auf lokaler Ebene.
· Individuelle Wahlfreiheit in der Nutzung sozialer Dienstleistungen muss gefördert werden.
· Inklusion wird als Grundprinzip sozialen Handelns verstanden.
· Lokale Sozialpolitik geht jeden etwas an. Gestalter und Adressaten der sozialen Dienste übernehmen gemeinsam sozialraumbezogene Verantwortung.
Sozialraumorientierung bietet erweiterte Handlungsperspektiven für die soziale Arbeit
Dies bedeutet:
· Sozialraumorientierung ist ein Mehrwert an sich, der nicht als Einsparinstrument für Kommunalhaushalte und nicht zum Abbau sozialer Infrastruktur geeignet ist und benutzt werden darf.
· Sozialraumorientierung ist eine zukunftsweisende Option; sie kann dem Subsidiaritätsprinzip zu neuer Geltung verhelfen. Die Aufgaben öffentlicher und freier Träger sozialer Arbeit sind durch Partnerschaft und gegenseitiges Vertrauen gekennzeichnet und dem Wohl der Adressaten verpflichtet.
· Sozialraumorientierung ist in ihrer Form als zivilgesellschaftliches Engagement und als Eigeninitiative zur Verbesserung des sozialen Raums immer ergänzend und nicht stellvertretend für hauptamtliche Dienstleistungen zu sehen.
Sozialraumorientierung muss in den eigenen Strukturen der Verbände der Freien Wohlfahrtspflege verankert werden
Dies bedeutet:
· Es gilt eine horizontale und fachbereichsübergreifende Verständigung, Abstimmung und Vernetzung in der eigenen Trägerstruktur zu fördern - jeweils auf lokaler, regionaler und überregionaler Ebene.
Die Handlungsoption Sozialraumorientierung hat die Versäulung der Aufgabenwahrnehmung zu überwinden, arbeitsfeldbezogene Strategien zur Sozialraumorientierung sind zu synchronisieren und Personalentwicklungsstrategien zu entwickeln.
· Träger- und Akteurs übergreifende fachliche Strukturen müssen auf allen Ebenen entwickelt, überprüft und ggfls. neu aufgebaut werden.
· Zur glaubwürdigen Umsetzung einer sozialraumorientierten Handlungsstrategie müssen die Verbände in ihren horizontalen und vertikalen Strukturen Selbstverpflichtungen eingehen.
· Mitarbeiter/innen aus allen Handlungsfeldern und auf allen Trägerebenen müssen für sozialräumliches Denken und Handeln qualifiziert werden. Hierfür werden Ressourcen benötigt.
· Chancen und Risiken der Sozialraumorientierung sind gezielt auszuarbeiten – etwa in Abgrenzung zu Teilhabe, Inklusion, Daseinsvorsorge, Interkulturelle Öffnung oder Gemeinwesenarbeit.
· Finanzielle Investitionen in und Vorleistungen für präventive, fallunspezifische Arbeiten müssen investiert werden – etwa durch Quer- und Mischfinanzierung, Kostenträger, Verfügungsfonds, kommunale (Sozialraum-)Budgets, Förderprogramme.
· Sozialraumorientierung bedarf einer politischen Perspektive mit einem gemeinsamen Ziel und Kooperationspartnern auf unterschiedlichen Ebenen. Ansatzpunkte über nationale Pläne sind hierbei zu nutzen (etwa Nationaler Aktionsplan zur UN-Behindertenrechtskonvention).
Berlin, im März 2015
[i] Vgl. u.a. <link http: www.caritas.de glossare sozialraumorientierung>Deutscher Caritasverband e.V., 2011: Sozialraumorientierung in der Caritasarbeit, in: Neue Caritas 8/2011 und: Solidarität im Gemeinwesen – Eckpunkte zur Sozialraumorientierung in der Caritasarbeit, in: Neue Caritas 11/2013, in: <link http: www.caritas.de glossare sozialraumorientierung>www.caritas.de/glossare/sozialraumorientierung
<link http: www.kirche-findet-stadt.de pdf downloads kfs-dokumentation-2013_web.pdf>Kirche findet Stadt - Kirche als zivilgesellschaftlicher Akteur in sozial-kulturellen und sozial-ökologischen Netzwerken der Stadtentwicklung - ein ökumenisches Kooperationsprojekt, in: <link http: www.kirche-findet-stadt.de pdf downloads kfs-dokumentation-2013_web.pdf>www.kirche-findet-stadt.de/pdf/downloads/KfS-Dokumentation-2013_web.pdf, Februar 2013
[ii] Jamberger, Matthias, 2000: Lebensweltorientierte Jugendliche und das Arbeitsprinzip Sozialraumorientierung, in: Evangelischer Erzieherverband EREV, Jugendhilfe im Sozialraum.
[iii] Beck, Iris, Franz, Daniel; 2007, Sozialraumorientierung in der Behindertenhilfe – Empfehlung und Handlungsansätze für Hilfeplanung und Gemeindeintegration. (DHG Schriften 13) Hamburg/Jülich
[iv] ebd.
[v] Die Auswertung der Umfrage ist unter dem Titel „Fachliche Bedeutung und Mehrwert der Sozialraumorientierung für die einzelnen Arbeitsfelder der BAGFW-Verbände – Ergebnisse einer Befragung“ über die BAGFW-Geschäftsstelle zu beziehen (E-Mail: <link>info@bag-wohlfahrt.de).
[vi] Wolfgang Budde, Frank Früchtel, Wolfgang Hinte (Hrsg.) 2006: Sozialraumorientierung. Wege zu einer veränderten Praxis. VS-Verlag, Wiesbaden
]]>
1. Welches Ziel verfolgt die BAGFW mit einem Bundesteilhabegesetz?
Menschen mit Behinderungen müssen die gleichen Rechte und Wahlmöglichkeiten haben, wie Menschen ohne Behinderungen. Dafür müssen bundeseinheitliche, gesetzliche Regelungen her, die vor Ort echte und volle Teilhabe ermöglichen können. Inklusion ist mit der politischen Aufforderung verbunden, in unserer Gesellschaft Rahmenbedingungen zu schaffen und angemessene Vorkehrungen zu treffen, unter denen alle Bürgerinnen und Bürger ihre volle und wirksame Teilhabe an der Gesellschaft gleichberechtigt und frei von Diskriminierung verwirklichen können.
2. Was sind die wichtigsten Inhalte?[1]
Neudefinition des Behinderungsbegriffs
Eine zukünftige leistungsrechtliche Begriffsdefinition muss den erweiterten sozialen Behinderungsbegriff im Sinne der UN-BRK aufgreifen und die Wechselwirkungen mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren berücksichtigen. Deshalb muss die leistungsrechtliche Definition von Behinderung als auch die Feststellung der Teilhabebeeinträchtigung mindestens auf dem von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) entwickelten Klassifizierungsinstrument, der „Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit“ (ICF), basieren.
Prozesshafte Beratung von Menschen mit Behinderungen [2]
Die Beratungsleistungen müssen kostenlos sein und umfassende Informationen zu Rechtsansprüchen auf Leistungen und deren Finanzierung sowie Informationen zu Assistenz- und Dienstleistungsangeboten beinhalten, um entsprechende Wahl- und Entscheidungsmöglichkeiten für die betreffenden Personen zu eröffnen. Die Beratungsleistungen sind ausschließlich den Interessen der zu beratenden Person verpflichtet und mit entsprechenden Qualitäts- und Fachstandards zu versehen. Die BAGFW fordert eine plurale Beratungsstruktur auf kommunaler Ebene.
Zugang zu Teilhabeleistungen
Das Wunsch- und Wahlrecht von Menschen mit Behinderungen ist im Sinne einer unabhängigen Lebensführung in Anlehnung an den Art. 19 UN-BRK zu stärken. Eine Einschränkung des Wunsch- und Wahlrechts z. B. in Form von gedeckelten Leistungen, Pauschalierungen oder Kostenvorbehaltsregelungen lehnt die BAGFW ab. (Die Angemessenheit von Unterstützungsleistung in Art, Umfang und Qualität muss im Einzelfall ausgehandelt werden). Das Prinzip der individuellen Bedarfsdeckung ist im Rahmen der Weiterentwicklung des Leistungsrechtes beizubehalten. Es darf weder durch eine Altersgrenze noch durch das Ausmaß einer Behinderung begrenzt werden, denn die UN-BRK sieht die volle und wirksame Teilhabe von Menschen mit Behinderungen vor. Das in einem Bundesleistungsgesetz zu verankernde Prinzip des Nachteilsausgleichs ist nicht mehr mit dem in der Sozialhilfe geltenden Bedürftigkeitsprinzip vereinbar. Dies bedeutet, dass weder der Leistungsberechtigte noch sein Ehepartner bzw. eingetragene/r Lebenspartner/-in und/ oder seine Angehörigen mit seinem/ ihrem jeweiligen Einkommen und Vermögen zu den Teilhabeleistungen herangezogen werden können.
Teilhabe am Arbeitsleben
Vor dem Hintergrund von Art. 27 der UN-Behindertenrechtskonvention ist der allgemeine Arbeitsmarkt zu einem inklusiven Arbeitsmarkt weiter zu entwickeln, in dem Menschen mit Behinderungen die für ihre Teilhabe individuell erforderliche Unterstützung erfahren. Dazu müssen u. a. auch Maßnahmen besser nutzbar gemacht und verbessert werden, die im SGB II, SGB III und SGB IX der Arbeitsförderung dienen.
Damit mehr Menschen mit Behinderungen die Möglichkeit erhalten, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu arbeiten, sind arbeitsmarktpolitische Instrumente wie bspw. ein dauerhafter Lohnkostenzuschuss im Sinne eines Nachteilsausgleichs bereit zu stellen, die eine dauerhafte Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ermöglichen. Zudem muss eine ggf. erforderliche, flankierende Unterstützung (Arbeitsassistenz) individuell bedarfsgerecht gewährt werden. Das Persönliche Budget nach § 17 SGB IX ist auch für die Teilhabe am Arbeitsleben vollumfänglich nutzbar zu machen. Dies schließt Leistungen der Budgetberatung und -Assistenz ein. Budgetfähig sollen u. a. alle bisherigen Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben entsprechend § 33 SGB IX sowie die Leistungen an den Arbeitgeber nach § 34 SGB IX sein. Es ist ein Rechtsanspruch auf Leistungen zur Teilhabe an Beruflicher Bildung und am Arbeitsleben unabhängig vom Umfang des Unterstützungsbedarfs sicherzustellen. Dies gilt auch für Menschen mit Behinderungen und komplexem Unterstützungsbedarf.
Für Menschen mit Behinderungen, die bisher in einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) beschäftigt sind, muss der Übergang auf den allgemeinen Arbeitsmarkt ermöglicht werden; jedoch muss auch die Rückkehr in eine WfbM in einem zukünftigen Bundesteilhabegesetz garantiert werden. Es ist außerdem zu gewährleisten, dass bei einem Wechsel von einer WfbM auf den allgemeinen Arbeitsmarkt für den Menschen mit Behinderung keine sozialrechtlichen Nachteile entstehen.
Feststellung des Teilhabebedarfs und Teilhabeplanung
Feststellungsverfahren und Teilhabeplanung bestimmen maßgeblich über gleichwertige Zugangschancen und Lebensverhältnisse von Menschen mit Behinderungen im Rahmen der gesellschaftlichen Teilhabe. Deshalb spricht sich die BAGFW für eine konsequente Stärkung und Umsetzung der Selbstbestimmungs- und Partizipationsrechte von Menschen mit Behinderungen im Verfahren aus. Die BAGFW hält es deshalb für erforderlich, bundeseinheitliche Kriterien bzw. Standards zur Teilhabebedarfsfeststellung und Teilhabeplanung gesetzlich festzulegen
Steuerung und Bedarfsplanung[3]
In der aktuellen Diskussion über Steuerung und Bedarfsplanung wird davon gesprochen, dass die Trägern der Eingliederungshilfe die Möglichkeit bekommen sollen, eine eigene Bedarfsplanung von Leistungsangeboten zur Sicherung einer bedarfsgerechten Leistungserbringung durchzuführen. Das darf nicht dazu führen, dass die Leistungsträger den Leistungserbringern den Abschluss von Versorgungsverträgen mit dem Argument verweigern können, der von ihnen festgestellte Bedarf sei bereits gedeckt. Es muss weiterhin ein offener Marktzutritt gewährt werden. Die Bedarfssteuerung muss auf der individuellen Ebene erfolgen. Eine Bedarfsplanung ist also nicht erforderlich, um den Leistungsträgern eine angemessene Steuerung zu ermöglichen. Soweit Steuerungsdefizite bestehen, müssen diese im sozialrechtlichen Dreiecksverhältnis überwunden werden.
Ausgestaltung der Teilhabeleistungen
Die BAGFW spricht sich für die Beibehaltung des offenen Leistungskatalogs im Bereich der Eingliederungshilfeleistungen aus, um den individuellen Teilhabebedarfen von Menschen mit Behinderungen gerecht zu werden. Weiterhin ist bei der Ausgestaltung der Teilhabeleistungen das Spektrum der Leistungsformen (Geld-, Sach- und/ oder Kombinationsleistungen) beizubehalten, damit Menschen mit Behinderungen zwischen den verschiedenen Leistungsformen auswählen können. Im Rahmen eines flexiblen, offenen Teilhabeleistungskataloges sind Leistungen zur personenbezogenen Teilhabe, Beratungs- und Koordinationsleistungen (Lotsenaufgaben) und sozialräumlich-inklusionsbezogene Leistungen (fallunspezifische Leistungen) vorzuhalten.
Vertrags- und Vergütungsregelungen
In Folge des mit einem Bundesteilhabegesetz verbundenen, möglichen Systemwechsels, kommt es zu einer Trennung der existenzsichernden Leistungen von den Fachleistungen zur Teilhabe. Dies bedeutet, dass bei der Bemessung existenzsichernder Leistungen (Grundsicherung, Hilfe zum Lebensunterhalt) im SGB XII und SGB II die behinderungsspezifischen Bedarfe in Anlehnung an Art. 28 UN-BRK entsprechend zu berücksichtigen sind.
Bei der Vergütungskalkulation von Teilhabeleistungen sind „direkte“ und „indirekte“ Leistungen, Managementaufgaben, Fahrzeiten, Lotsen- und Koordinierungsaufgaben sowie investive Aufwendungen als auch Strukturleistungen verbindlich zu refinanzieren. Neben den individuellen bzw. „personenbezogenen“ Leistungsbestandteilen müssen deshalb sozialraumbezogene Leistungskategorien bei den zukünftigen Vergütungsstrukturen berücksichtigt werden. In jedem Fall ist die Schiedsstellenfähigkeit der Leistungs-, Prüfungs- und Vergütungsvereinbarungen sowie von Rahmenverträgen sicherzustellen.
Wechselwirkungen zu anderen Sozialgesetzen[4]
Die Neukonzeptionierung der Teilhabeleistungen für Menschen mit Behinderungen im Rahmen eines Bundesteilhabegesetzes darf nicht losgelöst betrachtet werden, sondern ist in seinen Aus- bzw. Wechselwirkungen bezüglich der anderen existierenden leistungsrechtlichen Regelungsbereiche des Gesamtsystems zu überprüfen. Die BAGFW unterstützt die Forderung nach einer leistungsrechtlichen Zusammenführung der Leistungen für Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderung im Sozialgesetzbuch VIII („Große Lösung“)
Investitionen in Teilhabe
Auf der Grundlage der vorliegenden Zahlen stellt die BAGFW fest, dass Mehrkosten in Höhe von 1,13 Mrd. Euro entstehen, wenn im Rahmen das Bundesteilhabegesetzes (1) Teilhabeleistungen einkommens- und vermögensunabhängig gewährt werden, (2) eine flächendeckende Beratung umgesetzt wird und (3) die Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben weiterentwickelt werden. Die BAGFW erwartet, dass zusätzlich 1,13 Mrd. Euro zur Verfügung gestellt werden, um das Bundesteilhabegesetz UN-BRK menschenrechtskonform entsprechend umzusetzen. Hinsichtlich der Gegenfinanzierung schlägt die BAGFW vor zu prüfen, ob die Kosten für häusliche Krankenpflege, Behandlungspflege und Pflegeleistungen auch systemkonform von den Krankenkassen und Pflegekassen finanziert werden können. Menschen mit Behinderungen haben als Beitragszahler ein Recht auf den vollen Zugang zu Leistungen der Kranken- und Pflegeversicherung. Dies entspricht im Übrigen auch den Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention. Allein für die Pflegeversicherung sind nach ersten Schätzungen Mehrbelastungen von 1,4 Mrd. Euro zu erwarten. Die Mittel müssten entsprechend aufgestockt werden. Die Aufstockung der Mittel wäre nicht zwingend über eine Belastung der Beitragszahler zu regeln; alternativ wäre auch ein Bundeszuschuss an die Pflegeversicherung in entsprechender Höhe vorstellbar. Bei der Prüfung sind die sozialen Auswirkungen einer Verschiebung von einer Steuer- zu einer Beitragsfinanzierung, die kleine und mittlere Einkommen stärker belastet, zu beachten.
3. Wie wird der Beteiligungsprozess bewertet?
Die BAGFW bewertet den Beteiligungsprozess einerseits als transparentes und gut organisiertes Verfahren. Andererseits bleibt unklar, welche Wirkung und Einfluss die Positionen und Diskussionsergebnisse auf die Schaffung eines Bundesteilhabegesetzes haben.
[1] Vgl. auch BAGFW „Eckpunkte zu einem Bundesleistungsgesetz zur Teilhabe von Menschen mit Behinderungen“. Dezember 2013
[2] Vgl. auch Gemeinsame Positionierung des Deutschen Behindertenrates, der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege und der Fachverbände für Menschen mit Behinderung zur Schaffung eines Bundesteilhabegesetzes. Mai 2014
[3] Vgl. auch BAGFW „Anmerkungen zur Weiterentwicklung des Leistungserbringungsrecht/ Vertragsrecht in SGB XII und SGB IX - Brauchen wir eine Bedarfsplanung in der Eingliederungshilfe?“ Januar 2015
[4] Vgl. auch BAGFW Position „Leistungsrechtliche Zusammenführung der Leistungen für Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderung im Sozialgesetzbuch VIII“. Januar 2015
]]>Für das Investitionspaket sollen 16 Mrd. Euro aus den EU-Strukturfonds sowie 5 Mrd. Euro der Europäischen Investitionsbank (EIB) verwendet werden. Nach Kommissionsberechnungen sollen die 21 Mrd. Euro öffentliche Gelder durch private Investoren zu insgesamt 315 Mrd. Euro Investitionen führen (sog. „Hebeleffekt“). Deutschland, Frankreich und Italien haben bereits Unterstützung in Höhe von zusätzlich jeweils 8 Milliarden Euro zugesagt. Diese sollen aber nicht in den Fonds direkt fließen, sondern Projekte mit Hilfe von nationalen Förderbanken anstoßen. Spanien will auf die gleiche Weise 1,5 Milliarden Euro beisteuern.
Details zur Umsetzung des sog. „Juncker-Plans“ werden in der Verordnung über den Europäischen Fonds für strategische Investitionen (EFSI) festgelegt (siehe <link http: ec.europa.eu priorities jobs-growth-investment plan docs proposal_regulation_efsi_de.pdf external-link-new-window>Kommissionsvorschlag).
Die eingebrachten Änderungsanträge der BAGFW zielen vor allem darauf ab, dass:
- der EFSI zur Erfüllung der Europa 2020 Ziele, insbesondere zur Armutsbekämpfung, beiträgt
- der Einsatz von Mitteln aus den Strukturfonds zum Erreichung der EFSI-Ziele nur unter Berücksichtigung der Zielvorgaben der EU-Kohäsionspolitik möglich ist
- 20 % des EFSI für Investitionen in die Sozialwirtschaft verwendet werden.
Die Mitgliedstaaten haben ihre Investitionslisten bereits veröffentlicht. Dabei handelt es sich in Deutschland vor allem um seit Langem geplante Verkehrsinfrastrukturprojekte. Durch die beigefügten Änderungsanträge könnte erreicht werden, dass die Verordnung verbindliche Investitionen in soziale Projekte vorsieht. Dies würde dann auch dazu führen, dass die Mitgliedstaaten ihre vorgelegten <link http: ec.europa.eu priorities jobs-growth-investment plan docs project-list_part-1_en.pdf external-link-new-window>Investitionslisten anpassen müssten.
Die BAGFW EU-Vertretung verfolgt den weiteren politischen Prozess.
Kontakt:
Malte Lindenthal
Referent für EU-Sozialpolitik
Bundesarbeitsgemeinschaft der
Freien Wohlfahrtspflege e. V. (BAGFW)
EU-Vertretung
Rue de Pascale 4 - 6
B-1040 Bruxelles
Tel.: +32 (0)2 230 55 21
E-Mail: malte.lindenthal@bag-wohlfahrt.de
Vor dem Hintergrund dieser Diskussionen und in Erweiterung ihrer Stellungnahme vom 18.11.2014 schlägt die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege ein anderes System der Zuständigkeit und Kostenerstattung vor, um durch den Auf- und Ausbau von Kompetenzzentren für Schutz, Förderung und Beteiligung der jungen Flüchtlinge die Wahrung ihrer Rechte sicherzustellen.[1]
Die gegenwärtige Situation:
Die Zahlen in Obhut genommener unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge steigen derzeit ebenso wie die Zahl ihrer Anträge auf Asyl.
Diese steigende Zahl unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge ballt sich in einigen Regionen und (Groß-)Städten[2], darunter die drei Stadtstaaten.
Die meisten Kommunen in Deutschland sind allerdings von den aufgeworfenen Problemen der Akutversorgung und längerfristigen Hilfegewährung bisher überhaupt nicht berührt.
Für die betroffenen Kommunen haben die Anforderungen, die sich aus hohen Zahlen unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge ergeben, verschiedene Dimensionen:
- Die Vorhaltung geeigneter Inobhutnahmestellen
- Die Sicherstellung angemessener Anschlusshilfen
- Die Gewährleistung kompetenter Vormundschaften und Ergänzungs-pflegschaften
- Die Erschließung geeigneter Immobilien
- Die Gewinnung von geeigneten Fachkräften
- Die Gewinnung geeigneter Dolmetscher
- Die Schaffung nötiger Ressourcen in den ASD
- Die Bereitstellung geeigneter Schul- und Ausbildungsangebote
und auch:
- Die Aufbringung der für all dies notwendigen Mittel.
Es ist nachvollziehbar, dass diese Anforderungen und Herausforderungen die wenigen Städte, die diese Lasten bisher überwiegend zu tragen haben, teilweise an den Rand ihrer Leistungsfähigkeit bringen können.
Aus der Perspektive der jungen Flüchtlinge kommt es darauf an, dass sie nach oft langen und strapaziösen Fluchtwegen und sehr belastenden Erfahrungen vor und während der Flucht, zunächst einmal ein Willkommen, unmittelbar wirkenden Schutz und die vielfältigen Unterstützungen erhalten, die sie brauchen, um sich in der völlig neuen Lebenssituation sozial, sprachlich, rechtlich und in Bezug auf ihre Herkunft und Zukunft zurecht finden.
Deshalb brauchen diese jungen Menschen Zuverlässigkeit von Schutz, Förderung und Beteiligung und die Chance neue Netzwerkressourcen aufzubauen.
Diese Ziele können aus unserer Sicht nicht erreicht werden, wenn unbegleitete junge Flüchtlinge nach Ankunft möglichst schnell wieder verlegt und auf alle Landkreise nach schematisch-mathematischen Maßstäben verteilt werden.
Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege ist deshalb der Auffassung, dass die Handlungsfähigkeit der Städte, in denen die jungen Flüchtlinge vor allem ankommen, erhalten bzw. wiedergewonnen werden muss. Sie wendet sich aber gegen ein mechanisches Umverteilungssystem der jungen Flüchtlinge zwischen den Ländern und in den Ländern. Aus diesem Grund schlägt sie eine neue sachliche Zuständigkeit für Inobhutnahmen und Anschlusshilfen junger unbegleiteter Flüchtlinge vor.
Das System der grundlegenden Zuständigkeit der örtlichen Träger der Jugendhilfe für die Leistungen und anderen Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe, das mit dem SGB VIII 1989 eingeführt wurde, hat nach wie vor seine Berechtigung. Es beendete die Situation, dass junge Menschen stigmatisiert wurden, um die Zuständigkeit eines anderen Kostenträgers (der Landesjugendämter) zu erreichen.
Aufgrund der geänderten Situation im Hinblick auf die jungen Flüchtlinge, die in großer Zahl in wenigen Städten ankommen, erscheint eine grundsätzliche Verlagerung der sachlichen Zuständigkeit auf den überörtlichen Träger sinnvoll. Das kann durch eine Erweiterung von § 85 Abs. 2 SGB VIII um einen Punkt „11. Die Wahrnehmung anderer Aufgaben und die Gewährung von Leistungen nach diesem Buch für ausländische Kinder und Jugendliche, die unbegleitet nach Deutschland kommen, und deren Personensorge- oder Erziehungsberechtigte sich nicht in Deutschland aufhalten.“ erfolgen.
Die Landesjugendämter haben dann nach § 69 Abs. 4 SGB VIII auch die Möglichkeit, zur Durchführung dieser Aufgabe gemeinsame Einrichtungen und Dienste zu errichten – etwa die Stadtstaaten mit dem Umland eines Flächenstaates. Zur Schaffung der Kompetenzzentren müssen die überörtlichen Träger dann mit einigen örtlichen Trägern Leistungs- und Entgeltvereinbarungen treffen, die neben den Kosten für die unmittelbaren Maßnahmen auch die Kosten für die oben beschriebenen notwendigen Dimensionen eines Kompetenzzentrums umfassen.
Zugleich muss ein bundesweites System eines fairen – d.h. insbesondere eben auch die Overhead- und Infrastrukturkosten berücksichtigenden - Ausgleichs der finanziellen Belastungen der überörtlichen Träger zwischen Bund und Länderngeschaffen werden, das an die Stelle der bisherigen komplizierten und im Ergebnis völlig unbefriedigenden Kostenerstattungsregelungen des § 89 d SGB VIII treten muss.
Die Landesjugendämter können dann regionale Kompetenzzentren schaffen, die die notwendige Infrastruktur für die Gewährleistung der Schutz-, Förderungs- und Beteiligungsrechte der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge gemäß den Anforderungen der UN-Kinderrechtskonvention und den Standards des SGB VIII gewährleisten.
Durch eine solche Regelung kann vermieden werden, dass die jungen Menschen auf einen der über 600 Jugendamtsbezirke verteilt werden, von denen die weit überwiegende Mehrheit bisher keinerlei Erfahrungen im Umgang mit jungen unbegleiteten Flüchtlingen und ihren Bedürfnissen und Bedarfen haben.
Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege sieht es als dringend geboten an, dass alle Beteiligten diesen Vorschlag ernsthaft prüfen und über seine Umsetzbarkeit diskutieren. Sie behält sich selbstverständlich vor, sich im weiteren Prozess differenziert zu anderen Themen und Problemen zu positionieren.
[1] „Stellungnahme der BAGFW zum Gesetzesantrag des Freistaates Bayern (Bundesratsdrucksache 443/14) und zum Antrag des Freistaates Bayern (Bundesratsdrucksache 444/14) vom 30.09.2014“
[2] 2013 waren die zugangsstärksten Städte: Köln (559), Frankfurt/M. (553), Berlin (491), Hamburg (485), München (461), Gießen (256), Düsseldorf (221), Bremen (210) und Saarbrücken (210)
]]>Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege e. V. (BAGFW) begrüßt, dass das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) die partnerschaftliche Einbeziehung der Wohlfahrtsverbände im Rahmen des Europäischen Semesters kontinuierlich fortsetzt. Gerne nutzt die BAGFW die Gelegenheit für eine gemeinsame Stellungnahme zum vorgelegten NRP-Entwurf 2015. Sie weist jedoch wiederholt darauf hin, dass die Fristsetzung im Hinblick auf eine ausreichende Beteiligung der Zivilgesellschaft, von der in Ziffer 118 des NRP-Entwurfes die Rede ist, zu knapp bemessen ist. Der für den 19. Februar 2015 angekündigte Entwurf des NRP wurde mit einer Rückmeldefrist bis zum 03. März 2015 erst am 23. Februar versandt. Die BAGFW verweist in diesem Zusammenhang sowohl auf ihre Stellungnahmen zum Entwurf des Nationalen Reformprogramms 2014 und zum Entwurf des Nationalen Sozialberichts 2015 als auch auf die Anmerkungen und Hinweise der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege e.V. (BAGFW) zur Fortschreibung des Nationalen Sozialberichts 2015.
Im Folgenden nimmt die BAGFW zur Umsetzung der sozialpolitischen Ziele der Strategie Europa 2020 im Entwurf des Nationalen Reformprogramms 2015 Stellung.
Wir gehen dabei insbesondere auf die drei sozialpolitischen Kernziele
- Beschäftigung fördern
- Bildungsniveau verbessern
- Soziale Eingliederung vor allem durch die Verringerung von Armut fördern
und die länderspezifischen Empfehlungen des Rates zum NRP Deutschlands 2014 ein.
Da die Ausführungen im Entwurf des NRP 2015 zum „Wettbewerb im Dienstleistungssektor und öffentlichen Auftragswesen“ die Freie Wohlfahrtspflege in Deutschland betreffen, nimmt die BAGFW ebenfalls dazu Stellung.
1. „Europa 2020-Strategie: Erzielte Fortschritte und Maßnahmen“ „Beschäftigung fördern – Nationaler Beschäftigungsplan“
(Ziffern 77 - 81)
Bewertung:
Deutschland (DE) hat sich in seinem NRP zu den drei sozialpolitischen EU 2020-Kernzielen mit den folgenden nationalen Indikatoren (abweichend von den EU-weiten Indikatoren) verpflichtet:
- Erwerbstätigenquote für 20- bis 64-Jährige: 77%
- Erwerbstätigenquote für Ältere zwischen 55 und 64 Jahren: 60%
- Erwerbstätigenquote für Frauen: 73%
Alle drei Indikatoren hat DE im 3. Quartal 2014 (über-)erfüllt.
Die Sozialwirtschaft kann aufgrund des demografischen Wandels und dem zusätzlichen Bedarf an Personal zur Stabilisierung der Erwerbstätigenquote einen signifikanten Beitrag erbringen. Für die weitere Steigerung der Erwerbstätigenquote der Frauen ist es wichtig, dass die Angebote zur Bildung, Erziehung und Betreuung für Kinder in der Fläche ausreichend und qualitätsgerecht ausgebaut werden.
Die BAGFW regt für das NRP 2015 an, die beruflichen Förderangebote für Frauen weiter zu entwickeln, indem auch das Angebot für Teilzeit-qualifizierungen ausgebaut wird.
In den länderspezifischen Empfehlungen 2014 wird u. a. empfohlen, dass Deutschland:
- die Vermittelbarkeit von Arbeitnehmern verbessert, indem das Bildungsniveau benachteiligter Gruppen weiter erhöht wird und auf dem Arbeitsmarkt ehrgeizigere Aktivierungs- und Wiedereingliederungsmaßnahmen durchgeführt werden, insbesondere für Langzeitarbeitslose; …
- die Umwandlung von Minijobs in voll sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsformen erleichtert;
- regionale Engpässe bei der Verfügbarkeit von ganztägigen Kinderbetreuungseinrichtungen und Ganztagsschulen in Angriff nimmt und gleichzeitig deren allgemeine Bildungsqualität verbessert (s. dazu (2014/C 247/23).
Das Arbeitspapier der KOM zu den länderspezifischen Empfehlungen konstatiert bisher nur begrenzte Fortschritte bei der Integration von Langzeitarbeitslosen in den Arbeitsmarkt und bei der Anhebung des Bildungsniveaus benachteiligter Gruppen (s. dazu SWD (2014), 406 final).
Rund 1 Mio. oder 38,6% der offiziell gemeldeten Arbeitslosen in Deutschland im Oktober 2014 waren nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit langzeitarbeitslos und hatten damit deutlich geringere Chancen auf eine dauerhafte Integration in den Arbeitsmarkt als kurzzeitig Arbeitslose. Aufgrund der insgesamt sinkenden Arbeitslosenzahlen steigt damit der prozentuale Anteil der Langzeitarbeitslosenzahlen. In absoluten Zahlen ist nur ein geringer Rückgang der Zahl der Langzeitarbeitslosen zu verzeichnen, wobei der Anteil der Arbeitslosen, die seit 24 Monaten oder länger arbeitslos sind, signifikant steigt. Besondere Risikofaktoren sind insbesondere höheres Alter (55+) und eine fehlende Berufsausbildung. Langzeitarbeitslose mit vier und mehr sogenannten Vermittlungshemmnissen haben derzeit kaum eine Chance auf eine Arbeitsmarktintegration. Langzeitarbeitslose sind vom rückläufigen Einsatz arbeitsmarktpolitischer Instrumente besonders betroffen. Nach Angaben aus dem Eingliederungsbericht 2013 der Bundesagentur für Arbeit waren sie nur mit einem Anteil von 18 % an Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik beteiligt.
Die Problematik des Ausmaßes des verfestigten Langzeitleistungsbezugs in der Grundsicherung für Arbeitsuchende bleibt im NRP weitgehend unerwähnt, obwohl die damit verbundenen Probleme im Berichtszeitraum bundespolitisch und in der Öffentlichkeit intensiv diskutiert worden sind. Im Arbeitsdokument der Europäischen Kommission zum Länderbericht Deutschland 2015 wird auf das besorgniserregende Problem der Langzeitarbeitslosigkeit in Deutschland verwiesen: „While the unemployment rate is overall low (5.0 % in 2014), it exceeds 10 % in several federal states and long-term unemployment is an increasing concern.“ (s. SWD(2015) 25 final, S. 63) … „Long-term unemployment is an icreasing concern and it is still at a high level.“ (s. SWD(2015) 25 final, S. 64) Ganz unbestritten gibt es nach wie vor eine strukturelle Arbeitslosigkeit. Als erwerbsfähig gelten derzeit über 3 Millionen Langzeit-Leistungsbeziehende. Die Hälfte von diesen lebt mit weiteren Personen, die nicht erwerbsfähig sind (zu 95 Prozent Kinder) in Bedarfsgemeinschaften. Besonders kritisch ist auch der Umstand zu werten, dass Ende 2012 zwei Drittel der mehr als 4 Mio. erwerbsfähigen Leistungsberechtigten bereits über zwei Jahre im Leistungsbezug waren; jede(r) vierte sogar durchgängig seit 2005.
Die BAGFW spricht sich dafür aus, die schwerpunktmäßige Ausrichtung der Arbeitsmarktförderung auf Personen und Förderleistungen mit großer Arbeitsmarktnähe aufzugeben und Langzeitleistungsbeziehern und ihren Familien deutlich mehr Förderung anzubieten.
Um langfristige Arbeitslosigkeit und Armut zu überwinden, müssen Eingliederungsinstrumente zur Verfügung stehen, die für die Förderung der Beschäftigung arbeitsmarktferner Menschen auch wirksam genutzt werden können. Die BAGFW regt langfristige, gezielte und kleinschrittige Hilfen für Menschen mit mehrfachen Vermittlungshemmnissen an. Die BAGFW stimmt der Europäischen Kommission in der Bewertung des NRP 2014 zu, dass das im Entwurf des NRP 2015 erneut aufgeführte ESF-Programm zur Wiedereingliederung von 30.000 Langzeitarbeitslosen in den Arbeitsmarkt und einige Maßnahmen für junge Menschen weiterer nationaler Anstrengungen bedürfen.
Für einen Teil derjenigen Menschen, die trotz intensiver Förderung ohne Chance auf Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt sind, sollen über öffentlich geförderte sozialversicherungspflichtige Beschäftigungs-angebote Möglichkeiten der sozialen Teilhabe eröffnet werden (s. dazu auch die Ausführungen zum Thema ‚Soziale Eingliederung vor allem durch Armutsbekämpfung fördern‘). Vor dem Hintergrund der verfestigten und hohen Langzeitarbeitslosigkeit und des andauernden Hilfebezugs im SGB II sieht die BAGFW die Initiative der Bundesarbeitsministerin „Chancen eröffnen – soziale Teilhabe sichern“ positiv. Die Verbände loben ausdrücklich das Vorhaben, ein Angebot zur sozialen Teilhabe durch Erwerbsarbeit für ansonsten vom ‚Arbeitsmarkt ausgeschlossene Personen mit öffentlich geförderter sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung zu unterbreiten. Das Programm kann dazu ein erster wichtiger Schritt sein. Da die tatsächlichen Unterstützungsbedarfe weit über die angedachte Förderung von 10.000 Personen hinausgehen, fordert die BAGFW zusätzliche Mittel bereitzustellen und das Programm mit einer Erprobung des sog. Aktiv-Passiv-Transfers (PAT) zu verknüpfen.
In den länderspezifischen Empfehlungen 2014 hat der Rat der EU erneut empfohlen, die Umwandlung von Minijobs in voll sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsformen zu erleichtern. Atypische Beschäftigung in Deutschland existiert jedoch trotz eines leichten Rückgangs weiterhin auf einem hohen Niveau. Dazu zählen Minijobber, Zeitarbeiter, befristet Beschäftigte und Teilzeitarbeiter.
Die BAGFW empfiehlt, sich im NRP 2015 gezielter mit dem Thema atypische Beschäftigung auseinanderzusetzen.
2. „Bessere Willkommens- und Bleibekultur in Deutschland“
(Ziffer 84 des vorgelegten NRP-Entwurfes 2015)
Eine Erhöhung der Erwerbstätigenquote in Deutschland wird aufgrund der Wirtschafts- und Finanzkrise auch durch eine zunehmende Zuwanderung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern aus dem EU-Ausland erreicht, die durch das Recht auf Freizügigkeit ermöglicht wird.
Der Wanderungssaldo bleibt wie in den Vorjahren auf hohem Niveau (s. Statistisches Bundesamt, Statistische Wochenberichte, Stand: 20.02.2015 und Entwurf NRP 2015, S. 6).
Die BAGFW zählt die Mobilität der EU-Bürger/innen zu den großen Errungenschaften der EU.
Dieses Recht darf nicht einfach in Frage gestellt werden, wenn Bürgerinnen und Bürger aus EU-Mitgliedsstaaten, die sich in der Krise befinden, es aktiv nutzen, um ihre soziale Situation und Zugangsmöglichkeiten zum Arbeitsmarkt zu verbessern.
Auch sie müssen eine Chance auf dem gesamten Europäischen Arbeitsmarkt erhalten. Wanderungen auch von mittellosen EU-Bürger/innen sind logischer Bestandteil der Personenfreizügigkeit. Alles andere wäre eine unzulässige Diskriminierung von in Armut Lebenden und mit dem europäischen Gedanken nicht vereinbar.
Die von der Bundesregierung verfolgte Strategie zur Stärkung der Willkommens- und Bleibekultur hat sich deshalb an alle Menschen, die nach Deutschland zuwandern, zu richten.
3. „D. Bildungsniveau verbessern“
(Ziffern 100 - 101)
Bewertung:
Deutschland hat sich in seinem NRP zum Erreichen des folgenden EU-weiten Indikators verpflichtet:
- Bildungsniveau verbessern, insbesondere den Anteil der frühzeitigen Schul- und Ausbildungsabgänger auf unter 10% senken
Obwohl der Anteil der frühzeitigen Schul- und Ausbildungsabgänger 2013 mit 9,9 Prozent insgesamt unter der Zielmarke von 10 Prozent lag, gibt es signifikante regionale Unterschiede. Außerdem stellt die Europäische Kommission in der Begleitunterlage zur Empfehlung für eine Empfehlung des Rates fest: „Deutschland konnte bei der Anhebung des Bildungsniveaus benachteiligter Gruppen einige Fortschritte verzeichnen, doch der Bildungserfolg ist nach wie vor stark von der sozioökonomischen Herkunft abhängig. Die sozial bedingte Bildungsbenachteiligung hat im letzten Jahrzehnt abgenommen, bleibt aber signifikant, insbesondere bei Menschen mit Migrationshintergrund.“ (s. SWD(2014) 406 final, S. 22)
In den Erhebungen der Statistischen Ämter des Bundes und der Länder auf Basis des Mikrozensus 2013 wird festgestellt, dass der Anteil der Jugendlichen ohne Hauptschulabschluss in Ostdeutschland fast doppelt so hoch ausfällt wie in Westdeutschland. Hier besucht auch ein weitaus höherer Anteil der Schüler/innen als in Westdeutschland eine Förderschule und erwirbt dort häufig höchstens einen Förderabschluss. Betrachtet man hingegen den Anteil der frühen Schul- und Ausbildungsabgänger/innen, also den EU-2020 Leitindikator, zeigt sich das umgekehrte Bild. Dies liegt vor allem daran, dass in Westdeutschland weniger junge Menschen einen beruflichen Abschluss erwerben als in Ostdeutschland. Der Caritas-Studie “Bildungschancen vor Ort“ aus dem Jahr 2014 zufolge ist die Quote der Schulabgänger/innen ohne Hauptschulabschluss zwar deutschlandweit von rund 7% im Jahr 2009 auf rund 6% im Jahr 2012 gesunken. Es bestehen aber starke regionale Streuungen der Quoten: zwischen 4,6 % in Bayern und 11,1 % in Sachsen-Anhalt (s. dazu <link http: www.caritas.de bildungschancen>www.caritas.de/bildungschancen), (s. auch „Bildung in Deutschland 2014“).
Außerdem besteht nach wie vor ein negativer Zusammenhang zwischen der sozialen Herkunft und dem Bildungserfolg: je geringer die sozialen Ressourcen eines Kindes oder Jugendlichen sind, desto höher ist das Risiko des Scheiterns im Bildungssystem.
Die BAGFW sieht hier weiterhin großen Handlungsbedarf. Kinder und Jugendliche brauchen eine gezielte Förderung in einer chancengerechten Schule, die flexibel, individuell, inklusiv und ganzheitlich Kinder begleitet und die Kooperation mit Eltern und Bezugspersonen pflegt. Kinder und Jugendliche mit multiplen Problemlagen brauchen eine niedrigschwellige Förderung, in deren Rahmen Angebote zur Förderung von Lern- und Leistungskompetenzen mit Maßnahmen zur Überwindung persönlicher und sozialer Problemlagen kombiniert werden. Hier haben sich Angebote der Schulsozialarbeit als besonders wirksam erwiesen, um insbesondere junge Menschen in sozial benachteiligten Lebenslagen frühzeitig zu erreichen.
Die BAGFW erachtet noch stärkere Anstrengungen für notwendig, um den Zusammenhang von Bildung und sozialer Herkunft zu durchbrechen. Diese Ansicht steht auch in Einklang mit den länderspezifischen Empfehlungen, die die Anhebung des Bildungsniveaus benachteiligter Bevölkerungsgruppen anmahnt, indem vor allem die Chancengleichheit im allgemeinen und beruflichen Bildungssystem sichergestellt wird. Diese Anstrengungen sollten auch vor dem Hintergrund “Nutzung des vollen Arbeitskräftepotenzials“ ihren Niederschlag im NRP 2015 (s. Ziffer 50 im Entwurf NRP 2015, S. 21) finden.
Der Rat der Europäischen Union empfiehlt, „dass Deutschland regionale Engpässe bei der Verfügbarkeit von ganztägigen Kinderbetreuungseinrichtungen und Ganztagsschulen in Angriff nimmt und gleichzeitig deren allgemeine Bildungsqualität verbessert“. Die BAGFW greift diese Empfehlung auf und fordert von der Bundesregierung, dieser Empfehlung im NRP 2015 mehr Bedeutung beizumessen und die Anstrengungen zu verstärken (s. (2014/C 247/23).
Die Europäische Kommission stellt in der Begleitunterlage zur Empfehlung für eine Empfehlung des Rates fest, dass beim Anteil der Kinder unter drei Jahren, die Betreuungseinrichtungen besuchen, Deutschland weder die Barcelona- noch die nationalen Ziele erreicht hat. „Während die Anzahl der Kinderbetreuungseinrichtungen rasch gewachsen ist, sollte auch ihre Qualität verbessert werden, etwa durch einen besseren Betreuungsschlüssel, die Anhebung des Qualifikationsniveaus des Personals und verlängerte Öffnungszeiten.“ (s. SWD(2014) 406 final, S. 22) Vergleichbares gilt für den Ausbau und die Qualität der Ganztagsschulen.
4. „Soziale Eingliederung vor allem durch die Verringerung von Armut fördern“
(Ziffern 102 – 107)
Bewertung:
Deutschland hat sich in seinem NRP dem folgenden nationalen Indikator verpflichtet:
- Anzahl der Langzeitarbeitslosen bis 2020 um 20% gegenüber 2008 verringern
Laut dem NRP-Entwurf 2015 hat sich die Zahl der Langzeitarbeitslosen zwischen 2008 und dem dritten Quartal 2014 um 44 % verringert, d.h. der national gesetzte Indikator wurde bereits erreicht.
Der absolute Rückgang der Langzeiterwerbslosigkeit ist zwar positiv zu sehen, jedoch nicht deckungsgleich mit der Reduzierung von Armutsrisiken in Deutschland.
Sorge bereitet die Entwicklung des Armutsrisikos. Gesamtwirtschaftlicher Erfolg und die Zunahme privaten Reichtums führen nicht mehr dazu, dass das Armutsrisiko in Deutschland geringer wird; sondern das Armutsrisiko und Ungleichheit nehmen zu. Der Ausschuss für Sozialschutz hat den Nationalstaaten zur Erstellung ihrer Strategischen Sozialberichterstattung empfohlen, Daten zur sozialen Situation heranzuziehen, die aktueller als die der EU-SILC sind. Nach der Auswertung des Mikrozensus ergibt sich dieses Bild: Die Armutsrisikoquote ist seit dem Jahr 2006 – mit Unterbrechungen in den Jahren 2010 und 2012 auf einen Wert von 15,5 Prozent im Jahr 2013 angestiegen. Rund 12,5 Millionen Menschen waren damit in diesem Jahr in Deutschland vom Risiko der Einkommensarmut betroffen. Dabei haben sich die Arbeitslosenzahlen und Armutsrisikoquoten in ihrer Entwicklung nicht nur abgekoppelt, sondern sich entgegengesetzt entwickelt. Während die Armutsrisikoquote seit 2006 relativ kontinuierlich um 10,7 Prozent angestiegen ist – von 14 Prozent auf 15,5 Prozent – ist die Arbeitslosenquote mit Ausnahme des Krisenjahres 2009 ebenso kontinuierlich um 36,1 Prozent (von 10,8 Prozent auf 6,9 Prozent) gesunken.
Die Bundesregierung erklärt, dass die Altersarmut trotz eines leichten Anstiegs in den letzten Jahren nach wie vor klein sei und kein verbreitetes Problem darstellt. Die BAGFW weist darauf hin, dass die 65-Jährigen und Älteren in 2013 mit einer Quote von 14,3 Prozent noch genauso unterdurchschnittlich vom Armutsrisiko betroffen waren wie die Gruppe der Rentner und Pensionäre mit einer Armutsrisikoquote von 15,2 Prozent. Allerdings gibt es starke Zuwächse seit 2006. Seitdem nahm das Armutsrisiko unter den 65-jährigen und Älteren um 37,5 Prozent und das der Rentner und Pensionäre um sogar 47 Prozent zu. Dabei ist die Armutsrisikoquote von Frauen im Seniorenalter um einige Prozentpunkte höher als die von Männern. Sie sind überdurchschnittlich von Armut bedroht. Es gibt derzeit keinerlei Anzeichen dafür, dass dieser Trend gestoppt wird. Die BAGFW merkt kritisch an, dass im vorliegenden Bericht keine Pläne der Bundesregierung zur Bekämpfung von Altersarmut dargestellt werden.
Angesichts dieser Lagebeschreibung fordert die BAGFW die deutsche Bundesregierung dazu auf, im Bereich der Armutsbekämpfung ihre Aktivitäten neu auszurichten, um eine umfassende Bekämpfung der zunehmenden Armutsgefährdung von Personen zu gewährleisten.
Die BAGFW regt an, dass neben dem national gewählten Armutsindikator: niedrige Erwerbsbeteiligung (gemessen am Prozentsatz von Menschen, die in einem Haushalt mit sehr geringer Erwerbsbeteiligung leben) die beiden anderen Indikatoren: die relative Einkommensarmut (gemessen wie bisher an der sog. Armutsgefährdungsrate) und die materielle Armut (gemessen am Index der materiellen Deprivation) bei der Ausrichtung einer umfassenden Armutsbekämpfungsstrategie berücksichtigt werden.
Zur Armutsbekämpfung hilft aber eine primär an kurzfristigen arbeitsmarktpolitischen Zielen ausgerichtete Sozialpolitik nicht weiter. Der langfristige Bezug von SGB-II-Leistungen erklärt sich nicht allein aus Arbeitslosigkeit, sondern auch aus Sachverhalten wie Teilzeitarbeit und niedrigen Löhnen (rund 1,2 Millionen Aufstockende im SGB II). Das Arbeitseinkommen und/oder dem SGB II vorgelagerte familienpolitische Leistungen reichen oft nicht aus, um den Leistungsbezug zu verhindern (600.000 Alleinerziehende und über 1,5 Millionen Kinder beziehen SGB-II-Leistungen).
Nach Berechnungen der Bundesagentur für Arbeit im Methodenbericht aus dem Juni 2013 bezogen 18,5 % der erwerbsfähigen Bevölkerung in den Jahren 2008 bis 2011 dauerhaft oder zeitweilig Leistungen nach dem SGB II. Trotzdem galten nur 1/3 der Leistungsbeziehenden im SGB II als arbeitslos. Teilnehmende an Maßnahmen, Zuverdienende, ältere Erwerbslose und weitere Personengruppen werden in der Arbeitslosenstatistik nicht mitgezählt. Maßnahmen zur nachhaltigen Verbesserung der sozialen Situation von Langzeit-Leistungsbeziehenden müssen mit einer Stärkung der dem Grundsicherungsbezug vorgelagerten Systeme einhergehen. Die BAGFW schlägt vor, weitere sozialpolitische Schwerpunkte zu setzen.
Die Wohlfahrtsverbände begrüßen die Einrichtung des Europäischen Hilfsfonds‘ für die am stärksten benachteiligten Personen (EHAP) und die partnerschaftliche Zusammenarbeit mit der Freien Wohlfahrtspflege bei seiner Ausgestaltung. Der Hilfsfonds ist auf die Zielgruppen EU-Zuwanderer, deren Kinder im Vorschulalter sowie auf Wohnungslose fokussiert. Die BAGFW hat sich dafür eingesetzt, dass darüber hinaus weitere benachteiligte nationale Zielgruppen, wie z.B. Suchterkrankte oder Straffällige jetzt oder zukünftig in einem solchen Programm zu berücksichtigen sind.
In Ziffer 107 des NRP-Entwurfes wird auf weitere Maßnahmen der Bundesregierung zur sozialen Eingliederung und der Bekämpfung von Armut auf den NSB 2015 verwiesen, der aber als Teil der Offenen Methode der Koordinierung zu verstehen ist und keine verbindlichen Auswirkungen auf die nationale Strategie zur Armutsreduzierung in Deutschland hat.
Die BAGFW spricht sich dafür aus, dass die Armutspolitik im NRP weiter behandelt wird und Ansätze einer umfassenden Strategie der Armutsverringerung für betroffene Zielgruppen entwickelt werden und verweist ihrerseits auf die Stellungnahme der BAGFW zum Entwurf des NSB 2015.
5. „Wettbewerb im Dienstleistungssektor und öffentliches Auftragswesen“
(Ziffern 65 – 68)
Die Bundesregierung bekennt sich zu dem Anliegen, den Binnenmarkt für Dienstleistungen zu stärken und sie betont darüber hinaus die Notwendigkeit, gerechtfertigte und verhältnismäßige Regulierungen zu ergreifen, die z.B. die Qualität einer Dienstleistung, die Bereitstellung von Ausbildungsplätzen oder soziale und gesundheitspolitische Zwecke sichern. Im Zusammenhang mit dem öffentlichen Auftragswesen wird auf die Umsetzung der neuen EU-Vergaberichtlinien in nationales Recht verweisen.
Zur Umsetzung der EU-Vergaberichtlinien in nationales Recht zur Vergabe von sozialen Dienstleistungen hat das Bundeswirtschaftsministerium die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege frühzeitig in einen intensiven und sehr konstruktiv verlaufenden Diskussionsprozess einbezogen. Die Wohlfahrtsverbände haben dabei deutlich gemacht, dass dringend Verbesserungen bei der der Vergabe von sozialen Dienstleistungen, insbesondere Arbeitsmarktdienstleistungen, nötig sind.
• Die Wohlfahrtsverbände werben insbesondere dafür, gesonderte Vergaberegelungen für die Maßnahmen der Arbeitsförderung zu schaffen, denn sie haben als personenbezogene Dienstleistungen einen anderen Charakter als z.B. die im Vergabeverfahren beschafften Baumaßnahmen oder Fahrgastzüge. Auch die EU erkennt sowohl die Besonderheit von sozialen Dienstleistungen als auch die Notwendigkeit an, bei der Ausschreibung solcher Dienstleistungen das ansonsten streng formale Vergaberechtsregime zu modifizieren. Artikel 76 RL 2014/24/EU konkretisiert dies und verpflichtet in Absatz 1 die Mitgliedsstaaten dazu, das Vergaberecht für die Ausschreibung von Sozialleistungen – soweit diese überhaupt stattfinden sollen – entsprechend dem besonderen Charakter dieser Dienstleistungen zu modifizieren.
• Die unterschiedlichen Verfahrensarten des Vergaberechts sollen zukünftig gleichberechtigt nebeneinander stehen und von den Vergabestellen flexibel eingesetzt werden, um bedarfsgerecht Maßnahmen bereitzustellen. Das dialogische Verfahren soll neu eingeführt werden als Möglichkeit, besonders innovative oder zielgruppenspezifische Maßnahmen kreieren und sie gemeinsam zwischen Jobcentern/bzw. Arbeitsagenturen und Trägern der Arbeitsförderung entwickeln zu können. Der Anwendungsbereich des nicht offenen Verfahrens sollte eröffnet werden, um kurzfristig auftretende bzw. bekannt gewordene Bedarfe der Nutzerinnen und Nutzer zu decken. Das nicht offene Verfahren kann zudem die Möglichkeit eröffnen, eine qualitative Vorauswahl von Bietern/Angeboten im Wettbewerb vorzunehmen.
• Im Vergabeverfahren müssen angemessene Löhne der Mitarbeiter/-innen zukünftig Berücksichtigung finden und maßgeblich sein.
• Die Vergaben müssen zukünftig auf langfristige Rahmenverträge mit den Anbietern abzielen, damit Qualität durch Kontinuität geschaffen werden kann.
• Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege plädiert außerdem dafür, die Möglichkeiten des Art. 20 RL 2014/24/EU besonders aufzugreifen, mit dem eine bevorzugte Auftragsvergabe an Unternehmen zum Zweck der Beschäftigung von benachteiligten Zielgruppen möglich wird. Die bevorzugte Auftragsvergabe an diese Unternehmen trägt dem Anliegen der EU-Richtlinie Rechnung, die soziale und berufliche Eingliederung für unterschiedliche Personenkreise, die am Arbeitsmarkt und in der Gesellschaft benachteiligt sind, zu befördern. Über die Werkstätten für Menschen mit Behinderungen hinausgehend sollen entsprechende Regelungen im deutschen Vergaberecht auch für Integrationsbetriebe und Sozialunternehmen zur Beschäftigung von benachteiligten Personengruppen gelten.
• Bei der Umsetzung der Richtlinie in das deutsche Recht muss nicht zuletzt beachtet werden, dass die Erbringung sozialer Dienstleistungen in Deutschland ganz überwiegend im Rahmen des sozialrechtlichen Dreiecksverhältnisses und damit außerhalb der öffentlichen Auftragsvergabe erfolgt. Der Wettbewerb erfolgt hier über das Wunsch- und Wahlrecht der Leistungsberechtigten. Das sozialrechtliche Dreieck aus Leistungsträger, Leistungserbringer und Leistungsberechtigtem ist eine tragende Säule der sozialen Sicherung, denn es verbindet die staatliche Verantwortung für die Erbringung sozialer Dienstleistungen mit weitgehenden Wahlrechten für die Hilfebedürftigen und Gestaltungsrechten für die freien Träger. Das europäische Vergaberecht stellt es den Mitgliedstaaten im Übrigen frei, soziale Dienstleistungen in einer Weise zu organisieren, die nicht mit der Vergabe öffentlicher Aufträge verbunden ist. Dass die mitgliedstaatlichen Systeme der sozialen Sicherheit grundsätzlich nicht angetastet werden sollen, ist in Art. 1 Abs. 5 und im Erwägungsgrund (114) der Richtlinie 2014/24/EU niedergelegt.
]]>Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege e. V. (BAGFW) begrüßt, dass das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) die partnerschaftliche Einbeziehung der Wohlfahrtsverbände im Rahmen des Europäischen Semesters kontinuierlich fortsetzt. Gerne nutzt die BAGFW die Gelegenheit für eine gemeinsame Stellungnahme zum vorgelegten NRP-Entwurf 2015. Sie weist jedoch wiederholt darauf hin, dass die Fristsetzung im Hinblick auf eine ausreichende Beteiligung der Zivilgesellschaft, von der in Ziffer 118 des NRP-Entwurfes die Rede ist, zu knapp bemessen ist. Der für den 19. Februar 2015 angekündigte Entwurf des NRP wurde mit einer Rückmeldefrist bis zum 03. März 2015 erst am 23. Februar versandt. Die BAGFW verweist in diesem Zusammenhang sowohl auf ihre Stellungnahmen zum Entwurf des Nationalen Reformprogramms 2014 und zum Entwurf des Nationalen Sozialberichts 2015 als auch auf die Anmerkungen und Hinweise der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege e.V. (BAGFW) zur Fortschreibung des Nationalen Sozialberichts 2015.
Im Folgenden nimmt die BAGFW zur Umsetzung der sozialpolitischen Ziele der Strategie Europa 2020 im Entwurf des Nationalen Reformprogramms 2015 Stellung.
Wir gehen dabei insbesondere auf die drei sozialpolitischen Kernziele
- Beschäftigung fördern
- Bildungsniveau verbessern
- Soziale Eingliederung vor allem durch die Verringerung von Armut fördern
und die länderspezifischen Empfehlungen des Rates zum NRP Deutschlands 2014 ein.
Da die Ausführungen im Entwurf des NRP 2015 zum „Wettbewerb im Dienstleistungssektor und öffentlichen Auftragswesen“ die Freie Wohlfahrtspflege in Deutschland betreffen, nimmt die BAGFW ebenfalls dazu Stellung.
1. „Europa 2020-Strategie: Erzielte Fortschritte und Maßnahmen“ „Beschäftigung fördern – Nationaler Beschäftigungsplan“
(Ziffern 77 - 81)
Bewertung:
Deutschland (DE) hat sich in seinem NRP zu den drei sozialpolitischen EU 2020-Kernzielen mit den folgenden nationalen Indikatoren (abweichend von den EU-weiten Indikatoren) verpflichtet:
- Erwerbstätigenquote für 20- bis 64-Jährige: 77%
- Erwerbstätigenquote für Ältere zwischen 55 und 64 Jahren: 60%
- Erwerbstätigenquote für Frauen: 73%
Alle drei Indikatoren hat DE im 3. Quartal 2014 (über-)erfüllt.
Die Sozialwirtschaft kann aufgrund des demografischen Wandels und dem zusätzlichen Bedarf an Personal zur Stabilisierung der Erwerbstätigenquote einen signifikanten Beitrag erbringen. Für die weitere Steigerung der Erwerbstätigenquote der Frauen ist es wichtig, dass die Angebote zur Bildung, Erziehung und Betreuung für Kinder in der Fläche ausreichend und qualitätsgerecht ausgebaut werden.
Die BAGFW regt für das NRP 2015 an, die beruflichen Förderangebote für Frauen weiter zu entwickeln, indem auch das Angebot für Teilzeit-qualifizierungen ausgebaut wird.
In den länderspezifischen Empfehlungen 2014 wird u. a. empfohlen, dass Deutschland:
- die Vermittelbarkeit von Arbeitnehmern verbessert, indem das Bildungsniveau benachteiligter Gruppen weiter erhöht wird und auf dem Arbeitsmarkt ehrgeizigere Aktivierungs- und Wiedereingliederungsmaßnahmen durchgeführt werden, insbesondere für Langzeitarbeitslose; …
- die Umwandlung von Minijobs in voll sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsformen erleichtert;
- regionale Engpässe bei der Verfügbarkeit von ganztägigen Kinderbetreuungseinrichtungen und Ganztagsschulen in Angriff nimmt und gleichzeitig deren allgemeine Bildungsqualität verbessert (s. dazu (2014/C 247/23).
Das Arbeitspapier der KOM zu den länderspezifischen Empfehlungen konstatiert bisher nur begrenzte Fortschritte bei der Integration von Langzeitarbeitslosen in den Arbeitsmarkt und bei der Anhebung des Bildungsniveaus benachteiligter Gruppen (s. dazu SWD (2014), 406 final).
Rund 1 Mio. oder 38,6% der offiziell gemeldeten Arbeitslosen in Deutschland im Oktober 2014 waren nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit langzeitarbeitslos und hatten damit deutlich geringere Chancen auf eine dauerhafte Integration in den Arbeitsmarkt als kurzzeitig Arbeitslose. Aufgrund der insgesamt sinkenden Arbeitslosenzahlen steigt damit der prozentuale Anteil der Langzeitarbeitslosenzahlen. In absoluten Zahlen ist nur ein geringer Rückgang der Zahl der Langzeitarbeitslosen zu verzeichnen, wobei der Anteil der Arbeitslosen, die seit 24 Monaten oder länger arbeitslos sind, signifikant steigt. Besondere Risikofaktoren sind insbesondere höheres Alter (55+) und eine fehlende Berufsausbildung. Langzeitarbeitslose mit vier und mehr sogenannten Vermittlungshemmnissen haben derzeit kaum eine Chance auf eine Arbeitsmarktintegration. Langzeitarbeitslose sind vom rückläufigen Einsatz arbeitsmarktpolitischer Instrumente besonders betroffen. Nach Angaben aus dem Eingliederungsbericht 2013 der Bundesagentur für Arbeit waren sie nur mit einem Anteil von 18 % an Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik beteiligt.
Die Problematik des Ausmaßes des verfestigten Langzeitleistungsbezugs in der Grundsicherung für Arbeitsuchende bleibt im NRP weitgehend unerwähnt, obwohl die damit verbundenen Probleme im Berichtszeitraum bundespolitisch und in der Öffentlichkeit intensiv diskutiert worden sind. Im Arbeitsdokument der Europäischen Kommission zum Länderbericht Deutschland 2015 wird auf das besorgniserregende Problem der Langzeitarbeitslosigkeit in Deutschland verwiesen: „While the unemployment rate is overall low (5.0 % in 2014), it exceeds 10 % in several federal states and long-term unemployment is an increasing concern.“ (s. SWD(2015) 25 final, S. 63) … „Long-term unemployment is an icreasing concern and it is still at a high level.“ (s. SWD(2015) 25 final, S. 64) Ganz unbestritten gibt es nach wie vor eine strukturelle Arbeitslosigkeit. Als erwerbsfähig gelten derzeit über 3 Millionen Langzeit-Leistungsbeziehende. Die Hälfte von diesen lebt mit weiteren Personen, die nicht erwerbsfähig sind (zu 95 Prozent Kinder) in Bedarfsgemeinschaften. Besonders kritisch ist auch der Umstand zu werten, dass Ende 2012 zwei Drittel der mehr als 4 Mio. erwerbsfähigen Leistungsberechtigten bereits über zwei Jahre im Leistungsbezug waren; jede(r) vierte sogar durchgängig seit 2005.
Die BAGFW spricht sich dafür aus, die schwerpunktmäßige Ausrichtung der Arbeitsmarktförderung auf Personen und Förderleistungen mit großer Arbeitsmarktnähe aufzugeben und Langzeitleistungsbeziehern und ihren Familien deutlich mehr Förderung anzubieten.
Um langfristige Arbeitslosigkeit und Armut zu überwinden, müssen Eingliederungsinstrumente zur Verfügung stehen, die für die Förderung der Beschäftigung arbeitsmarktferner Menschen auch wirksam genutzt werden können. Die BAGFW regt langfristige, gezielte und kleinschrittige Hilfen für Menschen mit mehrfachen Vermittlungshemmnissen an. Die BAGFW stimmt der Europäischen Kommission in der Bewertung des NRP 2014 zu, dass das im Entwurf des NRP 2015 erneut aufgeführte ESF-Programm zur Wiedereingliederung von 30.000 Langzeitarbeitslosen in den Arbeitsmarkt und einige Maßnahmen für junge Menschen weiterer nationaler Anstrengungen bedürfen.
Für einen Teil derjenigen Menschen, die trotz intensiver Förderung ohne Chance auf Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt sind, sollen über öffentlich geförderte sozialversicherungspflichtige Beschäftigungs-angebote Möglichkeiten der sozialen Teilhabe eröffnet werden (s. dazu auch die Ausführungen zum Thema ‚Soziale Eingliederung vor allem durch Armutsbekämpfung fördern‘). Vor dem Hintergrund der verfestigten und hohen Langzeitarbeitslosigkeit und des andauernden Hilfebezugs im SGB II sieht die BAGFW die Initiative der Bundesarbeitsministerin „Chancen eröffnen – soziale Teilhabe sichern“ positiv. Die Verbände loben ausdrücklich das Vorhaben, ein Angebot zur sozialen Teilhabe durch Erwerbsarbeit für ansonsten vom ‚Arbeitsmarkt ausgeschlossene Personen mit öffentlich geförderter sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung zu unterbreiten. Das Programm kann dazu ein erster wichtiger Schritt sein. Da die tatsächlichen Unterstützungsbedarfe weit über die angedachte Förderung von 10.000 Personen hinausgehen, fordert die BAGFW zusätzliche Mittel bereitzustellen und das Programm mit einer Erprobung des sog. Aktiv-Passiv-Transfers (PAT) zu verknüpfen.
In den länderspezifischen Empfehlungen 2014 hat der Rat der EU erneut empfohlen, die Umwandlung von Minijobs in voll sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsformen zu erleichtern. Atypische Beschäftigung in Deutschland existiert jedoch trotz eines leichten Rückgangs weiterhin auf einem hohen Niveau. Dazu zählen Minijobber, Zeitarbeiter, befristet Beschäftigte und Teilzeitarbeiter.
Die BAGFW empfiehlt, sich im NRP 2015 gezielter mit dem Thema atypische Beschäftigung auseinanderzusetzen.
2. „Bessere Willkommens- und Bleibekultur in Deutschland“
(Ziffer 84 des vorgelegten NRP-Entwurfes 2015)
Eine Erhöhung der Erwerbstätigenquote in Deutschland wird aufgrund der Wirtschafts- und Finanzkrise auch durch eine zunehmende Zuwanderung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern aus dem EU-Ausland erreicht, die durch das Recht auf Freizügigkeit ermöglicht wird.
Der Wanderungssaldo bleibt wie in den Vorjahren auf hohem Niveau (s. Statistisches Bundesamt, Statistische Wochenberichte, Stand: 20.02.2015 und Entwurf NRP 2015, S. 6).
Die BAGFW zählt die Mobilität der EU-Bürger/innen zu den großen Errungenschaften der EU.
Dieses Recht darf nicht einfach in Frage gestellt werden, wenn Bürgerinnen und Bürger aus EU-Mitgliedsstaaten, die sich in der Krise befinden, es aktiv nutzen, um ihre soziale Situation und Zugangsmöglichkeiten zum Arbeitsmarkt zu verbessern.
Auch sie müssen eine Chance auf dem gesamten Europäischen Arbeitsmarkt erhalten. Wanderungen auch von mittellosen EU-Bürger/innen sind logischer Bestandteil der Personenfreizügigkeit. Alles andere wäre eine unzulässige Diskriminierung von in Armut Lebenden und mit dem europäischen Gedanken nicht vereinbar.
Die von der Bundesregierung verfolgte Strategie zur Stärkung der Willkommens- und Bleibekultur hat sich deshalb an alle Menschen, die nach Deutschland zuwandern, zu richten.
3. „D. Bildungsniveau verbessern“
(Ziffern 100 - 101)
Bewertung:
Deutschland hat sich in seinem NRP zum Erreichen des folgenden EU-weiten Indikators verpflichtet:
- Bildungsniveau verbessern, insbesondere den Anteil der frühzeitigen Schul- und Ausbildungsabgänger auf unter 10% senken
Obwohl der Anteil der frühzeitigen Schul- und Ausbildungsabgänger 2013 mit 9,9 Prozent insgesamt unter der Zielmarke von 10 Prozent lag, gibt es signifikante regionale Unterschiede. Außerdem stellt die Europäische Kommission in der Begleitunterlage zur Empfehlung für eine Empfehlung des Rates fest: „Deutschland konnte bei der Anhebung des Bildungsniveaus benachteiligter Gruppen einige Fortschritte verzeichnen, doch der Bildungserfolg ist nach wie vor stark von der sozioökonomischen Herkunft abhängig. Die sozial bedingte Bildungsbenachteiligung hat im letzten Jahrzehnt abgenommen, bleibt aber signifikant, insbesondere bei Menschen mit Migrationshintergrund.“ (s. SWD(2014) 406 final, S. 22)
In den Erhebungen der Statistischen Ämter des Bundes und der Länder auf Basis des Mikrozensus 2013 wird festgestellt, dass der Anteil der Jugendlichen ohne Hauptschulabschluss in Ostdeutschland fast doppelt so hoch ausfällt wie in Westdeutschland. Hier besucht auch ein weitaus höherer Anteil der Schüler/innen als in Westdeutschland eine Förderschule und erwirbt dort häufig höchstens einen Förderabschluss. Betrachtet man hingegen den Anteil der frühen Schul- und Ausbildungsabgänger/innen, also den EU-2020 Leitindikator, zeigt sich das umgekehrte Bild. Dies liegt vor allem daran, dass in Westdeutschland weniger junge Menschen einen beruflichen Abschluss erwerben als in Ostdeutschland. Der Caritas-Studie “Bildungschancen vor Ort“ aus dem Jahr 2014 zufolge ist die Quote der Schulabgänger/innen ohne Hauptschulabschluss zwar deutschlandweit von rund 7% im Jahr 2009 auf rund 6% im Jahr 2012 gesunken. Es bestehen aber starke regionale Streuungen der Quoten: zwischen 4,6 % in Bayern und 11,1 % in Sachsen-Anhalt (s. dazu <link http: www.caritas.de bildungschancen>www.caritas.de/bildungschancen), (s. auch „Bildung in Deutschland 2014“).
Außerdem besteht nach wie vor ein negativer Zusammenhang zwischen der sozialen Herkunft und dem Bildungserfolg: je geringer die sozialen Ressourcen eines Kindes oder Jugendlichen sind, desto höher ist das Risiko des Scheiterns im Bildungssystem.
Die BAGFW sieht hier weiterhin großen Handlungsbedarf. Kinder und Jugendliche brauchen eine gezielte Förderung in einer chancengerechten Schule, die flexibel, individuell, inklusiv und ganzheitlich Kinder begleitet und die Kooperation mit Eltern und Bezugspersonen pflegt. Kinder und Jugendliche mit multiplen Problemlagen brauchen eine niedrigschwellige Förderung, in deren Rahmen Angebote zur Förderung von Lern- und Leistungskompetenzen mit Maßnahmen zur Überwindung persönlicher und sozialer Problemlagen kombiniert werden. Hier haben sich Angebote der Schulsozialarbeit als besonders wirksam erwiesen, um insbesondere junge Menschen in sozial benachteiligten Lebenslagen frühzeitig zu erreichen.
Die BAGFW erachtet noch stärkere Anstrengungen für notwendig, um den Zusammenhang von Bildung und sozialer Herkunft zu durchbrechen. Diese Ansicht steht auch in Einklang mit den länderspezifischen Empfehlungen, die die Anhebung des Bildungsniveaus benachteiligter Bevölkerungsgruppen anmahnt, indem vor allem die Chancengleichheit im allgemeinen und beruflichen Bildungssystem sichergestellt wird. Diese Anstrengungen sollten auch vor dem Hintergrund “Nutzung des vollen Arbeitskräftepotenzials“ ihren Niederschlag im NRP 2015 (s. Ziffer 50 im Entwurf NRP 2015, S. 21) finden.
Der Rat der Europäischen Union empfiehlt, „dass Deutschland regionale Engpässe bei der Verfügbarkeit von ganztägigen Kinderbetreuungseinrichtungen und Ganztagsschulen in Angriff nimmt und gleichzeitig deren allgemeine Bildungsqualität verbessert“. Die BAGFW greift diese Empfehlung auf und fordert von der Bundesregierung, dieser Empfehlung im NRP 2015 mehr Bedeutung beizumessen und die Anstrengungen zu verstärken (s. (2014/C 247/23).
Die Europäische Kommission stellt in der Begleitunterlage zur Empfehlung für eine Empfehlung des Rates fest, dass beim Anteil der Kinder unter drei Jahren, die Betreuungseinrichtungen besuchen, Deutschland weder die Barcelona- noch die nationalen Ziele erreicht hat. „Während die Anzahl der Kinderbetreuungseinrichtungen rasch gewachsen ist, sollte auch ihre Qualität verbessert werden, etwa durch einen besseren Betreuungsschlüssel, die Anhebung des Qualifikationsniveaus des Personals und verlängerte Öffnungszeiten.“ (s. SWD(2014) 406 final, S. 22) Vergleichbares gilt für den Ausbau und die Qualität der Ganztagsschulen.
4. „Soziale Eingliederung vor allem durch die Verringerung von Armut fördern“
(Ziffern 102 – 107)
Bewertung:
Deutschland hat sich in seinem NRP dem folgenden nationalen Indikator verpflichtet:
- Anzahl der Langzeitarbeitslosen bis 2020 um 20% gegenüber 2008 verringern
Laut dem NRP-Entwurf 2015 hat sich die Zahl der Langzeitarbeitslosen zwischen 2008 und dem dritten Quartal 2014 um 44 % verringert, d.h. der national gesetzte Indikator wurde bereits erreicht.
Der absolute Rückgang der Langzeiterwerbslosigkeit ist zwar positiv zu sehen, jedoch nicht deckungsgleich mit der Reduzierung von Armutsrisiken in Deutschland.
Sorge bereitet die Entwicklung des Armutsrisikos. Gesamtwirtschaftlicher Erfolg und die Zunahme privaten Reichtums führen nicht mehr dazu, dass das Armutsrisiko in Deutschland geringer wird; sondern das Armutsrisiko und Ungleichheit nehmen zu. Der Ausschuss für Sozialschutz hat den Nationalstaaten zur Erstellung ihrer Strategischen Sozialberichterstattung empfohlen, Daten zur sozialen Situation heranzuziehen, die aktueller als die der EU-SILC sind. Nach der Auswertung des Mikrozensus ergibt sich dieses Bild: Die Armutsrisikoquote ist seit dem Jahr 2006 – mit Unterbrechungen in den Jahren 2010 und 2012 auf einen Wert von 15,5 Prozent im Jahr 2013 angestiegen. Rund 12,5 Millionen Menschen waren damit in diesem Jahr in Deutschland vom Risiko der Einkommensarmut betroffen. Dabei haben sich die Arbeitslosenzahlen und Armutsrisikoquoten in ihrer Entwicklung nicht nur abgekoppelt, sondern sich entgegengesetzt entwickelt. Während die Armutsrisikoquote seit 2006 relativ kontinuierlich um 10,7 Prozent angestiegen ist – von 14 Prozent auf 15,5 Prozent – ist die Arbeitslosenquote mit Ausnahme des Krisenjahres 2009 ebenso kontinuierlich um 36,1 Prozent (von 10,8 Prozent auf 6,9 Prozent) gesunken.
Die Bundesregierung erklärt, dass die Altersarmut trotz eines leichten Anstiegs in den letzten Jahren nach wie vor klein sei und kein verbreitetes Problem darstellt. Die BAGFW weist darauf hin, dass die 65-Jährigen und Älteren in 2013 mit einer Quote von 14,3 Prozent noch genauso unterdurchschnittlich vom Armutsrisiko betroffen waren wie die Gruppe der Rentner und Pensionäre mit einer Armutsrisikoquote von 15,2 Prozent. Allerdings gibt es starke Zuwächse seit 2006. Seitdem nahm das Armutsrisiko unter den 65-jährigen und Älteren um 37,5 Prozent und das der Rentner und Pensionäre um sogar 47 Prozent zu. Dabei ist die Armutsrisikoquote von Frauen im Seniorenalter um einige Prozentpunkte höher als die von Männern. Sie sind überdurchschnittlich von Armut bedroht. Es gibt derzeit keinerlei Anzeichen dafür, dass dieser Trend gestoppt wird. Die BAGFW merkt kritisch an, dass im vorliegenden Bericht keine Pläne der Bundesregierung zur Bekämpfung von Altersarmut dargestellt werden.
Angesichts dieser Lagebeschreibung fordert die BAGFW die deutsche Bundesregierung dazu auf, im Bereich der Armutsbekämpfung ihre Aktivitäten neu auszurichten, um eine umfassende Bekämpfung der zunehmenden Armutsgefährdung von Personen zu gewährleisten.
Die BAGFW regt an, dass neben dem national gewählten Armutsindikator: niedrige Erwerbsbeteiligung (gemessen am Prozentsatz von Menschen, die in einem Haushalt mit sehr geringer Erwerbsbeteiligung leben) die beiden anderen Indikatoren: die relative Einkommensarmut (gemessen wie bisher an der sog. Armutsgefährdungsrate) und die materielle Armut (gemessen am Index der materiellen Deprivation) bei der Ausrichtung einer umfassenden Armutsbekämpfungsstrategie berücksichtigt werden.
Zur Armutsbekämpfung hilft aber eine primär an kurzfristigen arbeitsmarktpolitischen Zielen ausgerichtete Sozialpolitik nicht weiter. Der langfristige Bezug von SGB-II-Leistungen erklärt sich nicht allein aus Arbeitslosigkeit, sondern auch aus Sachverhalten wie Teilzeitarbeit und niedrigen Löhnen (rund 1,2 Millionen Aufstockende im SGB II). Das Arbeitseinkommen und/oder dem SGB II vorgelagerte familienpolitische Leistungen reichen oft nicht aus, um den Leistungsbezug zu verhindern (600.000 Alleinerziehende und über 1,5 Millionen Kinder beziehen SGB-II-Leistungen).
Nach Berechnungen der Bundesagentur für Arbeit im Methodenbericht aus dem Juni 2013 bezogen 18,5 % der erwerbsfähigen Bevölkerung in den Jahren 2008 bis 2011 dauerhaft oder zeitweilig Leistungen nach dem SGB II. Trotzdem galten nur 1/3 der Leistungsbeziehenden im SGB II als arbeitslos. Teilnehmende an Maßnahmen, Zuverdienende, ältere Erwerbslose und weitere Personengruppen werden in der Arbeitslosenstatistik nicht mitgezählt. Maßnahmen zur nachhaltigen Verbesserung der sozialen Situation von Langzeit-Leistungsbeziehenden müssen mit einer Stärkung der dem Grundsicherungsbezug vorgelagerten Systeme einhergehen. Die BAGFW schlägt vor, weitere sozialpolitische Schwerpunkte zu setzen.
Die Wohlfahrtsverbände begrüßen die Einrichtung des Europäischen Hilfsfonds‘ für die am stärksten benachteiligten Personen (EHAP) und die partnerschaftliche Zusammenarbeit mit der Freien Wohlfahrtspflege bei seiner Ausgestaltung. Der Hilfsfonds ist auf die Zielgruppen EU-Zuwanderer, deren Kinder im Vorschulalter sowie auf Wohnungslose fokussiert. Die BAGFW hat sich dafür eingesetzt, dass darüber hinaus weitere benachteiligte nationale Zielgruppen, wie z.B. Suchterkrankte oder Straffällige jetzt oder zukünftig in einem solchen Programm zu berücksichtigen sind.
In Ziffer 107 des NRP-Entwurfes wird auf weitere Maßnahmen der Bundesregierung zur sozialen Eingliederung und der Bekämpfung von Armut auf den NSB 2015 verwiesen, der aber als Teil der Offenen Methode der Koordinierung zu verstehen ist und keine verbindlichen Auswirkungen auf die nationale Strategie zur Armutsreduzierung in Deutschland hat.
Die BAGFW spricht sich dafür aus, dass die Armutspolitik im NRP weiter behandelt wird und Ansätze einer umfassenden Strategie der Armutsverringerung für betroffene Zielgruppen entwickelt werden und verweist ihrerseits auf die Stellungnahme der BAGFW zum Entwurf des NSB 2015.
5. „Wettbewerb im Dienstleistungssektor und öffentliches Auftragswesen“
(Ziffern 65 – 68)
Die Bundesregierung bekennt sich zu dem Anliegen, den Binnenmarkt für Dienstleistungen zu stärken und sie betont darüber hinaus die Notwendigkeit, gerechtfertigte und verhältnismäßige Regulierungen zu ergreifen, die z.B. die Qualität einer Dienstleistung, die Bereitstellung von Ausbildungsplätzen oder soziale und gesundheitspolitische Zwecke sichern. Im Zusammenhang mit dem öffentlichen Auftragswesen wird auf die Umsetzung der neuen EU-Vergaberichtlinien in nationales Recht verweisen.
Zur Umsetzung der EU-Vergaberichtlinien in nationales Recht zur Vergabe von sozialen Dienstleistungen hat das Bundeswirtschaftsministerium die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege frühzeitig in einen intensiven und sehr konstruktiv verlaufenden Diskussionsprozess einbezogen. Die Wohlfahrtsverbände haben dabei deutlich gemacht, dass dringend Verbesserungen bei der der Vergabe von sozialen Dienstleistungen, insbesondere Arbeitsmarktdienstleistungen, nötig sind.
• Die Wohlfahrtsverbände werben insbesondere dafür, gesonderte Vergaberegelungen für die Maßnahmen der Arbeitsförderung zu schaffen, denn sie haben als personenbezogene Dienstleistungen einen anderen Charakter als z.B. die im Vergabeverfahren beschafften Baumaßnahmen oder Fahrgastzüge. Auch die EU erkennt sowohl die Besonderheit von sozialen Dienstleistungen als auch die Notwendigkeit an, bei der Ausschreibung solcher Dienstleistungen das ansonsten streng formale Vergaberechtsregime zu modifizieren. Artikel 76 RL 2014/24/EU konkretisiert dies und verpflichtet in Absatz 1 die Mitgliedsstaaten dazu, das Vergaberecht für die Ausschreibung von Sozialleistungen – soweit diese überhaupt stattfinden sollen – entsprechend dem besonderen Charakter dieser Dienstleistungen zu modifizieren.
• Die unterschiedlichen Verfahrensarten des Vergaberechts sollen zukünftig gleichberechtigt nebeneinander stehen und von den Vergabestellen flexibel eingesetzt werden, um bedarfsgerecht Maßnahmen bereitzustellen. Das dialogische Verfahren soll neu eingeführt werden als Möglichkeit, besonders innovative oder zielgruppenspezifische Maßnahmen kreieren und sie gemeinsam zwischen Jobcentern/bzw. Arbeitsagenturen und Trägern der Arbeitsförderung entwickeln zu können. Der Anwendungsbereich des nicht offenen Verfahrens sollte eröffnet werden, um kurzfristig auftretende bzw. bekannt gewordene Bedarfe der Nutzerinnen und Nutzer zu decken. Das nicht offene Verfahren kann zudem die Möglichkeit eröffnen, eine qualitative Vorauswahl von Bietern/Angeboten im Wettbewerb vorzunehmen.
• Im Vergabeverfahren müssen angemessene Löhne der Mitarbeiter/-innen zukünftig Berücksichtigung finden und maßgeblich sein.
• Die Vergaben müssen zukünftig auf langfristige Rahmenverträge mit den Anbietern abzielen, damit Qualität durch Kontinuität geschaffen werden kann.
• Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege plädiert außerdem dafür, die Möglichkeiten des Art. 20 RL 2014/24/EU besonders aufzugreifen, mit dem eine bevorzugte Auftragsvergabe an Unternehmen zum Zweck der Beschäftigung von benachteiligten Zielgruppen möglich wird. Die bevorzugte Auftragsvergabe an diese Unternehmen trägt dem Anliegen der EU-Richtlinie Rechnung, die soziale und berufliche Eingliederung für unterschiedliche Personenkreise, die am Arbeitsmarkt und in der Gesellschaft benachteiligt sind, zu befördern. Über die Werkstätten für Menschen mit Behinderungen hinausgehend sollen entsprechende Regelungen im deutschen Vergaberecht auch für Integrationsbetriebe und Sozialunternehmen zur Beschäftigung von benachteiligten Personengruppen gelten.
• Bei der Umsetzung der Richtlinie in das deutsche Recht muss nicht zuletzt beachtet werden, dass die Erbringung sozialer Dienstleistungen in Deutschland ganz überwiegend im Rahmen des sozialrechtlichen Dreiecksverhältnisses und damit außerhalb der öffentlichen Auftragsvergabe erfolgt. Der Wettbewerb erfolgt hier über das Wunsch- und Wahlrecht der Leistungsberechtigten. Das sozialrechtliche Dreieck aus Leistungsträger, Leistungserbringer und Leistungsberechtigtem ist eine tragende Säule der sozialen Sicherung, denn es verbindet die staatliche Verantwortung für die Erbringung sozialer Dienstleistungen mit weitgehenden Wahlrechten für die Hilfebedürftigen und Gestaltungsrechten für die freien Träger. Das europäische Vergaberecht stellt es den Mitgliedstaaten im Übrigen frei, soziale Dienstleistungen in einer Weise zu organisieren, die nicht mit der Vergabe öffentlicher Aufträge verbunden ist. Dass die mitgliedstaatlichen Systeme der sozialen Sicherheit grundsätzlich nicht angetastet werden sollen, ist in Art. 1 Abs. 5 und im Erwägungsgrund (114) der Richtlinie 2014/24/EU niedergelegt.
]]>Insbesondere ist zu befürchten, dass die Neuregelungen zum Einreise- und Aufenthaltsverbot dazu führen, dass die Regelungen zum Bleiberecht konterkariert werden. Zum anderen sehen wir mit Sorge, dass die neuen Haftregelungen zu einer erheblichen Ausweitung der Inhaftierung, insbesondere auch von Asylsuchenden, die sich im Dublin-Verfahren befinden, führen können. Grundsätzlich sehen wir, dass in Bezug auf mehrere gesetzliche Neuregelungen zum Zwecke der Rechtsklarheit Klarstellungen in der Gesetzesbegründung in das Gesetz gezogen werden sollten.
Im Einzelnen sehen wir die folgenden Punkte besonders kritisch:
I. Neue Haftregelungen in § 2 Abs. 14 und 15 , 62 Abs. 4a und § 62b AufenthG-E:
Die BAGFW spricht sich gegen eine weitere Ausweitung von Abschiebungshaft aus. Wenn überhaupt, darf diese stets nur ultima ratio sein. Erforderlich ist deshalb die auch vom Bundesrat geforderte und in Art. 8 Abs. 4 der Aufnahmerichtlinie 2013/33/EU genannte Maßnahme, alternative Instrumente der Haftvermeidung und mildere Mittel, wie zum Beispiel die Stellung einer Kaution oder angemessene Meldeauflagen, zu entwickeln und gesetzlich festzulegen. Die Höchstdauer der Abschiebungshaft sollte auf die kürzest mögliche Dauer, höchstens jedoch 6 Monate reduziert werden.
Im vorliegenden Gesetzentwurf ist weder die Möglichkeit noch die Förderung der freiwilligen Ausreise, welche auch in Art. 26 Abs. 2 Dublin-III-Verordnung vorgesehen ist, geregelt. Diese muss aber stets Vorrang vor einer Abschiebung haben. In diesem Kontext ist aus unserer Sicht der Ausbau der Perspektivberatung- und Rückkehrförderung sinnvoll, um Zwangsmaßnahmen, die menschliches Leid verursachen und bei Ausländerbehörden, Amtsgerichten, dem BAMF und der Bundespolizei erhebliche Kapazitäten binden, zu reduzieren.
Im Einzelnen:
1. Neuregelung der Abschiebungshaft bei (erheblicher) Fluchtgefahr in § 60 Abs. 3 Nr. 5 und § 2 Abs. 14 und 15 AufenthG-E
Die Verbände der BAGFW empfehlen die Ergänzung der Regelung in § 2 Abs. 14 Nr. 2, die Streichung der Regelung in § 2 Abs. 14 Nr. 4, die Streichung der Generalklausel in § 2 Abs. 14 Nr.6, die Konkretisierung des Merkmals „Erheblichkeit“ in § 2 Abs.15 S. 1 AufenthG-E und die Streichung des Anhaltspunkts für Fluchtgefahr in Dublin-Verfahren in § 2 Abs. 15 S. 2 AufenthG-E.
§ 2 Abs. 14 Nr. 2 AufenthG-E - Fluchtgefahr bei Identitätstäuschung oder Passunterdrückung:
Da die Täuschung über die Identität laut Gesetzesbegründung nur dann ein Anhaltspunkt für die Annahme einer Fluchtgefahr sein soll, wenn sie im Zusammenhang mit einer bevorstehenden Abschiebung erfolgt, sollte das Tatbestandsmerkmal „im Zusammenhang mit der bevorstehenden Abschiebung“ in den Gesetzestext aufgenommen werden.
§ 2 Abs. 14 Nr. 4 AufenthG-E – Aufwenden erheblicher Geldbeträge für einen Schleuser:
Der Umstand, dass der Ausländer in der Vergangenheit zu seiner Einreise in die EU erhebliche Geldbeträge für einen Schleuser aufgewandt hat, lässt keine Rückschlüsse auf sein Verhalten nach erfolglosem Abschluss eines Verfahrens auf Erteilung eines Aufenthaltstitels zu. Gerade für Schutzsuchende besteht in der Regel keine andere Möglichkeit der Einreise.
Dies bedeutet, dass gerade diese Personen von vornherein dem Generalverdacht unterliegen könnten, sich der Abschiebung entziehen zu wollen. Darüber, ob die Fluchtgefahr in diesen Fällen tatsächlich größer ist als in anderen Fällen, liegen jedoch keine gesicherten Erkenntnisse vor.
§ 2 Abs. 14 Nr. 6 AufenthG-E – Fluchtgefahr wegen sonstiger konkreter Vorbereitungshandlung, um sich der Abschiebung zu entziehen (Auffangtatbestand):
Die Norm enthält den unbestimmten Rechtsbegriff „sonstiger konkreter Vorbereitungshandlungen“. Anhaltspunkte für eine begründete Fluchtgefahr können jedoch nur vorliegen, wenn diese auf objektiv gesetzlich festgelegten Kriterien beruhen. An einer solchen Festlegung fehlt es hier. Daher ist ein solcher Auffangtatbestand in Form einer Generalklausel ungeeignet und daher zu streichen.
§ 2 Abs. 15 S. 1 AufenthG-E – (nicht explizit genannte erhebliche) Fluchtgefahr in Dublin-Fällen:
Zunächst möchten die Verbände darauf aufmerksam machen, dass die Abschiebungshaft in Dublin-Verfahren im Aufenthaltsgesetz (§ 62 Abs. 3 AufenthG und § 2 Abs. 14 AufenthG-E), zusätzlich in § 2 Abs. 15 AufenthG-E mit Rechtsgrundverweis auf den nicht explizit genannten Art. 28 der Dublin III-Verordnung sehr unübersichtlich geregelt wird. Zusätzlich müssen bei der Haftanordnung die Garantien der noch umzusetzende EU-Aufnahmerichtlinie 2013/33/EU in Art. 28 Abs. IV Dublin-III Verordnung berücksichtigt werden.
Eine korrekte Rechtsanwendung dieser Normen erscheint in der Praxis bei den Amtsgerichten für Zivilverfahren unter dem Abschiebungshaftsachen immanenten Zeitdruck sehr fraglich. Hierdurch könnte insbesondere übersehen werden, dass Anhaltspunkte für eine einfache Fluchtgefahr allein nicht ausreichen, sondern festgestellt werden muss, dass eine Inhaftnahme zwecks Sicherstellung des Überstellungsverfahrens gem. Art. 28 Abs. 2 der Dublin-III-Verordnung nur dann erfolgen darf, wenn die Fluchtgefahr erheblich ist. Wann eine Fluchtgefahr als „erheblich“ einzustufen ist, lässt die Gesetzesbegründung offen und verweist auf das Ergebnis der Einzelfallprüfung, bei der der Begriff der „erheblichen“ Fluchtgefahr als Begriff des Europarechts autonom auszulegen sei. Worin die Steigerung der erheblichen Fluchtgefahr gegenüber der einfachen Fluchtgefahr liegt, bleibt jedoch unklar. Diese muss aber erkennbar und nachvollziehbar sein, sowie dem Verhältnismäßigkeitsgebot entsprechen. Der Gesetzestext sollte hier aus Gründen der Rechtssicherheit und in Anbetracht der freiheitsentziehenden Maßnahme ohne Verweisungen auskommen und den Begriff „erheblich“ konkretisieren.
§ 2 Abs. 15 S. 2 AufenthG-E – Anhaltspunkte für fehlenden Ausreisewillen in den zuständigen Mitgliedsstaat:
Die Regelung in § 2 Abs. 15 Satz 2 AufenthG-E, dass ein Asylsuchender „einen Mitgliedsstaat vor Abschluss eines dort laufenden Verfahrens zur Zuständigkeitsbestimmung oder zur Prüfung eines Antrages auf internationalen Schutz verlassen hat und die Umstände der Feststellung im Bundesgebiet konkret darauf hindeuten, dass er den zuständigen Mitgliedsstaat in absehbarer Zeit nicht aufsuchen will“, regelt lediglich einen Anhaltspunkt für eine einfache Fluchtgefahr und dürfte auf nahezu alle Flüchtlinge zutreffen, die sich im Dublin-III-Verfahren befinden. Die Vorschrift könnte schon Art. 28 Abs.1 Dublin-III-VO zuwiderlaufen, die gerade ausschließen will, dass Asylsuchende allein deswegen in Haft genommen werden, weil sie sich in einem Dublin-Verfahren befinden. Daher sprechen sich die Verbände der BAGFW für eine Streichung von § 2 Abs. 15 Satz 2 aus.
2. Keine Weiterführung der Haft nach Scheitern der Abschiebung
Die BAGFW empfiehlt, § 62 Abs. 4a AufenthG-E zu streichen.
Die Regelung des § 62 Abs. 4a AufenthG-E ist nicht mit der Aufnahmerichtlinie 2013/33/EU vereinbar, da nach Art. 9 Abs. 1 Satz 3 Aufnahmerichtlinie Verzögerungen im Verwaltungsverfahren, die nicht dem Inhaftierten zuzurechnen sind, nicht die Fortdauer der Haft rechtfertigen können. Das gilt auf Grund des Wortlautes der Richtlinie auch für Verzögerungen auf Grund höherer Gewalt oder vergleichbarer Gründe, da es nicht darauf ankommt, ob die Verzögerungen von Behördenseite beeinflusst werden könnten, sondern allein darauf, dass sie nicht dem Antragsteller zuzurechnen sind.
3. Kein vorbeugender Ausreisegewahrsam bis zu vier Tagen
Die Verbände der BAGFW empfehlen, § 62b AufenthG-E ersatzlos zu streichen.
In der neu eingeführten Regelung im § 62b AufenthG-E können zur Sicherung der Durchführbarkeit der Abschiebungen Menschen, die zur Ausreise verpflichtet sind, bis zu vier Tage auf richterliche Anordnung in Gewahrsam genommen werden, damit die Abschiebung tatsächlich vollzogen werden kann. Hintergrund der Regelung soll die Vermeidung von Nachtabschiebungen und erfolglos gebuchter Charterabschiebungen sein. Bloße Vereinfachungen der Abschiebung dürfen jedoch nicht zu einem erweiterten Hafttatbestand führen, da hier keine individuellen Haftgründe vorliegen müssen. Die Einschränkungen der Anordnungsmöglichkeit auf Menschen, die ihre Mitwirkungspflichten verletzt haben oder über die Staatsangehörigkeit getäuscht haben, wird faktisch keine große Auswirkung haben, da dies oft in umstrittener Weise bei vielen insbesondere Geduldeten angenommen wird. Problematisch ist vor allem der eingeschränkte Zugang zu Rechtsschutzmöglichkeiten in solchen Gewahrsamseinrichtungen, ähnlich wie in Flughafenverfahren.
II. Aufenthaltsgewährung aufgrund von Integration, §§ 25 a, b AufenthG-E
1. Festlegung der Frist für die Antragstellung, § 25 a AufenthG-E
Im Hinblick auf die Aufenthaltsgewährung für gut integrierte Jugendliche und Heranwachsende (§ 25 a AufenthG-E) sollte die Frist für die Antragstellung – wie im Referentenentwurf vorgesehen - auf 27 Jahre heraufgesetzt werden.
Die Festsetzung der Altersgrenze auf 21 Jahre wirkt sich nach der Erfahrung der Verbände vor allem auf die Gruppe der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge negativ aus. Diese reisen in der Regel zwischen dem 16. und 18. Lebensjahr ein. Eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 a AufenthG-E können sie nach der Neuregelung nur erhalten, wenn sie vor dem 17. Geburtstag eingereist und eine Schule besucht haben, da sie nur dann vor Ablauf des 21. Lebensjahres 4 Jahre Aufenthalt und Schulbesuch nachweisen können. Damit wird aber ein großer Anteil von besonders schutzbedürftigen jungen Menschen von der Möglichkeit eines Aufenthaltstitels nach § 25 a ausgeschlossen, obwohl sie nachweislich eine besondere Sicherheit im Hinblick auf ihren Status und ihren Aufenthalt in Deutschland benötigen, um ihre Traumata überwinden zu können.
Diese jungen Menschen bleiben dann in aller Regel weitere 4 Jahre in der aufenthaltsrechtlichen Unsicherheit, da sie erst nach 8 Jahren eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 b AufenthG beantragen können und sind somit auch gegenüber begleiteten jungen Menschen benachteiligt, da diese nur 6 Jahre Aufenthalt in Deutschland nachweisen müssen.
2. Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis abweichend von § 10 Abs.3 Satz 2
Absatz 4 des § 25 a AufenthG-E sollte wie folgt gefasst werden: „Die Aufenthaltserlaubnis kann abweichend von § 10 Absatz 3 Satz 2 erteilt werden und berechtigt zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit.“
Insbesondere unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen würde nach dem jetzigen Wortlaut oftmals kein Aufenthaltstitel nach § 25a AufenthG-E erteilt werden können, wenn ihr Asylantrag als offensichtlich unbegründet abgelehnt wurde.
Nach der altersunabhängigen Bleiberechtsregelung in § 25 b Abs. 5 AufenthG-E ist dies möglich, denn die Aufenthaltserlaubnis kann abweichend von § 10 Abs. 3 AufenthG erteilt werden. § 25a Abs. 4 ist daher entsprechend zu ändern, um auch die Integrationsleistung von Jugendlichen anzuerkennen.
3. Einreise- und Aufenthaltsverbot, § 11 AufenthG-E
§ 11 Absatz 4 sollte wie folgt ergänzt werden um Satz 2: „Das Einreise- und Aufenthaltsverbot ist aufzuheben, wenn die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach Abschnitt 5 Kapitel 2, insbesondere der §§ 25 Abs. 4a bis 5, 25 a und 25 b dieses Gesetzes vorliegen.“
Die überwiegend positiv zu beurteilende Neuregelung des Bleiberechts durch die §§ 25 a, b AufenthG-E sehen die Verbände durch die Neuregelung des Einreise- und Aufenthaltsverbots in § 11 AufenthG-E gefährdet. Diejenigen, die künftig für eine Aufenthaltserlaubnis nach diesen Normen in Frage kommen könnten, haben in aller Regel gegen die Ausreiseverpflichtung innerhalb der Ausreisefrist verstoßen, was zukünftig schon für die Erteilung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots ausreichen kann. Es ist zu befürchten, dass für sie die Wirkung der Bleiberechtsregelung eingeschränkt wird.
Problematisch ist die Regelung des § 11 Abs. 4 AufenthG-E vor allem deshalb, weil sie die Aufhebung des Einreise- und Aufenthaltsverbots in das freie Ermessen der entscheidenden Behörde setzt (diese „kann“ das Verbot aufheben). Eine Aufhebung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes ist jedoch immer dann angezeigt, wenn schutzwürdige Belange der Betroffenen zu wahren sind. Beim Vorliegen der Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach Abschnitt 5 von Kapitel 2 des Aufenthaltsgesetzes, insbesondere nach §§ 25 Abs. 4a bis 5, 25a und 25b, dürfte dies der Fall sein. Dies wurde in der Gesetzesbegründung auch so zum Ausdruck gebracht. Um deutlich zu machen, dass bei Vorliegen der Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen das Einreise- und Aufenthaltsverbot in der Regel aufgehoben werden muss, ist die Klarstellung im Gesetz aus unserer Sicht dringend geboten.
Regelungen in § 11 Absatz 6 und 7 AufenthG-E sind zu streichen
Die Erweiterung der Möglichkeiten für die Verhängung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots durch § 11 Abs. 6 und 7 AufenthG-E sind aus Sicht der Verbände nicht erforderlich und unverhältnismäßig. Bereits jetzt besteht im Falle einer Ausweisung, Rückschiebung oder Abschiebung ein Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG.
Die Erteilung in den Fällen der § 11 Abs. 6 und 7 AufenthG-E ist unverhältnismäßig. Die Sanktion des Einreise- und Aufenthaltsverbots ist gemessen an der Pflichtverletzung deutlich zu hoch.
Die Möglichkeit einer Sanktionierung allein des Fristversäumnisses mit einem Einreise- und Aufenthaltsverbot ist aus Sicht der in der BAGFW zusammengeschlossenen Verbände als unverhältnismäßig einzustufen.
Vor allem die Möglichkeit der Verhängung einer Einreisesperre in Fällen offensichtlich unbegründeter oder wiederholter Asylanträge (Abs. 7) ist nicht sachgemäß und unangemessen, da sie dazu führen kann, dass aufgrund der Schengen-weiten Einreisesperre Schutzsuchende nicht (erneut) in die EU einreisen können. Bereits eine einmalige Ablehnung des Asylantrags als offensichtlich unbegründet kann zu einer solchen Einreisesperre führen, die in einem Verstoß gegen das Non-Refoulement-Verbot gipfeln kann, also dem Verbot, in einen Staat zurück gewiesen zu werden, in dem Verfolgung droht. Gerade in den Fällen der so genannten sicheren Herkunftsstaaten, in denen verschiedene Bevölkerungsgruppen immer wieder kumulierter Diskriminierung ausgesetzt sind (und somit durchaus schutzberechtigt im Sinne des Asylrechts sein können), erfolgt eine Ablehnung des Asylantrags in der Regel im beschleunigten Verfahren und somit auch mit extrem verkürzten Rechtsmittelfristen (Klagefrist: lediglich 1 Woche). Gerade potentiell Schutzsuchende, die ein solches Eilverfahren durchlaufen haben, laufen Gefahr, dass im Falle einer tatsächlich vorliegenden Verfolgung die Widerlegung der grundsätzlichen Vermutung der offensichtlichen Unbegründetheit eine erhöhte Darlegungslast seitens des Schutzsuchenden erfordert, die dieser ohne entsprechende Unterstützung in vielen Fällen gar nicht leisten kann.
III. Sonstige Forderungen in Bezug auf den Gesetzentwurf:
Ebenso unterstützen die Verbände die Forderungen des Bundesrats bezüglich
• der Verlängerung der Frist für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zur Durchführung von Anpassungsmaßnahmen (§ 17a Abs. 4 Satz 1 AufenthG)
• der Einschränkung der in § 48 Abs.3a AufenthG vorgesehenen Möglichkeit der Auswertung von Datenträgern
• der Änderung des § 25 b Abs. 3 AufenthG: des Absehens vom Erfordernis von Grundkenntnissen der Rechts- und Gesellschaftsordnung bei der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis im Falle von Krankheit und Behinderung
• der Erteilung eines eigenständigen Aufenthaltsrechts volljähriger Kinder gemäß § 25b Abs. 4 AufenthG-E
• der Besserstellung der Opfer von Menschenhandel in § 25 Abs. 4a AufenthG:
- die Aufhebung des Einreise– und Aufenthaltsverbots in Abweichung von § 11 Abs.1 AufenthG bei Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 25 Absatz 4a AufenthG.
- bei als „offensichtlich unbegründet“ abgelehnten Asylanträgen die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 4a abweichend von § 10 Absatz 3 AufenthG.
- abweichend von Satz 2 Nr. 1 und 3 die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis, wenn das Verlassen der Bundesrepublik aufgrund humanitärer oder persönlicher Gründe eine besondere Härte bedeuten oder das Kindeswohl gefährden würde.
IV. Weitere Forderungen:
1. Sprachnachweis Ehegattennachzug
Obwohl diese Regelung nicht Gegenstand des Gesetzentwurfes ist, möchten wir erneut darauf hinweisen, dass wir die Abschaffung der im AufenthG vorgesehenen Sprachanforderungen beim Ehegattennachzug für dringend geboten halten.
§ 30 Abs. 1 S. 1 Nr. 2, § 28 Abs. 1 S. 5 AufenthG sehen vor, dass die Ehegatten von Ausländer/innen und von Deutschen beim Nachzug i.d.R. vor der Einreise Kenntnisse der deutschen Sprache nachweisen müssen. Die Verbände der BAGFW haben die Einführung dieser Regelung im Jahr 2007 abgelehnt. Sie war und ist nicht geeignet, Zwangsehen zu vermeiden oder die Integration zu erleichtern/beschleunigen.
Die Regelung kann für die Betroffenen zu unzumutbaren Härten führen und bedeutet eine Diskriminierung der von der Regelung betroffenen Personengruppen. Die Gatt/innen von EU-Bürgerinnen und Bürgern und von Staatsangehörigen von Australien, Israel, Japan, Kanada, der Republik Korea und der Vereinigten Staaten von Amerika und einiger anderer Staaten müssen keine Sprachprüfungsnachweise für den Ehegattennachzug vorlegen. Ausnahmen gibt es auch für Ehegatten von Hochqualifizierten, Forschern etc.
Mittlerweile hat die Rechtsprechung des BVerwG für die Gatten von Deutschen Befristungen der Regelung gefordert (BVerwG vom 4. September 2012,10 C 12.12). Mit Blick auf die Ehegatten von türkischen Arbeitnehmern hat der EuGH festgestellt, dass die Regelung gegen EU-Recht verstößt (EuGH, Urteil vom 10. Juli 2014, Rechtssache C-138/13 (Dogan). Beide Urteile wurden bisher nicht durch eine
Rechtsänderung umgesetzt.
Sie sollten zum Anlass genommen werden, die Regelungen zum Sprachnachweis nicht weiter zu modifizieren, sondern abzuschaffen.
2. Öffnung der Integrationskurse
Nachdrücklich unterstützen möchten wir die Forderung des Bundesrates, die Integrationskurse für Personen mit einem humanitären Aufenthaltstitel wie auch für Asylbewerber und Geduldete zu öffnen. Die genannten Personengruppen sollten grundsätzlich einen Anspruch auf Teilnahme an Integrationskursen haben, damit sie frühzeitig ihr Leben eigenständig führen und für sich und ihre Familien eine Perspektive entwickeln können. Eine große Zahl der Asylsuchenden wird in Deutschland bleiben, daher ist eine frühzeitige Integration notwendig. Auch im Falle der Rückkehr in ihr Herkunftsland ist es sinnvoll, wenn sie die Zeit hier in Deutschland für ihre Bildung, Ausbildung nutzen konnten.
3. Aufenthaltserlaubnis für die Dauer der Ausbildung/ Einschränkung des Beschäftigungsverbots
Die Verbände unterstützen ebenso den Vorschlag, evtl. im Rahmen eines § 25 c die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für Jugendliche oder Heranwachsende bis zum Abschluss des Schulbesuchs oder einer Ausbildung zu ermöglichen. Dies würde den gesetzlich neu eingeführten Zugang zu Ausbildung und Arbeitsmarkt für Geduldete und Asylsuchende nach 3 Monaten auch in der Praxis wirksam machen, der oft daran scheitert, dass mögliche Arbeitgeber die aufenthaltsrechtliche Unsicherheit scheuen. Ebenso unterstützen die Verbände die Forderung, zumindest jugendliche und heranwachsende Geduldete von dem in § 33 BeschV formulierten Beschäftigungsverbot auszunehmen, Die Verbände setzen sich darüber hinaus für eine generelle Streichung des § 33 BeschV ein. Personen, denen vorgeworfen wird, zum Zwecke des Sozialleistungsbezugs eingereist zu sein, wird ein Beschäftigungsverbot erteilt mit der Folge, allein auf Sozialleistungen angewiesen zu sein. Die Regelungen in § 33 BeschV, insbesondere § 33 Abs. 1 Satz 2 führt für viele Geduldete zum dauerhaften Ausschluss vom Arbeitsmarkt und macht sie notwendigerweise abhängig von Sozialleistungen.
I. Allgemeine Überlegungen:
Die in der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) zusammengefassten Spitzenverbände begrüßen grundsätzlich den durch das Kleinanlegerschutzgesetz beabsichtigten Ansatz, Kleinanleger vor Vermögenseinbußen besser zu schützen.
In seiner konkreten Wirkung schwächt das Gesetz jedoch Initiativen, die aus der Zivilgesellschaft heraus entstehen. Bürgerinnen und Bürger, die sich finanziell an unternehmerischen Initiativen aus der Gesellschaft heraus beteiligen wollen, tun dies meist nicht mit dem Ziel, aus ihrer Kapitalanlage eine möglichst hohe Rendite zu erwirtschaften. Sie wollen als Geber von Darlehen vielmehr staatbürgerschaftliche Verantwortung übernehmen und einen konkreten, eigenbestimmten Beitrag zu einer gelebten Nachhaltigkeitspraxis leisten. So finden sich z.B. Menschen zusammen, um regionale Bürgerprojekte gemeinschaftlich umzusetzen (z.B. in Dorfläden, Eltern-Initiativ-Kitas, Wohnprojekten) und damit einen Beitrag zum sozialen Zusammenhalt im Quartier und in der Gesellschaft zu leisten. Sie sind insoweit keine Kapitalanleger im klassischen Sinne. Ihre Projekte, die auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt zielen und solidarisch angelegt sind, müssen nachhaltig gefördert werden. Nur so kann das partizipative Element des Engagements sowie die Selbstorganisation der Zivilgesellschaft gestärkt und ein kooperativ-partnerschaftliches Miteinander der Akteure aus Bürgergesellschaft, Staat/Kommune und Wirtschaft erreicht werden.
Der vorliegende Gesetzentwurf ist insoweit aber kontraproduktiv. Wirtschaftliche Initiativen aus der Zivilgesellschaft heraus werden gehemmt und durch die vorgesehenen Anforderungen für partiarische Darlehen, Nachrangdarlehen und vergleichbare Anlagen erschwert, wenn nicht sogar verhindert. Insbesondere durch die vorgeschriebene Prospektpflicht entstehen erhebliche Kosten, die letztendlich dazu führen, dass kleinere Vorhaben, die auf Eigenkapital oder eigenkapitalähnliche Mittel von Anlegern sowie auf Spender- und Stifterdarlehen angewiesen sind, nicht durchgeführt werden können. Der Wille des Gesetzgebers, dass der Anleger die Seriosität und die Erfolgsaussichten einer Anlage besser einschätzen können soll und damit selber eine informierte und risikobewusste Entscheidung treffen kann, verkehrt sich so ins Gegenteil. Die Selbst- und Eigenständigkeit der Bürgerinnen und Bürger wird beschränkt. Solidarische Vorhaben werden unterbunden.
II. Im Einzelnen:
1. Solidarische Projekte aus der Zivilgesellschaft heraus werden unterbunden – zu Artikel 2 Nummer 2 Buchstabe a)
Der vorliegende Gesetzentwurf bezieht erstmals auch partiarische Darlehen, Nachrangdarlehen sowie sämtliche sonstigen Anlagen, die einen Anspruch auf Verzinsung und Rückzahlung gewähren, in das Vermögensanlagegesetz ein.
Die genannten Vermögensanlagen sollen zukünftig der Kreditaufsicht, einer Prospektpflicht nach dem Vermögenanlagengesetz oder dem Wertpapierprospektgesetz unterliegen. Die Prospektpflicht beinhaltet die Erstellung eines Vermögensanlagen-Informationsblattes. Dieses darf nicht mehr als drei DIN-A4-Seiten umfassen und muss die wesentlichen Informationen über die Vermögensanlagen in übersichtlicher und leicht verständlicher Weise so enthalten, dass die Anleger die mit der Vermögensanlage verbundenen Risiken, die Aussichten für die Kapitalrückzahlung und Erträge unter verschiedenen Marktbedingungen und die mit der Vermögensanlage verbundenen Kosten und Provisionen einschätzen und mit den Merkmalen anderer Finanzinstrumente bestmöglich vergleichen können. Hieraus ergeben sich dann weiterreichende Vorgaben: Vereine, die nicht zur Erstellung eines handelsrechtlichen Jahresabschlusses und seiner Offenlegung verpflichtet sind, müssen einen solchen erstellen und publizieren. Über die Hintertür werden so Publizitätspflichten für Vereine eingeführt.
Vermögensanlagen-Verkaufsprospekte, wie sie der Gesetzesentwurf jetzt verpflichtend vorschreibt, sind i.S.d. Anlegerschutzes ein möglicher Weg, um ausführlich und verlässlich über den Emittenten und die betreffende Vermögensanlage zu informieren. Potentiellen Anlegern wird dadurch eine sachgerechte und risikoorientierte Entscheidung erleichtert. Bei der Abwägung von Anlegerschutzinteressen und den Interessen der Realwirtschaft an der Eigenkapitalakquise muss jedoch auch der anfallende Aufwand und die entstehende Bürokratie ins Verhältnis zum Nutzen gesetzt werden. Die Erstellung und regelmäßige Aktualisierung eines Verkaufsprospekts sowie eines Vermögensanlagen-Informationsblattes verursachen Kosten, die gerade für kleine Unternehmen oder gemeinnützige Organisationen unverhältnismäßig groß sind und im Rahmen der Gesamtfinanzierung schwer ins Gewicht fallen. Schätzungen zufolge belaufen sich die Kosten für die Erstellung eines Verkaufsprospekts um die 50.000 EUR. Diese Kosten können dazu führen, dass solidarische, dem Gemeinwohl dienende Projekte aus der Zivilgesellschaft heraus letztendlich unterbleiben.
Unter die sonstigen Anlagen fallen insbesondere Spender- und Stifterdarlehen. Hierbei handelt es sich um Darlehen von Bürgerinnen und Bürgern, die durch die Bereitstellung von Kapital gemeinnützige Projekte unterstützen wollen. Das Kapital wird oft in Form eines Darlehens gewährt, da es – anders als eine Spende oder (Zu)Stiftung - im Falle einer eigenen Notlage, wie Krankheit oder Pflegebedürftigkeit, zurückbezahlt werden kann. Die Hemmschwelle, gemeinnützige Organisationen auch mit größeren Beträgen zu unterstützen, sinkt dadurch. Ferner fallen unter die sonstigen Anlagen auch Darlehen von (Vereins)Mitgliedern oder anderen gemeinnützigen Körperschaften. Im Vordergrund steht bei all diesen Darlehen nicht eine renditeträchtige Anlageform, sondern die Verwirklichung von dem Allgemeinwohl dienenden Zwecken.
Eine Vermögensanlage, die unter den Geltungsbereich des vorliegenden Gesetzes fällt, muss im Inland öffentlich angeboten werden. Im Bereich der Freien Wohlfahrtspflege werden häufig Mitglieder, Stifter oder Spender um Darlehen gebeten. Fraglich ist, ob es sich insoweit um ein öffentliches Angebot i.S.d. Gesetzes handelt. Es ist nicht geklärt, ob das Gesetz auch für solche Darlehen gilt.
2. Ausnahmetatbestand auch für Vereinsmitglieder – zu Artikel 2 Nummer 3 Buchstabe a) bb)
Vermögensanlagen können, wie im Fall der Genossenschaft, auch von einem Verein als Emittent nur und ausschließlich seinen Mitgliedern angeboten werden, z.B. Darlehen zugunsten des Baues einer altengerechten Wohnanlage, die nur von dem Verein und seinen Mitgliedern genutzt wird. Insoweit müsste der Ausnahmetatbestand bezüglich der Bewertung von Mitgliederdarlehen als nichtöffentliche Angebote nicht nur für Genossenschaften gelten, sondern auch auf Vereine ausgeweitet werden. Der zukünftige Absatz 2 muss insoweit angepasst werden.
3. Befreiung für soziale und gemeinnützige Projekte greift zu kurz – zu Artikel 2 Nummer 4
a) Anknüpfung am Gemeinnützigkeitsrecht und nicht allein an der Rechtsform
Die Ausnahmevorschrift gem. § 2b VermAnlG-E greift zu kurz und erfasst viele Projekte, die solidarisch und emanzipatorisch aus der Zivilgesellschaft heraus entstehen, nicht.
Der Paragraf sieht unter bestimmten Voraussetzungen die Befreiung für soziale und gemeinnützige Projekte vor. Unklar ist hier unter welchen Kriterien ein Projekt als „soziales“ oder „gemeinnütziges“ Projekt gilt. Eine Ausrichtung an den bewährten Vorgaben des Gemeinnützigkeitsrechts nach §§ 51 ff. AO ist im Gesetzesentwurf nicht vorgesehen. Auch zielt die Befreiung nicht auf die soziale und gemeinnützige Ausrichtung der die Anlage emittierenden Kleinstkapitalgesellschaft, also auf das mit der Anlage realisierte Projekt, sondern allein auf die soziale und gemeinnützige Ausrichtung der Gesellschafter. Dies hat zur Folge, dass z.B. ein gemeinnütziger Verein einerseits für den Bau einer Kindertagesstätte Darlehen von Gönnern, Sponsoren oder auch den Eltern nur mit einem teuren Verkaufsprospekt einwerben kann. Andererseits kann er sich über die Gründung einer Kleinstkapitalgesellschaft Kapital ohne entsprechende Auflagen bis zu einer Million Euro für jede Art von Gewerbe beschaffen. Durch die Gründung weiterer Kleinstkapitalgesellschaften kann der Maximalbetrag problemlos vervielfacht werden.
Zwar gibt es den Fall, dass insbesondere Nachrangdarlehen und andere Anlagen von einer Kleinstkapitalgesellschaft emittiert werden, deren Gesellschafter ein eingetragener Verein mit einer sozialen oder gemeinnützigen Zielsetzung ist. Es stellt sich die Frage, weshalb die Kleinstkapitalgesellschaft, die selber nicht gemeinnützig sein muss, hier als Ausnahmetatbestand genannt wird. Sie bietet im Hinblick auf eventuelle Risiken der Vermögensanlage, der Aussichten auf die Kapitalrückzahlung und die Erträge unter verschiedenen Marktbedingungen wenig Haftungsmasse, wenn sie z.B. Geld an andere Kapitalgesellschaften gewerbsmäßig emittiert. Die Intention des Kleinanlegerschutzgesetzes, den Schutz der Anleger, wird nicht erfüllt, weil diese Gestaltung nicht unter den Gesetzesschutz fällt.
Auch kommt es in der Praxis häufig vor, dass der Verein selbst z.B. einen Bau realisieren möchte, ohne eine GmbH als Projektbetreiber gegründet zu haben. Dieser unterläge dann nach dem vorliegenden Gesetzentwurf der Prospektpflicht. Ebenso wären Projekte von Stiftungen oder gGmbHs ohne Vereine als Gesellschafter betroffen. Der vorgesehene Befreiungstatbestand erfasst daher nicht die Bandbreite der solidarischen Projekte, die aus der Zivilgesellschaft heraus entstehen und die ebenfalls gemeinwohldienend sind.
Die Begründung für die Einschränkung des Befreiungstatbestandes auf Kleinstkapitalgesellschaften mit ausschließlich eingetragenen Vereinen als Gesellschafter ist nicht nachvollziehbar. Der Antwort des Parlamentarischen Staatssekretärs Dr. Michael Meister vom 08.12.14 (BT-Drs. 18/3519 Nr. 43 S. 30.) lässt sich entnehmen, dass diese Einschränkung gewollt ist, um eine größenmäßige Beschränkung der Emittenten zu erreichen und eine Ausnutzung des Befreiungstatbestands durch große (kommerzielle) Anbieter zu verhindern. Gleichzeitig führt er aus, dass die Vorgaben durch Gründung einer GmbH als eigentlichen Projektbetreiber und Emittenten der Vermögensanlagen verhältnismäßig einfach zu erfüllen sind. Damit werden den Vereinen jedoch unverhältnismäßig mehr Bürokratie und vor allem mehr Kosten aufgebürdet, da zwingend eine GmbH gegründet werden muss, um ein entsprechendes Projekt zu verwirklichen. Gemeinnützige Körperschaften in einer anderen Rechtsform werden von der Befreiung gänzlich ausgeschlossen. Diese Einschränkung des Befreiungstatbestandes in § 2 b VermAnlG-E ist unverhältnismäßig, da sich ein Gestaltungsmissbrauch auch anderweitig verhindern lässt. Auch gibt es im Bereich des bürgerschaftlichen Engagements keine gescheiterten Finanzierungsmodelle, die eine derart starke Reglementierung insbesondere von Nachrangdarlehen und sonstigen Anlagen rechtfertigen würden.
Die Problematik soll am Beispiel frei-gemeinnütziger Schulen nochmals verdeutlicht werden: Der vorliegende Gesetzesentwurf würde für deren Träger eine erhebliche Einschränkung bedeuten, da diese oftmals auf sog. Elterndarlehen zurückgreifen (müssen), um größere Bauprojekte finanzieren zu können. Würden diese Träger für alle Projekte, die eine Million Euro übersteigen eine Genehmigung der Bankenaufsicht einholen und zudem die Prospektpflicht erfüllen müssen, würde dies erhebliche Kosten nach sich ziehen. Dies würde dazu führen, dass diese Form zur Finanzierung gemeinnütziger Projekte nicht mehr zur Verfügung stehen würde. Mitglieder- und Elterndarlehen wären nicht mehr wirtschaftlich tragfähig, die Schulen wären auf teurere Bankdarlehen angewiesen. Die Interessen von Kleinanlegern, die durch das Gesetz geschützt werden sollen, sind nicht mit der Interessenlage von Eltern vergleichbar, die zur Unterstützung einer Schule in freier Trägerschaft durch die Gewährung zinsloser oder zinsgünstiger Kredite beitragen wollen. Diese Projekte, die als Vereine, Genossenschaften oder als Stiftungen organisiert werden, fallen aber nach der vorliegenden Formulierung nicht unter die Ausnahmeregelung. Die Befreiung sollte daher nicht ausschließlich an der Rechtsform, sondern auch am Gemeinnützigkeitsrecht nach §§ 51 ff. AO anknüpfen.
b) Obergrenze zu niedrig
Auch ist die Obergrenze der Ausnahmeregelung von 1 Million Euro nicht nachvollziehbar. Gerade bei Baumaßnahmen wird diese Grenze schnell überschritten, mit der Folge, dass die Träger die kostenintensiven Vorgaben des Vermögensanlagengesetztes zu beachten haben und unverhältnismäßig belastet werden. Aus gutem Grund schlägt der Bundesrat in seiner Stellungnahme eine Erhöhung der Obergrenze auf 10 Millionen Euro vor (Stellungnahme des Bundesrats, Bundesrats-Drucksache 638/14 Nr. 8).
Wir sehen dringenden Änderungsbedarf bei § 2 b VermAnlG-E, um den Finanzierungsbedürfnissen des sog. Dritten Sektors gerecht zu werden.
4. Zu lange Laufzeit von Vermögensanlagen – zu Artikel 2 Nummer 5
In § 5 a VermAnlG-E wird erstmals eine Mindestlaufzeit von 24 Monaten sowie eine ordentliche Kündigungsfirst von mindestens 12 Monaten für Anlagen im Sinne des Gesetzes vorgeschrieben. Für Spender- und Stifterdarlehen sind diese Fristen zu lang. Bei diesen Mitteln wird oft nicht unmittelbar gespendet oder gestiftet, sondern bewusst die Darlehensform gewählt, damit der Spender oder Stifter im Falle einer eigenen Notlage auf sie zurückgreifen kann. Derart lange Laufzeiten und Kündigungsfristen können abschreckend wirken und dadurch die Finanzierung gemeinnütziger Projekte erschweren oder gar verhindern.
5. Durch Vermögensanlage-Informationsblatt Einführung einer Rechnungslegungspflicht für Vereine - Zu Artikel 2 Nummer 14 Buchstabe c)
Nach dem Willen des Gesetzgebers soll ein Vermögensanlage-Informationsblatt alle wesentlichen Informationen über die Vermögensanlage enthalten, damit die Anleger die mit der Vermögensanlage verbundenen Risiken, die Aussichten für die Kapitalrückzahlung und Erträge unter verschiedenen Marktbedingungen und die mit der Vermögensanlage verbundenen Kosten und Provisionen einschätzen und mit den Merkmalen anderer Finanzinstrumente bestmöglich vergleichen können.
Durch die Aufnahme der neuen Nummer 2b soll sichergestellt werden, dass auch Informationen über den aktuellen Verschuldungssgrad des Emittenten im Vermögensanlage-Informationsblatt enthalten sind. Diese Angabe ist auf Grundlage des letzten aufgestellten Jahresabschlusses zu berechnen. Bei einem Verein als Emittent besteht aber i.d.R. mangels gesetzlicher Regelung keine Praxis einen handelsrechtlichen Jahresabschluss zu erstellen. Über den vorliegenden Gesetzentwurf werden die Vereine gezwungen, sich den handelsrechtlichen Erfordernissen der Rechnungslegung zu unterwerfen. Das sind Regelungen, die gerade für die Vereine nicht gedacht sind und auch nicht ohne weiteres für diese Organisationen übernommen werden können. Die Größenordnung des HGB für Kapitalgesellschaften und den daraus abgeleiteten Erfordernissen an die Rechnungslegung können nicht eins zu eins auf Vereine übertragen werden.
III. Formulierungsvorschlag zu § 2 b VermAnlG-E:
Die im VermAnlG-E vorgesehene Ausweitung der Prospektpflicht sowie der Pflicht zur Erstellung eines Vermögensanlagen-Informationsblattes insbesondere auf Nachrangdarlehen und sonstige Anlageformen hat gravierende Auswirkungen auf die Finanzierung gemeinwohlorientierter Projekte im Bereich der Freien Wohlfahrtspflege. Dies kann nur durch eine deutlich weitergehende Fassung der Bereichsausnahme in § 2 b VermAnlG-E für soziale und gemeinnützige Projekte verhindert werden. Da bei diesen Finanzierungsformen nicht die renditeträchtige Vermögensanlage, sondern die Verwirklichung gemeinwohlorientierter Zwecke im Sinne der §§ 51 ff. AO im Vordergrund steht, ist eine entsprechende gesetzliche Regelung sachgerecht.
Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege fordern daher, § 2 b VermAnlG-E wie folgt zu formulieren:
§ 2 b VermAnlG – Befreiung für soziale und gemeinnützige Projekte
Die §§ 5a bis 26 dieses Gesetzes sind nicht anzuwenden auf Vermögensanlagen im Sinne von § 1 Absatz 2 Nummer 3, 4 und 7, die von einer steuerbegünstigten Körperschaft im Sinne des § 51 ff. AO angeboten werden, sofern der Verkaufspreis der Anlagen ohne Vermögensanlagen nach § 2 Nummer 3 Buchstabe c dieses Gesetzes 10 Millionen Euro nicht übersteigt. Gleiches gilt für Vermögensanlagen, die von Kapitalgesellschaften im Sinne von §§ 267 Absatz 1, 267a Handelsgesetzbuch emittiert werden, deren Gesellschafter Körperschaften mit einer sozialen oder gemeinnützigen Zielsetzung im Sinne des § 51 ff. AO sind, wenn
1. der Verkaufspreis sämtlicher von dem Anbieter angebotener Vermögensanlagen desselben Emittenten 10 Millionen Euro nicht übersteigt und
2. der vereinbarte Sollzinssatz unter dem Basiszinssatz zuzüglich maximal 4 Prozentpunkte liegt.
Die Loslösung von der Rechtsform, die Einführung einer Obergrenze von 10 Millionen Euro pro gemeinnütziger Körperschaft sowie die Ausrichtung am Basiszinssatz entsprechen den Vorschlägen des Bundesrats (Stellungnahme des Bundesrats, Drucksache 638/14 Nr. 8), der die in § 2 b VermAnlG-E normierten Befreiungen für soziale und gemeinnützige Projekte ebenfalls als nicht ausreichend und als zu eng gefasst beurteilt.
Durch die Anhebung der Höchstgrenze ist ein Verweis allein auf die Kleinstkapitalgesellschaft in § 267a HGB nicht sachgerecht, da bei einer Darlehensaufnahme bis maximal 10 Millionen Euro die Größenbeschränkungen des § 267a HGB kaum eingehalten werden können. Die Befreiung für soziale und gemeinnützige Projekte in § 2 b VermAnlG-E sollte daher mindestens auf die kleinen Kapitalgesellschaften nach § 267 Absatz 1 HGB ausgeweitet werden.
Die BAGFW hat im September 2014 erste Kernpositionen und Erwartungen formuliert, die in Freihandelsabkommen zu berücksichtigen sind. Diese Positionen wurden mit dem BMWi eingehend diskutiert und in diesem gemeinsamen Positionspapier zusammengefasst. Das vorliegende Positionspapier zielt ausschließlich darauf ab, die im nationalen und europäischen Recht bestehende Struktur, Organisation, Finanzierung und Aufgabenwahrnehmung bei der (gemeinnützigen) Erbringung sozialer Dienstleistungen zu sichern. Für andere Aspekte des Abkommens verweisen die Unterzeichner auf das gemeinsame Papier des BMWi mit dem DGB vom 18.09.2014, insbesondere darauf, dass die Fähigkeit von Parlamenten und Regierungen, Gesetze und Regelungen zum Schutz und im Sinne der Bürgerinnen und Bürger zu erlassen, auch nicht durch die Schaffung eines „Regulierungsrates“ im Kontext regulatorischer Kooperation oder durch weitgehende Investitionsschutzvorschriften eingeschränkt werden darf.
1) Die Freie Wohlfahrtspflege leistet mit ihren Diensten und Einrichtungen einen entscheidenden Beitrag zum gesellschaftlichen Zusammenhalt in Deutschland und stellt zudem einen wichtigen Wirtschaftsfaktor dar. In TTIP sollen daher keine Regelungen zu spezifischen Organisationsformen der Leistungserbringung getroffen werden, die die Organisation und Struktur der Leistungserbringung durch die Freie Wohlfahrtspflege in Frage stellen.
2) Die gemeinnützige Leistungserbringung, insbesondere auch im sozialrechtlichen Dreiecksverhältnis, darf durch TTIP nicht in Frage gestellt werden. TTIP darf bestehende Möglichkeiten nicht beeinträchtigen, durch entsprechende Maßnahmen soziale Dienstleistungen weiterhin öffentlich zu finanzieren und zu fördern.
3) In TTIP dürfen für die Daseinsvorsorge keine zusätzlichen Marktöffnungsverpflichtungen für Deutschland übernommen werden, die über das im WTO-Dienstleistungsabkommen (GATS) von 1995 bereits verbindlich Geregelte hinausgehen. Bei Erbringung von Dienstleistungen durch ausländische Anbieter müssen die in Deutschland geltenden rechtlichen Rahmenbedingungen zu Standards und Lizenzierung für soziale und Gesundheitsdienstleistungen eingehalten werden. Die TTIP-Regelungen sollen somit nicht zu Änderungen in den Rahmenbedingungen für die sozialrechtliche Leistungserbringung durch Dienste der freien Wohlfahrtspflege führen.
4) Deutschland hat im GATS für den Bildungsbereich einen Vorbehalt, der Maßnahmen für alle Bildungseinrichtungen umfasst, die gemischt oder rein öffentlich finanziert sind. Darüber hinaus wurden für rein privat finanzierte Bildungsdienstleistungen im GATS teilweise Öffnungsverpflichtungen übernommen. Diese beziehen sich z.B. auf die rein privatfinanzierte Erwachsenenbildung. Auch im TTIP sollen keine weitergehenden Verpflichtungen enthalten sein, als sie im GATS-Abkommen bereits enthalten sind.
5) Drei EU-Vergaberichtlinien müssen in den kommenden zwei Jahren in nationales Recht umgesetzt werden. Für öffentliche Auftraggeber in Deutschland sollen in TTIP keine neuen Verpflichtungen übernommen werden, die über den Status quo des EU-Vergaberechts hinausgehen. Insbesondere dürfen durch ein Beschaffungskapitel in TTIP die nach dem EU-Vergaberecht bestehenden Möglichkeiten zur Berücksichtigung sozialer, umweltbezogener und innovativer Aspekte für soziale und Gesundheitsdienste sowie die Möglichkeit vorbehaltener Aufträge für die Integration von Menschen mit Behinderungen und benachteiligten Personen nicht in Frage gestellt werden.
6) BMWi und BAGFW halten im Grundsatz[1] Investitionsschutzbestimmungen in Handelsabkommen zwischen entwickelten Rechtsstaaten wie der EU und den USA weder für sinnvoll noch für erforderlich. Daher stehen sie dem Konzept von Investor-Staat-Schiedsverfahren in TTIP mit Skepsis gegenüber. In TTIP muss mindestens sichergestellt sein, dass nichtdiskriminierende Maßnahmen der Gesetzgebung nach rechtsstaatlichen Grundsätzen keine Schadensersatzansprüche für Investoren begründen können. Ein einklagbares Recht auf Marktzugang darf es nicht geben.
[1] Für die BAGFW gilt dieser Satz ohne Einschränkung.
]]>Einleitung
Die in der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) vertretenen Wohlfahrtsverbände nutzen die Gelegenheit zur gemeinsamen Stellungnahme.
Die BAGFW begrüßt die auch im aktuellen Sozialbericht dokumentierte Sichtweise der Bundesregierung, wonach die Wohlfahrtsverbände einen bedeutenden Beitrag zur Umsetzung der Ziele der OMK Soziales und der Strategie 2020, insbesondere in den Bereichen der sozialen Eingliederung und Armutsvermeidung leisten. Hiervon ausgehend bekräftigen die Wohlfahrtsverbände ihr Anliegen einer zukünftig verbindlichen Mitwirkung der zivilgesellschaftlichen Akteure und der Bürgerinnen an der OMK Soziales. Wie dies auch bei der Ausgestaltung und Umsetzung der Europäischen Strukturfonds gilt, sollte das Partnerschaftsprinzip verpflichtend sein und in einem Verhaltenskodex Regeln für die partnerschaftliche Zusammenarbeit von Sozialpartnern und Nichtregierungsorganisationen festgelegt werden. Im Rahmen dieser partnerschaftlichen Zusammenarbeit sollte der Nationale Sozialbericht einen eigenständigen Berichtsteil der Nichtregierungsorganisationen enthalten. Zumindest sollten die eingeholten Stellungnahmen der Nichtregierungsorganisationen gemeinsam mit dem Bericht veröffentlicht werden. Dies ist auch deshalb erforderlich, weil in dem Entwurf des Nationalen Sozialberichts nicht kenntlich gemacht worden ist, inwieweit die im Vorfeld eingeholten Stellungnahmen zu gewünschten Themen und Schwerpunkten konkret berücksichtigt worden sind.
Die Wohlfahrtsverbände erkennen die Bemühungen des Bundesarbeitsministeriums an, den Konsultationsprozess zum Nationalen Sozialbericht angesichts des gerade in diesem Jahr sehr engen Zeitplans frühzeitig zu starten und gleichzeitig mehrere Beteiligungsschritte einzuhalten. Die für diese schriftliche Stellungnahme gegebene Frist von 8 Werktagen ist jedoch sehr kurz bemessen.
In dieser Stellungnahme konzentrieren sich die Wohlfahrtsverbände auf Themen des Nationalen Sozialberichts, zu denen gemeinsam abgestimmte und ausreichend differenzierte Positionen vorliegen. Infolgedessen können in dieser Stellungnahme nicht alle relevanten Sozialreformen des Berichtszeitraums, etwa die Einführung des allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns oder die Rentenreformen kommentiert werden.
Das Bundesarbeitsministerium betont einleitend die gute Arbeitsmarktsituation und verweist auf den Zuwachs an sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung und die rückläufige registrierte Arbeitslosigkeit. Bei dieser Gesamtschau bleibt die Problematik der hohen und verfestigten Langzeitarbeitslosigkeit ebenso wie das Ausmaß des verfestigten Langzeitleistungsbezugs in der Grundsicherung für Arbeitsuchende unerwähnt, obwohl diese Probleme im Berichtszeitraum bundespolitisch und auch in der Öffentlichkeit intensiv diskutiert worden sind. Ganz unbestritten gibt es nach wie vor eine strukturelle Arbeitslosigkeit. Trotz einer insgesamt rückläufigen Zahl der Arbeitslosen ist die Zahl der Langzeitarbeitslosen zuletzt auf über 1,3 Mio. Menschen angestiegen. Als erwerbsfähig gelten derzeit über 3 Millionen Langzeit-Leistungsbeziehende. Die Hälfte von diesen lebt mit weiteren Personen, die nicht als erwerbsfähig gelten (zu 95 Prozent Kinder) in Bedarfsgemeinschaften. Besonders kritisch ist auch der Umstand zu werten, dass Ende 2012 zwei Drittel der mehr als 4 Mio. erwerbsfähigen Leistungsberechtigten bereits über zwei Jahre im Leistungsbezug waren; jede(r) vierte sogar durchgängig seit 2005.
Sorge bereitet auch die Entwicklung des Armutsrisikos. Gesamtwirtschaftlicher Erfolg und die Zunahme privaten Reichtums führen nicht mehr dazu, dass das Armutsrisiko in Deutschland geringer wird; sondern das Armutsrisiko und Ungleichheit nehmen zu. Der Ausschuss für Sozialschutz hat den Nationalstaaten zur Erstellung ihrer Strategischen Sozialberichterstattung empfohlen, Daten zur Sozialen Situation heranzuziehen, die aktueller als die der EU-SILC sind. Nach der Auswertung des Mikrozensus ergibt sich dieses Bild: Die Armutsrisikoquote ist seit dem Jahr 2006 – mit Unterbrechungen in den Jahren 2010 und 2012 auf einen Wert von 15,5 Prozent im Jahr 2013 angestiegen. Rund 12,5 Millionen Menschen waren damit in diesem Jahr in Deutschland vom Risiko der Einkommensarmut betroffen. Dabei haben sich die Arbeitslosenzahlen und Armutsrisikoquoten in ihrer Entwicklung nicht nur abgekoppelt, sondern sich entgegengesetzt entwickelt. Während die Armutsrisikoquote seit 2006 relativ kontinuierlich um 10,7 Prozent angestiegen ist – von 14 Prozent auf 15,5 Prozent – ist die Arbeitslosenquote mit Ausnahme des Krisenjahres 2009 ebenso kontinuierlich um 36,1 Prozent (von 10,8 Prozent auf 6,9 Prozent) gesunken.
Die Bundesregierung erklärt, dass die Altersarmut trotz eines leichten Anstiegs in den letzten Jahren nach wie vor klein sei und kein verbreitetes Problem darstellt. Die BAGFW weist darauf hin, dass die 65-Jährigen und Älteren in 2013 mit einer Quote von 14,3 Prozent noch genauso unterdurchschnittlich vom Armutsrisiko betroffen waren wie die Gruppe der Rentner und Pensionäre mit einer Armutsrisikoquote von 15,2 Prozent. Allerdings gibt es starke Zuwächse seit 2006. Seitdem nahm das Armutsrisiko unter den 65-jährigen und Älteren um 37,5 Prozent und das der Rentner und Pensionäre um sogar 47 Prozent zu. Dabei ist die Armutsrisikoquote von Frauen im Seniorenalter um einige Prozentpunkte höher als die von Männern. Sie sind überdurchschnittlich von Armut bedroht. Es gibt derzeit keinerlei Anzeichen dafür, dass dieser Trend gestoppt wird. Die BAGFW merkt kritisch an, dass im vorliegenden Bericht keine Pläne der Bundesregierung zur Bekämpfung von Altersarmut dargestellt werden.
Die Bundesregierung will bei der Ausgestaltung der Sozialleistungen Leistungs- und Beschäftigungsanreize gewahrt sehen und die finanziellen Belastungen für die Sozialversicherungen und öffentlichen Finanzen in Grenzen halten.
Gerade bei der Umsetzung der Grundsicherung für Arbeitssuchende können die Wohlfahrtsverbände keine nennenswerte Problematik fehlender Leistungs- und Beschäftigungsanreize erkennen. Die Probleme liegen anders. Nach den massiven Kürzungen der Mittel für die aktive Arbeitsmarktförderung seit 2010 ist die Unterstützung und Förderung Arbeitsloser stark eingeschränkt worden. Gleichzeitig haben sich am deutschen Arbeitsmarkt prekäre Beschäftigungsverhältnisse und solche im Niedriglohnsektor stark ausgebreitet. Eine Aufnahme einer Erwerbstätigkeit, die aus der Grundsicherung für Arbeitssuchende herausführt, ist oft nur sehr kurz. Etwa jede/r Zweite fällt innerhalb von sechs Monaten wieder in den Leistungsbezug zurück. Trotz leicht rückläufiger SGB-II-Gesamtempfängerzahlen ist die Zahl derjenigen, die Erwerbseinkommen erzielen und dennoch Leistungen nach dem SGB II erhalten (sog. Aufstocker) mit rund 1,3 Mio. nach wie vor hoch.
Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege bekräftigt deshalb ihre Position, dass die Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums nicht zur Disposition stehen darf. Bei der Bemessung der Regelbedarfe sind deutliche Korrekturen nötig.
Beiträge zur Erreichung der Ziele der Strategie Europa 2020 im Bereich der Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung
Die BAGFW sieht weiterhin Korrekturbedarf an der Stelle, an der die Bundesregierung ihren Erfolg bei der die Verminderung von Armut und sozialer Ausgrenzung innerhalb der EU-2020-Strategie primär über die Bekämpfung von Langzeitarbeitslosigkeit misst. Die Bundesregierung hat sich im Bereich „soziale Inklusion“ die Senkung der Zahl der Langzeitarbeitslosen um 20 Prozent gegenüber 2008 vorgenommen. Dieses Ziel ist erreicht. Die Europäische Kommission hat Deutschland aber in den länderspezifischen Empfehlungen von 2013 und 2014 unzureichende Fortschritte bei der Integration von Langzeitarbeitslosen in den Arbeitsmarkt, bei der Anhebung des Bildungsniveaus benachteiligter Gruppen sowie bei der Umwandlung von atypischen Beschäftigungsverhältnissen, wie Minijobs, in nachhaltigere Beschäftigungsformen bescheinigt.[1] Die Bundesregierung sollte sich dafür einsetzen, dass zusätzlich zu dem Indikator „Langzeitarbeitslosigkeit“ auch andere Indikatoren, wie z. B. die „materielle Deprivation“ berücksichtigt werden. Beim Indikator Langzeitarbeitslosigkeit ist überdies zu beachten, dass die Langzeitarbeitslosigkeit qua Definition nicht nur durch die Aufnahme einer Erwerbsarbeit, sondern auch durch kurzzeitige Unterbrechungen wie z. B. Krankheitsphasen, Zeiten der Teilnahme an einer arbeitsmarktpolitischen Maßnahme u.a. unterbrochen wird.
Handlungsbedarf sehen die Verbände bei der Regelbedarfsermittlung. Die BAGFW bewertet die vorgenommene Abgrenzung der Referenzgruppen und die Herausnahme einzelner Konsumausgaben und ihre Einstufung als nicht verbrauchsrelevant nach wie vor kritisch. Dringenden Handlungsbedarf sehen die Verbände bei der Berechnung der Kinderregelbedarfe. Viele der für Kinder und Jugendliche als relevant festgeschriebenen Verbrauchsausgaben sind aufgrund der geringen Stichprobenfälle der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe statistisch nicht hinreichend signifikant oder werden wie beim Teilhabedarf zweckgebunden unter abschließender Aufzählung der Teilhabemöglichkeiten mit einer Pauschale berücksichtigt. Knapp dreieinhalb Jahre nach Inkrafttreten der Regelungen liegen zahlreiche empirische Befunde zum Bildungs- und Teilhabepaket (BuT) vor. Diese zeigen, dass die Inanspruchnahme der BuT-Leistungen – mit Ausnahme der Leistungen für den Schulbedarf, die automatisch ohne Antrag gewährt werden – nach wie vor verbesserungswürdig sind und mit dem BuT bei Weitem nicht alle Kinder und Jugendlichen erreicht werden. Die BAGFW ist der Auffassung, dass das Reformvorhaben zur „Rechtsvereinfachung im SGB II“ dazu genutzt werden sollte, Verbesserungen bei den Leistungen für Bildung und Teilhabe nach § 28 SGB II auf den Weg zu bringen. Zumindest sollten die Leistungen des BuT gleichzeitig mit dem ALG II (Globalantrag) beantragt werden können. Die Wohlfahrtsverbände würden es außerdem begrüßen, wenn die Bundesregierung Ausführungen in den Nationalen Sozialbericht aufnehmen würde, wie sie den Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts aus seinem Urteil vom 23. Juli 2014 zur Bemessung der Regelbedarfe im SGB II und XII nachkommen will, auch um eine zügige Umsetzung der angemahnten Korrekturen anzuzeigen.
In der strategischen Sozialberichterstattung wird Deutschland seitens der EU insbesondere nach der Zugänglichkeit zu sozialen Dienstleistungen – auch der Arbeitsverwaltung – befragt. Die Wohlfahrtsverbände sehen insbesondere bei der Umsetzung des Leistungsrechts in der Grundsicherung für Arbeitsuchende Handlungsbedarf, um die Organisation der Leistungsträger und Verfahrensabläufe kundenfreundlicher auszugestalten. So gelingt es oftmals nicht, dass für Antragsteller ein/e feste/r Ansprechpartner/-in zur Verfügung steht, die/der das Antrags- und Bewilligungsverfahren einer Bedarfsgemeinschaft kontinuierlich begleitet. Ein weiteres Problem ist nach wie vor die Gestaltung der Leistungsbescheide und ihrer Begründungen, die oft für den Durchschnittsbürger unverständlich formuliert sind. Der Verwaltungsaufwand und die Reibungsverluste sind größer, wenn Fragen nicht unbürokratisch geklärt werden können. Die Wohlfahrtsverbände plädieren deshalb für mehr Kontinuität bei den Ansprechpartnern und eine deutlichere Erkennbarkeit nach außen. Ein weiterer Ansatz zur besseren Verständlichkeit des Behördenhandelns kommt bei wechselnden Leistungshöhen in Betracht. Mitteilungen über die Höhe des tatsächlich ausgezahlten Betrags (einschließlich einer Auflistung noch offener Aufrechnungen, Forderungen, Sanktionen, die in Abzug gebracht werden) erhöhen ohne großen Aufwand die Transparenz und die Nachvollziehbarkeit über das Verwaltungshandeln.
Die Wohlfahrtsverbände begrüßen die Einrichtung des Europäischen Hilfsfonds für die am stärksten benachteiligten Personen (EHAP) und die partnerschaftliche Zusammenarbeit mit der Freien Wohlfahrtspflege bei seiner Ausgestaltung. Der Hilfsfonds ist auf die Zielgruppen EU-Zuwanderer und ihre Kinder und Wohnungslose fokussiert. Die BAGFW hat sich dafür eingesetzt, dass darüber hinaus weitere benachteiligte nationale Zielgruppen, wie z.B. Suchterkrankte, Straffällige von Armut betroffen und jetzt oder zukünftig in einem solchen Programm zu berücksichtigen sind.
Vor dem Hintergrund der verfestigten und hohen Langzeitarbeitslosigkeit und des andauernden Hilfebezugs im SGB II sieht die BAGFW die Initiative der Arbeitsministerin „Chancen eröffnen – soziale Teilhabe sichern“ positiv. Die Verbände loben ausdrücklich das Vorhaben, ein Angebot zur Sozialen Teilhabe durch Erwerbsarbeit für ansonsten vom Arbeitsmarkt ausgeschlossene Personen mit öffentlich geförderter sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung zu unterbreiten. Das Programm kann dazu ein erster wichtiger Schritt sein. Da die tatsächlichen Unterstützungsbedarfe weit über die angedachte Förderung von 10.000 Personen hinausgehen, fordert die BAGFW zusätzliche Mittel bereitzustellen und das Programm mit einer Erprobung des sog. Passiv-Aktiv-Transfers (PAT) zu verknüpfen.
Außerdem sind Ziele des Programms und daran anknüpfende Erfolgsindikatoren klar zu definieren. Das Programm soll primär die soziale Teilhabe fördern und die soziale Situation der Geförderten und ihrer Bedarfsgemeinschaft, insbesondere der darin lebenden Kinder, verbessern. Folglich darf der Erfolg der Förderung nicht allein an Übergängen in ungeförderte Beschäftigung gemessen werden.
Das Konzept der Bundesarbeitsministerin sieht außerdem vor, die im Zuge des Bundesprogramms „Perspektive 50plus“ entwickelten Konzepte und Strukturen weiterzuführen und für die Förderung von Langzeitarbeitslosen nutzbar zu machen. Nach Einschätzung der BAGFW haben v.a. eine intensivierte Betreuung und engagierte Förderung mit Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktförderung und Gesundheitsförderung zum Erfolg geführt. Die Jobcenter sollten jedoch nicht nur für programmspezifisch ausgewählte Zielgruppen, sondern für alle Leistungsberechtigten mit einer ausreichend Anzahl an qualifiziertem Personal und verfügbaren Maßnahmen der Arbeitsförderung ausgestattet werden, so dass ein intensiver Kontakt mit den Arbeitssuchenden ermöglicht und ihnen auch Zugang zu individuell passgenauen Maßnahmen der Arbeitsförderung, zu psychosozialen Hilfen und Angeboten der Gesundheitsförderung gewährt wird.
Darüber hinaus spricht sich die BAGFW grundsätzlich für den Ausbau der psychosozialen Hilfen und Teilhabeangebote für Leistungsberechtigte in der Grundsicherung aus. Die BAGFW weist hierbei ebenfalls darauf hin, dass der Erfolg sozialer Teilhabeleistungen an der Verbesserung der sozialen Situation der Betreffenden gemessen werden muss und nicht allein an arbeitsmarktpolitischen Kennzahlen.
Die Mittel für Verwaltung der Jobcenter und die Eingliederungsmittel müssen nach den drastischen Kürzungen der Mittel für die aktive Arbeitsmarktpolitik in den Jahren 2010 bis 2013 hierfür jedoch dringend aufgestockt werden. 2013 flossen aus dem Topf für „Eingliederung in Arbeit" 445 Mio. Euro in das Verwaltungsbudget, weil die Jobcenter ihre steigenden Verwaltungsausgaben anderweitig nicht mehr decken konnten. Die massiven Mittelkürzungen – die Mittel für Eingliederungsleistungen der Jobcenter im SGB II wurden von noch 6,6 Milliarden Euro im Jahr 2010 auf 3,9 Milliarden Euro im Jahr 2013 gekürzt – sind mitentscheidend für einen drastischen Rückbau der arbeitsmarktpolitischen Instrumente. Langzeitarbeitslose sind in der aktiven Arbeitsförderung mittlerweile unterrepräsentiert. Nicht einmal jeder Zehnte der insgesamt 1,05 Mio. Langzeitarbeitslosen hatte in 2013 die Möglichkeit bekommen, an einer arbeitsmarktpolitischen Maßnahme teilzunehmen, bei allen Arbeitslosen bekam zumindest fast jede/r Fünfte ein Maßnahmenangebot.
Die BAGFW regt darüber hinaus dringend eine gesetzliche Novellierung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente im Zuge des bevorstehenden Neunten SGB-II-Änderungsgesetzes an. An einigen Stellen fehlen die passenden Förderinstrumente für Langzeitarbeitslose. Der Reformbedarf betrifft u.a. die Arbeitsgelegenheiten. Arbeitsgelegenheiten sind sinnvoll, um sehr arbeitsmarktferne Menschen (z.B. wohnungslose Menschen, psychisch beeinträchtigte Personen) sozial zu stabilisieren und ihre Beschäftigungsfähigkeit schrittweise zu verbessern. Die derzeitige Begrenzung der Förderdauer auf zwei Jahre innerhalb von fünf Jahren ist aufzuheben, da sie zum Ausschluss gerade derjenigen Leistungsberechtigten führt, die längerfristige Unterstützung benötigen, und die Wirkung dieses Instruments auf diese Weise ins Leere läuft. Bei den Arbeitsgelegenheiten muss es zukünftig wieder möglich sein, sozialpädagogische Begleitung oder arbeitsbegleitende Qualifizierung direkt mit dem Instrument zu verknüpfen, ohne diese begleitenden Angebote umständlich zukaufen zu müssen.
Die in den Förderleistungen enthaltenen Tätigkeiten müssen entsprechend den Fähigkeiten der unterstützten Person so ausgestaltet sein, dass sie die Betroffenen in ihrer persönlichen Entwicklung unterstützen und ihre individuellen Fähigkeiten fördern. Die derzeit geltenden Kriterien der Zusätzlichkeit, des öffentlichen Interesses und der Wettbewerbsneutralität wirken in ihrer Gesamtheit jedoch kontraproduktiv. Sie sind nicht geeignet, um zentral definiert zu werden. Es sollten die lokalen Akteure des Arbeitsmarktes im örtlichen Beirat Verantwortung für die Ausgestaltung erhalten.
Die sogenannte freie Förderung ist als echte Erprobungsklausel im SGB II auszugestalten. Aufgrund bestehender Restriktionen können Jobcenter das Instrument der freien Förderung nicht wie intendiert nutzen, um neue Lösungsansätze, etwa zur Förderung von sonst nicht erreichbaren Jugendlichen oder verfestigt Langzeitarbeitslosen anzubieten. Um die dauerhafte Überwindung der Hilfebedürftigkeit durch die Stabilisierung des Arbeits- oder Ausbildungsverhältnisses sichern zu können, sollte zukünftig außerdem eine nachgehende Begleitung von Leistungsberechtigten und Arbeitgebern ermöglicht werden.
Darüber hinaus spricht sich die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege dafür aus, die laufende Reform des Vergaberechts zur Umsetzung der EU-Richtlinie zur öffentlichen Auftragsvergabe[2] zu nutzen, um die Zugänglichkeit der sozialen Dienstleistungen in der Arbeitsförderung zu verbessern. Damit die Maßnahmen zielgenauer am Bedarf der Arbeitslosen eingesetzt werden können und mehr Innovationskraft in der Arbeitsförderung zur Entfaltung kommen kann, sollte eine Vielfalt unterschiedlicher Verfahren gegenüber der heute dominant eingesetzten öffentlichen Ausschreibung möglich sein.
Jüngste Reformen und politische Initiativen im Bereich der sozialen Inklusion
Bei der Reform des Asylbewerberleistungsgesetzes begrüßen die Wohlfahrtsverbände insbesondere die Regelung, dass nunmehr nach längstens 3 Monaten vorrangig Barleistungen und nicht Sachleistungen zu gewähren sind. Dies ist neben weiteren Änderungen für die soziale Teilhabe der Leistungsberechtigten ein großer Fortschritt. Allerdings setzen sich die Wohlfahrtsverbände weiterhin für eine vollständige Aufhebung dieses Sondergesetzes ein. Asylsuchende, geduldete Personen und andere Personengruppen, die bisher unter das AsylbLG fallen sollte der Zugang zu den allgemeinen Sozialgesetzbüchern von Anfang an direkt und vollumfänglich eröffnet werden. Besonders dringlich müssen die nach wie vor bestehenden Einschränkungen bei der medizinischen Versorgung Asylsuchender und geduldeter Personen entfallen. Das Bundesverfassungsgericht hatte am 12. Juli 2012 festgestellt: „Die Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren“. Damit entfällt die Rechtfertigung für das Asylbewerberleistungsgesetz, das im Grundsatz darauf zielt, die Zahl der Leistungsbezieher nach AsylbLG in Deutschland zu steuern und zu begrenzen. Zudem bleiben mehr als die Hälfte der Asylsuchenden längerfristig, teils dauerhaft in Deutschland. Unter ihnen befinden sich zahlreiche anerkannte international Schutzberechtigte, also anerkannte Flüchtlinge oder zumindest subsidiär Schutzberechtigte. Daher ist es sinnvoll, Integration von Anfang an zu ermöglichen. Die Neuregelung beim Arbeitsmarktzugang, die den Betroffenen nunmehr nach 15 Monaten und nicht erst nach 48 Monaten einen gleichberechtigten Arbeitsmarktzugang eröffnet, begrüßen die Verbände in diesem Sinne ebenfalls, da die betroffenen Menschen bessere Chancen haben, ihren Lebensunterhalt eigenständig zu bestreiten und damit ihre Teilhabe besser verwirklichen können. Sinnvoller wäre jedoch ein gleichberechtigter Arbeitsmarktzugang bereits nach 3 Monaten. Nicht nachvollziehbar ist, dass Personen, denen vorgehalten wird, sie seien zum Zwecke des Sozialleistungsbezuges eingereist, ein Beschäftigungsverbot erteilt werden kann mit der Folge, dass sie auf den Bezug auf Sozialleistungen gerade angewiesen sind. Da Arbeitsuchende mit deutschen Sprachkenntnissen eine deutlich höhere Chance auf dem hiesigen Arbeitsmarkt haben, sollten Asylsuchende und Geduldete wie auch Unionsbürger einen Anspruch auf Integrationskurse haben. Als problematisch sehen die Wohlfahrtsverbände die Einstufung von Bosnien-Herzegowina, Mazedonien und Serbien als sichere Herkunftsstaaten an. Das betrifft vor allem Minderheitenangehörige, insbesondere Roma, die in den genannten Ländern unstreitig verschiedenen Formen der Diskriminierung ausgesetzt sind. Ein besonderes Schutzbedürfnis für viele Menschen aus diesen Ländern ist nicht zu bestreiten und kann auch asylrelevant sein. Nach wie vor können Menschen, die sich nicht legal und ohne Duldung in Deutschland aufhalten, teilweise ihre menschenrechtlichen Ansprüche insbesondere in Bezug auf gesundheitliche Versorgung aufgrund der Übermittlungspflichten staatlicher Stellen effektiv nicht geltend machen.
Die Unterbringung von Schutzsuchenden ist zunehmend eine Herausforderung für die Kommunen. Dazu bedarf es geeigneten Wohnraums. Die Bundesregierung hat den Ländern Unterstützung zugesagt. Die Verbände sehen mit großer Sorge insbesondere die Unterbringung von Flüchtlingen in Gemeinschaftsunterkünften mit teils hunderten Bewohnerinnen und Bewohnern, für die es keine bundesweit verbindlichen und überprüfbaren Standards gibt. Aus Sicht der Verbände sollten Flüchtlinge, insbesondere Familien mit Kindern, vorrangig in Wohnungen untergebracht werden. Insofern sich die Bundesregierung an der Unterbringung von Flüchtlingen beteiligt, muss sichergestellt sein, dass bundesweite Standards menschenwürdig sind. Notwendig sind kleine Wohneinheiten, die die Privatsphäre sicherstellen und Möglichkeiten zur Integration und Teilhabe gewährleisten. Die Erleichterung von Bauvorhaben zur Unterbringung von Flüchtlingen in Gewerbegebieten wie mit der Änderung des Baurechts im Herbst 2014 ermöglicht, lehnen die Verbände ab.
Unterstützung Jugendlicher beim Berufseinstieg
Die Wohlfahrtsverbände sehen wie auch die Bundesregierung noch großen Handlungsbedarf bei der Unterstützung Jugendlicher am Übergang von Schule und Beruf. Nach wie vor sind rund 1,4 Mio. junge Menschen zwischen 20 und 29 Jahren ohne Berufsausbildung. Im Berichtszeitraum des Berufsbildungsberichts 2014 ist die Zahl der Ausbildungsverträge – sowohl der betrieblichen als auch der außerbetrieblichen – zurückgegangen. Die demographische Entwicklung lässt dies nicht begründen, da nach wie vor eine große Zahl unversorgter Jugendlicher zu verzeichnen ist. Immer noch gelangen jährlich rund 270.000 Schulabgänger/innen in Maßnahmen des Übergangsystems. Die Wohlfahrtsverbände unterstützen deshalb die Bemühungen der Bundesregierung, die im Koalitionsvertrag verankerte „Ausbildungsgarantie“ rasch umzusetzen und hierfür u.a. zügig mit der Assistierten Ausbildung zu starten. Letztlich muss es im Zuge der Ausbildungsgarantie gelingen, mehr Ausbildungsplätze – betriebliche und außerbetriebliche – bereitzustellen, damit allen Jugendlichen ein Angebot zur Ausbildung unterbreitet werden kann.
Die Wohlfahrtsverbände sehen es zugleich mit Sorge, dass Jugendliche im SGB II-Leistungsbezug in der Förderung zusehends ins Hintertreffen geraten. Die mit Inkrafttreten der Hartz-Reformen initiierte intensive Förderung von Jugendlichen ist mittlerweile aufgegeben worden. Vor zehn Jahren wollte man verhindern, dass sich Jugendliche an den Bezug von Sozialleistungen gewöhnen und hat sie deshalb einem gegenüber Erwachsenen schärferen Sanktionen und einer verbindlichen Förderlogik unterworfen. In den ersten Jahren des SGB II haben die Jobcenter die Förderung von Jugendlichen kontinuierlich aufgebaut, so dass im Jahr 2008 knapp 37 Prozent aller Jugendlichen eine Förderung erhalten haben (wobei Arbeitsgelegenheiten hierbei eine große Rolle eingenommen haben). Heute sind es nur noch 25 Prozent der Jugendlichen. Die Verbände fordern, das Förderangebot auszubauen und qualitativ hochwertig (in Richtung qualifizierender Maßnahmen und gemeinsamer Angebote mit den Trägern der Jugendhilfe) auszugestalten. Im Zuge des bevorstehenden Neunten SGB II-Änderungsgesetzes müssen die besonderen Sanktionsregelungen für Jugendliche abgeschafft werden. Sie haben sich für eine gute Förderung nicht bewährt, sondern im Gegenteil einige Jugendliche ins soziale Abseits gedrängt.
Im Entwurf des Nationalen Sozialberichts fehlt ein Hinweis auf den im Koalitionsvertrag angekündigten flächendeckenden Aufbau von „Jugendberufsagenturen“, obwohl im Berichtszeitraum auch unter Beteiligung der Bundesregierung schon ein intensiver Diskussionsprozess begonnen hat. Die damit intendierte Zusammenarbeit von Jugendhilfe, Grundsicherung und Arbeitsförderung ist für eine gute Förderung von Jugendlichen sehr wichtig. Die Zuständigkeiten für die berufliche und soziale Förderung von Jugendlichen sind auf die Sozialgesetzbücher II, III und VIII und den dort verankerten Akteure verteilt. Viele Jugendliche erhalten deshalb kein passendes Angebot oder verlieren den notwendigen Anschluss an eine Förderung. Die BAGFW schließt sich den Forderungen des Kooperationsverbundes Jugendsozialarbeit zum verbindlichen Aufbau einer Zusammenarbeit der Akteure in den Jugendberufagenturen an. Die Bundesregierung sollte in Abstimmung mit Ländern, Kommunalen Spitzenverbänden und den auf Bundesebene vertretenen freien Trägern der Kinder- und Jugendhilfe konzeptionelle Eckpunkte für die Etablierung der „Jugendberufsagenturen“ vorlegen und eine gesetzliche Verpflichtung zur rechtskreisübergreifenden Zusammenarbeit anstreben.
Verbesserung der Teilhabe von Menschen mit Behinderung
Die Bundesregierung beschreibt den Nationalen Aktionsplan als Instrument zur systematischen Umsetzung der UN-BRK. Die BAGFW begrüßt ausdrücklich das Bekennen der Bundesregierung zur UN-BRK, das Vorlegen des Nationalen Aktionsplans (NAP), die Verankerung der Gesamtsteuerungsverantwortung im BMAS und das kontinuierliche Arbeiten an der Umsetzung. Ziel eines jeden Reformvorhabens, jeglicher Maßnahmen und Aktivitäten der Bundesregierung muss nach Ansicht der BAGFW die volle, gleichberechtigte und wirksame Teilhabe aller Menschen mit Behinderungen sein, mit gleichen Wahlmöglichkeiten wie andere Menschen in der Gemeinschaft zu leben. Dies muss sich in den Beteiligungs-, Verfahrens- und Arbeitsstrukturen abbilden. Aus Sicht der BAGFW enthielt der NAP Umsetzungsdefizite, die beispielsweise auch auf fehlende Analysen zu förderlichen bzw. hinderlichen Inklusionsfaktoren bzw. Hochrechnungen zur Finanzierung inklusiver Strukturen im Vorfeld des Inkrafttretens der Konvention zurückzuführen waren. Die BAGFW begrüßt es, dass die Bundesregierung den NAP durch ein unabhängiges Institut wissenschaftlich evaluieren lässt.
Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege begrüßt auch den aktuellen Beteiligungsprozess zur Erarbeitung eines Bundesteilhabegesetzes. Vorrangiges Ziel einer Teilhaberechtsreform muss sein, die Lebenssituation von Menschen mit Behinderungen zu verbessern. Zur Umsetzung der UN Behindertenrechtskonvention ist eine umfassende Teilhaberechtsreform erforderlich. Aus Sicht der BAGFW sind für ein modernes Teilhaberecht v.a. diese Aspekte wesentlich: Eine zukünftige leistungsrechtliche Begriffsdefinition muss den erweiterten sozialen Behinderungsbegriff im Sinne der UN-BRK aufgreifen und die Wechselwirkungen mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren berücksichtigen. Menschen mit Behinderung müssen barrierefreie, kostenlose und niederschwellige Beratungsangebot erhalten, damit sie ihre Interessen wahrnehmen und die aus ihrer Sicht benötigten Assistenz- und Unterstützungsleistungen auswählen können. Für die Ausgestaltung der Leistung ist eine Bedarfsfeststellung nach bundeseinheitlichen Kriterien nötig. Individuelle und partizipative Zugänge zu den Leistungen sind zu sichern. Das Prinzip der individuellen Bedarfsdeckung ist im Rahmen der Weiterentwicklung des Leistungsrechtes beizubehalten und darf weder durch eine Altersgrenze noch durch das Ausmaß einer Behinderung begrenzt werden. Das Bundesteilhabegesetz muss einen teiloffenen Leistungskatalog enthalten, der sicherstellt, dass keine Leistungslücken entstehen. Das Wunsch- und Wahlrecht für eine selbstbestimmte Lebensführung und der Rechtsanspruch auf Teilhabe in allen Lebensbereichen für Menschen mit Behinderungen müssen gewahrt bleiben. Dafür ist der bestehende Mehrkostenvorbehalt zu prüfen und darf nicht dazu dienen, die berechtigte Teilhabeunterstützung zu reduzieren. Die Wohlfahrtsverbände vertreten zudem die Auffassung, dass das in einem Bundesleistungsgesetz zu verankernde Prinzip des Nachteilsausgleichs nicht mehr mit dem in der Sozialhilfe geltenden Bedürftigkeitsprinzip vereinbar ist. Insofern sollen weder der Leistungsberechtigte noch sein Ehepartner und/ oder seine Angehörigen mit seinem/ihrem jeweiligen Einkommen und Vermögen zu den Teilhabeleistungen herangezogen werden können.
Die Kommunen sind in Folge eines Bundesleistungsgesetzes aufgefordert, den Inklusionsansatz der UN-BRK als Querschnittsaufgabe in der kommunalen Daseinsvorsorge zu verankern und hierfür im Rahmen einer vernetzten kommunalen Sozialplanung geeignete Instrumente und Verfahren zu entwickeln. Mitten in der Gesellschaft angekommen sind Menschen mit Behinderungen, wenn sie als Bürger(innen), Nachbar(innen) und Mitwirkende beim Aufbau und Erhalt einer inklusiven Gesellschaft anerkannt sind und Teilhabe und Chancengleichheit selbstverständlich für alle Menschen gelten. Die dafür erforderlichen Investitionen in eine offene und inklusive Gesellschaft durch weitgehende Barrierefreiheit und bestmögliche Zugänglichkeit für alle Bürgerinnen und Bürger sind unabhängig von Beeinträchtigungen und Funktionsstörungen sowie durch individuell bedarfsdeckende Teilhabeleistungen für Menschen mit Behinderungen solidarisch von allen Mitgliedern der Gesellschaft zu tragen. Für diese umfassende Aufgabe sind die Kommunen finanziell auszustatten.
Investitionen in Kinder
Unzweifelhaft ist die Einführung des Rechtsanspruchs auf Förderung für alle Kinder ab dem vollendeten ersten Lebensjahr ab August 2013 als wichtiger Bildungs-, Sozial- und Familienpolitischer Schritt zu bewerten. Bund, Länder, Kommunen und Träger haben in den vergangenen Jahren enorme Anstrengungen unternommen, um den hierfür notwendigen bedarfsgerechten Ausbau der Kindertagesbetreuung sicherzustellen. Zum Stichtag 1. März 2014 standen für Kinder unter drei Jahren 660.750 Plätze in einer Kindertageseinrichtung oder bei einer Tagesmutter bzw. einem Tagesvater zur Verfügung. Das entspricht einer Betreuungsquote von 32,3 Prozent für diese Altersklasse in Deutschland. Die Betreuungsquote stieg damit im Vergleich zu März 2013 noch einmal um 3 Prozentpunkte. Zwei Drittel dieser Plätze werden von freien Trägern angeboten.
Ungeachtet dieser guten quantitativen Ausbauzahlen ist eine steigende Nachfrage an Betreuungsplätzen insbesondere in den großen deutschen Ballungsgebieten zu beobachten. So geht das Deutsche Jugendinstitut nach einer Elternbefragung in 2014 von einem Betreuungsbedarf von rund 41,5 Prozent für Kinder unter drei Jahren aus. Die bestehende Lücke beim Betreuungsangebot muss in den nächsten Jahren noch geschlossen werden. Um die Ausbaubemühungen auch weiterhin zu unterstützen hat die Bundesregierung seit 2007 insgesamt 5,4 Mrd. Euro in den Ausbau investiert. Zusätzlich beteiligt sich der Bund dauerhaft mit rund 845 Mio. Euro jährlich an den laufenden Betriebskosten.
Dem gegenüber stehen die Ausgaben der öffentlichen Hand. Diese gab 2013 rund 23 Mrd. Euro für die Kindertagesbetreuung aus. Werden die rund 1,6 Mrd. Euro Einnahmen gegengerechnet, so wurde netto rund 21,4 Mrd. Euro für die Kindertagesbetreuung aufgewendet. Im Vergleich zum Vorjahr entspricht das einer Steigerung von 13,2 Prozent. Diese Ausgaben werden angesichts des weiterhin bestehenden Ausbaubedarfs allerdings noch steigen. Dabei sind die notwendigen Kosten für die dringend gebotene Verbesserung der Qualität in der Kindertagesbetreuung in diesem Kostentableau noch nicht enthalten. Unberücksichtigt sind hierbei u. a. die notwendigen Verbesserungen bei der Fachkraft-Kind-Relation, der Leitungsfreistellung, der Berücksichtigung mittelbarer pädagogischer Arbeitszeit, der Ausweitung der Betreuungszeiten sowie eine leistungsgerechte Vergütung der Fachkräfte. Hinzu kommen die notwendigen Verbesserungen bei der Vergütung und der Qualifizierung der Beschäftigten in der Kindertagespflege. Insbesondere der Bund und die Länder sind gefordert, sich über Wege einer nachhaltigen Finanzierung der Kindertagesbetreuung zu verständigen und dabei insbesondere die Kommunen in die Lage zu versetzen ein hochwertiges Förderangebot in der Kindertagesbetreuung vorzuhalten.
Nach Ansicht der BAGFW werden die im Koalitionsvertrag aufgeführten Ansätze und Überlegungen für eine Verbesserung der Qualität nur dann Erfolg haben, wenn es gleichzeitig gelingt, die Frage der Finanzierung des frühkindlichen Bildungssystems dauerhaft und nachhaltig zu beantworten.
Jüngste Reformen in der Langzeitpflege
Im Entwurf des Nationalen Sozialberichts kündigt die Bundesregierung an, die Leistungen der Sozialen Pflegeversicherung durch zwei Pflegestärkungsgesetze zu erhöhen.
Aus Sicht der BAGFW ist beim ersten Pflegestärkungsgesetz (PSG I) enttäuschend, dass es noch keinen konkreten Ansatz zu den entscheidenden Fragestellungen zur Umsetzung eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs enthält. Seit Einführung der Pflegeversicherung wird der Begriff der Pflegebedürftigkeit als zu eng und zu verrichtungsbezogen kritisiert. Besonders der Bedarf an allgemeiner Betreuung, Beaufsichtigung und Anleitung, den etwa Menschen mit Demenz häufig haben, wird bisher zu wenig berücksichtigt. Zur Umsetzung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs wird weitgehend auf das geplante Pflegestärkungsgesetz II verwiesen, ohne dass ein konkreter verbindlicher Zeitplan zur Einführung ein Gesamtkonzept für die anstehende Reform erkennbar wäre.
Die BAGFW hat zur konkreten Ausgestaltung des Neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs den Vorschlag eines „Entlastungsbetrags“ eingebracht. In diesen sollen die bereits heute den Versicherten zur Verfügung stehenden Mittel aus Kurzzeitpflege, Verhinderungspflege sowie Leistungen nach § 45b SGB XI einfließen. Fasst man alle diese Leistungen zusammen, könnte jedem pflegebedürftigen Menschen ein monatlicher Betrag von ca. 372,67 Euro oder jährlich von 4.472 Euro zur Verfügung stehen. Der Entlastungsbetrag bietet den pflegebedürftigen Menschen und ihren Angehörigen eine hohe Flexibilität in der Inanspruchnahme und Kombination der heute schon vorhandenen Entlastungsmöglichkeiten.
Die Bundesregierung benennt im Entwurf des Berichts als Maßnahme zur Fachkräftesicherung in den Pflegeberufen die „Ausbildungs- und Qualifizierungsoffensive Altenpflege“. Die Wohlfahrtsverbände haben bereits den Zwischenbericht zur Ausbildungs- und Qualifizierungsoffensive Altenpflege begrüßt und auf die erkennbaren Ausbildungserfolge der ersten Halbzeit - die Steigerung der Ausbildungseintrittszahlen im Schuljahr 2013/2014 im Umfang von 14,5 Prozent gegenüber dem Vorjahr- hingewiesen. Die gemeinsamen Anstrengungen im Rahmen der Ausbildungs- und Qualifizierungsoffensive, an der sich auch die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege beteiligen, zeigen erste Erfolge. Die Verbände erinnern gleichzeitig an die zu geringe Finanzierung der Altenpflegeausbildung als wesentliches Hemmnis der Ausbildung und fordern das Problem endlich mit der Einführung von Umlageverfahren in allen Bundesländern zu lösen. Darüber hinaus ist die Schuldgeldfreiheit an privaten Altenpflegeschulen zu gewährleisten.
[1] siehe dazu <link http: ec.europa.eu europe2020 pdf nd csr2013_germany_de.pdf>COM (2013), 355 final, S.6 und COM (2014), S. 406 final, S. 7.
[2] Richtlinie 2014/24/EU vom 26. Februar 2014 über die öffentliche Auftragsvergabe
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„Den Trägern der Eingliederungshilfe wird die Möglichkeit eingeräumt, eine eigene Bedarfspla- nung von Leistungsangeboten zur Sicherung einer bedarfsgerechten Leistungserbringung durchzuführen.“ (S. 9, Handlungsoption c3)
Die Einführung einer Bedarfsplanung für Leistungsangebote in der Eingliederungshilfe stellte einen massiven Eingriff in das bisherige Leistungsgeschehen dar und muss daher aus dem Blickwinkel der Interessen der Menschen mit Behinderung und unter Würdigung der Belange von Leistungsträgern und Leistungserbringern sorgfältig diskutiert werden. Sie würde, wie hier begründet wird, zu einer weitgehenden Abkehr der Leistungserbringung im Rahmen des sozial- rechtlichen Dreiecksverhältnisses führen.
Die Bedarfsplanung führt zu einer massiven Einschränkung des Wunsch- und Wahl- rechts der Menschen mit Behinderung
Eine Bedarfsplanung im eigentlichen Sinne würde bedeuten, dass die Leistungsträger die Mög- lichkeit erhielten, Leistungserbringern den Abschluss von Versorgungsverträgen mit dem Ar- gument zu verweigern, der von ihnen festgestellte Bedarf sei bereits gedeckt. Wäre dem nicht so, dann bedeutete „Bedarfsplanung“ nur eine prospektive Abschätzung des künftigen Bedarfs, ohne dass damit eine Angebotssteuerung seitens der Leistungsträger verbunden wäre. Diese Möglichkeit haben die Leistungsträger aber bereits heute.
Bezüglich der Folgen einer Steuerung des Angebots seitens der Leistungsträger auf das Wunsch- und Wahlrecht von Menschen mit Behinderung argumentiert die Vorlage widersprüch- lich. So wird ausgeführt, durch das Faktum, dass Träger der Eingliederungshilfe grundsätzlich nur Leistungen in Einrichtungen genehmigen bzw. finanzieren, mit denen sie einen Vertrag ge-schlossen haben, werde das Wunsch- und Wahlrecht der hilfeberechtigten Bürger negativ tan- giert. (S. 5f) Abgesehen davon, dass in begründeten Einzelfällen eine Pflicht des Leistungsträ- gers zur Refinanzierung besteht, auch wenn er keinen Vertrag mit dem Leistungserbringer ge- schlossen hat, so ist hier relevant, dass der Leistungsträger der Eingliederungshilfe nicht befugt ist, Leistungserbringern willkürlich einen Vertrag zu verweigern. Der Leistungsberechtigte kann also grundsätzlich unter allen Leistungserbringern wählen, die zu einer fachgerechten und ge- setzeskonformen Leistungsbringung in der Lage sind und ihren Anspruch auf Abschluss eines Vertrages mit dem Leistungsträger geltend gemacht haben. Somit ist die unterstellte Ein- schränkung des Wunsch- und Wahlrechts eher theoretischer Natur bzw. betrifft allenfalls Randbereiche des Leistungsgeschehens. Würde aber durch Handlungsoption c3) eine Bedarf- sprüfung eingeführt, die den Vertragsabschluss an eine Bedarfsprüfung des Leistungsträgers bindet, dann würde das beklagte Problem systematisch in das Leistungserbringungsrecht ein- geführt. Der hilfeberechtigte Bürger würde in seiner Wahl auf diejenigen Leistungserbringer be- schränkt, die bei der Bedarfsplanung und den ihr folgenden Vertragsentscheidungen berück- sichtigt wurden. Er könnte bei Unzufriedenheit mit einem Leistungserbringer diesem nur aus- weichen, wenn es bei einem anderen zugelassenen Leistungserbringer noch freie Kapazitäten gibt. Schlechtleistungen könnten nur durch Verweigerung einer Folgebeauftragung durch den Leistungsträger sanktioniert werden, nicht oder nur sehr ungenügend durch die Wahlentschei- dungen der hilfesuchenden Bürger. Die Handlungsoption c3) stellt damit eine massive Be- schränkung des Wunsch- und Wahlrechts dar.
Völlig offen bleibt in der Vorlage, welche Konsequenzen die Handlungsoption c3) für das Per- sönliche Budget hätte. Der Gesetzgeber hat das Persönliche Budget ausdrücklich mit dem Ziel eingeführt, die Selbständigkeit und Selbstbestimmung der auf Hilfe angewiesenen Menschen mit Behinderung zu stärken (BT-Drs. 14/5074, 94; BT-Drs. 15/1514, 52). Würden Budgetneh- mer in der Verausgabung ihres Budgets auf Leistungserbringer beschränkt, die nach einer Be-darfsplanung der Leistungsträger ausgewählt wurden, so würde die Grundintention des Persön- lichen Budgets konterkariert. Würden Budgetnehmer dagegen von dieser Beschränkung aus- genommen, so müssten sich Leistungsberechtigte, um ein uneingeschränktes Wahlrecht ausü- ben zu können, für das Budget entscheiden. Im letzten Falle wäre das gesetzlich vorgesehene Wahlrecht zwischen Budget und Sachleistungsbezug negativ tangiert.
Die Bedarfsplanung ist nicht notwendig für eine angemessene Steuerung seitens der
Leistungsträger
In einem Sozialrechtlichen Dreiecksverhältnis mit offenem Marktzutritt schließen die Leistungs- träger grundsätzlich mit allen Leistungserbringern, die zu einer fachgerechten Leitungserbrin- gung in der Lage sind, einen Vertrag ab. Eine Bedarfsprüfung findet hierbei nicht statt. Jeder Leistungserbringer trägt jedoch das Belegungsrisiko; aus dem Vertragsabschluss kann er keine Belegungsansprüche ableiten. Eine Belegung kommt dann zustande, wenn der zuständige Leistungsträger den Bedarf eines Hilfesuchenden im Rahmen der sozialrechtlichen Vorschriften anerkennt und zudem der Hilfeberechtigte sich für die jeweilige Einrichtung entscheidet. Die Refinanzierung folgt somit der Entscheidung des Hilfeberechtigten.
Die beiden zentralen Steuerungshebel der Leistungsträger sind die Feststellung des individuel- len Bedarfs und die Vertragsgestaltung mit den Leistungserbringern. Die Feststellung eines Hil- febedarfs ist die originäre Kompetenz des Leistungsträgers. Wenn diese angemessen erfolgt, führen auch ungenutzte Kapazitäten bei Leistungserbringern (die bei offenem Marktzutritt nicht vermeidbar sind) nicht zu einer höheren Inanspruchnahme. Denn die Bedarfsfeststellung ist völlig unabhängig von der Frage, ob Kapazitäten bei Leistungserbringern ausgelastet oder frei sind. Dies unterscheidet die Eingliederungshilfe in eklatanter Weise von der Gesundheitsver- sorgung, wo der niedergelassene Arzt bzw. das Krankenhaus sowohl Anbieter sind als auch über ihre Entscheidungen zu Diagnose und Therapie Einfluss auf Art und Umfang der Leis- tungsnachfrage haben.
Gelegentlich machen Leistungsträger geltend, dass es auch in der Eingliederungshilfe eine an- gebotsinduzierte Nachfrage gäbe. Allerdings gibt es hier allenfalls anekdotische Evidenz, es gibt seitens der Leistungsträger keine systematische Erhebung hierzu. Soweit Leistungen in Anspruch genommen werden, die nicht bedarfskonform sind, so liegt ein Steuerungsdefizit der Leistungsträger vor. Konsequenzen sind hier nicht auf der gesetzlichen Ebene zu ziehen (die Prinzipien der individuellen Bedarfsdeckung und des Wunsch- und Wahlrechts werden im ge- genwärtigen Prozess von allen Beteiligten nicht in Frage gestellt). Ggf. wären Konsequenzen im Prozess der Bedarfsermittlung und -feststellung zu ziehen. Zu fragen ist auch, ob Phänomene angebotsinduzierter Nachfrage, so sie denn in relevantem Umfang bestehen, nicht auf eine personelle Unterausstattung der Leistungsträger und/oder auf eine mangelnde Konfliktbereit- schaft im Einzelfall hindeuten. Im Sozialrechtlichen Dreiecksverhältnis ist es die originäre und unverzichtbare hoheitliche Aufgabe der Leistungsträger, den Umfang des Hilfeanspruchs fest- zulegen. Nur in diesem Umfang können Leistungserbringer mit öffentlicher Refinanzierung tätig werden.
Nicht akzeptabel ist der in der Debatte immer wieder mehr oder weniger offen geäußerte Sub- text, der deutliche Anstieg der Ausgaben für die Eingliederungshilfe sei Folge einer Strategie der Leistungserbringer und ihrer Verbände, die Hilfen auszuweiten. Die Dynamik der Auswei- tung erklärt sich überwiegend aus dem Anstieg der Zahl der Menschen mit Behinderung und politisch gewollter Leistungsverbesserungen. Auch eine Bedarfsplanung hätte den Anstieg der Kosten der Eingliederungshilfe nicht verhindern können, zumindest dann nicht, wenn diese Be- darfsplanung auch bedarfsgerecht erfolgt wäre und damit keine rechtlich zustehende Leis- tungsansprüche aufgrund mangenden Kapazitäten (und damit einer Unter- bez. Fehlplanung) nicht hätten realisiert werden können.
Der zweite Steuerungshebel der Leistungsträger betrifft die Verträge mit Leistungserbringern. Die Kostenträger haben hier Instrumente, um eine sowohl qualitativ gute, als auch wirtschaftli- che Leistungserbringung durchzusetzen. Diese Position wird durch die Handlungsoption c2) mit der Möglichkeit, bei Verletzung der vertraglichen oder gesetzlichen Pflichten die vereinbarte Vergütung zu kürzen, weiter gestärkt. Diese Stärkung ist sachgerecht, wenn sichergestellt ist, dass der Minderungsbetrag der jeweiligen Schwere des Vertragsverstoßes angemessen ist und die Entscheidung im Konfliktfall schiedsstellenfähig ist.
Keine Planung ohne Fehlplanung
Das Ergebnis der Planung von Kapazitäten kann nur bedarfsgerecht sein, wenn die Leistungs- träger in der Lage sind, den Bedarf für die einzelnen Gruppen von Hilfsbedürftigen und die un- terschiedlichen Hilfeformen sicher zu prognostizieren. Dass dies gelingt, ist äußerst fraglich. Gelingt dies nicht, so zeigt sich die Fehlplanung erst in einem nicht gedeckten Bedarf, von dem die ggf. aufgrund von Beschwerden hilfeberechtigter Bürger erfahren, bzw. durch das Entste- hen von Wartelisten. Das offene Sozialrechtliche Dreiecksverhältnis hat den großen Vorteil, dass Leistungserbringer in ihrer Kenntnis oder Vermutung über die Entwicklung des Bedarfs Kapazitäten schaffen. Es ist ihr Risiko, ob sich ihre unternehmerischen Entscheidungen rech- nen, da sie das Belegungsrisiko tragen. Daher treffen sie ihre Entscheidungen nach intensiver Recherche der verfügbaren Informationen und mit der entsprechenden Vorsicht. Ein Sozial- rechtliches Dreieck mit offenem Marktzutritt weist die Vorteile eines dezentralen Koordinations- systems auf. Die Planungsverantwortung ist nicht beim Leistungsträger zentralisiert, sondern ist auf viele Schultern verteilt. Dies ist gerade bei der sehr kleinteiligen Eingliederungshilfe, die un- terschiedlichsten Gruppen und Bedarfslagen gerecht werden muss, ein großer Vorteil.
Unklar ist auch, auf welcher politischen Ebene die Bedarfsplanung erfolgen soll. Sie kann nicht allein auf Ebene des einzelnen Leistungsträgers erfolgen, weil angesichts der Differenziertheit des notwendigen Hilfesettings nicht alle Angebote in allen kommunalen Gebietskörperschaften vorgehalten werden können. Die Planung müsste somit auf Landes- oder wenigstens auf Re- gierungsbezirksebene erfolgen. Das erhöht die Komplexität der Bedarfsplanung und damit die Gefahr von Fehlplanung.
Die Bedarfsplanung hemmt Innovation
In einem Sozialrechtlichen Dreiecksverhältnis mit offenem Marktzutritt können Leistungserbrin- ger im Rahmen des sozialrechtlich kodifizierten Leistungsumfangs Innovationen erproben und einführen. Soweit die Innovation einen anerkannten Bedarf deckt und den Geboten der Wirt- schaftlichkeit und Sparsamkeit entspricht, stehen der Einführung der Innovation grundsätzlich keine Hindernisse entgegen. Im Falle einer Bedarfsplanung müsste, so ist zu erwarten, erst von Seiten des Leistungsträgers festgestellt werden, ob er einen Bedarf für die Innovation sieht. Gerade hier zeigt sich der eklatante Widerspruch der Bedarfsplanung zu den Intentionen des Persönlichen Budgets. Neben die bedarfsgesteuerte Zulassung von Leistungserbringern träte die Kompetenz der Kostenträger, die Innovationsprozesse in der Eingliederungshilfe zu steu- ern. Damit ist die Gefahr verbunden, dass Innovation nur dann eine Chance hat, wenn der Leis- tungsträger bereits von der Sinnhaftigkeit der Innovation überzeugt ist. Innovation folgt in der Regel aus dezentralen Prozessen, Neuerungen müssen dezentral von Akteuren erprobt wer- den können, bevor sie zum state of the art werden können.
Der Bedarfsplanung folgt zwingend die Ausschreibung nach Vergaberecht
Entscheidet der Leistungsträger nach Bedarfsprüfung, ob er einen Leistungserbringer zulässt, so wird er einzelne Leistungserbringer zulassen und anderen, in der Regel ebenso geeignete Leistungserbringern mit dem Argument, der Bedarf sei bereits gedeckt, einen Versorgungsver- trag verweigern. Dies kann er nicht willkürlich tun, dagegen steht allein schon die auch für Un- ternehmen gegebene Berufsfreiheit nach Art. 12 GG. Soweit Leistungsträger eine solche will- kürliche Auswahl vorgenommen haben, wie etwa im Bereich des SGB VIII bei Einführung eines Sozialraumbudgets, und nicht berücksichtigte Leistungserbringer hiergegen geklagt haben, ist die Konstruktion von den Gerichten verworfen worden. Also wird die Zulassung nach einem rechtssicheren Verfahren erfolgen müssen, hierbei bietet sich das Vergaberecht an. Alternative Verfahren müssten, soweit sie überhaupt zulässig sind, vergleichbare Anforderungen an Transparenz und Rechtsklarheit erfüllen.
Auch aus europarechtlicher Sicht ist zu erwarten, dass die Bedarfsplanung letztlich in das Vergaberecht münden wird. Das europäische Vergaberecht ist jüngst reformiert worden. So- wohl in der Vergaberichtlinie, als auch in der Konzessionsrichtlinie ist durch Erwägungsgründe festgestellt worden, dass Vergaberecht nur dann zur Anwendung kommt, wenn der Leistungs- träger einen oder wenige Leistungserbringer zur Leistungserbringung zulassen und andere von der Leistungserbringung ausschließen muss (oder will).
So heißt es im Erwägungsgrund 13 der Konzessionsrichtlinie:
„Regelungen, nach denen ohne gezielte Auswahl alle Wirtschaftsteilnehmer, die bestimmte Voraussetzungen erfüllen, berechtigt sind, eine bestimmte Aufgabe, wie beispielsweise Kundenwahl- und Dienstleistungsgutscheinsysteme, wahrzunehmen, sollten darüber hinaus nicht als Konzessionen gelten, was auch für Regelungen gilt, die auf einer rechtsgültigen Vereinbarung zwischen der Behörde und den Wirtschaftsteil- nehmern beruhen. Derartige Systeme beruhen typischerweise auf der Entscheidung ei- ner Behörde, mit der transparente und nichtdiskriminierende Voraussetzungen für den kontinuierlichen Zugang von Wirtschaftsteilnehmern zur Erbringung bestimmter Dienstleistungen, wie soziale Dienstleistungen, festgelegt werden, wobei den Kunden die Wahl zwischen den Anbietern freisteht.“ (Hervorhebungen: gc)
Bei Bedarfsplanung können sich die Leistungsträger nun gerade nicht auf diesen Erwägungs- grund berufen, da sie Leistungserbringer bewusst auswählen und somit keine nichtdiskriminie- renden Voraussetzungen für den kontinuierlichen Zugang von Leistungserbringern schaffen. Das kann im Bereich der Eingliederungshilfe nur ein offen gestaltetes Dreiecksverhältnis, d.h. durch ein System ohne Bedarfsprüfung, erfolgen.
Der Übergang zur Vergabe der Leistungen der Eingliederungshilfe, die letztlich eine unvermeid- liche Folge der Bedarfsplanung wäre, hatte gravierende Folgen für das Wunsch- und Wahlrecht der hilfesuchenden Bürger und für die Stellung der freien Träger. Im Einkaufsmodell des Vergaberechts muss der Leistungsträger nicht nur den Bedarf planen, er entscheidet auch mit- tels der Festlegung der Teillose über das gegebene Maß der Anbietervielfalt und muss im Ver- gabeprozess die Qualität und den Leistungsinhalt im Einzelnen vorgeben, damit die Angebote verglichen werden können. Daher führt die Anwendung des Vergaberechts tendenziell zu einer Standardisierung von Leistungen, die einer Individualisierung der Leistungen oft entgegensteht. Das Einkaufsmodell bedeutet die Abkehr vom Sozialrechtlichen Dreiecksverhältnis. Die Aus- schreibung hat im Bereich der sozialen Dienstleistungen dort, aber auch nur dort ihren Platz, wo eine exklusive Auswahl des oder der Leistungserbringer unvermeidbar ist. Dort aber, wo, wie in der Eingliederungshilfe, die Wahlentscheidung unter den Leistungserbringern den Hilfe- berechtigten überlassen werden kann, ist es nicht die Aufgabe des Staates, soziale Dienstleis- tungen „bereitzustellen“, er muss somit auch keinen öffentlichen Auftrag erteilen. Seine Rolle ist, so der Sozialrechtler Welti, als Mittler zu dienen zwischen den Bürgerinnen und Bürgern, die Anspruch auf Hilfe haben, und den anspruchserfüllenden Leistungserbringern. Unter diesen eine Auswahl zu treffen, liegt in der Kompetenz der Leistungsberechtigten. Das sozialrechtliche Dreiecksverhältnis bietet dafür den geeigneten Rahmen. Mit dem Übergang zur Ausschreibung nach Vergaberecht wird die Rolle des Leistungsträgers gegenüber dem anspruchsberechtigten Menschen umkehrt: Die Personenorientierung und Selbstbestimmung der Menschen mit Be- hinderung wird faktisch wieder aufgehoben. Sie werden in die Rolle des Objektes der Fürsorge versetzt, weil der Leistungsträger für sie den „richtigen“ Leistungserbringer über das Ausschrei- bungsverfahren auswählt. Der Leistungsträger selbst begibt sich in die Rolle des „Kunden“, der beim Leistungserbringer einkauft und dann die eingekaufte Leistung paternalistisch dem Men- schen mit Behinderung zur Verfügung stellt.
Auch die Stellung der freien Träger in der Eingliederungshilfe würde sich mit der Ausschreibung als Regelverfahren massiv verändern. Sie würden von Mitwirkenden mit Gestaltungskompetenz im Sozialrechtlichen Dreiecksverhältnis zu Nehmern staatlicher Aufträge. Statt um die Wahlent- scheidung der hilfesuchenden Bürger zu werben, würden sie sich – nolens volens – allein auf die Bedarfe und Vorgaben der Leistungsträger ausrichten.
Auf eine Weise könnte allerdings die Vergabe von Leistungen der Eingliederungshilfe zu den erhofften Kosteneinsparungen führen. Es wäre zu erwarten, dass über den Wettbewerb im Vergabeverfahren vermehrt Leistungserbringer zum Zuge kommen, die ihre Mitarbeitenden nicht tarifgebunden vergüten. Dann würden allerdings die immer wieder in den Beratungen der Arbeitsgruppe Bundesteilhabegeld erhofften „Synergien“, die Leistungsverbesserungen auch ohne entsprechende zusätzliche Finanzmittel ermöglichen sollen, aus einer massiven Schlech- terstellung der Beschäftigten in der Eingliederungshilfe resultieren. Dies kann nicht die Intention einer Regierung sein, die jüngst erfolgreich ein Tarifautonomiestärkungsgesetz durch das par- lamentarische Verfahren gebracht hat. Eine solche Entwicklung würde zudem mittel- und lang- fristig die Ausstattung der Eingliederungshilfe mit qualifizierten Fachkräften gefährden.
Fazit
Eine Bedarfsplanung in der Eingliederungshilfe schränkt das Wunsch- und Wahlrecht stark ein. Sie schreibt dem Menschen mit Behinderung die Rolle des unselbständigen Leistungsempfän- gers zu. Nicht die Menschen mit Behinderung sind die Kunden der Leistungserbringer, sondern der Leistungsträger, der dann die Leistungen den anspruchsberechtigen Menschen mit Behin- derung zur Verfügung stellt. Eine Bedarfsplanung ist nicht erforderlich, um den Leistungsträ- gern eine angemessene Steuerung zu ermöglichen. Soweit Steuerungsdefizite bestehen, müs-sen diese im Sozialrechtlichen Dreiecksverhältnis überwunden werden. Eine zentralisierte Be- darfsplanung birgt die Gefahr von Fehlplanung zu Lasten der Leistungsberechtigten. Die Be- darfsplanung ist gleichzeitig innovationsfeindlich. Aus verfassungsrechtlichen und europarecht- lichen Gründen wird die Bedarfsplanung in das Vergaberecht münden. Damit erfolgt die Abkehr vom Sozialrechtlichen Dreiecksverhältnis mit allen Folgen für das Wahlrecht der hilfesuchen- den Bürger und die Stellung freier Träger.
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Die Leistungen für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen sind in unterschiedlichen Sozialleistungssystemen geregelt. Bestimmungen für die Eingliederung von Kindern und Jugendlichen mit Lernbehinderung, mit geistiger und körperlicher Behinderung finden sich in §§ 53 ff. SGB XII (Sozialhilfe). § 35a SGB VIII (Kinder- und Jugendhilfe) räumt seelisch behinderten Kindern und Jugendlichen und von einer solchen Behinderung bedrohten Minderjährigen einen Anspruch auf Eingliederungshilfe ein. Aufgrund der geltenden Rechtslage und der unterschiedlichen Zuständigkeiten entstehen in der Praxis Schnittstellenprobleme zwischen den Hilfesystemen. Diese bringen negative Konsequenzen für junge Menschen und ihre Eltern bei der Leistungsgewährung. In der Fachöffentlichkeit besteht inzwischen überwiegend Konsens[1], dass eine Zusammenführung der Leistungen für alle Kinder und Jugendliche unter dem Dach der Kinder- und Jugendhilfe (SGB VIII) und die Gesamtzuständigkeit des Systems der Kinder- und Jugendhilfe für alle Kinder und Jugendlichen eine Möglichkeit ist, Zuständigkeitsstreitigkeiten und Leistungsverzögerungen zwischen der Eingliederungshilfe nach SGB XII und der Jugendhilfe nach SGB VIII zu vermeiden und die leistungsrechtliche Unterscheidung zwischen erzieherischem und behinderungsbedingtem Bedarf aufzuheben.
Im Koalitionsvertrag vom 27.11.2013 haben die Regierungsparteien vereinbart, dass die Kinder- und Jugendhilfe zu einem inklusiven Hilfesystem weiterentwickelt und die Schnittstellen in den Leistungssystemen so überwunden werden sollen, dass Leistungen für Kinder mit Behinderungen und für ihre Eltern möglichst aus einer Hand erfolgen können. Das Ziel der Zusammenführung der Leistungen für alle Kinder und Jugendlichen mit oder ohne Behinderung und von Behinderung bedrohten Kindern und Jugendlichen im SGB VIII entspricht zudem dem Inklusionsleitbild der UN-Behindertenrechtskonvention und der UN-Kinderrechtskonvention.
Seit 1990 wird in den Kinder- und Jugendberichten immer wieder eine Zusammenführung der Leistungen für Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderung im SGB VIII gefordert. Zuletzt wurde die Frage der leistungsrechtlichen Zusammenführung von der durch ASKM und JFMK[2] eingesetzten Arbeitsgruppe „Inklusion von jungen Menschen mit Behinderung“ (im Folgenden: „Arbeitsgruppe Inklusion“ genannt) ausführlich untersucht und bewertet. Beteiligte waren Bund, Länder, Deutscher Landkreistag, Deutscher Städtetag, BAG der Landesjugendämter und die Bundesarbeitsgemeinschaften der überörtlichen Sozialhilfeträger.
Die Arbeitsgruppe Inklusion legte am 5. März 2013 einen Bericht vor, der fachliche Argumente für eine Gesamtzuständigkeit für alle Kinder und Jugendlichen im System der Kinder- und Jugendhilfe skizziert, Implikationen für eine Umsetzung beschreibt und offene Fragen festhält.
Zusammenfassend unterstützt die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege die Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe durch folgende Maßnahmen und Grund-
sätze:
1. Einführung einer neuen Leistung „Hilfen zur Entwicklung und Teilhabe“ im SGB VIII und die inklusive
Weiterentwicklung des gesamten SGB VIII
2. Verlagerung der Anspruchsberechtigung von Leistungen aus dem SGB VIII auf die Kinder und
Jugendlichen
3. Streichung des Merkmals der Wesentlichkeit im Sinne des § 53 Abs. 1 SGB XII als
Zugangsvoraussetzung für Leistungen in einem neu zu gestaltenden SGB VIII
4. Gestaltung eines Übergangsmanagements und Beibehaltung des § 41 SGB VIII
5. Aufnahme der Komplexleistung Frühförderung ins SGB VIII
6. Beteiligungs- und personenorientierte Hilfe- und Teilhabeplanung im Sinne des § 36 SGB VIII als
Steuerungsprinzip für die Gestaltung der Hilfen aus einer Hand im SGB VIII
7. Neugestaltung der Kosten- und Unterhaltsheranziehung, die nicht zum Nachteil der Eltern von
Kindern mit Behinderungen gestaltet ist.
8. Die Kinder- und Jugendhilfeträger bleiben weiterhin Rehabilitationsträger
9. Ausgestaltung des Leistungskataloges von Teilhabeleistungen im SGB VIII
1. Die BAGFW unterstützt die Einführung einer neuen Leistung „Hilfen zur Erziehung
und Teilhabe“ im SGB VIII und die inklusive Weiterentwicklung des gesamten SGB VIII
Ausgangslage
Die „Arbeitsgruppe Inklusion“ der JFMK und ASMK (AG Inklusion) schlägt die Einführung eines neuen Leistungstatbestandes „Hilfen zur Entwicklung und Teilhabe“ im SGB VIII vor. Damit „soll die Gesamtsituation eines jungen Menschen besser in den Blick genommen werden und passgenaue, integrierte und einzelfallbezogene Hilfen für Kinder oder Jugendliche geleistet werden“[3]. Der Leistungstatbestand „Hilfen zur Entwicklung und Teilhabe“ umfasst „nicht nur Hilfen, die auf eine weitere Entwicklung im Sinne eines Zuwachses an Kompetenzen zielen, sondern auch die Leistungen, die auf Teilhabe am gesellschaftlichen Leben gerichtet sind“[4].
Bewertung
Die BAGFW bewertet die Zusammenführung der Eingliederungshilfe für junge Menschen im SGB VIII und die Einführung eines neuen Leistungstatbestandes positiv, weil damit vor allem die bisherigen Schnittstellenprobleme zwischen dem SGB VIII und SGB XII vermindert und auf die Gesamtsituation von Kindern und Jugendlichen adäquater eingegangen werden kann. Sie empfiehlt jedoch diesen neuen Leistungstatbestand mit „Hilfen zur Erziehung und Teilhabe“ zu bezeichnen. Die Formulierung sollte bewusst die systemisch angelegten Hilfen zur Erziehung aufgreifen und um den Aspekt der Teilhabe erweitern. Gleichwohl muss zukünftig zwischen den teilhabespezifischen Bedarfen der Kinder mit Behinderungen und dem erzieherischen Unterstützungsbedarf der Eltern unterschieden werden.
Teilhabeleistungen im Sinne eines Nachteilausgleiches dienen der Kompensation von gesellschaftlichen Zugangsbarrieren. Sie müssen darauf abzielen, Funktionsstörungen bzw. Benachteiligungen auszugleichen, die sich aufgrund mangelnder barrierefreier Zugänge zur gesellschaftlichen Teilhabe ergeben. Dieses Verständnis von Behinderung beruht auf dem menschenrechtsbasierten Ansatz der UN-Behindertenrechtskonvention, wonach niemand aufgrund seiner Behinderung ausgegrenzt und diskriminiert werden kann.
Die Lebenslagen „Kindheit und Jugend“ werden in den Vordergrund gestellt, wenn Leistungen für alle Kinder und Jugendliche -unabhängig vom Merkmal der Behinderung- im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe verortet werden. Voraussetzung für die gelingende Umsetzung ist, dass die verschiedenen Kompetenzen (SGB XII und SGB VIII) zusammengeführt und weiterentwickelt werden. Dies eröffnet die Möglichkeit für eine ganzheitliche und kindgerechte Herangehensweise und Hilfeleistung.
2. Die BAGFW unterstützt die Verlagerung der Anspruchsberechtigung von
Leistungen der Hilfe zur Erziehung und Teilhabe auch auf die Kinder und Jugendlichen
Ausgangslage
Bisher sind für Leistungen der Eingliederungshilfe sowohl nach dem SGB VIII als auch nach dem SGB XII die Kinder und Jugendlichen Anspruchsinhaber. Bei den Hilfen zur Erziehung sind die Personensorgeberechtigten - in der Regel die Eltern - Anspruchsberechtigte. Mit dieser Regelung soll dem Vorrang der Elternverantwortung bei der Erziehung der Kinder Rechnung getragen werden. Die Arbeitsgruppe Inklusion schlägt vor, dass bei der Zusammenführung beider Hilfearten in einem Leistungstatbestand die Kinder und Jugendlichen Anspruchsinhaber der neuen Leistung werden. Die Leistungsgewährung soll gleichwohl unter Einbeziehung der elterlichen Perspektive erfolgen und ihre Unterstützung soll Teil der einzelnen Hilfearten sein.
Bewertung
Die Empfehlung der AG Inklusion, die Anspruchsinhaberschaft im SGB VIII auch auf die Kinder und Jugendlichen zu verlagern, wird von der BAGFW grundsätzlich begrüßt. Kinder und Jugendliche werden als selbstständige Rechtssubjekte anerkannt, sie werden neben den Personensorgeberechtigten unmittelbare Adressaten der Leistung, wodurch die Kinderrechte gestärkt werden. Gleichwohl muss das Elternrecht gewahrt bzw. der Vorrang der Elternverantwortung nach Art. 6 Abs. 2 S. 1 Grundgesetz (GG)[5] beachtet werden. Die Wahrung des Elternrechts steht nicht im Widerspruch zur Verlagerung der Anspruchsinhaberschaft auf die Kinder und Jugendlichen.
Den Personensorgeberechtigten sollen die bislang gesetzlich geregelten – eher systemisch angelegten - Leistungen zur Unterstützung in ihren Erziehungsaufgaben auch weiterhin nicht nur als Anspruch für ihre Kinder, sondern auch als Leistung für sie als Personensorgeberechtigte zur Verfügung stehen. Es kann überlegt werden, sie im 2. Abschnitt des 2. Kapitels des SGB VIII (Förderung der Erziehung in der Familie) weiterhin als Rechtsansprüche auszugestalten.
3. Die BAGFW schlägt die Streichung des Merkmals der Wesentlichkeit im Sinne
des § 53 Abs. 1 SGB XII als Zugangsvoraussetzung für Leistungen in einem neu zu gestaltenden SGB VIII vor.
Ausgangslage
Nur bei der „wesentlichen Behinderung“ nach § 53 SGB XII besteht ein Rechtsanspruch auf Leistungen der Eingliederungshilfe[6]. Im Falle von nichtwesentlichen Teilhabeeinschränkungen besteht hingegen nur ein Ermessensanspruch. In der Kinder- und Jugendhilfe ist der Begriff „wesentlich“ fremd. Durch die Prüfung der „Wesentlichkeit“ findet eine Einschränkung der Leistungsberechtigten in der Eingliederungshilfe statt. Die „Wesentlichkeit der Behinderung“ wird bereits in der Eingliederungshilfe im Hinblick auf die von der UN Konvention vorgegebene ICF Orientierung in Frage gestellt[7]. Bei der Hereinnahme des § 35 a ins SGB VIII wurde bezüglich der Leistungen für junge Menschen mit seelischer Behinderung auch aufgrund der präventiven Ausrichtung der Kinder- und Jugendhilfe bewusst auf die Übernahme des Begriffs „wesentlich“ verzichtet.
Die Arbeitsgruppe Inklusion stellt fest, dass weder aus den Expertisen noch aus den Zahlen und Daten abgeleitet werden kann, inwieweit sich die Zugangsvoraussetzung „wesentlich“ auf die Anzahl der Leistungsberechtigten unter den jungen Menschen mit Behinderungen auswirkt. Die Arbeitsgruppe Inklusion schlägt deshalb vor, eine Evaluation der Wirkungen des Wesentlichkeitsbegriffes für Kinder und Jugendliche mit Behinderung unter Berücksichtigung der Frühförderung durchzuführen. Sollte die Wesentlichkeit eine steuernde Wirkung entfalten, dann ist eine vergleichbare gesetzliche Beschreibung einzuführen[8].
Bewertung
Mit der bisherigen Regelung, dass Leistungen für junge Menschen mit geistiger und körperlicher Behinderung sowie jene, die von dieser Behinderung bedroht sind nur übernommen werden müssen, wenn die Teilhabebeeinträchtigung wesentlich ist, sind auf Tatbestandsebene vielfältige Abgrenzungsprobleme verbunden. Diese beziehen sich vor allem auf die Abgrenzung zwischen einer seelischen und geistigen Behinderung und auf die in der Praxis nicht einfach zu klärende Frage, ob ein Erziehungshilfebedarf oder ein behinderungsspezifischer Bedarf vorliegt. Die notwendige Differenzierung zwischen den verschiedenen Bedarfen birgt die Gefahr in sich, dass künstlich getrennt wird, was ggf. zusammengesehen werden muss und zu nicht immer bedarfsgerechten und ganzheitlichen Hilfeleistungen führen kann.
Bisher wird die „Wesentlichkeit“ der Behinderung allein an den meist medizinisch definierten Beeinträchtigungen und Funktionsstörungen der Person festgemacht. Der neue Behinderungsbegriff verlangt eine individuelle Definition der Behinderung, bei der die Wechselwirkung zwischen den Merkmalen des Individuums und ihrer Umwelt zu berücksichtigen ist.
Eine zukünftige leistungsrechtliche Begriffsdefinition muss deshalb den erweiterten sozialen Behinderungsbegriff im Sinne der UN-BRK aufgreifen und die Wechselwirkungen mit ein-stellungs- und umweltbedingten Barrieren berücksichtigen. Deshalb muss die leistungs-rechtliche Definition von Behinderung als auch die Feststellung der Teilhabebeeinträchtigung mindestens auf dem von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) entwickelten Klassifizierungsinstrument, der „Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit“ (ICF), basieren.
Im Übrigen lassen auch jetzt schon die vorhandenen Gesetzesformulierungen Leistungen für Kinder und Jugendliche zu, die von einer Behinderung bedroht sind und die Präventivmaßnahmen aus der Frühförderung benötigen. Damit wird jetzt schon sachgerecht der Präventionsgedanke und nicht das Kriterium der Wesentlichkeit angewendet, was dem Wohle der Kinder und Jugendlichen dienlich ist.
4. Die BAGFW schlägt die Gestaltung eines Übergangsmanagements und die
Beibehaltung des § 41 SGB VIII vor
Ausgangslage
Die Arbeitsgruppe Inklusion spricht sich dafür aus, den Übergang in die Sozialhilfe grundsätzlich bei Erreichen des 18. Lebensjahres festzulegen, sofern davon auszugehen ist, dass der junge Mensch prognostisch auf längere Sicht oder dauerhaft eine Leistung der Eingliederungshilfe benötigt. Sie empfiehlt, dass für Leistungen der Teilhabe am Arbeitsleben für Jugendliche generell der Sozialhilfeträger zuständig ist. Fälle, in denen die Voraussetzungen der Hilfen für junge Volljährige erfüllt sind (§ 41 SGB VIII), blieben in der Zuständigkeit der Kinder- und Jugendhilfe.
Bewertung
Übergangsregelungen zum Erwachsenenleben und damit zu den Leistungen der Eingliederungshilfe nach SGB XII sind sinnvoll. Es wird begrüßt, dass frühzeitig die Unterstützung für den Übergang von Schule zum Beruf gewährleistet ist. Dabei muss sichergestellt werden, dass auch der Übergang in eine Jugendberufshilfe und Berufsförderung sowie Berufsbildung und diverse Formen der Teilhabe am Arbeitsleben erleichtert wird. Ein fester Übergangstermin mit dem 18. Lebensjahr, darf aber nicht dazu führen, dass Maßnahmen abgebrochen werden müssen.
Die Gewährungspraxis muss für alle Kinder, Jugendliche und junge Volljährigen einheitlich gestaltet sein, damit eine Stigmatisierung von Menschen mit oder ohne Behinderung vermieden wird.
Der Übergang vom Jugendalter hin zum Erwachsenenalter verläuft fließend und ist als Entwicklungsprozess zu verstehen.
Hilfen zur Entwicklung und Teilhabe der Kinder- und Jugendhilfe müssten über das 18. Lebensjahr hinaus gewährt werden, solange die Hilfe aufgrund der individuellen Situation für die Persönlichkeitsentwicklung und für die Entwicklung einer eigenverantwortlichen Lebensführung notwendig ist. Gründe für die weitere Gewährung der Hilfe können somit auch wie bisher beispielsweise psychische, gesundheitliche oder körperliche Beeinträchtigungen, soziale Benachteiligungen und Abhängigkeiten sein.
Weitergehender als die bisherige Regelung des § 41 SGB VIII müssten die Hilfe zur Entwicklung und Teilhabe durch den Träger der Kinder- und Jugendhilfe bis zum 21. Lebensjahr als Rechtsanspruch ausgestaltet werden und im Einzelfall bis zur Vollendung des 27. Lebensjahres gewährt werden, falls die Persönlichkeitsentwicklung dies erfordert und ein Übergangsmanagement in Hilfen nach SGB IX nicht übergangslos und zielführend gewährleistet werden kann.
5. Die BAGFW schlägt die Aufnahme der Komplexleistung Frühförderung
ins SGB VIII vor
Ausgangslage
Der Bereich Frühförderung war nicht Gegenstand der Beratungen der Arbeitsgruppe Inklusion. Bis zu 120.000 Kinder nehmen jährlich Leistungen der Frühförderung wahr. Mit den Vorschriften der §§ 30 und 56 SGB IX hat der Gesetzgeber die Frühförderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder neu geregelt. Nach § 30 Abs. 1 SGB IX sollen die medizinischen Leistungen zur Früherkennung und Frühbehandlung im Zusammenhang mit heilpädagogischen Leistungen nach § 56 SGB IX als Komplexleistung erbracht werden. Die Komplexleistung beginnt mit einer interdisziplinären Diagnostik. In der Regel auf Veranlassung des behandelnden Kinderarztes finden eine medizinische, eine entwicklungspsychologische und heilpädagogische Untersuchung statt. Bei Bedarf werden auch weitere Fachgruppen (z. B. Logopädie oder Physiotherapie) hinzugezogen. Die Förderung dauert in der Regel ein Jahr. Wenn es notwendig ist, kann jedoch eine Verlängerung beantragt werden. Komplexleistung Frühförderung ist vom Gesetzgeber als Leistung definiert, die für Kinder ab dem Säuglingsalter bis längstens zur Einschulung erbracht werden kann. Die Verordnung zur Früherkennung und Frühförderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder (Frühförderungsverordnung – FrühV) grenzt die Leistungen zur Früherkennung und Frühförderung ab und trifft Aussagen zur Übernahme und Teilung der Kosten zwischen den beteiligten Rehabilitationsträgern, zur Vereinbarung und Abrechnung der Entgelte sowie zur Finanzierung. Zudem sieht sie vor, dass Näheres zu den Anforderungen an Interdisziplinäre Frühförderstellen durch Landesrahmenempfehlungen geregelt werden kann.
Bewertung
Die Erfahrungen seit Einsetzung der Frühförderung zeigen, dass sich die Umsetzung in den einzelnen Bundesländern sehr unterschiedlich gestaltet und vielfach erhebliche Probleme bestehen unter denen vor allem die betroffenen Kinder leiden. Dies ist nicht zuletzt dem System der Komplexleistung mit zwei, bisweilen drei Leistungsträgern geschuldet. Dieses führt dazu, dass Zuständigkeiten hin und her geschoben werden. Bis heute streiten sich die Träger der Sozialhilfe und die Träger der Krankenversicherung um eine angemessene Kostenteilung. Beide Kostenträgerseiten verhalten sich sehr defensiv, da sie eine Kostenexplosion befürchten. Entsprechend fehlen verbindliche und bundesweite Standards und die Festlegung von Leistungskomponenten. Bereits beim Zugang zur Leistung und unter welchen Voraussetzungen diese vergeben wird, gibt es bei der Leistungsgewährung große Unterschiede zwischen den Bundesländern. Für die betroffenen Kinder und Eltern zieht dies Nachteile und bürokratische Hürden nach sich. Anstelle einer interdisziplinären und niedrigschwelligen Komplexleistung erleben Betroffene versäulte und ungeklärte Kompetenzen.
Eine Lösung der Situation besteht aus Sicht der BAGFW darin, die Verordnungsermächtigung zur Frühförderungsverordnung nach § 32 SGB IX so auszuweiten, dass die Bundesländer entsprechend verbindliche Landesrahmenvereinbarungen abschließen müssen. Für die inklusive Ausgestaltung der Kinder- und Jugendhilfe wäre es erforderlich, dass die Komplexleistungen der Frühforderung in das SGB VIII implementiert werden.
6. Die BAGFW unterstützt, dass die Beteiligungs- und personenorientierte Hilfe- und
Teilhabeplanung im Sinne des § 36 SGB VIII als Steuerungsprinzip für die Gestaltung der Hilfen aus einer Hand im SGB VIII angewendet werden soll
Ausgangslage
Die Arbeitsgruppe Inklusion geht davon aus, dass in einem neuen SGB VIII den Jugendämtern die Hilfe- bzw. Teilhabeplanung als zentrales inklusives Steuerungselement zugeordnet sein wird. Wegen neuer Bedarfe und Leistungsarten muss diese Planung weiterentwickelt werden. Es werden vier wesentliche Prinzipien genannt: Fachlichkeit, Beratung, Beteiligung sowie die Prozesshaftigkeit der Hilfe. Die Planung muss sich am individuellen Bedarf ausrichten
Bewertung
Das Verfahren zur Feststellung des Anspruchs, der Ermittlung des Bedarfs, der Klärung der Hilfe- und Teilhabeziele, der Vereinbarung der Leistungen und der Gewährung der Leistungen hat nach dem Wunsch- und Wahlrecht unter Beteiligung der Kinder und Jugendlichen sowie der Erziehungsberechtigten und/oder ihrer rechtlichen Vertretung zu erfolgen. Die Anspruchsfeststellung und die Gewährung der Leistungen sind hoheitliche Aufgaben.
7. Neugestaltung der Kosten- und Unterhaltsheranziehung, die nicht zum Nachteil
von Eltern der Kinder mit Behinderungen gestaltet ist
Ausgangslage
Die Arbeitsgruppe Inklusion empfiehlt eine einheitliche Regelung zur Kostenheranziehung für Hilfen zur Erziehung und Teilhabe. Junge Menschen mit und ohne Behinderung und ihre Eltern sollen gleich behandelt werden. Eine Härtefallregelung soll verhindern, dass einzelne Personengruppen mit unzumutbaren Kosten dauerhaft belastet werden. Ein konkreter Vorschlag für eine Kostenregelung wird nicht unterbreitet. Fest steht nur, dass die neue Kostenregelung mit einer Übergangsregelung vertretbar ausgestaltet werden soll.
Momentan folgt die Kostenheranziehung in der Kinder- und Jugendhilfe und der Eingliederungshilfe verschiedenen Ansätzen.
In der Kinder- und Jugendhilfe richtet sich die Kostenbeteiligung von Eltern, Ehe- oder Lebenspartner des jungen Menschen bei voll- und teilstationären Leistungen sowie vorläufige Maßnahmen in erster Linie nach dem Einkommen. Der konkrete Beitrag folgt aus der Kostenbeitragstabelle. Diese differenziert zwischen teilstationären und stationären Leistungen. Ambulante Leistungen sind kostenfrei.
Bei der Kostenheranziehung im Rahmen der Eingliederungshilfe wird zuerst geprüft, ob es sich um eine sogenannte privilegierte Leistung im Sinne des § 92 Absatz 2 SGB VIII handelt. „Privilegierte Leistungen“ sind beispielsweise heilpädagogische Maßnahmen für Kinder, die noch nicht eingeschult sind oder Hilfe zu einer angemessenen Schulbildung. Bei diesen Leistungen fallen keine Kosten für die Eingliederungsleistung an. Vermögen wird bei der Kostenheranziehung nicht berücksichtigt. Je nach Art der Hilfe werden bei Leistungsberechtigten, ihren Ehe- oder Lebenspartnern bzw. bei minderjährigen Leistungsbeziehern ihren Eltern, Kosten für den Lebensunterhalt (z. B. Verpflegung) angerechnet. Die Kosten betragen bei vollstationärer Unterbringung je nach Bundesland bis zu 400 Euro.
Bei „nicht privilegierten Leistungen“ findet eine Kostenheranziehung aus Einkommen und Vermögen im Rahmen der Zumutbarkeit statt. Bei einer dauerhaften Unterbringung können die Eltern von minderjährigen Kindern über die häusliche Ersparnis im angemessenen Umfang zur Kostentragung herangezogen werden. Hier sieht die Praxis der einzelnen Bundesländer recht unterschiedliche Regelungen vor.
Bei jungen Volljährigen wird bei ambulanten und teilstationären Leistungen eigenes Einkommen und Vermögen nach den Regelungen des SGB XII angerechnet. Bei stationärer Unterbringung geht nur ein kleiner Teil des Unterhaltsanspruchs auf die Einrichtung über.
Bewertung
Eine einheitliche Regelung zur Kostenheranziehung für Leistungen zur Teilhabe und der Hilfe zur Entwicklung ist zwingend erforderlich. Hierbei sollte nicht die Kostenneutralität sondern eine gerechte und angemessene Regelung für die Kostenübernahme im Vordergrund stehen.
Zudem sind nach den Feststellungen des 5. Familienberichtes Familien mit Kindern mit Behinderungen vielfältigen und dauerhaften finanziellen Belastungen ausgesetzt. Ziel muss es daher sein, dass keine Ausweitung der Kosten- und Unterhaltsheranziehung der Eltern von Kindern mit Behinderungen erfolgt.
8. Die BAGFW schlägt vor, dass die Kinder- und Jugendhilfeträger weiterhin
Rehabilitationsträger bleiben
Situation
Die Mitglieder der AG Inklusion empfehlen, dass - nach der Einführung der großen Lösung im SGB VIII - der Träger der öffentlichen Jugendhilfe kein Rehabilitationsträger mehr ist. Es sollen nur einzelne Bestimmungen aus dem SGB IX anwendbar bleiben. Hintergrund ist, dass die Arbeit des Jugendamts erleichtert werden soll. Insbesondere soll nicht differenziert werden müssen, ob es sich um eine behinderungsspezifische Leistung handelt.
Bewertung
Die Einordnung des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe als Rehabilitationsträger ist sinnvoll, damit Leistungen der Rehabilitation einheitlich koordiniert werden. Zudem wird durch eine gute Zusammenarbeit der einzelnen Rehabilitationsträger auch der Übergang von der Jugendhilfe in die Eingliederungshilfe erleichtert. Deshalb sollten die Träger der öffentlichen Jugendhilfe Rehabilitationsträger nach § 6 SGB IX bleiben.
9. Ausgestaltung des Leistungskataloges von Teilhabeleistungen im SGB VIII
Ausgangslage
Die AG Inklusion spricht sich dafür aus, dass der neue Leistungstatbestand einen teiloffenen Leistungskatalog unter Zusammenführung der bisherigen Hilfen nach § 27 SGB VIII und § 54 SGB XII/ SGB IX vorsieht.
Bewertung
Das Prinzip der Bedarfsdeckung und des personenzentrierten Ansatzes erfordert einen Leistungskatalog, der sicherstellt, dass individuell bestehende Teilhabebeeinträchtigungen von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung ausgeglichen werden.
Die Konkretisierung der Leistung muss dem individuellen Bedarf entsprechen. Die notwendige Leistung darf nicht im Rahmen von Entgeltverhandlungen in Frage gestellt werden. Eine beispielhafte Darstellung von Leistungen ist denkbar.
[1] 13. Kinder- und Jugendbericht des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, November 2009, BT-Dr. 16/12860.
[2] Arbeits- und Sozialministerkonferenz sowie Jugend- und Familienministerkonferenz
[3] S. 19 des Berichts der von der ASMK und JFMK eingesetzten Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Inklusion von jungen Menschen mit Behinderung“ vom 05. März 2013
[4] S. 19 des Berichts der von der ASMK und JFMK eingesetzten Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Inklusion von jungen Menschen mit Behinderung“ vom 05. März 2013
[5] Art. 6 Abs. 2 S. 1 Grundgesetz lautet wie folgt: „Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft“
[6] Den Personenkreis, der kraft geltenden Rechts als wesentlich behindert gilt, konkretisiert die Eingliederungshilfeverordnung (EGVO) i. d. F. v. 1. 2. 1975 (BGBl. I S. 433), zuletzt geändert durch Artikel 16 des
Gesetzes vom 19. 6. 2001 (BGBl I S. 1046); darüber hinaus kann die wesentliche Behinderung nach § 53 Abs.1 S. 2 SGB XII durch die Gesamtheit der Behinderungen vorliegen; hierzu vgl. die „Orientierungshilfe Behinderungsbegriff“ der Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Sozialhilfeträger (BAGüS) Stand: 24.11.2009
[7] Die „Orientierungshilfe Behinderungsbegriff“ der Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Sozialhilfeträger (BAGüS) Stand: 24.11.2009
[8] S. 21 des Berichts der von der ASMK und JFMK eingesetzten Arbeitsgruppe „Inklusion von jungen Menschen mit Behinderung“ vom 05. März 2013
]]>Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege begrüßen die deutliche Steigerung der Ausbildungseintrittszahlen im Schuljahr 2013/2014 von 14,5% gegenüber dem Vorjahr. Hier zeigt sich, dass die Anstrengungen im Rahmen der Ausbildungs- und Qualifizierungsoffensive, zu denen auch die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege wesentlich beigetragen haben, erkennbare Früchte tragen.
Der Zwischenbericht zeigt deutlich das enorme Potenzial der Umschulungsförderung für die Deckung des Fachkräftebedarfs: Innerhalb eines Jahres nach Wiedereinführung der dreijährigen Umschulungsförderung haben sich die Umschulungseintritte fast verdoppelt. Die Einrichtungen und Schulen der Freien Wohlfahrtspflege bieten den Umschülerinnen und Umschülern entsprechend Plätze an. Umschülerinnen und Umschüler sind aufgrund ihrer Lebens- und Berufserfahrung für die Altenpflege eine große Bereicherung. Sie sind hochmotiviert und die Abbrecherquoten sind bei ihnen meist geringer als bei anderen Auszubildenden. Da Umschülerinnen und Umschüler nach der Ausbildung in der Regel ohne weiteres eine Anstellung finden und keine Transferleistungen mehr beziehen, ist die Umschulungsförderung zudem eine besonders nachhaltige Form der Förderung. Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege plädiert daher für eine reguläre und kontinuierliche Umschulungsförderung, um das „Stop-and- go“ in der Umschulungsförderung zu beenden, die Verstetigung der Ausbildungszahlen zu erzielen und die Planungssicherheit für alle Beteiligten zu erhöhen.
Die im Bericht angeführten Zwischenergebnisse sind in der Summe jedoch hinter den Erwartungen der Verbände der Freien Wohlfahrtspflege zurückgeblieben. So wird anhand des Berichtes erkennbar, dass die Steigerungen der Ausbildungszahlen in den Bundesländern sehr unterschiedlich realisiert werden konnten. Denn das Kernproblem, die zu geringe (Re-)Finanzierung der Ausbildung, ist bisher noch nicht ausreichend angegangen worden und wirkt sich weiterhin als Hemmnis im Ausbildungsgeschehen aus.
Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege hat in ihrem eigenen Bericht zur Ausbildungs- und Qualifizierungsoffensive, der im Internet abrufbar ist,1 die Finanzierungsproblematik in der praktischen und schulischen Ausbildung und Nachqualifizierung ausführlich dargelegt. In der Zusammenfassung zeigt sich,
* dass die Ausbildungsfinanzierung in den Bundesländern nach einheitlichen Grundsätzen geregelt werden muss
* dass ausbildende Einrichtungen gegenüber nicht-ausbildenden Einrichtungen aufgrund der mit der Ausbildung einhergehenden Kostenbelastung keinen Wett- bewerbsnachteil haben dürfen,
* dass die Finanzierung der Praxisanleitungen solide und kostendeckend im Rahmen der Finanzierung der Pflegeausbildung geregelt sein muss
* dass die schulische Ausbildung bzw. die Altenpflegeschulen kostendeckend finanziert werden müssen.
Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege haben in ihrem BAGFW-Zwischenbericht die Ausbildungshemmnisse beschrieben und Lösungsvorschläge unterbreitet. Um die Ausbildungszahlen in der Pflege weiter zu verbessern, wäre der erste Schritt getan, indem die dargelegten Probleme in der Praxis benannt werden. Hierauf aufbauend ließen sich für die „zweite Halbzeit“ maßgebliche Änderungen und Verbesserungen herbeiführen.
Die Bedeutung eines Umlageverfahrens als entscheidender Stellhebel für die Ausbil- dungsbereitschaft der Einrichtungen ist unverkennbar: In Bundesländern, in welchen eine Umlagefinanzierung eingeführt wurde, steigen die Zahlen der Auszubildenden in beeindruckender Höhe, wie zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen und im Saarland. Ein Umlageverfahren verringert deutlich den Wettbewerbsnachteil für ausbildende - und damit für die Pflegebedürftigen „teure“ - Pflegeeinrichtungen. Dennoch wurde bisher in sieben Bundesländern keine Ausbildungsumlage eingeführt. Ein Grund dafür ist die Voraussetzung, dass nach § 25 AltPflG ein drohender oder bestehender Ausbildungs- platzmangel nachgewiesen werden muss. Ein weiterer Grund scheint die abwartende Haltung auf Länderebene mit Blick auf die Einführung des neuen Pflegeberufegesetzes zu sein. Angesichts des schon heute verschärften Fachkräftemangels in der Altenpflege erwartet die BAGFW eine transparente und zielorientierte Reformdebatte. In einer älter werdenden Gesellschaft braucht es zunehmend gut qualifizierte Pflegefachkräfte und Qualifikationen für unterstützende Tätigkeiten in der Pflege. Dafür sind die entspre- chenden Rahmenbedingungen und Mittel zur Verfügung zu stellen.
Im Vereinbarungstext zur Ausbildungs- und Qualifizierungsoffensive wurde die Prüfung der Schulgeldfreiheit an privaten Altenpflegeschulen vereinbart. Der Vereinba- rungstext weist zu Recht darauf hin, dass die Kostenfreiheit der Ausbildung für die Attraktivität einer Ausbildung eine besondere Rolle spielt, denn das Schulgeld bedeutet für viele Schülerinnen und Schüler eine zusätzliche Zugangsbarriere zur Ausbildung. Das steht im deutlichen Widerspruch zur gesellschaftlichen Bedeutung des Berufs und zum Fachkräftemangel. Die Länder erklärten sich im Vereinbarungstext bereit, zu prü- fen, ob eine Schulgeldfreiheit für Auszubildende an privaten Altenpflegeschulen eingeführt werden kann. Der Zwischenbericht führt aus, dass in sieben Bundesländern wie zu Beginn der Offensive weiterhin von Altenpflegeschulen in nicht staatlicher Trägerschaft Schulgeld erhoben wird. Die Schulen sind zur Finanzierung ihres Ausbildungsangebots offenbar immer noch auf Schulgeld angewiesen, weil die staatliche Förderung keine auskömmliche Finanzierung ermöglicht.
Die Ausbildungs- und Qualifizierungsoffensive Altenpflege ist der erste Ausbildungspakt in der Altenpflege, zu dem sich die rund 30 Partner verpflichtet haben. Der Zwischenbericht zeigt eindrücklich, dass die weitere Umsetzung der begonnenen Verbesserungen auch in der zweiten Hälfte der Offensive mit ganzer Kraft weiter geführt und die zentralen Hemmnisse mit Blick auf die Ausbildungskosten abgebaut werden müssen. Hierfür ist es dringend erforderlich, dass die Offensive von der politischen Ebene weiterhin die volle Unterstützung erhält.]]>
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Im Folgenden geht die BAGFW auf einige für sie relevante Fragestellungen ein.
1 - Level 2 advice on the types of goods and services or methods of production for goods and services embodying a social objective
Q 1: Do you agree with the identified policy options set out in the cost benefit analysis (Annex III)? Could you identify any other options?
Die hier zu bewertenden Politikoptionen dienen dazu, die Qualifikation eines Unternehmens als Sozialunternehmen beschreiben zu können. Anhand der Beschreibung soll ein Unternehmen als qualifiziertes Unternehmen in den EuSEF aufgenommen werden können. Es obliegt den Teilnehmern an der Konsultation sich zwischen den folgenden Optionen (Annex III, Ziffer 7) zu entscheiden:
(1) Beschreibung des Sozialunternehmens anhand einer abschließenden Liste von Waren und Dienstleistungen, die von dem Sozialunternehmen produziert und erbracht werden und entsprechende Herstellungsmethoden.
(2) Beschreibung des Sozialunternehmens anhand einer entsprechenden offenen Liste.
(3) Das soziale Ziel des Sozialunternehmens wird mittels hoch angesiedelter abstrakter Prinzipien ermittelt, die ich in der Warenproduktion oder der Erbringung der Dienstleistung wiederspiegeln müssen.
Die in Frage 1 zugrunde zu legende Kosten-Nutzen-Analyse gemäß Annex III des Konsultationspapiers bezieht die Größe und den Umfang des gegenwärtig auszumachenden Geschäfts mit Fonds für Sozialunternehmen ein. Danach handelt es sich bislang noch um ein kleineres Nischengeschäft.
Die Policy Optionen bzgl. der Qualifikation als Sozialunternehmen können entsprechend der Optionen 1 und 2 eine Liste umfassen, die die Produkte und Dienstleistungen bzw. die Produktion oder die finanzielle Unterstützung des Unternehmens näher beschreiben.
Die BAGFW spricht sich insoweit für eine nicht abschließende Liste aus, um die nötige Flexibilität bei der Erbringung von Sozialdienstleistungen ganz allgemein und bei der Einbeziehung des betreffenden Sozialunternehmens in einen EuSEF zu wahren. Denn nur eine offene Liste wird auch der Gestaltungshoheit der Mitgliedstaaten bei der Definition der sozialen Dienste von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse gerecht. Im Übrigen sind neue und innovative Sozialunternehmen besser durch einen EuSEF aufzunehmen, wenn hier eine offene Liste zur Beschreibung der Sozialunternehmen gewählt wird. Vor dem Hintergrund der Flexibilität spricht sich die BAGFW zusätzlich zu Option 2 auch für die Berücksichtigung von Option 3 aus. Denn hoch angesiedelte und abstrakte Prinzipien können eine gut denkbare Lösung sein, um einen weiten Rahmen für soziale Ziele zu umreißen. Allerdings darf hier keine Willkür in der Beschreibung dessen entstehen, was sozial ist. Die Prinzipien zur Beschreibung des sozialen Zwecks dürfen nur in Ergänzung zur offenen Liste entsprechend Option 2 herangezogen werden. Sie dürfen nicht dem EuSEF als alleiniges Kriterium überlassen werden.
Die BAGFW schlägt vor, die offene Liste entsprechend der Option 2 folgendermaßen auszufüllen. Dieser Vorschlag enthält eine nicht abschließende Liste mit Sozialdienstleistungen, die aus Sicht der BAGFW von gemeinnützig tätigen Sozialunternehmen erbracht werden:
- Angebote für Kinder und Jugendliche und ihre Familien, wie Kindertageseinrichtungen, Kindertagespflege, Horte, Familienzentren, Schul- und Jugendsozialarbeit, Jugendberufshilfe, Freizeitangebote, offene Kinder- und Jugendarbeit, Kinder- und Jugendberatungsangebote, Bildungs-, Beratungs- und Hilfeangebote für alle Familienformen wie Erziehungs-, Ehe- und Schwangerschaftsberatung und die verschiedenen Leistungen der Hilfen zur Erziehung, Interventionsstellen, Familienpflege, Frauenhäuser, Familienbildungsangebote, Familienerholungsangebote, familienentlastende Dienste und Mehrgenerationenhäuser;
- Hilfen für alte Menschen wie Seniorentreffs, Mahlzeiten- und Besuchsdienste, voll- und teilstationäre Pflegeeinrichtungen , ambulante Pflegedienste und Wohngemeinschaften sowie Seniorenfreizeit- und Tagesstätten, Einrichtungen des Betreuten Wohnens für ältere Menschen;
- Angebote, Einrichtungen und Dienste für Menschen mit Behinderung wie Kindertageseinrichtungen, Schulen, Sozialpädiatrischen Zentren, Frühförderstellen, Berufsförderungswerke, Berufsbildungswerke, anerkannte Werkstätten für behinderte Menschen, betreute Wohnmöglichkeiten, Tagesstätten, Tageseinrichtungen, Förderzentren, psychosoziale Beratungsstellen, Assistenz- und Unterstützungsangebote durch Integrationsfachdienste, mobile sonderpädagogische Teilhabe und Assistenzdienste, familienunterstützende Dienste, familienentlastende Dienste, Freizeit- und Bildungsangebote;
- Angebote und Dienstleistungen im Gesundheitsbereich wie Krankenhäuser, Tageskliniken, ambulante Pflegedienste und Kurzzeitpflegeeinrichtungen, Mutter-Kind-Kureinrichtungen, ambulante und stationäre Einrichtungen und Angebote der medizinischen Rehabilitation, Kurberatungsstellen, Krebsberatungsstellen, Präventions- und Nachsorgeangebote, Suchtberatungsstellen, ambulante und stationäre Einrichtungen der Suchthilfe;
- Angebote für Menschen mit Migrationshintergrund wie Gemeinwesen orientierte Projekte (z.B. zur Schaffung einer Willkommens- und Anerkennungskultur), spezifische Migrationsfachdienste (z.B. Migrationsberatung für Erwachsene, Jugendmigrationsdienste, Flüchtlingsberatungsstellen) und andere zielgruppenspezifische Flüchtlingsprojekte, (z. B. Psychosoziale Zentren für Flüchtlinge, Frauentreffpunkte) und andere handlungsfeldbezogene Integrationsprojekte (IQ Fachstellen etc.), Ausländersozialberatung, Aussiedlerberatung;
- allgemeine Auskunfts- und Sozialberatungsstellen und ambulante Dienste, Nachbarschaftszentren, Suppenküchen und Mobile Soziale Dienste (MSHD);
- Hilfe für Menschen in sozialen Notlagen wie Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe, Angebote für Menschen mit besonderen sozialen Schwierigkeiten, Wohnungslosenunterkünfte , Schuldner-Beratung, Bahnhofsmission, Telefonseelsorge;
- Angebote und Dienste der Straffälligenhilfe;
- allgemeine Auskunfts- und Sozialberatungsstellen und ambulante Dienste, Nachbarschaftszentren, Suppenküchen und Mobile Soziale Dienste (MSHD);
- Hilfe für Menschen in sozialen Notlagen wie Obdachlosenunterkünfte, Schuldner-Beratung, Bahnhofsmission, Telefonseelsorge;
- Kontakt-, Informations- und Beratungsstellen für Selbsthilfegruppen und Gruppen bürgerschaftlichen Engagements (Freiwilligenzentren und -agenturen);
- Aus-, Fort- und Weiterbildungsstätten für Sozial-, Gesundheits- und Pflegeberufe;
- Schulische und außerschulische Angebote der Bildung einschließlich der frühen Bildung, etwa in Kindertagesstätten, der Allgemein- und Hochschulbildung einschließlich der Arbeit der Studentenwerke sowie der Fort- und Weiterbildung, wie insbesondere Aus-, Fort- und Weiterbildungsangebote für soziale und pflegerische Berufe.
Die BAGFW sieht die möglicherweise und bis zu einem gewissen Grad bestehende Rechtsunsicherheit, die mit einer nicht abschließenden Liste verbunden wäre. Diese ist aber vor dem Hintergrund einer Kombinationslösung, namentlich von Option 2 und 3, hinzunehmen. Denn die Öffnung für potentielle weitere Sozialunternehmen, die erst durch die Wahrnehmung und Erfüllung eines neuen sozialen Bedarfs entstanden sind, ist ein nicht verzichtbarer Aspekt. Zudem spricht sich die BAGFW für die Hinzunahme von abstrakten Prinzipien aus, die der Liste einen Rahmen geben, der den sozialen Charakter der Unternehmen deutlich macht. Für einzelne Sozialdienstleistungen würde das bedeuten, dass sie sich im EuSEF finden können, auch wenn sie nicht explizit in der Liste erwähnt sind. Dieses Ergebnis ist aus den genannten Gründen wünschenswert.
Folgende Werte und Prinzipien zur Feststellung eines sozialen Ziels innerhalb eines Unternehmens schlägt die BAGFW für einen solchen Rahmen nach Option 3 vor. Sie betont, dass die Organisationsform der Sozialunternehmen in Verbänden eine spezifisch deutsche Struktur ist und will damit keine Vorgaben für andere Strukturen in anderen Mitgliedstaaten machen:
- Vielzahl und Vielfalt
Das Zusammenwirken öffentlicher, gemeinnütziger und gewerblicher Dienstleister ermöglicht es, eine ausreichende Zahl an Dienstleistungen bereitzustellen. Die Vielzahl und Vielfalt von Dienstleistungen gemeinnütziger Anbieter ist geprägt durch ihre unterschiedlichen humanitären, weltanschaulichen und religiösen Wertorientierungen. Ihr großes Spektrum bietet einen breiten Zugang zu Hilfeangeboten, die den unterschiedlichen Bedürfnissen der darauf angewiesenen Bürgerinnen und Bürger entsprechen.
- Mobilisierung der Zivilgesellschaft
Die sozialen Dienste der Wohlfahrtsverbände beziehen den gesamten Sozialraum im Umfeld kranker, behinderter oder ansonsten förderungsbedürftiger Menschen ein. Zu diesem Zweck versuchen sie, ehrenamtliches und bürgerschaftliches Engagement als wichtige Bestandteile des gemeinschaftlichen Lebens in einer sozialen Gesellschaft zu wecken. Dieses Engagement nutzen sie, um in Gesellschaft und Staat für ein von sozialer Kultur geprägtes Gemeinwesen zu werben.
- Schaffung sozialer Bindungen und Vernetzungen
Die Prinzipien von Subsidiarität und Solidarität werden in unterschiedlichen Ansätzen wie Selbsthilfegruppen, Nachbarschaftshilfen, Laienhilfe, ehrenamtlicher Hilfe und bürger-schaftlichem Engagement sichtbar umgesetzt. Das stärkt die Motivation sozialen Engagements und trägt zur besseren Qualität sozialer Dienste bei.
- Partizipation
Die Partizipation der Hilfesuchenden ist durch zwei Elemente gekennzeichnet:
- durch von ihnen in Selbsthilfe erbrachte Leistungen und
- durch ihre Mitwirkung an der Gestaltung der Dienste.
Die Partizipationsmöglichkeiten hängen vom jeweiligen Dienstleistungsangebot ab, das flexibel sein muss, um entsprechend an die Bedürfnisse angepasst werden zu können.
- Innovationsfunktion
Eine wichtige Aufgabe der Verbände und ihrer Dienste ist es, frühzeitig neue Problemlagen zu erkennen und innovative Lösungs- und Hilfeansätze zu entwickeln. Beispiele sind ganzheitliche, die gesamte soziale und wirtschaftliche Situation des Schuldners in Blick nehmende Angebote bei Überschuldung oder die Arbeit in Hospizen, bei der die Beachtung der existenziellen Situation des Todkranken unverzichtbarer Bestandteil der Arbeit ist.
- Anwaltschaft
Als wesentliches Merkmal von Gemeinwohlorientierung und Wertgebundenheit nehmen die Wohlfahrtsverbände und ihre Einrichtungen eine sozialanwaltliche Rolle wahr.
Durch ihr Eintreten für die Interessen der Bürgerinnen und Bürger insbesondere gegen ungerechtfertigte Eingriffe des Staates in den Sozialschutz nehmen die Verbände Korrektivfunktionen wahr.
Formen der Anwaltschaft können u.a. sein:
- Entwicklung von innovativen Unterstützungsstrukturen und Selbsthilfe-Angeboten,
- Einbringen von Fachwissen in Gesetze und Gesetzgebungsprozesse mit sozial-politischen Auswirkungen sowie in neue Hilfekonzepte,
- Einsatz für sozialpolitische und wirtschaftliche Rahmenbedingungen, die bürgerschaftliches Engagement und Selbsthilfe sichern und soziale Notlagen überwinden helfen,
- Unterstützung im Einzelfall.
- Bürgerverantwortlichkeit in den Verbänden
Die Verbände und ihre Einrichtungen tragen entscheidend zur bürgernahen Behandlung sozialer Fragen bei. Sie ermöglichen Bürgerinnen und Bürgern, die zur Lösung sozialer Notlagen beitragen wollen, gemeinsame gemeinwohlorientierte Ziele zu erreichen und sich zu diesem Zweck zusammenzuschließen. Sie akzeptieren auch, dass verbandliche Strukturen immer wieder hinterfragt und als Quelle von Innovation und Veränderung genutzt werden.
- Zusammenschluss in Verbänden
Die gemeinwohlorientierten sozialen Dienste und Einrichtungen haben sich in Verbänden zusammengeschlossen, die vom Staat als „Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege“ besonders anerkannt sind. Die Spitzenverbände sorgen für einen gesamtverbandlichen Zusammenhalt ihrer jeweiligen Dienste und Einrichtungen und für eine gemeinsame Wahrnehmung ihrer Interessen. Sie arbeiten in der „Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege“ (BAGFW) zusammen.
Q 2: Do you agree with the proposal set out in the consultation paper? Are there any additional principles or criteria that you would like to propose?
Die Vorschläge im Konsultationspapier erstrecken sich auf alle Bereiche, die mit der Umsetzung eines EuSEF zusammenhängen. Für die BAGFW besonders relevant sind die Vorschläge der ESMA zur Beschreibung eines qualifizierten Portfoliounternehmens, zu Maßnahmen bei Interessenkonflikten von EuSEF-Managern sowie zur sozialen Wirkungsmessung.
Die BAGFW bezieht sich bei der Bewertung der Beschreibung eines Unternehmens als Sozialunternehmen auf die Beantwortung der Frage 1. Im Übrigen ist es ihr wichtig, dass die Definition eines Sozialunternehmens, wie sie in der Social Business Initiative und damit auch im EuSEF enthalten ist, auch von der ESMA aufgegriffen wird. In dem Zusammenhang weist die BAGFW noch einmal auf die Liste von Sozialdienstleistungen hin, die sie in der Antwort zu Frage 1 eingefügt hat. Diese Liste ergänzt die von ESMA in Ziffer 24 des Konsultationsdokuments aufgeführten Produkte und Dienstleistungen in der ESMA die Bereiche ausführlicher benennt, die zu den sozialen Dienstleistungen gerechnet werden.
Die BAGFW bewertet es allerdings als problematisch, dass, wie in Ziffer 24 vorgesehen, der Fondsmanager darüber befinden soll, ob die Nutzer des jeweiligen Sozialunternehmens ausgegrenzt, vulnerabel, marginalisiert, benachteiligt sind. Hierzu dürfte die Expertise des Fondsmanagers nicht ausreiche, was sich zum Nachteil von Sozialunternehmen auswirken kann, wenn es um die Qualifizierung als Portfoliounternehmen geht. Ebenso könnten hier Tür und Tor zum „creaming“-Effekt geöffnet werden.
2 - Level 2 measures on conflicts of interest of EuSEF managers
Q 5: Do you agree with the description of the types of conflicts of interest? Would you like to suggest any other type?
Die Empfehlung der ESMA zu konfligierenden Interessen des EuSEF Managers mit Investoren, mit Personen, die die Entwicklung eines Sozialunternehmens dominieren können etc. berücksichtigt die Tatsache, dass ein finanzieller Gewinn oder ein temporärer Verlust zugunsten bzw. zulasten des EuSEF gemacht werden kann. Diese Situation könnte sich im Management eines Sozialunternehmens ergeben, nämlich die anderweitige Steuerung des Unternehmens, als es dem Willen des Fondsmanagers entspricht. Die Person, die insofern mit dem Fondsmanager in einen Konflikt geraten kann, ist nach Art. 9 Abs. 2 EuSEF-VO durch den Fondsmanager zu berücksichtigen und bezogen auf das Risiko regelmäßig einzuschätzen.
Aus der Sicht der BAGFW ist eine Spezifizierung der Interessen der Personen erforderlich, die mit dem Fondsmanager in einen Konflikt geraten könnten. Diese Spezifikation ist insbesondere wegen der folgenden offenen Fragen im Konsultationspapier nötig: „Wessen Interessen könnten in einen gegenseitigen Konflikt geraten?“, was ist unter „unangemessener Einflussnahme“ zu verstehen? Insgesamt muss es im Rahmen des Konfliktmanagements möglich bleiben, dass Nachhaltigkeit bei der Erreichung des sozialen Zwecks und der sozialen Wirkung gewährleistet ist. Damit hängt auch die von den Verbänden und Unternehmen wahrgenommene sozialanwaltschaftliche Rolle zusammen. Diese ist ein wesentliches Merkmal von Gemeinwohlorientierung und Wertgebundenheit. Der Prozess zwischen dem politischen Eintreten für die benachteiligten Menschen und den unternehmerischen Aktivitäten darf durch eine Qualifizierung eines Sozialunternehmens für einen EuSEF nicht unterlaufen werden.
Die Empfehlung zum Umgang mit Interessenkonflikten sieht vor, dass der Fondsmanager eine schriftliche Strategie zur Lösung von Interessenkonflikten aufstellen soll. Aus Sicht der BAGFW sollten hierbei Sozialverbände beteiligt werden. Im Übrigen schlägt die ESMA vor, dass ein Informationsaustausch zwischen relevanten Personen, d.h. Personen, deren Interessen miteinander in Konflikt geraten könnten, verhindert werden soll, wo „Bedarf“ dazu besteht. Die BAGFW fordert hier eine stärkere Rechtssicherheit und verlangt, dass die genauen Gründe für eine Verhinderung des Informationsaustauschs näher spezifiziert werden. Schließlich lehnt die BAGFW auch die in der Empfehlung enthaltene Generalklausel ab, der zufolge andere alternative Maßnahmen zur Abwehr von Interessenkonflikten ergriffen werden können, je nach Angemessenheit. Sie ist zu ungenau und der Tatbestand eröffnet dem Fondsmanager alle Maßnahmen, die er sich denken kann.
4 - Level 2 measures on social impact measurement
ESMA ist aufgefordert, sich zur sozialen Wirkungsmessung gegenüber der Kommission zu äußern. Hierzu wurden folgende Optionen Identifiziert (Annex III, Ziffer 29):
Option 1: Der EuSEF-Manager wird mit der Befugnis ausgestattet, die Wirkung im Einklang mit einer spezifischen Methode zu messen, die eine breite Anerkennung hat.
Option 2: Der EuSEF-Manager wird mit der Befugnis ausgestattet, die Wirkung im Einklang mit den Schritten und Charakteristika der Methode zu messen, die im jeweiligen Abschnitt des Konsultationspapiers beschrieben ist. Er kann dabei auf bestehende akzeptierte Methoden (Q 13 ii) zurückgreifen oder eigene Methoden entwickeln (Q 13 iii).
Mit den Methoden in Option 2 sind insbesondere die Ausarbeitungen der GECES-Gruppe, der G8-Gruppe und die OECD zur sozialen Wirkungsmessung gemeint. Die Option 2 lässt die Anwendung mehrerer Methoden zu, auf die sich GECES in ihrem Bericht bezieht, wie zum Beispiel SROI, IRIS, und berücksichtigt Kriterien, die ESMA anhand des GECES-Berichts entwickelt hat.
Grundsätzlich stellt die BAGFW fest, dass die genannten Methoden keine hinreichende Antwort auf die Wirkung fachlicher, sozialer Maßnahmen geben. Zudem stehen der bürokratischen Aufwand und die damit verbundenen Transaktionskosten außer Verhältnis zu dem zu erwartenden Erfolg. Die genannten Methoden beziehen sich im Übrigen auf volkswirtschaftliche Effekte. Insoweit stellen sie keine „echten“ Instrumente einer fachwissenschaftlichen sozialen Wirkungsmessung dar. Letztere messen die Wirkungen von Maßnahmen bei den Ratsuchenden bzw. Zielgruppen einschließlich deren Familien oder Umfeld, denen diese Maßnahme bei der Überwindung eines sozialen Problems helfen sollen. Hierfür gilt es, je Arbeitsbereich Indikatoren zu entwickeln. Hiervon ist das Zählen der erbrachten Leistungen (Output) wiederum abzugrenzen.
Dennoch kommt für die BAGFW allenfalls die Option 2 in Betracht, da sie eine flexible Nutzung der unterschiedlichen Ansätze je nach sozialer Dienstleistung zulässt, während Option 1 nur eine Methode für alle Aktivitäten aller Sozialunternehmen innerhalb eines EuSEF ermöglicht. Zudem soll die vom Fondsmanager anzuwendende Methode auf die Größe und Komplexität des Sozialunternehmens Rücksicht nehmen. So können unverhältnismäßig bürokratische Methoden ausgeschlossen werden. Auch die Transparenz, die sich in der Informationspflicht des Fondsmanagers über die angewandte Methode gegenüber den Investoren zeigt wird begrüßt.
Bei den Grundsätzen zur sozialen Wirkungsmessung fällt jedoch im Detail auf, dass Drittwirkungen im Hinblick auf die soziale Wirkung eines Unternehmens ausgeblendet werden sollen sowie solche Aspekte, die angeblich dazu geführt haben, dass die soziale Wirkung ohnehin eingetreten wäre. Aus Sicht der BAGFW ist eine solche „überholende“ Kausalität nicht nachweisbar, so dass dieser Aspekt in der Empfehlung zur Wirkungs-messung abzulehnen ist.
Die BAGFW erwartet, bei jeder Methode, die zur sozialen Wirkungsmessung eingesetzt werden soll, dass die Sozialunternehmen in ihre auf sie angepasste Anwendung einbezogen werden. Die Entwicklung von Kriterien im Rahmen einer Methode zur Wirkungsorientierung kann aus Sicht der BAGFW sinnvoll nur gemeinsam oder alleine durch die betreffenden Sozialunternehmen geschehen.
Q 11: Do you agree with the general approach on social impact measurement?
Wir halten den Ansatz, den Einsatz von Fördermitteln an erwartbare bzw. darlegbare Wirkungen im Sinne der Zielstellung des geförderten Dienstleisters oder Projektträgers zu binden, für sinnvoll. Wir geben allerdings zu bedenken, dass einer exakten kausalen Zuschreibung von Wirkungen im komplexen Beziehungsgeschehen Sozialer Arbeit Grenzen gesetzt sind.
Im Rahmen des internen Qualitätsmanagements haben die Träger Sozialer Arbeit jedoch eine Bewertung der Ergebnisqualität ihrer Arbeitsweisen und fachlichen Konzepte auf Basis von Wirkungsindikatoren etabliert. Die Werte solcher Indikatoren bedürfen jedoch immer einer individuellen, sachbezogenen, spezifische Bedingungen berücksichtigenden Bewertung. Im Ergebnis können begründete Plausibilitäten für Wirkungen dargelegt werden.
Grundlegend dafür sind arbeitsfeldspezifische Ergebnis-Indikatoren, wie sie auf Initiative der Freien Wohlfahrtspflege z. B. für die Einrichtungen der stationären Langzeitpflege oder Einrichtungen und Dienste der Hilfen für Menschen mit Behinderungen entwickelt wurden. Solche zielgruppenspezifische Indikatoren-Sets gilt es noch für vielfältige Arbeitsbereiche bzw. Dienstleistungen zu entwickeln. SRS oder SROI stellen demgegenüber letztlich nur Rahmenkonzepte dar, die die Frage nach angemessenen spezifischen Indikatoren nicht beantworten.
Q 12: Could you help us estimate the costs to which the proposed approach would give rise for the EuSEF manager and the social enterprise?
Die Entwicklung eines geeigneten Sets an Wirkungsindikatoren erfordert einen stetigen Praxis-Theorie-Abgleich. Die Möglichkeiten und Ansätze der spezifischen Wirkungsmessung variieren zudem je nach Arbeitsbereich oder Dienstleistungen und sind Entwicklungsveränderungen unterworfen. Das Wissen um wissenschaftlich fundierte und validierte Wirkungsindikatoren und deren Entwicklung muss beim EuSEF-Manager vorhanden sein bzw. aufrechterhalten werden.
Unabhängig von der Festlegung auf die Optionen I-IV (Q 13) muss der EuSEF-Manager in der Lage sein, konkrete Indikatoren hinsichtlich der Objektivität, Validität und Reliabilität beurteilen zu können. Er muss ferner über die Kompetenz verfügen, die Bewertung der Ergebnisse aus der Anwendung von Indikatoren sachgerecht prüfen zu können.
Der Aufwand erstreckt sich auf
- fachliche Kompetenzpflege,
- konzeptionelle Entwicklung von Rahmensetzungen zur Wirkungsmessung,
- Beratung von Projektträgern bei der Anwendung bzw. Umsetzung,
- Prüfung von spezifischen Messinstrumenten,
- Prüfung von Wirksamkeitsbewertungen.
Q 13: Which option would you favour? Why?
Eine Festlegung auf eine Methode für alle EuSEF Manager führt in der Konsequenz dazu, dass alle geförderten Projekte bzw. Träger zur Anwendung dieser Methode verpflichtet wären. Hinzu kommt, dass die genannten Ansätze lediglich Rahmenkonzepte darstellen, die keine spezifischen arbeitsfeldbezogenen Messinstrumente beinhalten. In der Sozialen Arbeit haben sich im Rahmen des internen Qualitätsmanagements die Entwicklung von Wirkungsindikatoren und die Bewertung der Ergebnisqualität auf dieser Basis etabliert, wenn auch noch nicht in allen Arbeitsfeldern und nicht immer auf wissenschaftlich fundierter Basis. Vor diesem Hintergrund erscheint es sinnvoller, auf in der Praxis Bestehendes und Entwickeltes zurückgreifen zu können, statt neue Rahmenmethoden und Verfahren wie SROI verbindlich einführen zu wollen.
Die genannten grundlegenden Schritte bei der Entwicklung einer Wirkungsmessung stellen hierbei ein notwendiges verbindliches Grundgerüst dar, das es in jedem Falle einzuhalten gilt und das auch in jedem qualifizierten QM-System wiederzufinden ist.
Q 14: Could you please quantify the costs for the EuSEF manager for your preferred option?
Es ist uns nicht möglich, den Aufwand und die Kosten zu beziffern. Wenn sich die Messung von Wirkungen nicht nur auf oberflächliche Betrachtungen beschränken soll, ist der Aufwand jedoch erheblich.
Q 15: Do you have any alternative proposals? If so, please quantify the costs involved.
Es wird empfohlen, für die Arbeit der EuSEF-Manager die Anwendung von Qualitätsmanagement verbindlich vorzusehen, sodass deren Arbeit der systematischen stetigen Weiterentwicklung im Sinne eines Regelkreises von Plan-Do-Check-Act unterliegt.
]]>Grundsätzlich verweist die BAGFW auf ihre Stellungnahme zum Nationalen Sozialbericht 2014 vom 24. Februar 2014, die weiterhin in allen Punkten aktuell ist. Ergänzend will die BAGFW noch folgende Hinweise anbringen.
Offene Methode der Koordinierung (OMK) und Partnerschaftliche Zusammenarbeit
Nach der Verabschiedung des NSB und des NRP 2014 (04 / 2014) hat leider kein weiterer Prozess der partnerschaftlichen Zusammenarbeit zwischen dem federführenden Ministerium und der organisierten Zivilgesellschaft stattgefunden, obgleich es dazu Möglichkeiten gegeben hätte. So hat am 24.06.2014 ein Gespräch zwischen Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles und der BAGFW stattgefunden, in dem u.a. eine Überprüfung der zugrunde gelegten Kriterien (Indikatoren) zur Armutsreduzierung von Seiten des BMAS in Aussicht gestellt wurde. Eine Überprüfung der Kriterien wird von der BAGFW mit der Maßgabe ihrer Angleichung an die Auswahl der EU-Kommission[1] ausdrücklich begrüßt und könnte als ein gutes Beispiel für die Stärkung der OMK in Deutschland genutzt werden. Die BAGFW würde sich freuen, wenn dieser Prozess nun im Rahmen der Erstellung des NSB 2015 wiederaufgenommen wird.
Außerdem hat die BAGFW in ihrer Stellungnahme im Februar 2014 auch auf die Berücksichtigung des in den ESF-Fonds geltenden Verhaltenskodex für die partnerschaftliche Zusammenarbeit von Sozialpartnern und Nichtregierungsorganisationen mit den öffentlichen, staatlichen Stellen hingewiesen. Dieser sieht unter anderem vor, dass Unterlagen und Anfragen mindestens 10 Werktage vorher übermittelt werden sollten. Die Festlegung einer Vorlauffrist ist aus unserer Sicht unbedingt notwendig, da sich z.B. die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege untereinander abstimmen müssen und dafür entsprechend Zeit benötigen. Eine Frist von jetzt eingeräumten 7 Werktagen ist zu kurz, so dass ein ordentlicher Abstimmungsprozess kaum möglich ist. Eine Verpflichtung auf Regeln der partnerschaftlichen Zusammenarbeit ist aus Sicht der BAGFW für eine qualitative Stärkung der OMK unabdingbar.
Bekämpfung von Armut und Sozialer Ausgrenzung
Im Rahmen der Bekämpfung von Armut und Sozialer Ausgrenzung bleibt die Bekämpfung von Langzeitarbeitslosigkeit ein zentrales Thema. Sie ist jedoch nicht das ausschließliche Thema. Armutsbekämpfung und Arbeitsmarktpolitik sind nach Auffassung der BAGFW nicht deckungsgleich. Hierzu möchte die BAGFW auf die Ausführungen in ihrer Stellungnahme vom Februar 2014 verweisen, die trotz der Einführung des Mindestlohnes ab 2015 weiterhin Geltung besitzen.
Der bereits in der Stellungnahme zum NSB erwähnte Hilfsfonds EHAP hat Gestalt angenommen und konzentriert sich auf die beiden Zielgruppen EU-Zuwanderer sowie Wohnungslose bzw. von Wohnungslosigkeit bedrohte Menschen. Die BAGFW begrüßt ausdrücklich, eine Förderung diese Zielgruppen, weist jedoch darauf hin, dass weitere benachteiligte Personengruppen von den derzeitigen ESF-Fördermaßnahmen kaum erfasst werden. So sind bislang z.B. verfestigt langzeitarbeitslose Menschen sowie Suchterkrankte schwer zu erreichen. Hier wünscht sich die BAGFW, mit dem BMAS in einen Dialog zu gehen, um zu erörtern, wie die genannten Zielgruppen gefördert werden können.
Das BMAS hat im November 2014 eine Initiative angekündigt, seine Anstrengungen zur Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit zu verstärken. Dies begrüßt die BAGFW ausdrücklich. Im Folgenden greift die BAGFW einige Punkte ihrer Stellungnahme vom 5.12.2014 zum Konzept der Ministerin „Chancen eröffnen – soziale Teilhabe sichern. Konzept zum Abbau der Langzeitarbeitslosigkeit“ auf:
Bessere Betreuung in Aktivierungszentren: Das Konzept der Bundesarbeitsministerin sieht vor, die im Zuge des Bundesprogramms „Perspektive 50plus“ entwickelten Konzepte und Strukturen weiterzuführen und für die Förderung von Langzeitarbeitslosen nutzbar zu machen. Nach Einschätzung der BAGFW haben v.a. eine intensivierte Betreuung und engagierte Förderung mit Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktförderung und Gesundheitsförderung zum Erfolg geführt. Die Jobcenter sollten jedoch nicht nur für programmspezifisch ausgewählte Zielgruppen, sondern für alle Leistungsberechtigten mit einer ausreichend Anzahl an qualifiziertem Personal und verfügbaren Maßnahmen der Arbeitsförderung ausgestattet werden, so dass ein intensiver Kontakt mit den Arbeitssuchenden ermöglicht und individuell passgenaue Maßnahmen der Arbeitsförderung mit psychosozialen Hilfen und Angeboten der Gesundheitsförderung kombiniert werden können. Es ist darauf zu achten, dass ältere Arbeitslose, die weiterhin stark am Arbeitsmarkt benachteiligt sind, trotz Auslaufen der Förderung im Bundesprogramm „Perspektive 50plus“ ausreichend Unterstützung und Förderung erhalten. Die gesetzliche Regelung nach der erwerbsfähige und erwerbswillige Leistungsberechtigte auf die vorzeitige Inanspruchnahme der Rente mit 63 Jahren unter Inkaufnahme von Abschlägen verwiesen werden, muss entfallen.
Aktivierung ist so zu verstehen, dass die vorhandenen Potentiale der Hilfebedürftigen gefördert und sie befähigt werden, ihr Leben eigeninitiativ zu gestalten. Die BAGFW plädiert dafür, die Eigenmotivation der einbezogenen Langzeitarbeitslosen durch eine freiwillige Teilnahme an den Angeboten der Aktivierungszentren zu sichern.
Trotz des guten Erfolgs des Bundesprogramms „Perspektive 50plus“ konnte für die Mehrzahl der Geförderten keine Lösung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gefunden werden. Es gibt gerade bei arbeitsmarktfernen Langzeitarbeitslosen nach Ablauf einer Aktivierungsmaßnahme in vielen Fällen keine unmittelbare Anschlussperspektive auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, so dass die Eingliederungsbemühungen letzten Endes fruchtlos bleiben. Die BAGFW empfiehlt deshalb einen verzahnten Einsatz der Aktivierungszentren mit einer Anschlussförderung. Ansonsten läuft die vorangegangene Förderung ins Leere, verbraucht Ressourcen in der Arbeitsverwaltung und erhöht darüber hinaus die Frustration der Betroffenen. Die Verstetigung der intensivierten Betreuung durch eine Verlängerung von bislang 1000 befristeten Personalstellen in den Jobcentern ist aus dem Verwaltungsbudget der Jobcenter, nicht aber aus dem Eingliederungstitel zu finanzieren. Hierzu ist das Verwaltungsbudget entsprechend aufzustocken.
Die BAGFW begrüßt das Vorhaben, die Berufstätigkeit Alleinerziehender zu fördern, indem die Kinderbetreuung in Randzeiten unter Beachtung des Kindeswohls ausgebaut wird. Dies allein ist aber nicht ausreichend, um den Personenkreis der Alleinerziehenden bedarfsgerecht zu fördern. Es müssen darüber hinaus Maßnahmen ergriffen werden, um Alleinerziehende bei der Integration in den Arbeitsmarkt frühzeitig und umfassend zu unterstützen. Insbesondere muss es den Alleinerziehenden ermöglicht werden, Qualifikationen nach einer Familienpause aufzufrischen, einen fehlenden Schul- oder Berufsabschluss nachzuholen oder sich in betrieblichen Trainingsmaßnahmen in der Arbeitswelt zu beweisen. Die betrieblichen Trainingsmaßnahmen und Qualifizierungsphasen sind so auszugestalten, dass berufliche Ziele mit der familiären Situation in Einklang gebracht werden können. Dringend notwendig ist der Ausbau von Möglichkeiten zur Teilzeitausbildung. Dafür sollten Arbeitgeber gezielt geworben werden. Damit die berufliche Wiedereingliederung Alleinerziehender nicht an finanziellen Mitteln scheitert, sollte die finanzielle Absicherung Alleinerziehender und ihrer Kinder insbesondere an den Schnittstellen zwischen SGB II, Wohngeldgesetz, Bundeskindergeldgesetz, Berufsausbildungsförderungsgesetz (BAföG) und Berufsausbildungsbeihilfe (BAB) gewährleistet sein.
ESF-Bundesprogramm zur Eingliederung langzeitarbeitsloser Menschen: Unter den Bedingungen des neuen ESF-Bundesprogramms wird es nach Einschätzung der BAGFW schwierig sein, das Programmziel von bis zu 33.000 Eingliederungen arbeitsmarktferner Langzeitarbeitsloser in den allgemeinen Arbeitsmarkt zu erreichen. Es setzt einen aufnahmefähigen lokalen Arbeitsmarkt voraus sowie die Bereitschaft von Arbeitgebern sich der Zielgruppe langzeitarbeitsloser Personen zu öffnen – offene Stellen mit Langzeitarbeitslosen zu besetzen oder neue Einfacharbeitsplätze einzurichten – und mit einem schnell abfallendem Lohnkostenzuschuss für deren Anstellung zu entscheiden.
Entgegen der bisherigen Praxis werden die beteiligten Jobcenter ihre Arbeitsvermittlung neu auf arbeitsmarktferne Langzeitarbeitslose auszurichten und ihr Personal und Vermittlungsangebot hierfür qualifizieren müssen. Es bedarf eines begleitenden Angebots zum Coaching und zur betrieblichen Qualifizierung, das den Qualitätsansprüchen von Betrieben wie auch den Erwartungen der Arbeitnehmer an vertrauenswürdiger Unterstützung gerecht wird. Die BAGFW begrüßt es, dass die Förderung allen Arbeitgebern offen steht. Damit ist es entgegen ursprünglicher Planung auch möglich, Arbeitsplätze bei den Beschäftigungs- und Qualifizierungsunternehmen sowie den Integrationsunternehmen einzubeziehen.
Die BAGFW spricht sich dafür aus „Auffanglösungen“ für Leistungsberechtigte zu schaffen, die zunächst über das ESF-Programm gefördert werden, jedoch im Beschäftigungsverhältnis scheitern. Um drohenden Abwärtsspiralen bei Betroffenen und ihren Familien entgegenzuwirken, die auch nicht sinnvoll an einem anderen Arbeitsplatz (des ESF-Programms) integriert werden können, sollten alternative Beschäftigungsperspektiven z.B. im Programm „Soziale Teilhabe“ eröffnet werden. Es kann sich beispielsweise um Personen handeln, die den von Wirtschaftsunternehmen gestellten Leistungserwartungen an die Erfüllung eines Arbeitsverhältnisses (trotz Förderung) nicht gerecht werden können, weil sie dauerhaft nur eingeschränkte Leistungen erbringen können oder eine im Zeitverlauf schwankende Leistungsfähigkeit aufweisen (z.B. psychisch kranke Menschen, suchtkranke Menschen).
Soziale Teilhabe am Arbeitsmarkt: Die BAGFW begrüßt ausdrücklich das Vorhaben, ein Angebot zur Sozialen Teilhabe durch Erwerbsarbeit für ansonsten vom Arbeitsmarkt ausgeschlossene Personen zu unterbreiten. Das Programm kann dazu ein erster wichtiger Schritt sein. Da die tatsächlichen Unterstützungsbedarfe weit über die angedachte Förderung von 10.000 Personen hinausgehen, fordert die BAGFW zusätzliche Mittel bereitzustellen und das Programm mit einer Erprobung des sog. Passiv-Aktiv-Transfers (PAT) zu verknüpfen.
Mit einer Finanzierungsbasis über den PAT, wäre es leichter möglich, über die genannten Zielgruppen – Leistungsberechtigte mit Kindern und gesundheitlich eingeschränkte Personen – hinaus, weitere Personengruppen zu fördern, die der Teilhabe an Arbeit dringend bedürfen. Mit dem Programm sollen besonders Menschen gefördert werden, die trotz vermittlerischer Unterstützung bisher nicht in Arbeit integriert werden konnten und die ohne eine solche Förderung voraussichtlich nicht in Arbeit zu integrieren wären. Die BAGFW schlägt deshalb folgende Zielgruppendefinition vor: Zu fördern sind nur Personen, die mindestens zwei Jahre lang arbeitslos waren und mindestens zwei weitere persönliche Vermittlungshemmnisse aufweisen. Die Hemmnisse sollen nicht allein zugeschriebener Art sein, wie Alter, Geschlecht oder Herkunft, sondern zum Beispiel neben einem nicht vorhandenen Schul- oder Berufsabschluss auch gesundheitliche und/oder soziale Einschränkungen umfassen.
In dem Programm sollte maßgeblich sein, Einfacharbeitsplätze für arbeitsmarktferne Personen bei unterschiedlichen Arbeitgebern zu erschließen. Die Beschäftigung soll sozialversicherungspflichtig sein. Auf Kriterien der Zusätzlichkeit, des öffentlichen Interesses und Wettbewerbsneutralität ist, wie beim Beschäftigungszuschuss gem. § 16e SGB II a.F. zu verzichten. Arbeitgeber erhalten einen Lohnkostenzuschuss als längerfristigen finanziellen Ausgleich für die eingeschränkte Leistungsfähigkeit dieser Personen. Die Jobcenter sollten die Lohnkosten für die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung zum Ausgleich von Leistungseinschränkungen arbeitsmarktferner Personen (Nachteilsausgleich) bezuschussen. Die Höhe wird je nach Person individuell nach der persönlichen Leistungsfähigkeit der betreffenden Person unter den Bedingungen des jeweiligen Arbeitsplatzes bestimmt und kann im Einzelfall auch die vollen Lohnkosten umfassen. Weil damit meist nicht kurzfristige Leistungseinbußen, sondern dauerhafte Leistungseinschränkungen kompensiert werden müssen, sollte die Möglichkeit gegeben sein, die Beschäftigung prinzipiell unbefristet zu fördern. Es ist zu prüfen, wie diesen Erfordernissen nach Auslaufen des Programms entsprochen werden kann. Allerdings ist es notwendig, die Fördervoraussetzungen regelmäßig zu überprüfen, damit die Förderung der tatsächlichen Leistungsfähigkeit am Arbeitsplatz gerecht wird und Entwicklungen im Zeitverlauf (z.B. Leistungssteigerungen) berücksichtigt werden. Nur so bleibt auch der Weg in eine ungeförderte Erwerbstätigkeit offen. Die Beschäftigung sollte mit einer individuellen Begleitung am Arbeitsplatz selbst (in der Regel eine besondere Anleitung des Arbeitgebers, ggf. unterstützendes Coaching, begleitende Qualifizierung) und im Lebensumfeld (bei Bedarf sozialpädagogische Begleitung oder Coaching zur Klärung von familiären Problemen, finanziellen Notlagen u.v.m.) unterstützt werden. Diese begleitenden Hilfen sind im Programm zwingend vorzusehen und finanziell abzusichern.
Weiterentwicklung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente: An vielen Stellen fehlen die passenden Förderinstrumente, um Langzeitarbeitslose möglichst gut zu unterstützen. Die BAGFW regt dringend eine gesetzliche Novellierung an.
Der Reformbedarf betrifft u.a. die Arbeitsgelegenheiten. Arbeitsgelegenheiten sind sinnvoll, um sehr arbeitsmarktferne Menschen (z. B. wohnungslose Menschen, psychisch beeinträchtigte Personen) sozial zu stabilisieren und ihre Beschäftigungsfähigkeit schrittweise zu verbessern. Die derzeitige Begrenzung der Förderdauer auf zwei Jahre innerhalb von fünf Jahren ist aufzuheben, da sie zum Ausschluss gerade derjenigen Leistungsberechtigten führt, die längerfristige Unterstützung benötigen, und die Wirkung dieses Instruments auf diese Weise ins Leere läuft. Bei den Arbeitsgelegenheiten muss es zukünftig wieder möglich sein, sozialpädagogische Begleitung oder arbeitsbegleitende Qualifizierung direkt mit dem Instrument zu verknüpfen, ohne diese begleitenden Angebote umständlich zukaufen zu müssen. Die in den Förderleistungen enthaltenen Tätigkeiten müssen entsprechend den Fähigkeiten der unterstützten Person so ausgestaltet sein, dass sie die Betroffenen in ihrer persönlichen Entwicklung unterstützen und ihre individuellen Fähigkeiten fördern. Die derzeit geltenden Kriterien der Zusätzlichkeit, des öffentlichen Interesses und der Wettbewerbsneutralität wirken in ihrer Gesamtheit jedoch kontraproduktiv. Sie sind nicht geeignet, um zentral definiert zu werden. Es sollten die lokalen Akteure des Arbeitsmarktes im örtlichen Beirat Verantwortung für die Ausgestaltung erhalten.
Die sog. freie Förderung ist als echte Erprobungsklausel im SGB II auszugestalten. Aufgrund bestehender Restriktionen können Jobcenter das Instrument der freien Förderung nicht wie intendiert nutzen, um neue Lösungsansätze, etwa zur Förderung von sonst nicht erreichbaren Jugendlichen oder verfestigt Langzeitarbeitslosen anzubieten.
Weiteren gesetzlichen Handlungsbedarf sieht die BAGFW bei der Absicherung eines neuen Beschäftigungsverhältnisses. Nach der erfolgreichen Integration der Leistungsberechtigten in das Erwerbsleben kann eine weitere Unterstützung im Einzelfall zur nachhaltigen Festigung des Beschäftigungsverhältnisses angezeigt sein. Im SGB II fehlt es jedoch an einer Rechtsgrundlage, um eine nachgehende Begleitung der Leistungsberechtigten zu finanzieren. Um die dauerhafte Überwindung der Hilfebedürftigkeit durch die Stabilisierung des Arbeits- oder Ausbildungsverhältnisses sichern zu können, sollte eine nachgehende Begleitung von Leistungsberechtigten und/oder Arbeitgebern ermöglicht werden.
[1] Relative Einkommensarmut, materielle Deprivation, Langzeitarbeitslosigkeit.
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Insgesamt sieht die BAGFW folgende Ansätze als zielführend an, um die Langzeitarbeitslosigkeit zu bekämpfen:
- Zur Integration in die Gesellschaft brauchen Langzeitarbeitslose sowohl sozialintegrative Leistungen wie auch Leistungen zur Förderung der Teilhabe am Arbeitsleben im SGB II. Neben der Sicherung der Existenz ist die Sicherung der Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich. Der Schlüssel zur sozialen Teilhabe ist die berufliche Teilhabe. Angesichts einer zunehmenden Verfestigung des Leistungsbezugs und Ausgrenzung von Menschen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende plädiert die BAGFW dafür, neben der Zielsetzung Übergänge in Erwerbstätigkeit und den Austritt aus dem Leistungsbezug zu fördern, zusätzlich die soziale Teilhabe als auch die Teilhabe am Arbeitsleben explizit als Ziel im SGB II zu verankern. In der Zielsteuerung der Jobcenter soll die Förderung der Arbeitsmarktintegration und der sozialen Teilhabe von arbeitsmarktfernen Personen und Langzeitarbeitslosen mehr Gewicht erhalten. Der Bundesagentur für Arbeit soll eine neue Ausrichtung für ihre Arbeitsmarktförderung gegeben werden, und die Jobcenter einen neuen politischen Auftrag erhalten, sich im Rahmen des von ihnen zu betreuenden Personenkreises besonders der großen Gruppe langjährig im Hilfebezug lebender Menschen intensiv zu widmen. Dieser Prämisse folgend dürfen Leistungen wie beispielsweise Schuldner- und Suchtberatung (nach § 16 a SGB II) nicht allein unter arbeitsmarktpolitischen Gesichtspunkten erbracht und bewertet werden, sondern haben für das unterstützte Individuum einen Wert an sich, den es anzuerkennen gilt.
- Es müssen echte Chancen geschaffen und Aufwärtsmobilität durch Qualifizierung gefördert werden: Die Ursache für verfestigen Hilfebezug im SGB II ist häufig eine geringe Qualifikation. Die Hälfte der rund 2 Mio. arbeitslos gemeldeten Personen im Leistungsbezug des SGB II verfügt über keinen Berufsabschluss. Die Jobcenter geben derzeit nur sehr punktuell die Chance, Berufsabschlüsse nachzuholen. Nur ungefähr 1% der o.g. Zielgruppe erhält ein Qualifizierungsangebot, das zum Berufsabschluss führt. Vor diesem Hintergrund müssen Qualifizierungen, v.a. solche, die zu einem Berufsabschluss führen, dringend ausgebaut werden.
- Die Bekämpfung des hohen und verfestigten Leistungsbezugs und die damit einhergehende Langzeitarbeitslosigkeit erfordern eine intensivere und auf den jeweiligen Einzelfall abgestimmte Betreuung in den Jobcentern und einen Ausbau der Fördermaßnahmen. Die Eingliederungsmittel der Jobcenter müssen deshalb aufgestockt und eine Umwidmung in das Verwaltungsbudget ausgeschlossen werden. 2013 flossen aus dem Topf für "Eingliederung in Arbeit" 445 Mio. Euro in das Verwaltungsbudget. Es darf nicht weiter zugelassen werden, dass die ohnehin massiv begrenzten Eingliederungsmittel weiterhin durch Umschichtungen in das Verwaltungskostenbudget aufgezehrt werden.
- Die Wohlfahrtsverbände sprechen sich für eine Weiterentwicklung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente und eine bessere Verzahnung von Maßnahmen der Arbeitsförderung mit psychosozialen Hilfen aus. Die Qualität der Maßnahmen der Arbeitsförderung hängt maßgeblich von der Vergabe ab. Jedoch wird die Qualität der Maßnahmen durch das bestehende Vergaberecht und die aktuelle Vergabepraxis unterlaufen. Die Umsetzung der EU-Vergabereform muss deshalb auch für eine Verbesserung der Vergabe der Arbeitsmarktdienstleistungen genutzt werden.
Die BAGFW setzt sich für einen Sozialen Arbeitsmarkt ein, weil es zwischen 200.000 und 480.000 Personen (je nach Definition) in der Grundsicherung für Arbeitsuchende gibt, die weit davon entfernt sind, in den Arbeitsmarkt zurückzufinden. Aus einer Situation von scheinbar unüberwindlichen Problemlagen, Resignation und Hilflosigkeit können diese Menschen mit einer Förderung im Sozialen Arbeitsmarkt dennoch Zugang zur Erwerbsarbeit und gesellschaftlichen Teilhabe erhalten. Nach jahrelangen Erprobungen von Instrumenten und Förderprogrammen auf Bundes- und Länderebene ist jetzt eine gesetzliche Regelung zur Förderung im SGB II und eine Finanzierungsgrundlage zum sog. Passiv-Aktiv-Transfer gesetzlich zu verankern.
Im Einzelnen positioniert sich die BAGFW zu den fünf Programmpunkten in dem Konzept der Bundesarbeitsministerin wie folgt:
1. Bessere Betreuung in Aktivierungszentren
Das Konzept der Bundesarbeitsministerin sieht vor, die im Zuge des Bundesprogramms „Perspektive 50plus“ entwickelten Konzepte und Strukturen weiterzuführen und für die Förderung von Langzeitarbeitslosen nutzbar zu machen. Nach Einschätzung der BAGFW haben v.a. eine intensivierte Betreuung und engagierte Förderung mit Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktförderung und Gesundheitsförderung zum Erfolg geführt. Die Jobcenter sollten jedoch nicht nur für programmspezifisch ausgewählte Zielgruppen, sondern für alle Leistungsberechtigten mit einer ausreichend Anzahl an qualifiziertem Personal und verfügbaren Maßnahmen der Arbeitsförderung ausgestattet werden, so dass ein intensiver Kontakt mit den Arbeitssuchenden ermöglicht und individuell passgenaue Maßnahmen der Arbeitsförderung mit psychosozialen Hilfen und Angeboten der Gesundheitsförderung kombiniert werden können.
Es ist darauf zu achten, dass ältere Arbeitslose, die weiterhin stark am Arbeitsmarkt benachteiligt sind, trotz Auslaufen der Förderung im Bundesprogramm „Perspektive 50plus“ ausreichend Unterstützung und Förderung erhalten. Die gesetzliche Regelung nach der erwerbsfähige und erwerbswillige Leistungsberechtigte auf die vorzeitige Inanspruchnahme der Rente mit 63 Jahren unter Inkaufnahme von Abschlägen verwiesen werden, muss entfallen.
Aktivierung ist so zu verstehen, dass die vorhandenen Potentiale der Hilfebedürftigen gefördert und sie befähigt werden, ihr Leben eigeninitiativ zu gestalten. Die BAGFW plädiert dafür, die Eigenmotivation der einbezogenen Langzeitarbeitslosen durch eine freiwillige Teilnahme an den Angeboten der Aktivierungszentren zu sichern. Die Eigeninitiative und das Durchhaltevermögen der Personen können außerdem durch unterstützende Ansätze, wie motivierende Gruppenarbeit und Impulse zur Selbsthilfe (z.B. Selbstvermittlungscoaching) angestoßen werden.
Die BAGFW plädiert gerade angesichts der vorgenannten Qualitätsaspekte und aufgrund der einbezogenen Maßnahmen (etwa der Sucht- und Schuldnerberatung oder Gesundheitsförderung) dafür, freie Träger eng in den weiteren Ausbau der Aktivierungszentren einzubeziehen. Das Konzept der Arbeitsministerin legt durch den Wortlaut jedoch nahe, dass die dort angesiedelten Maßnahmen als In-house-Maßnahmen der Jobcenter umgesetzt werden. Das lehnen die Wohlfahrtsverbände ab. Nach dem sozialrechtlich verankerten Subsidiaritätsgrundsatz (§§ 17 Abs. 3 SGB I und 17 Abs. 1 SGB II) darf der SGB II-Leistungsträger Einrichtungen grundsätzlich nicht neu schaffen, sofern bereits geeignete Einrichtungen und Dienste Dritter vorhanden sind. Die BAGFW weist darauf hin, dass auch der „Grundsatz des sinnvollen Einsatzes finanzieller Mittel“ die Beachtung des Vorrangs von sog. Dritten bei der Leistungserbringung und ein Zurückhaltungsgebot auf Seiten der Agentur für Arbeit bzw. des kommunalen Trägers gebietet.
Die Durchführung von In-house-Maßnahmen der Jobcenter ist daher als Ausnahmefall anzusehen und ist nur in atypischen Situationen gestattet. Sie setzt grundsätzlich eine vorangegangene Prüfung, ob Einrichtungen und Dienste in ausreichendem Maße vorhanden sind, und die Feststellung, dass passende Angebote bei Dritten nicht verfügbar sind, voraus. Nach Auffassung der BAGFW muss darüber hinaus zunächst eine erhöhte Wirkung und insbesondere bessere Wirtschaftlichkeit der In-house-Maßnahmen gegenüber den von Dritten durchgeführten Maßnahmen nachgewiesen werden.
Trotz des guten Erfolgs des Bundesprogramms „Perspektive 50plus“ konnte für die Mehrzahl der Geförderten keine Lösung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gefunden werden. Es gibt gerade bei arbeitsmarktfernen Langzeitarbeitslosen nach Ablauf einer Aktivierungsmaßnahme in vielen Fällen keine unmittelbare Anschlussperspektive auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, so dass die Eingliederungsbemühungen letzten Endes fruchtlos bleiben. Die BAGFW empfiehlt deshalb einen verzahnten Einsatz der Aktivierungszentren mit einer Anschlussförderung. Ansonsten läuft die vorangegangene Förderung ins Leere, verbraucht Ressourcen in der Arbeitsverwaltung und erhöht darüber hinaus die Frustration der Betroffenen.
Die Verstetigung der intensivierten Betreuung durch eine Verlängerung von bislang 1000 befristeten Personalstellen in den Jobcentern ist aus dem Verwaltungsbudget der Jobcenter, nicht aber aus dem Eingliederungstitel zu finanzieren. Hierzu ist das Verwaltungsbudget entsprechend aufzustocken.
Die BAGFW begrüßt das Vorhaben, die Berufstätigkeit Alleinerziehender zu fördern, indem die Kinderbetreuung in Randzeiten unter Beachtung des Kindeswohls ausgebaut wird. Dies allein ist aber nicht ausreichend, um den Personenkreis der Alleinerziehenden bedarfsgerecht zu fördern. Es müssen darüber hinaus Maßnahmen ergriffen werden, um Alleinerziehende bei der Integration in den Arbeitsmarkt frühzeitig und umfassend zu unterstützen. Insbesondere muss es den Alleinerziehenden ermöglicht werden, Qualifikationen nach einer Familienpause aufzufrischen, einen fehlenden Schul- oder Berufsabschluss nachzuholen oder sich in betrieblichen Trainingsmaßnahmen in der Arbeitswelt zu beweisen. Die betrieblichen Trainingsmaßnahmen und Qualifizierungsphasen sind so auszugestalten, dass berufliche Ziele mit der familiären Situation in Einklang gebracht werden können. Dringend notwendig ist der Ausbau von Möglichkeiten zur Teilzeitausbildung. Dafür sollten Arbeitgeber gezielt geworben werden.
Damit die berufliche Wiedereingliederung Alleinerziehender nicht an finanziellen Mitteln scheitert, sollte die finanzielle Absicherung Alleinerziehender und ihrer Kinder insbesondere an den Schnittstellen zwischen SGB II, Wohngeldgesetz, Bundeskindergeldgesetz, Berufsausbildungsförderungsgesetz (BAföG) und Berufsausbildungsbeihilfe (BAB) gewährleistet sein.
2. ESF-Bundesprogramm zur Eingliederung langzeitarbeitsloser Menschen
Unter den Bedingungen des neuen ESF-Bundesprogramms wird es nach Einschätzung der BAGFW schwierig sein, das Programmziel von bis zu 33.000 Eingliederungen arbeitsmarktferner Langzeitarbeitsloser in den allgemeinen Arbeitsmarkt zu erreichen. Es setzt einen aufnahmefähigen lokalen Arbeitsmarkt voraus sowie die Bereitschaft von Arbeitgebern sich der Zielgruppe langzeitarbeitsloser Personen zu öffnen – offene Stellen mit Langzeitarbeitslosen zu besetzen oder neue Einfacharbeitsplätze einzurichten – und mit einem schnell abfallendem Lohnkostenzuschuss für deren Anstellung zu entscheiden.
Entgegen der bisherigen Praxis werden die beteiligten Jobcenter ihre Arbeitsvermittlung neu auf arbeitsmarktferne Langzeitarbeitslose auszurichten und ihr Personal und Vermittlungsangebot hierfür qualifizieren müssen. Es bedarf eines begleitenden Angebots zum Coaching und zur betrieblichen Qualifizierung, das den Qualitätsansprüchen von Betrieben wie auch den Erwartungen der Arbeitnehmer an vertrauenswürdiger Unterstützung gerecht wird. Bei der Förderung der Arbeitgeber bittet die BAGFW darum, das Zusammenwirken der Lohnkostenzuschüsse und Ausnahmeregelungen von Langzeitarbeitslosen beim allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn zu prüfen. Es entsteht der Eindruck, dass im Zusammenwirken dieser Regelungen keine „Förderung aus einem Guss“ zustande kommt.
Die BAGFW begrüßt es, dass die Förderung allen Arbeitgebern offen steht. Damit ist es entgegen ursprünglicher Planung auch möglich, Arbeitsplätze bei den Beschäftigungs- und Qualifizierungsunternehmen wie auch den Integrationsunternehmen einzubeziehen. Um das Arbeitsplatzpotential bei diesen Arbeitgebern tatsächlich zu einem Teil mit nutzen zu können, sollte jedoch sichergestellt sein, dass das Coaching, das im Rahmen eines Vergabeverfahrens an Dritte vergeben werden soll, in diesen Fällen gezielt über eine freihändige Vergabe bei diesen Unternehmen angesiedelt wird.
Die BAGFW spricht sich dafür aus „Auffanglösungen“ für Leistungsberechtigte zu schaffen, die zunächst über das ESF-Programm gefördert werden sollten, jedoch im Beschäftigungsverhältnis scheitern. Um drohenden Abwärtsspiralen bei Betroffenen und ihren Familien entgegenzuwirken, die auch nicht sinnvoll an einem anderen Arbeitsplatz (des ESF-Programms) integriert werden können, sollten alternative Beschäftigungsperspektiven z.B. im Programm „Soziale Teilhabe“ eröffnet werden. Es kann sich beispielsweise um Personen handeln, die den von Wirtschaftsunternehmen gestellten Leistungserwartungen an die Erfüllung eines Arbeitsverhältnisses (trotz Förderung) nicht gerecht werden können, weil sie dauerhaft nur eingeschränkte Leistungen erbringen können oder eine im Zeitverlauf schwankende Leistungsfähigkeit aufweisen (z.B. psychisch kranke Menschen, suchtkranke Menschen).
3. Soziale Teilhabe am Arbeitsmarkt
Die BAGFW begrüßt ausdrücklich das Vorhaben ein Angebot zur Sozialen Teilhabe durch Erwerbsarbeit für ansonsten vom Arbeitsmarkt ausgeschlossene Personen zu unterbreiten. Das Programm kann dazu ein erster wichtiger Schritt sein. Da die tatsächlichen Unterstützungsbedarfe weit über die angedachte Förderung von 10.000 Personen hinausgehen (s.o.), fordert die BAGFW zusätzliche Mittel bereitzustellen und das Programm mit einer Erprobung des sog. Passiv-Aktiv-Transfers (PAT) zu verknüpfen.
Der PAT ermöglicht es, die benötigte Finanzierung zu einem großen Teil dadurch zu realisieren, dass die ohnehin für den passiven Leistungsbezug verausgabten Gelder für die Förderung eingesetzt werden. So wird Arbeit statt Arbeitslosigkeit finanziert. Zur Umsetzung des Passiv-Aktiv-Transfers soll im Bundeshaushalt ein eigener Haushaltstitel gebildet werden. Darin werden die (infolge der geförderten Beschäftigung) voraussichtlich eingesparten Mittel für den Regelbedarf (inklusive Mehrbedarf) und für den Bundesanteil an den Unterkunftskosten umgeschichtet. Mit dieser Vorgehensweise wird im Bundeshaushalt eine verlässliche, aber zugleich zielgenaue und begrenzte Finanzierungsgrundlage geschaffen. Die BAGFW plädiert dafür, dass auch ein Anteil der eingesparten Kosten der Unterkunft der Kommunen in die Finanzierung eingebracht wird. Dies könnte beispielsweise auf freiwilliger Basis im Rahmen einer Beteiligung in Modellregionen erfolgen.
Mit einer Finanzierungsbasis über den PAT, wäre es auch leichter möglich, über die genannten Zielgruppen – Leistungsberechtigte mit Kindern und gesundheitlich eingeschränkte Personen – hinaus, weitere Personengruppen zu fördern, die der Teilhabe an Arbeit dringend bedürfen. Mit dem Programm sollen besonders Menschen gefördert werden, die trotz vermittlerischer Unterstützung bisher nicht in Arbeit integriert werden konnten und die ohne eine solche Förderung voraussichtlich nicht in Arbeit zu integrieren wären. Die BAGFW schlägt deshalb folgende Zielgruppendefinition vor: Zu fördern sind nur Personen, die mindestens zwei Jahre lang arbeitslos waren und mindestens zwei weitere persönliche Vermittlungshemmnisse aufweisen. Die Hemmnisse sollen nicht allein zugeschriebener Art sein, wie Alter, Geschlecht oder Herkunft, sondern zum Beispiel neben einem nicht vorhandenen Schul- oder Berufsabschluss auch gesundheitliche und/oder soziale Einschränkungen umfassen.
Diese Zielgruppenbestimmung erfasst einen Personenkreis dessen Leistungsfähigkeit und Arbeitsproduktivität vor der Arbeitsaufnahme deutlich eingeschränkt ist und auch nach der Arbeitsaufnahme prognostisch nur schwer abzuschätzen ist. Für eine erfolgreiche Bewältigung der Anforderungen der modernen Arbeitswelt ist eine besondere Unterstützung unabdingbar. Es geht hier darum, langzeitarbeitslosen Menschen, die mit psychischen, körperlichen und/oder sozialen Problemen belastet sind, Teilhabe an Erwerbsarbeit und dadurch auch gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen. Damit dieses Ziel erreicht werden kann, müssen die Personen bereits in der Lage sein, ein sozialversicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis im Umfang von mindestens 15 Stunden pro Woche mit unterstützender Begleitung zu bestehen. Um sicherzustellen, dass die geförderten Personen aus dieser Zielgruppe den Anforderungen entsprechen, ist es deshalb erforderlich, dass die einbezogenen Personen über die nötige Grundstabilität und eine Grundbelastbarkeit verfügen und außerdem ein ausreichendes Maß an Motivation und Zuverlässigkeit mitbringen. Hierfür kann es nötig sein, mit vorangegangener stabilisierender Förderung auf die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung vorzubereiten. Außerdem geht es darum, die geförderten Personen möglichst so genau zu passenden Arbeitsplätzen zu vermitteln, dass sie ihr individuelles Leistungspotential möglichst optimal entfalten und weiterentwickeln können. Denn auch diese vom Arbeitsmarkt zunächst deutlich entfernt stehenden Personen sind trotz individueller Vermittlungshemmnisse auch leistungsfähig und produktiv, wenn sie ihrer individuellen Eignung und Motivation entsprechende Arbeitsbedingungen erhalten.
In dem Programm sollte maßgeblich sein, Einfacharbeitsplätze für arbeitsmarktferne Personen bei unterschiedlichen Arbeitgebern zu erschließen. Die Beschäftigung soll sozialversicherungspflichtig sein. Auf Kriterien der Zusätzlichkeit, des öffentlichen Interesses und Wettbewerbsneutralität ist, wie beim Beschäftigungszuschuss gem. § 16e SGB II a.F. zu verzichten.
Arbeitgeber erhalten einen Lohnkostenzuschuss als längerfristigen finanziellen Ausgleich für die eingeschränkte Leistungsfähigkeit dieser Personen. Die Jobcenter sollten die Lohnkosten für die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung zum Ausgleich von Leistungseinschränkungen arbeitsmarktferner Personen (Nachteilsausgleich) bezuschussen. Die Höhe wird je nach Person individuell nach der persönlichen Leistungsfähigkeit der betreffenden Person unter den Bedingungen des jeweiligen Arbeitsplatzes bestimmt und kann im Einzelfall auch die vollen Lohnkosten umfassen. Weil damit meist nicht kurzfristige Leistungseinbußen, sondern dauerhafte Leistungseinschränkungen kompensiert werden müssen, sollte die Möglichkeit gegeben sein, die Beschäftigung prinzipiell unbefristet zu fördern. Es ist zu prüfen, wie diesen Erfordernissen nach Auslaufen des Programms entsprochen werden kann. Allerdings ist es notwendig, die Fördervoraussetzungen regelmäßig zu überprüfen, damit die Förderung der tatsächlichen Leistungsfähigkeit am Arbeitsplatz gerecht wird und Entwicklungen im Zeitverlauf (z.B. Leistungssteigerungen) berücksichtigt werden. Nur so bleibt auch der Weg in eine ungeförderte Erwerbstätigkeit offen.
Die Beschäftigung sollte mit einer individuellen Begleitung am Arbeitsplatz selbst (in der Regel eine besondere Anleitung des Arbeitgebers, ggf. unterstützendes Coaching, begleitende Qualifizierung) und im Lebensumfeld (bei Bedarf sozialpädagogische Begleitung oder Coaching zur Klärung von familiären Problemen, finanziellen Notlagen u.v.m.) unterstützt werden. Diese begleitenden Hilfen sind im Programm zwingend vorzusehen und finanziell abzusichern.
Das Programm ist nur effektiv, wenn die geförderte Person bereits in der Anfangsphase aus eigener Motivation heraus mitwirkt. Langzeitarbeitslosen soll es daher freistehen, das Teilhabeangebot für sich zu nutzen oder nicht (Freiwilligkeit).
Idealerweise wird den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern entsprechend ihren individuellen Leistungsvermögen eine flexible Wochenarbeitszeit zwischen 15-35 Stunden ermöglicht. So werden auch Langzeitarbeitslose, die nur eine Teilzeitstelle ausfüllen können, in das Arbeitsleben integriert.
Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege geht davon aus, dass ihre sozialen Dienste und Einrichtungen umfassend an der Umsetzung des Programms beteiligt sind: dies sind als Arbeitgeber gemeinnützige Dienste und Einrichtungen, Beschäftigungs- und Qualifizierungsunternehmen sowie Integrationsunternehmen und unterschiedliche Dienste die unterstützende Hilfen wie z.B. der Suchtberatung erbringen.
4. Schnittstellen SGB II zur Gesundheitsförderung
Die BAGFW bekräftigt das Ziel des Konzepts, die Gesundheitsförderung von Langzeitarbeitslosen zu verbessern. Mehr als 40 Prozent der Arbeitslosengeld-II-Empfänger geben an, schwerwiegende gesundheitliche Einschränkungen zu haben (IAB 23/2014). Für eine bessere Gesundheit der Betroffenen sind umfassende Ansätze nötig, die zuallererst die Lebensumstände der Betroffenen und Zukunftsperspektiven positiv beeinflussen. Teilhabe an Erwerbsarbeit stellt einen maßgeblichen Schlüssel zur Gesundheit der Betroffenen dar. Daher bekräftigen die Wohlfahrtsverbände nochmals und auch an dieser Stelle ihre Forderung nach einem Sozialen Arbeitsmarkt. Zu den maßgeblichen gesundheitsförderlichen bzw. gesundheitshinderlichen Lebensumständen gehört auch die Existenzsicherung. Die BAGFW bekräftigt ihre Forderung, die Regelbedarfe im SGB II neu zu bemessen, damit Lücken in der Existenzsicherung geschlossen werden.
Darüber hinaus ist ein Ausbau von Maßnahmen der Arbeitsförderung notwendig, die Elemente der Gesundheitsförderung beinhalten (Integrierte Gesundheits- und Arbeitsförderung). Arbeitslose sollten dabei vor allem in der Stärkung ihrer Handlungskompetenz und Selbstwirksamkeit unterstützt werden, Gesundheitserzieherische Maßnahmen und solche Angebote, die nur einzeln Aspekte der Lebensführung aufgreifen, (z.B. fettreiche Ernährung, Bewegungsmangel), haben sich bisher als weniger zielführend erwiesen. Diese Aspekte sollten allenfalls im Rahmen eines ganzheitlichen Konzepts eine Rolle spielen. Für ein Gelingen derartiger Maßnahmen sollte Voraussetzung sein, dass die Teilnahme freiwillig ist.
Soweit diese Aspekte zukünftig stärker Berücksichtigung finden würden, könnte es auch hilfreich sein, die von den Krankenkassen finanzierten Maßnahmen der individuellen Verhaltensprävention stärker für Arbeitslose zu nutzen. Die derzeitigen Angebote sind meist nicht auf die Bedürfnisse dieser Zielgruppen abgestimmt und zudem mit finanziellen Zugangshürden verbunden (v.a. die Erbringung von Eigenanteilen und/oder Vorleistungen), weshalb Arbeitslose im Ergebnis in diesen Angeboten stark unterrepräsentiert sind.
Die BAGFW sieht ebenso wie die Bundesarbeitsministerin Handlungsbedarf beim Zugang von Arbeitslosen zu Leistungen der beruflichen Rehabilitation. Rehabilitationsbedarfe müssen besser erkannt und Leistungen verbindlicher bereitgestellt werden. Im Zusammenspiel von Jobcentern und BA existieren heute äußerst komplexe Prozessketten und Anreizstrukturen zulasten Arbeitsloser im SGB II.
5. Weiterentwicklung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente
An vielen Stellen fehlen die passenden Förderinstrumente, um Langzeitarbeitslose möglichst gut zu unterstützen. Die BAGFW regt dringend eine gesetzliche Novellierung an.
Der Reformbedarf betrifft u.a. die Arbeitsgelegenheiten. Arbeitsgelegenheiten sind sinnvoll, um sehr arbeitsmarktferne Menschen (z. B. wohnungslose Menschen, psychisch beeinträchtigte Personen) sozial zu stabilisieren und ihre Beschäftigungsfähigkeit schrittweise zu verbessern. Die derzeitige Begrenzung der Förderdauer auf zwei Jahre innerhalb von fünf Jahren ist aufzuheben, da sie zum Ausschluss gerade derjenigen Leistungsberechtigten führt, die längerfristige Unterstützung benötigen, und die Wirkung dieses Instruments auf diese Weise ins Leere läuft.
Bei den Arbeitsgelegenheiten muss es zukünftig wieder möglich sein, sozialpädagogische Begleitung oder arbeitsbegleitende Qualifizierung direkt mit dem Instrument zu verknüpfen, ohne diese begleitenden Angebote umständlich zukaufen zu müssen.
Die in den Förderleistungen enthaltenen Tätigkeiten müssen entsprechend den Fähigkeiten der unterstützten Person so ausgestaltet sein, dass sie die Betroffenen in ihrer persönlichen Entwicklung unterstützen und ihre individuellen Fähigkeiten fördern. Die derzeit geltenden Kriterien der Zusätzlichkeit, des öffentlichen Interesses und der Wettbewerbsneutralität wirken in ihrer Gesamtheit jedoch kontraproduktiv. Sie sind nicht geeignet, um zentral definiert zu werden. Es sollten die lokalen Akteure des Arbeitsmarktes im örtlichen Beirat Verantwortung für die Ausgestaltung erhalten.
Die sogenannte freie Förderung ist als echte Erprobungsklausel im SGB II auszugestalten. Aufgrund bestehender Restriktionen können Jobcenter das Instrument der freien Förderung nicht wie intendiert nutzen, um neue Lösungsansätze, etwa zur Förderung von sonst nicht erreichbaren Jugendlichen oder verfestigt Langzeitarbeitslosen anzubieten.
Weiteren gesetzlichen Handlungsbedarf sieht die BAGFW bei der Absicherung eines neuen Beschäftigungsverhältnisses. Nach der erfolgreichen Integration der Leistungsberechtigten in das Erwerbsleben kann eine weitere Unterstützung im Einzelfall zur nachhaltigen Festigung des Beschäftigungsverhältnisses angezeigt sein. Im SGB II fehlt es jedoch an einer Rechtsgrundlage, um eine nachgehende Begleitung der Leistungsberechtigten zu finanzieren. Um die dauerhafte Überwindung der Hilfebedürftigkeit durch die Stabilisierung des Arbeits- oder Ausbildungsverhältnisses sichern zu können, sollte eine nachgehende Begleitung von Leistungsberechtigten und/oder Arbeitgebern ermöglicht werden.
]]>Die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege bedanken sich für die Möglichkeit der Stellungnahme zur Anpassung der Betreuungskräfte-RL und nehmen dieses Recht gemeinsam wahr.
A) Redaktionelle Anpassung
Entwurf
Die Anpassung beruht auf der Grundlage des 1. Pflegestärkungsgesetzes (PSG), in dem der Geltungsbereich der bisherigen Regelungen auf alle Pflegebedürftigen und Versicherten ausgeweitet wurde. Die Änderungen im Entwurf zur Anpassung der Richtlinien beziehen sich an verschiedenen Stellen auf entsprechende redaktionelle Anpassungen der Terminologie sowie die Erweiterung um die Zielgruppe der körperlich beeinträchtigten Pflegebedürftigen.
Bewertung
Die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege begrüßen die Klarstellung des Verordnungstextes hinsichtlich der Erweiterung des Geltungsbereichs.
Allerdings weisen wir darauf hin, dass die Anpassung nicht konsequent an allen Stellen erfolgt ist und insbesondere in § 4 in den Beschreibungen der Module die Anpassung nicht erfolgt ist.
Änderungsvorschlag
In § 4 Abs. 3 Modul 2 sollte es analog zu § 6 Abs. 1 wie folgt heißen:
Das Praktikum erfolgt in einer vollstationären oder teilstationären Pflegeeinrichtung unter Anleitung und Begleitung einer in der Pflege und Betreuung erfahrenen Pflegefachkraft, um praktische Erfahrungen in der Betreuung von Menschen auch mit einer erheblichen Einschränkung der Alltagskompetenz zu sammeln. …
B) Kurzzeit- und teilstationäre Pflege
Bewertung
Da die Regelungen des § 87b SGB XI auf alle Pflegebedürftigen ausgedehnt wurden, sollte klargestellt werden, dass die Leistungen in der Kurzzeit- und teilstationären Pflege künftig grundsätzlich gelten unabhängig von der Organisationsform als solitäre Einrichtungen oder integrierte Plätze in der vollstationären Pflege.
Änderungsvorschlag
Die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege schlagen vor, die Fußnote 3 zur Präambel wie folgt zu ergänzen:
Hierzu gehören vollstationäre Einrichtungen (Pflegeheime, Einrichtungen der Kurzzeitpflege) sowie teilstationäre Pflegeeinrichtungen (Einrichtungen der Tages- und Nachtpflege), unabhängig von ihrer Organisationsform.
C) § 4 Abs. 2: Umfang des Praktikums
Entwurf
Die Dauer des Orientierungspraktikums wird nun in Stunden (40) statt bisher in Tagen (5) angegeben.
Bewertung
Die Angabe der Praktikumsdauer in Stunden entspricht den Richtlinien bei anderen Zeitangaben und ist daher im Sinne eines einheitlichen Vorgehens grundsätzlich zu begrüßen. Gleichzeitig wird mit der Stundenangabe eine Klarstellung erreicht sowie mehr Flexibilität in der Durchführung des Praktikums möglich.
Darüber hinaus möchten wir darauf hinweisen, dass die Neuregelung aber ggf. nicht mit den verschiedenen tariflich vereinbarten Wochenarbeitszeiten kompatibel ist, was im Zweifelsfall nicht zu Lasten tarifgebundener Träger ausgelegt werden darf.
D) § 4 Abs. 3: Qualifizierungsmaßnahme
Bewertung
Angesichts des ab 2015 zu deckenden Neubedarfs sowie der bisherigen Erfahrungen der Träger fehlt in den Richtlinien die Eröffnung der Möglichkeit, die Qualifizierungsmaßnahme auch berufsbegleitend durchzuführen.
Änderungsvorschlag
Die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege schlagen folgende Ergänzung in § 4 Abs. 3 vor:
Die Qualifizierungsmaßnahme besteht aus drei Modulen (Basiskurs, Betreuungspraktikum und Aufbaukurs) und hat einen Gesamtumfang von mindestens 160 Unterrichtsstunden. Hinzu kommt das zweiwöchige Betreuungspraktikum, das auch berufsbegleitend durchgeführt werden kann.
E) § 4 Abs. 4: Umfang der jährlichen Fortbildung
Entwurf
Die Vorgabe der verpflichtenden, jährlichen zwei Fortbildungstage wird ergänzt um eine Stundenangabe (16 Std.).
Bewertung
Die Angabe eines Stundenumfangs ist grundsätzlich zu begrüßen, s. a. Bewertung zu B). Allerdings ist hier die Stundenangabe als zusätzliches Merkmal zu der Angabe von Tagen dazu gekommen und hat die Tageangabe nicht ersetzt wie in B).
Die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege halten das für nicht zielführend, da auf Landesebene z. T. bereits Probleme mit unterschiedlichen Interpretationen diesbezüglich existieren, ob z. B. die zwei Tage Fortbildung am Stück stattfinden müssen oder innerhalb eines Jahres insgesamt zwei Tage Fortbildung erfolgen müssen. Wünschenswert wäre hier im Sinne der individuellen Gestaltung entsprechend der Gegebenheiten vor Ort sowie der Bedarfe der Betreuungskräfte nur eine Stundenanzahl pro Jahr festzulegen, die flexibel über das Jahr verteilt erfolgen kann.
Da vor Ort bei der Anerkennung immer wieder die Frage eine Rolle spielt, ob die Fortbildung nach Zeitstunden (60 Min.) oder Unterrichtsstunden (45 Min.) erfolgen muss, wäre diesbezüglich ebenfalls eine Klarstellung in den Richtlinien hilfreich.
Darüber hinaus geht es um die Aktualisierung von Wissen.
Änderungsvorschlag
Die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege schlagen folgende Neufassung von § 4 Abs. 4 analog der Formulierung bei der Qualifizierungsmaßnahme in § 4 Abs. 3 vor:
Die regelmäßige Fortbildung umfasst jährlich insgesamt 16 Unterrichtsstunden, in denen das <s>vermittelte</s> Wissen aktualisiert wird und eine Reflexion der beruflichen Praxis eingeschlossen ist.
F) § 5 Abs. 2: Anerkennung erworbener Qualifikationen
Entwurf
Qualifizierungen auf der Grundlage früherer RL-Fassungen sollen im Sinne eines Bestandsschutzes weiterhin anerkannt bleiben. Unerwähnt bleibt dagegen der Umgang mit Personen, die eine Ausbildung als Pflegefach- oder -hilfskraft absolviert haben.
Bewertung
Die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege begrüßen diese Anerkennung der bisherigen Qualifizierungen auch nach der neuen RL. Hinsichtlich der Anerkennung von Ausbildungen als Pflegefach- oder -hilfskraft sowie von Ergotherapeut/-innen sollte zwecks bundeseinheitlichem Vorgehen und Bürokratieabbau vor Ort klargestellt werden, dass diese automatisch und in vollem Umfang anerkannt werden.
Änderungsvorschlag
Die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege schlagen folgende Ergänzung in § 5 Abs. 1 vor:
Soweit die Qualifikationsanforderungen nach § 4 Abs. 3 vollständig oder teilweise in einer Berufsausbildung, bei der Berufsausübung oder in Fortbildungsmaßnahmen nachweislich erworben wurden, gelten diese soweit als erfüllt. Als grundsätzlich erfüllt gelten die Anforderungen bei Personen, die eine Ausbildung als Pflegefachkraft, (Alten-) Pflegehelfer/-in, Ergotherapeut/-in oder vergleichbaren Gesundheits- und Sozialberufen abgeschlossen haben.
G) § 6 Übergangsregelung
Entwurf
Die Änderung sieht eine Übergangszeit vor, nach der die Qualifikationen nach den Modulen 1 bis 3 bis zum 30. Juni 2015 abgeschlossen sein müssen.
Bewertung
Aus Sicht der Pflegeeinrichtungen ist diese Frist zu kurz gegriffen, um den Bedarf an neuen Betreuungskräften zu realisieren. Die Frist ist daher bis zum Jahresende zu verlängern.
Änderungsvorschlag
Die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege schlagen folgende Neufassung von § 6 vor:
... die im § 4 Abs. 3 in den Modulen 1 und 3 beschriebenen Qualifikationen bis 31.12.2015 abschließen werden und …
]]>Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege sind mit zahlreichen Einrichtungen und Diensten ein wichtiger Akteur im Bereich der Flüchtlingshilfe und nehmen die Konferenz der Innenminister und -senatoren von Bund und Ländern zum Anlass, Ihnen einige wichtige Anliegen zu übermitteln. Wir bitten Sie, diese möglichst im Rahmen Ihrer Beratungen und Beschlussfassungen zu berücksichtigen.
In der Flüchtlingspolitik stehen wir derzeit vor großen gesamtgesellschaftlichen Herausforderungen, die sowohl die Länder, Kommunen, und den Bund wie auch die Zivilgesellschaft betreffen. Aus unserer Sicht sind gegenwärtig von besonderer Bedeutung:
Die Fortführung und Ausweitung eines regulären Programms zur Neuansiedlung von Flüchtlingen (Resettlement)
Flüchtlinge haben im Grunde keine Möglichkeiten, sicher und legal nach Europa zu kommen. Diejenigen, die nach Europa wollen, nehmen lebensgefährliche Reisen auf sich. Mit der Durchführung der Humanitären Aufnahmeprogramme hat sich Deutschland in Europa in hervorragender Weise positioniert und sollte seine Vorreiterrolle weiterhin nutzen, um auch die anderen europäischen Staaten zu mehr Verantwortungsübernahme aufzufordern. Im Hinblick auf die Situation in den syrischen Nachbarländern wird jedoch deutlich, dass Deutschland hier noch viel mehr tun sollte. Insbesondere das Schließen der Aufnahmeprogramme der Länder, die für die Aufnahme von Flüchtlingen eine Verpflichtungserklärung von Familienangehörigen verlangen, ist schwer nachvollziehbar.
Die Humanitären Aufnahmeprogramme der Bundesrepublik Deutschland für syrische Flüchtlinge sind jedoch nicht geeignet, das auf Dauer angelegte Instrument des Resettlement zu ersetzen, welches für viele langjährige Flüchtlingskrisen und die davon betroffenen Menschen die einzige Lösung anbietet. Das Resettlement sollte aus Sicht der Verbände daher, wie auch im Koalitionsvertrag verabredet, in wesentlich größerem Umfang institutionalisiert werden. Neben der Linderung von Flüchtlingsschicksalen setzt Deutschland damit ein politisches Zeichen der Solidarität mit den überlasteten Erstaufnahmestaaten. Die Verbände stehen für Unterstützung und Kooperation bei der Ausgestaltung, Vorbereitung und Durchführung des Programms gern zur Verfügung.
Die Aufnahme, Verteilung, Versorgung und Unterbringung von Flüchtlingen
Die Aufnahme und Unterbringung von Asylsuchenden in Deutschland erfolgt zurzeit vielerorts unter desolaten Bedingungen. Aufnahmeeinrichtungen sind überbelegt, das Personal überfordert bzw. nicht hinreichend qualifiziert und häufig wird auf Zelte, Container oder andere nicht zum Wohnen geeignete Lösungen zurückgegriffen. Aus unserer Sicht sollten für die Unterbringung und soziale Arbeit mit Flüchtlingen bundesweit gültige Qualitätskriterien in Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft erarbeitet, als verbindlich festgelegt und kontrolliert werden. Grundsätzlich sollten alle Anstrengungen unternommen werden, damit Flüchtlinge so schnell wie möglich eigenen Wohnraum anmieten können. Insofern Gemeinschaftsunterkünfte notwendig sind, sollte durch ihre Lage, Größe und Beschaffenheit sichergestellt sein, dass eine Integration in das Gemeinwesen von Anfang an und der Schutz der Asylsuchenden ermöglicht ist. Nach der Änderung des Baurechts kommt es insbesondere auch darauf an, dass die neuen Regelungen tatsächlich nur in Ausnahmefällen angewendet werden und Asylsuchende und geduldete Personen nicht systematisch an den Rand der Städte und Gemeinden gedrängt werden. Hier bedarf es klarer Leitlinien, wann von dieser Ausnahme tatsächlich Gebrauch gemacht werden kann. Auch wenn die aktuelle Situation oftmals kurzfristiges Eingreifen und schnelle Lösungen vor Ort erfordert, müssen hierbei Standards eingehalten werden, die es Flüchtlingen ermöglichen, sich sicher und willkommen zu fühlen. Eine Verteilung der Menschen allein nach dem Königsteiner Schlüssel und unflexiblen landesinternen Verteilungsmechanismen erscheint uns angesichts der realen Probleme vor Ort nicht immer die beste Lösung. Auch sollten trotz der zunehmenden Herausforderung humanitäre Kriterien (analog des Hamburger Kataloges) und das Wohl (auch begleiteter) Kinder Berücksichtigung finden. Es sollte aus unserer Sicht überprüft werden, ob statt einer automatisierten Verteilung nach dem EASY-System nicht viel stärker auch die Kapazitäten vor Ort in den Blick genommen werden können.
Einführung einer stichtagsfreien Bleiberechtsregelung wie im Bundesratsbeschluss vom 22. März 2013 vorgesehen
Im Koalitionsvertrag hat sich die Bundesregierung auf die Umsetzung einer Bleiberechtsregelung auf Grundlage der Bundesrats-Drucksache 505/12 (B) vom 22. März 2013 geeinigt. Dies wurde von den Verbänden der BAGFW sehr begrüßt und erfüllt damit eine langjährige Forderung zur stichtagsfreien Ermöglichung eines legalen Aufenthaltstitels für gut integrierte Personen.
Die Verbände begrüßen, dass eine Bleiberechtsregelung für langjährig geduldete Menschen Anfang Dezember vom Bundeskabinett verabschiedet werden soll. Wir gehen davon aus, dass die Verbände noch angefragt werden, zu diesem Entwurf eine Stellungnahme abzugeben.
Im Gesetzentwurf vom 07.04.2014 wurden wichtige Aspekte des Bundesrats-Beschlusses nicht umgesetzt, allen voran soll ein Bleiberecht nur noch im Ermessen der Ausländerbehörden stehen. Der Bundesrat hat im letzten Jahr beschlossen, dass eine Aufenthaltserlaubnis bei Vorliegen der Voraussetzungen erteilt werden soll. Aus Sicht der Verbände sollte in diesem Fall ein Anspruch bestehen, aus Gründen der Rechtseinheitlichkeit sollte mindestens jedoch eine Regelerteilung vorgesehen sein.
Zudem wurden in diesem Gesetzentwurf Ausweitungen im Bereich der Einreise- und Aufenthaltsverbote vorgesehen, sodass für die überwiegende Anzahl der potenziellen Antragstellenden ein Bleiberecht versperrt und die Bleiberechtsregelung konterkariert werden würde.
Rückführungen nach Afghanistan und in die von der Ebola-Epidemie betroffenen Staaten Westafrikas
Die Situation in Afghanistan wird nach Einschätzung vieler Experten nach wie vor als instabil und lebensbedrohlich eingeschätzt. Aufgrund des voranschreitenden Abzuges der internationalen Truppen hat sich der Konflikt verändert. Regierungsfeindliche Kräfte attackieren demnach in erster Linie afghanische Ziele, statt sich wie bisher auf die internationalen Truppen zu konzentrieren.[1] UNHCR spricht von weit verbreiteten Menschenrechts-verletzungen durch regierungsfeindliche Kräfte, sowie der Unfähigkeit des afghanischen Staates Schutz zu gewähren.[2] Neben den regionalen Machtkämpfen rivalisierender Gruppen, mangelhafter Versorgungslage und desolater medizinischer Versorgung, die die gesamte Bevölkerung betreffen, wird insbesondere die afghanische Polizei (Afghan National Security Forces), die bei Rückführungen nach Kabul die erste afghanische Institution sind, welche mit den Abgeschobenen zu tun hat, als nicht zuverlässig wahrgenommen. Nach Untersuchungen unabhängiger Organisationen werden Zivilisten von Angehörigen der Polizeikräfte getötet, inhaftierte Personen werden gefoltert und Frauen und Kinder sexuell missbraucht. Sind afghanische Polizisten in Menschenrechtsverletzungen oder auch in die Tötung von Zivilisten involviert, gehen sie meistens straffrei aus. Aus diesen Gründen sprechen wir uns ausdrücklich gegen die Rückführung von Menschen nach Afghanistan aus.
Desgleichen möchten wir einen bundesweiten Abschiebungsstopp in die von der Ebola Epidemie betroffenen Länder anregen. Die Situation in Liberia, Sierra Leone und Guinea ist zwar unterschiedlich, jedoch ist die Gefährdung für zwangsweise zurückgeführte Menschen in diese Länder insgesamt derzeit schwer abzuschätzen. Das Auswärtige Amt hat für diese Länder Reisewarnungen ausgesprochen, rät dringend von Reisen in diese Länder ab und ruft zur Ausreise auf. Aus Sicht der BAGFW ist die Gefährdung, sich anzustecken, für zwangsweise zurückgeführte Menschen derzeit schwer abzuschätzen und sollte deshalb unterbleiben. Auch sollte der Aufbau der notwendigen medizinischen Strukturen, dessen Mangel die massive Ausbreitung der Seuche ermöglichte, nicht durch Rückführungen gefährdet werden.
Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) vom 04.11.14 zu Überstellungen in andere EU-Mitgliedstaaten nach der Dublin III-VO
Der EGMR hat in seinem Urteil erhebliche Zweifel an den Aufnahmekapazitäten und -standards Italiens für Flüchtlinge geäußert. Das gelte insbesondere für besonders schutzbedürftige Personen wie Kinder. Der EGMR hat deshalb für Rückschiebungen von Familien mit Kindern höhere Schutzhürden aufgestellt und fordert in jedem Einzelfall die Zusicherung, dass kindgerechte Unterbringungsmöglichkeiten vorhanden sind. Diverse deutsche Gerichte sind der Auffassung, dass es auch in Italien systemische Mängel im Asylsystem gibt. Sie haben deshalb in mehreren Fällen Abschiebungen nach Italien untersagt. Berichte wie der der Schweizerischen Flüchtlingshilfe zur Situation in Italien untermauern diese Rechtsprechung. Wir sprechen uns aus diesem Grund für ein Aussetzen von Rückführungen nach der Dublin-III-VO nach Italien aus. Denn auch im Hinblick auf die aktuellen Zahlen erscheint die deutsche Rückführungspraxis nach Italien ohnehin nicht effektiv: Vergangenes Jahr hatten die deutschen Behörden gut 5800 Übernahmeersuchen an Italien gestellt. Tatsächlich zurückgeführt wurden allerdings nur etwas mehr als 400 Flüchtlinge.
[1] UNHCR: Eligibility Guidelines für Assessing the International Protection Needs of Asylum-Seekers form Afghanistan, 6. August 2013. S. 13.
[2] Ebd. S. 73.
Die BAGFW setzt sich insgesamt für eine Neuausrichtung der Präventionspolitik ein, die über den Gesundheitsbereich weit hinausgeht und letztlich alle relevanten Politikfelder miteinbeziehen muss. Wirksame Präventionspolitik soll darauf ausgerichtet sein, gesundheitliche Belastungen zu senken und Fähigkeiten sowie Handlungsmöglichkeiten zu erweitern.
In ihren Ausführungen zeigt die BAGFW auf, welche grundlegenden politischen und strukturellen Zielrichtungen aus ihrer Sicht einer solchen Präventionspolitik zugrunde gelegt werden müssen, damit Prävention und Gesundheitsförderung nachhaltig und im Sinne der Verbesserung gesundheitlicher Chancengleichheit verankert werden können.
Die BAGFW als ein wesentlicher Akteur in den verschiedensten Settings bzw. Lebenswelten möchte mit diesem Papier einen Beitrag zur politischen Diskussion über die Weiterentwicklung von Prävention und Gesundheitsförderung leisten und bietet sich dafür als Gesprächspartner an.
1. Wirksame Prävention verlangt eine gesundheitsfördernde Gesamtpolitik
Viele Faktoren, die die Gesundheit beeinflussen, können durch individuelles Handeln kaum beeinflusst werden. Auch das Gesundheitssystem gerät hier an seine Grenzen. Die Bedingungen, in denen Menschen leben, also z.B. die Einkommens- und Vermögensverteilung, die Arbeitsmarktchancen, die Gestaltung der Arbeitswelt, die Wohnbedingungen, die Umweltbedingungen und nicht zuletzt die Bildung haben einen direkten oder indirekten Einfluss auf die Chancen, gesund zu sein bzw. zu bleiben.
In den Gesundheitswissenschaften besteht Konsens darin, dass eine Gesellschaft, die ihren Bürgern Teilhabe und soziale Sicherheit ermöglicht und die Unterschiede in den Lebenslagen verringert, statt sie z. B. durch prekäre Beschäftigungsverhältnisse zu erhöhen, mehr Gesundheit ermöglicht. Aus diesen Erwägungen heraus, setzt sich die BAGFW für eine gesundheitsförderliche Gesamtpolitik ein, in der Gesundheit als Querschnittsthema ernst genommen wird. Das impliziert auch, dass alle Sozialversicherungsträger ihre Leistungen künftig deutlich stärker am Paradigma der Gesundheitsförderung ausrichten müssen.
2. Wirksame Prävention kann gesundheitliche Ungleichheit verringern
Die Gesundheitschancen sind sehr ungleich verteilt. Dies wird an der unterschiedlichen Lebenserwartung von Frauen und Männern der untersten und der obersten Einkommensgruppen deutlich (6 bzw. 10 Jahre). Sowohl die Belastungen als auch die Ressourcen, die Menschen haben, sind eng mit den Lebensbedingungen verbunden. Indirekt wirken die Lebensbedingungen auch auf den Lebensstil und die Inanspruchnahme gesundheitlicher Leistungen.
Durch eine lebenslagenbezogene Prävention kann die Gesundheit der Menschen verbessert werden, die den größten Belastungen ausgesetzt sind und die geringsten Ressourcen haben. Auf diese Weise kann mehr gesundheitliche Chancengleichheit geschaffen werden. Präventionsprogramme sind daran zu messen, ob sie zu diesem Anliegen beitragen. Dies kann entweder dadurch geschehen, dass gesundheitsförderliche Interventionen auf ein „Setting“ (z. B. Kindertagesstätten) bezogen werden, in das alle Menschen (unabhängig von ihrem sozialen Status) gleichermaßen involviert sind. Das kann auch dadurch erreicht werden, dass Interventionen auf bestimmte Zielgruppen ausgerichtet sind. Weniger zielführend sind hingegen Programme, die einzelne Elemente der Lebensführung (z.B. Bewegungsmangel oder fettreiche Er- nährung) herausgreifen und diese, oftmals moralisch aufgeladen, gesundheitserzieherisch zu beeinflussen versuchen.
So richtig es ist, dass eine lebenslagenbezogene Prävention insbesondere die Gesundheitschancen benachteiligter Menschen verbessern soll, so ist doch auch darauf hinzuweisen, dass dieser kompensatorischen Aufgabe Grenzen gesetzt sind: eine noch so gute Präventionspolitik kann eine auf soziale Sicherheit und Partizipation gerichtete Gesellschaftspolitik nicht ersetzen.
3. Wirksame Prävention braucht die Gleichrangigkeit von medizinischer und nichtmedizinischer Prävention
Primärprävention und Gesundheitsförderung spielen trotz der Wirksamkeit und des Nutzens für den Einzelnen und die Gesellschaft in der deutschen Gesundheitspolitik nach wie vor eine beklagenswert geringe Rolle.
Die in den letzten Jahren erreichten Fortschritte in der Lebenserwartung und der Verminderung von Morbidität sind nur zu einem geringeren Anteil auf den medizinischen Fortschritt zurückzuführen. Maßgeblich wirken hier verbesserte Lebensbedingungen vor allem in der Arbeitswelt, im Wohnumfeld und hinsichtlich der Ernäh- rungssituation. Wirksame Prävention kann daher nicht nur am individuellen gesund- heitsbezogenen Verhalten ansetzen, sondern muss auch strukturelle Veränderungen miteinbeziehen.
Wir brauchen daher eine substanzielle Verstärkung und Verstetigung der nicht- medizinischen Primärprävention und Gesundheitsförderung für jedes Alter und jeden Gesundheitszustand. Dies darf allerdings nicht zu Lasten der medizinischen Primärprävention oder der Leistungen der Sekundär- und Tertiärprävention gehen. Prävention und Gesundheitsförderung sind als eigenständiges Entwicklungsfeld der Ge- sundheitspolitik zu betrachten. Hierfür gibt es gute internationale Vorbilder. Auch Or- gane der EU und der Weltgesundheitsorganisation propagieren diese Eigenständig- keit.
Die BAGFW erwartet von einer Präventionspolitik, dass sie die Möglichkeiten zur ge- sunden Lebensführung für alle, aber insbesondere für ärmere Bevölkerungsgruppen verbessert und sozial bedingte Ungleichheit von Gesundheitschancen verringert.
4. Wirksame Prävention lebt von Partizipation
Nach dem Verständnis der WHO-Ottawa-Charta entsteht Gesundheit dadurch, „dass man sich um sich selbst und für andere sorgt, dass man in die Lage versetzt ist, selber Entscheidungen zu fällen und eine Kontrolle über die eigenen Lebensumstände auszuüben …“ Es geht also nicht darum, dass Profis Strategien erarbeiten, um die Gesundheit anderer zu fördern. Es muss vielmehr darum gehen, die Adressaten von Maßnahmen als Experten und Expertinnen in eigener Sache zu betrachten.
In der Praxis ist es meist nicht einfach, die Beteiligung der Menschen zu gewährleisten, deren Gesundheit gestärkt und erhalten werden soll. In der Regel werden Projektanträge (und leider sind es meist nur Projektanträge) von den Akteuren gestellt, die als zuständig für die Erhaltung und/oder Wiederherstellung von Gesundheit erachtet werden. Sie legen fest, was diese oder jene Zielgruppe an Unterstützung benötigt, sie stellen dem die gegenwärtigen Versorgungsstrukturen gegenüber und leiten dann hieraus ab, welche Angebote zusätzlich zu schaffen sind. Sie legen Ziele fest, planen Maßnahmen und geben am Ende an, wie viele Menschen erreicht wurden und welche Effekte die Maßnahmen hatten.
Hierdurch wird deutlich, dass zum einen die Strukturen, in die Projekte der Prävention eingebettet sind, bislang nicht beteiligungsfreundlich ausgestaltet sind. Zum ande- ren kommt hinzu, dass auf Seiten der sogenannten Zielgruppe bestimmte Fähigkei- ten, etwa die zur Wahrnehmung und Äußerung eigener Interessen und Ziele vorliegen müssen, nicht (ausreichend) ausgebildet sind. Das kann insbesondere dort, wo Menschen wenig Erfahrung mit Beteiligung haben, ein langwierigerer Prozess sein. Für die professionellen Gesundheitsförderer besteht die Anforderung darin, von der allwissenden Expertin/dem allwissenden Experten zur Begleiterin/zum Begleiter zu werden, den Prozess mit Informationen und der Darstellung von Zusammenhängen anzureichern und mit methodischem Wissen voranzubringen.
Die BAGFW betont, dass Beteiligung für die Wirksamkeit von Prävention unerlässlich ist. Dabei verweist sie auf die unterschiedlichen Konzepte, die in den Gesundheitswissenschaften zur Umsetzung partizipativer Ansätze entwickelt wurden.
5. Wirksame Prävention ist mehr als Verhaltensprävention
Die überwiegende Mehrzahl der gesundheitsbezogenen Präventionsangebote ist nach wie vor auf die Veränderung des individuellen Verhaltens ausgerichtet: Zwar wurde der Setting-Ansatz erfreulicherweise in die gemeinsamen Handlungsleitlinien der Spitzenverbände der Krankenkassen zur Umsetzung des § 20 Abs. 1 und 2 SGB V aufgenommen, aber eine Finanzierung allein aus Mitteln der Krankenversicherung ist hier nicht ausreichend.
Der Prävention in lebensweltbezogenen Settingansätzen muss aus Sicht der BAGFW zukünftig sehr viel höhere Bedeutung zukommen. Dabei kann es nicht (nur) darum gehen, Menschen in lebensweltlichen Settings mit verhaltensbezogenen Interventionen „besser zu erreichen“; Ziel muss vielmehr sein, gesundheitsfördernde Lebenswelten zu schaffen und dabei dem Erhalt und der Förderung von Ressourcen besondere Beachtung zu schenken.
Die bereits bestehenden erfolgreichen Ansätze in Betrieben, Schulen, Kitas und Wohnquartieren müssen daher weiter ausgebaut und verstetigt werden. Darüber hinaus müssen auch gezielt die Lebenswelten und lebensweltlichen Bezüge von Bevöl- kerungsgruppen berücksichtigt werden, die aufgrund ihrer Lebenslagen besondere gesundheitliche Risiken aufweisen und von verhaltensbezogenen Präventionsmaßnahmen kaum erreicht werden. Hierbei sind vor allem (Langzeit-) Erwerbslose, Alleinerziehende mit geringem Einkommen, wohnungslose Menschen und Personen mit niedrigen Renten in den Blick zu nehmen.
Die BAGFW hält aus diesen Gründen eine deutliche Ausrichtung der Primärprävention auf Maßnahmen zur Schaffung gesundheitsförderlicher Settings und deren Fokussierung auf sozial benachteiligte Bevölkerungsgruppen für erforderlich.
6. Wirksame Prävention erfordert Koordination und Vernetzung aller Akteure
Die aktuelle Präventionslandschaft ist geprägt von einer Vielzahl von Maßnahmen, Akteuren und rechtlichen Zuständigkeiten in Bund, Ländern und Kommunen, die bis- her nur unzureichend aufeinander abgestimmt sind. Dies führt dazu, dass viele Maßnahmen nur kurzfristig angelegt sein können und die erforderliche Kontinuität und Nachhaltigkeit nicht erreicht wird.
Notwendig sind daher verbindliche Kooperations- und Koordinationsstrukturen auf der Bundes-, Landes und kommunalen Ebene. Sie sollen die erforderliche Abstimmung und Vernetzung sowohl innerhalb der jeweiligen Ebene als auch zwischen der Bundes-, Landes- und kommunalen Ebene sicherstellen.
Auf der Bundesebene sollte aus Sicht der BAGFW ein unabhängiges Steuerungs- und Koordinationsgremium etabliert werden, das die wesentlichen Akteure auf die Umsetzung konsentierter Gesundheitsziele verpflichtet, das die Umsetzung unter- stützen und die ressortübergreifende Zusammenarbeit gewährleisten kann. Für die Bildung dieses Gremiums könnte auf bereits bestehende und bewährte Strukturen zurückgegriffen werden. Die Kooperationsplattform “Gesundheitliche Chancengleichheit“, die mit ihrer Vielzahl verschiedenster Mitgliedsorganisationen ein breites Netz- werk der relevanten Präventionsakteure abbildet, könnte hierfür in seiner Zusammensetzung ergänzt und mit erweiterten Aufgaben und Funktionen versehen werden. Ebenso soll die Verknüpfung mit der Kooperationsplattform “gesundheitsziele.de“ sichergestellt werden.
Die erforderliche Kooperation und Koordination auf der Landesebene und den Trans- fer guter Praxis könnte über die Regionalen Knoten von “Gesundheitliche Chancen- gleichheit“ gewährleistet werden. Die Regionalen Knoten sind dazu bestens geeignet, da sie in allen 16 Bundesländern verankert sind und alle relevanten Akteure wie Städte und Gemeinden, Sozialversicherungsträger, Wohlfahrtsverbände, Vereine
und Fachgesellschaften umfassen.
Auf der kommunalen Ebene sind breite Aktionsbündnisse erforderlich, die vielfältige Akteure insbesondere in kommunalen Settings zusammenführen. Diese Aktions- bündnisse können Maßnahmen durchführen, die auf die Gegebenheiten vor Ort ab- gestimmt sind und die Zielgruppen partizipativ einbinden.
7. Wirksame Prävention braucht eine Verstetigung der Finanzierung in ge- meinsamer Verantwortung
Hinweise und Aufgaben zur Prävention finden sich in verschiedenen Sozialgesetzbü- chern (SGB III, V, VI, VII, IX, X). Auf kommunaler Ebene liegt die Verantwortung bei den öffentlichen Gesundheitsdiensten. Dadurch ergibt sich eine unterschiedliche Fi- nanzierungsverantwortung, die aber nur sehr einseitig wahrgenommen wird. Der Schwerpunkt der finanziell definierten Finanzierungsverantwortung liegt trotz vorhan- dener Regelungen bei der GKV und beschränkt sich dabei häufig auf Maßnahmen der Verhaltensprävention.
Für moderne, gesundheitswissenschaftlich fundierte Primärprävention, die die Le- benswelten vor allem sozial und gesundheitlich benachteiligter Menschen in Rich- tung auf gesundheitliche Chancengleichheit verändern will, gibt es keinen Markt. Primärprävention ist daher auf öffentliche Förderung angewiesen.
In der derzeitigen Förderpraxis werden dagegen, je nach den politischen Bedürfnis- sen der Finanziers, meist kurzfristige und kaum koordinierte Programme und Projek- te gefördert. Qualitätssicherung findet dabei meist nur in ihren bürokratischen Varian- ten statt und die Laufzeiten der Programme und Projekte sind so kurz, dass Qualität nicht entwickelt und Wirkung kaum erzielt werden kann – kurz: es herrscht Projektitis, wo durchdachte und zielbezogene Politik erforderlich wäre.
Die BAGFW hält daher die Anerkennung und Absicherung der nicht-medizinischen Prävention und Gesundheitsförderung als eigenständiger und – neben Kuration, Pflege und Rehabilitation – gleich berechtigter Typ der öffentlich finanzierten Ge- sundheitssicherung für notwendig.
Ebenso halten wir eine gemeinsame Regelfinanzierung durch Sozialversicherungen einschließlich der privaten Krankenversicherung, durch die öffentliche Hand, also durch Bund, Länder und Kommunen für dringend geboten.
8. Wirksame Prävention verlangt ein anderes Qualitätsverständnis
Präventive und gesundheitsfördernde Maßnahmen können nur dann ihre volle Wir- kung entfalten, wenn Adressaten den Sinn und die Wirkung der Maßnahmen verste- hen und sich mit diesen identifizieren. Aus diesem Grund ist es von zentraler Bedeu- tung, dass die Menschen, um die es geht, von Beginn an in die Planung und Umset- zung von Maßnahmen einbezogen werden. Wenn Beteiligung also ein zentrales Merkmal von zielgerichteter und effektiver Prävention und Gesundheitsförderung ist, so muss sie konsequenterweise auch elementarer Bestandteil der Qualitätssicherung und -entwicklung in diesem Bereich sein.
Gerade im Feld der Prävention und Gesundheitsförderung bedarf es eines neuen Verständnisses von Qualitätssicherung und -entwicklung. Die Gründe dafür liegen zum einen in der Komplexität der Lebenswelt der Menschen, in der die entsprechen- den Maßnahmen verankert sein sollen. In ihr bedingt sich eine Vielzahl von sichtba- ren und nicht sichtbaren Faktoren wechselseitig. Zum anderen ist eine Zielgruppe, für die eine Maßnahme entwickelt wurde, niemals homogen. Diese Besonderheiten ent- ziehen sich in der Regel der Laborperspektive klassischer Methoden zur Wirksam- keitsmessung. Diese reduzieren zumeist die reale Komplexität und liefern kaum Aus- sagen zu den Ursachen fehlender Wirkung. Letzteres ist jedoch zentraler Ausgangs- punkt jeglicher Qualitätsentwicklung.
Da eine erfolgreiche Prävention und Gesundheitsförderung aufs Engste mit der akti- ven Beteiligung der Nutzer auf allen Ebenen verbunden ist und sein muss, hält die BAGFW die Etablierung eines veränderten Qualitätsverständnisses in diesem Be- reich für dringend geboten. Geeignete Konzepte dafür liegen bereits vor, so bspw. das der partizipativen Qualitätsentwicklung.
Außerdem ist es aus Sicht der BAGFW notwendig, Wirksamkeitsmessverfahren zu entwickeln, die die Komplexität lebensweltlicher Praxis und individueller Bewertung von Wirkungen berücksichtigt (z.B. Cabability-Approach).
9. Wirksame Prävention erfordert ein anderes Forschungsparadigma
Da Partizipation das zentrale Grundelement in der Prävention und der Gesundheits- förderung ist, steht für die BAGFW außer Frage, dass sich dieses konstitutive Mo- ment nicht nur in der Qualitätsentwicklung, sondern auch im wissenschaftlichen Pa- radigma und den damit verbundenen Methoden und Theorien widerspiegeln muss.
Die Methoden des vorherrschenden Wissenschaftsparadigmas reduzieren die Pro- banden zumeist auf den Status von reinen Forschungsobjekten. Beeinflussende Fak- toren, die sich einer objektiven Messbarkeit und Generalisierbarkeit entziehen, wer- den aus dem Forschungskontext weitestgehend ausgeblendet. Es wird ausschließ- lich von bewussten und rationalen Handlungsmotiven des Subjektes ausgegangen. Gesundheitsgefährdendes Verhalten aber entzieht sich oft einer solchen rationalen Logik, weil es bspw. unbewusst motiviert ist, bewusst in Kauf genommen wird oder ein Resultat prägender Lebensumstände ist.
Gerade im Kontext der Primärprävention und Gesundheitsförderung, deren Erfolg an die Einbeziehung der Adressaten gekoppelt ist und die ihre Umsetzung in den ver- schiedenen Bereichen der Lebenswelt findet, bedarf es anderer wissenschaftlicher
Zugänge, Instrumente und Methoden. Hier sollten verstärkt auch qualitative For- schungsdesigns zum Einsatz kommen, die nach dem Wie oder dem Warum fragen. Das impliziert zwangsläufig den Einbezug der Personen, deren Leben oder deren Arbeit Mittelpunkt der Forschung sind. Ebenso sollten aber Studienteilnehmerinnen/ Studienteilnehmer auch an Forschungsprojekten beteiligt werden, um die Qualität der Forschung zu verbessern. Die Einbeziehungsmöglichkeiten können sich bspw. auf
die Beteiligung bei der Identifizierung und Entwicklung von Forschungsfragen bezie- hen oder auf die Begutachtung von Interventionskonzepten usw. Ähnlich wie bei der partizipativen Qualitätssicherung, kann ein neues Verständnis von partizipativer Prä- ventionsforschung in Deutschland dazu beitragen, dem Subjekt - auch als Teil einer spezifischen Gruppe - endlich wieder die Rolle im Forschungskontext zuzuweisen, die ihm gebührt. Insofern spricht sich die BAGFW dafür aus, den Fokus der gesund- heitswissenschaftlichen Forschung auf die Entwicklung neuer theoretischer und me- thodologischer Ansätze wie der partizipativen Gesundheitsforschung auszurichten.
Fazit
Die zurückliegenden Ausführungen machen deutlich, dass es im Bereich der Präven- tion und Gesundheitsförderung einer grundsätzlichen Kurswende bedarf. Die derzei- tigen Ansätze werden einer umfassenden und integrierten sowie integrierenden Prä- ventionspolitik (noch) nicht gerecht.
Die hier dargelegten Inhalte basieren auf grundlegenden Erkenntnissen der Gesund- heitswissenschaften und stellen somit eine fachlich fundierte Grundlage zur
(Weiter-)Entwicklung einer modernen Präventionspolitik dar. Die Weiterentwicklung von Prävention und Gesundheitsförderung darf nicht hinter diesen Erkenntnissen zurückbleiben und einer traditionell gewachsenen, sektorierten Struktur- und Finan- zierungsverantwortung verschiedener Akteure zum Opfer fallen. Prävention und Ge- sundheitsförderung sind Bereiche, die sich par excellence dazu anbieten, diese tradi- tionelle und innovationshemmende sektorale Trennung exemplarisch und experimen- tell zu überwinden. Unserem Erachten nach ist es Aufgabe des Gesetzgebers hierfür die entsprechenden Rahmenbedingungen zu schaffen.
Im Antrag 444/14 heißt es: „Ziel der bundesweiten Verteilung ist es, eine kindeswohlgerechte Versorgung von unbegleiteten Minderjährigen in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe zu gewährleisten und die Verantwortung für die Betreuung und Unterbringung der unbegleiteten Minderjährigen gleichmäßig auf die öffentlichen Träger der Jugendhilfe zu verteilen“. Wenn auch beide Ziele grundsätzlich zu begrüßen sind, so dienen die vorgesehenen Maßnahmen ausschließlich dem zweiten Ziel. Dabei ist jedoch nicht nachvollziehbar, warum für eine gerechtere Lastenverteilung statt der Finanzen Kinder und Jugendliche umverteilt werden sollen.
Der Gesetzesantrag im Lichte supra- und internationaler Rechtsnormen
Als supranationales Recht ist in erster Linie die Europäische Grundrechtecharta heranzuziehen, die hier einschlägig ist:
Art. 24 Rechte des Kindes
(1) Kinder haben Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge, die für ihr Wohlergehen notwendig sind. Sie können ihre Meinung frei äußern. Ihre Meinung wird in den Angelegenheiten, die sie betreffen, in einer ihrem Alter und ihrem Reifegrad entsprechenden Weise berücksichtigt.
(2) Bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen öffentlicher Stellen oder privater Einrichtungen muss das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein.
Da es sich hier um europäisches Primärrecht handelt, ist keine Abwägung mit deutschen Rechtsnormen vorzunehmen, sondern letztere müssen diesem Grundsatz entsprechen.
Das vorgeschlagene Umverteilungsverfahren widerspricht diesem Grundsatz. Entsprechend Art. 24 Abs. 1 der Europäischen Grundrechtecharta käme eine Umverteilung nur in Betracht unter Mitsprache des Kindes. Da es sich zumeist um ältere Kinder mit hohem Reifegrad handelt, wäre ihre Meinung entsprechend stark zu gewichten. Insbesondere widerspricht das vorgeschlagene Verfahren jedoch Art. 24 Abs. 2 der Europäischen Grundrechtecharta, denn die vorrangige Erwägung ist ganz offensichtlich gerade nicht das Wohl des Kindes, sondern die der Lastenverteilung.
Artikel 24 Abs. 2 S.4 der Richtlinie 2013/33/EU zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (Aufnahmerichtlinie) sieht vor: „Wechsel des Aufenthaltsortes sind bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen auf ein Mindestmaß zu beschränken.“ Dies ist aus Sicht der BAGFW so zu verstehen, dass ein Wechsel des Aufenthaltsortes und damit ein Zuständigkeitswechsel des Jugendamtes nur infrage kommen, wenn die Sicherung des Kindeswohls dies notwendig macht. Da dies nicht gegeben ist, sondern die Lastenverteilung Ziel der Umverteilung ist, ist dies mit dieser Rechtsnorm nicht vereinbar. Auch diese Richtlinie als europäisches Sekundärrecht hat Vorrang vor nationalem Recht und ist somit zu befolgen.
Entsprechend Art. 3 der UN-Kinderrechtskonvention ist das Kindeswohl ein vorrangig zu berücksichtigender Gesichtspunkt. Mit der Rücknahme der Vorbehaltserklärung gegenüber der UN-Kinderrechtskonvention am 03. Mai 2010 gilt der Vorrang des Kindeswohls unmittelbar. Dies bedeutet, „bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, gleichviel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden, das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt ist, der vorrangig zu berücksichtigen ist“.
Grundsätzlich ist zu beachten, dass das Verständnis des Kindeswohlbegriffs im deutschen Sprachraum nicht ausreicht, um die Definition inter- und supranationaler Rechtsnormen zu verstehen. Der Begriff „best interest of the child“ geht über den historisch gewachsenen, deutschen Begriff des Kindeswohls hinaus.
Der Kindeswohlbegriff im deutschen Recht bestimmt, wann der Staat in Ausübung seines Wächteramtes in das Elternrecht nach Art. 6 Abs. 2 Grundgesetz eingreifen darf. Der Begriff ist in der Materialisierung des Eingriffsrechts des Staates in das elterliche Grundrecht sehr eng gefasst. Er darf nur dann eingreifen, wenn das Kindeswohl (erheblich) durch die das Grundrecht innehabenden Eltern gefährdet ist. Aufgrund dieser Ableitung hat der Begriff vor allem im Familienrecht eine große Bedeutung und ist in diesem Rechtsgebiet gewachsen. Das Kindeswohl im Spannungsfeld zwischen Elternrechten und staatlichem Wächteramt manifestiert sich daher nicht vorwiegend als ein Anspruch von Kindern an den Staat als eigene Rechtssubjekte im Sinne umfassender aktiver Förderung und Schutz, sondern bezieht sich vor allem auf den Schutz von Ehe und Familie und den Eingriff zur Abwendung einer Gefährdung des Kindeswohls.
Der Begriff des Kindeswohls „best interest of the child“ der UN-Kinderrechts-konvention ist jedoch nicht verbunden mit dem staatlichen Eingriffsrecht in das grundrechtlich geschützte Elternrecht. Hier sind Kinder nicht Dritte im Spannungsfeld zwischen Elternrechten und Wächteramt, sondern in erster Linie Rechtssubjekte mit eigenen Rechten gegenüber ihren Eltern als auch gegenüber der Gesellschaft und dem Staat. Wenngleich die UN-Kinderrechtskonvention auch die Familie als die zentrale Institution für das Kindeswohl definiert, geht sie deutlich darüber hinaus, in dem sie Gesellschaft und Staat eine eigene aktive Rolle zur Verwirklichung des Kindeswohls zuweist und nicht nur der Abwendung einer Gefährdung des Kindeswohls. Er steht vielmehr als ein Oberbegriff von Rechten, die im Weiteren in der UN-Kinder-rechtskonvention niedergelegt und ausdifferenziert sind und damit in umfänglicherer Weise das Recht auf Entfaltung der Persönlichkeit sicherstellen sollen. Der Staat ist hier nicht nur Wächter über die Ausübung des Elternrechts, sondern selbst verpflichtet, im besten Interesse des Kindes in allen Belangen, die Kinder betreffen, zu handeln. Hier ist insbesondere auf Art. 22 der UN-Kinderrechtskonvention, der über die anderen Kinderrechte hinaus, die besonderen Rechte von Flüchtlingskindern benennt, zu verweisen.
Gleichwohl bedeutet die geforderte vorrangige Berücksichtigung des Kindeswohls nicht, dass es absoluten Vorrang hat und nicht durch andere gewichtige Gründe auch verdrängt werden könnte, jedoch muss bei jeder Kinder berührenden Entscheidung einer öffentlichen Stelle oder privaten Stelle geprüft werden, ob das Kindeswohl beeinträchtigt wird und begründet werden, warum es ggf. hinter anderen Gründen zurückstehen muss, die den Vorrang des Kindeswohls verdrängen.
Die Regelungen in Abwägung mit dem Grundsatz des Kindeswohls
Dem Ziel des Kinder- und Jugendhilferechts gemäß § 1 SGB VIII sollten die darauf folgenden Rechtsnormen nicht entgegenstehen. Eine strukturelle, möglicherweise im Vollzug automatisierte Verteilungsregelung widerspricht dem Grundsatz, dass das Kindeswohl einzelfallbezogen zu definieren und der Kindeswille zu berücksichtigen ist. Es würde nicht nur einen erheblichen bürokratischen und damit erneuten finanziellen Aufwand hervorrufen, diese Abwägung einzelfallbezogen vorzunehmen. Es ist auch kaum vorstellbar, dass in einer Abwägung der Lastenverteilung mit dem Kindeswohl letzteres zurückzustehen hätte, gerade vor dem Hintergrund, dass auch andere Formen der Lastenverteilung umsetzbar sind und nicht zum Beispiel eine Gefahr der öffentlichen Sicherheit und Ordnung droht.
Nach dem Gesetzesantrag sollen unbegleitete minderjährige Flüchtlinge nicht nur umverteilt werden, sondern auch vor Abschluss der Inobhutnahme ein Zuständigkeitswechsel erfolgen können. In der Begründung zum Gesetzesantrag (BR-Drucksache 443/14) wird beklagt, dass die interkommunale Verteilung von unbegleiteten Minderjährigen derzeit nur teilweise im Kinder- und Jugendhilferecht berücksichtigt sei. Ein Zuständigkeitswechsel sei erst nach Abschluss der Inobhutnahme und nur dann möglich, wenn unbegleitete Minderjährige nach Asyl nachsuchen. Dies ist richtig, jedoch auch fachlich begründet und sollte aus Sicht der Verbände der Freien Wohlfahrtspflege so beibehalten werden. Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege würden es hingegen befürworten, den Zuständigkeitswechsel auch bei Asylantragstellung zu streichen. Diese Regelung führt häufig dazu, dass minderjährige unbegleitete Flüchtlinge in das Asylverfahren gedrängt werden, obwohl dies für ihre Aufenthaltssicherung und damit ihr Wohl nachteilig sein kann, insbesondere dann, wenn später der Asylantrag als offensichtlich unbegründet abgelehnt wird. Um diese negativen Folgen zu verhindern, müsste die Zuständigkeit daher zumindest solange erhalten bleiben, bis über den Asylantrag positiv entschieden wurde.
Die Regelung, dass ein Jugendamt die Inobhutnahme eines anderen Jugendamtes fortsetzt, dürfte in der Praxis oftmals negative Begleiterscheinungen hervorrufen und damit dem Kindeswohl entgegenstehen. Es würde einen Wechsel von Ansprechpartnern bzw. Bezugspersonen in einem laufenden Verfahren für die Kinder darstellen, auf Seiten der Jugendämter zu Verlust von Information und dadurch zu Mehrarbeit führen. Die Erfahrung zeigt, dass die Verständigung von Jugendämtern untereinander aus Gründen des Datenschutzes nicht immer im Interesse einer transparenten Kommunikation aller verfahrensrelevanten Fakten verläuft. Es sollten daher möglichst keine Verfahren etabliert werden, deren Erfolg von einer reibungslosen Kommunikation abhängt. Aus diesen Gründen sollte zunächst das Clearingverfahren abgeschlossen und damit der jugendhilferechtliche Bedarf der Kinder und Jugendlichen festgestellt sein. Erst dann sollte ein Wechsel in eine geeignete Einrichtung erfolgen. Da dieser dann aus Gründen des Kindeswohls vollzogen wird, ist er auch mit geltendem, höherrangigem Recht vereinbar.
Insofern eine unverzügliche Verteilung angedacht ist, wird diese nicht nur an den Anforderungen des Verwaltungsverfahrens scheitern, da beispielsweise zumindest eine vorläufige Altersschätzung vorgenommen werden muss, um zu klären, ob der Jugendliche überhaupt in die Zuständigkeit des SGB VIII fällt. Allein diese kann erfahrungsgemäß einige Wochen in Anspruch nehmen. Es stellt sich auch die Frage, ob es zu einer Umverteilung nicht eines rechtsmittelfähigen Beschlusses bedarf, so dass allein das Einlegen von Rechtsmitteln gegen die Umverteilung ein unverzügliches Verfahren vereiteln würde. In dieser Zwischenzeit könnte keine zielgerichtete pädagogische Arbeit stattfinden. Vor allem können bei einem Verfahren zur unverzüglichen Verteilung keine einzelfallbezogenen Bedarfe in einer Gesamtschau bewertet werden, da diese noch nicht oder nur lückenhaft bekannt sind. Es kann keine Würdigung vorgenommen werden, was im Sinne des Kindeswohls erforderlich ist.
Verhältnis von Jugendhilfe und Aufenthalts- und Asylverfahrensrecht
Im Antrag 444/14 wird zudem festgestellt, dass eine Klarstellung der Frage erforderlich sei, wie die Verpflichtung zur Inobhutnahme, Betreuung und Begleitung der unbegleiteten Minderjährigen mit dem Aufenthaltsgesetz und dem Asylverfahrens-gesetz in Einklang zu bringen ist. Fehlende gesetzliche Regelungen würden immer wieder zu erheblichen Problemen in der Praxis führen, die eine weitere Belastung von öffentlicher und freier Jugendhilfe nach sich ziehen. Aus Sicht der Verbände der Freien Wohlfahrtspflege kann für Rechtsanwender z.B. im administrativen Verfahren abgeleitet aus Art. 24 der Europäischen Grundrechtecharta als gegenüber dem Aufenthalts- und Asylrecht höherrangiges Recht klargestellt werden, dass das Wohl des Kindes vorrangig zu berücksichtigen ist und im Zweifel Normen des Aufenthalts- und Asylverfahrensrechts verdrängt. An dieser Stelle sei auch auf die Koalitionsvereinbarung der derzeitigen Bundesregierung von SPD und CDU/CSU verwiesen: „Die UN-Kinderrechtskonvention ist Grundlage für den Umgang mit Minderjährigen, die als Flüchtlinge unbegleitet nach Deutschland kommen. Wir werden die Handlungs-fähigkeit im Asylverfahrens- und Aufenthaltsrecht auf 18 Jahre anheben und dadurch den Vorrang des Jugendhilferechts für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge festschreiben“ (S.110 der Koalitionsvereinbarung). Hinzuzufügen ist, dass der Wirkungskreis der UN-Kinderrechtskonvention sich nicht auf unbegleitete minderjährige Flüchtlinge beschränkt, sondern alle tatsächlich in Deutschland lebenden Kinder so auch Flüchtlingskinder, die in Begleitung ihrer Eltern nach Deutschland kommen, umfasst.
Fazit
Dieser Gesetzentwurf widerspricht dem Wohl des Kindes und damit einschlägigen Rechtsnormen. Im Gesetzesantrag zur Änderung des SGB VIII (BR-Drucksache 443/14) taucht das Wort Kindeswohl nicht auf Es wird allein darauf hingewiesen, dass es sich um einen Eingriff in das elterliche Grundrecht handelt, ohne dass die damit verbundenen Maßnahmen vor diesem Hintergrund näher erörtert werden. Das Ruhen der elterlichen Sorge ermächtigt den Staat nicht, Maßnahmen zu ergreifen, es sei denn, sie dienen vorrangig dem Kindeswohl.
Der Grundsatz der örtlichen Zuständigkeit sollte erhalten bleiben. Eine Übertragung der Zuständigkeit sollte nur aus Gründen des Kindeswohls möglich sein. Ein Verteilungssystem würde einen zusätzlichen Abbruch und Neuanfang für die Kinder und Jugendlichen bedeuten. Eine für die betreffenden Kinder und Jugendlichen nicht nachvollziehbare Umverteilung gegen ihren Willen wird eher dazu führen, dass sie sich entziehen. Dies ist vor dem Hintergrund, dass sie oft schon lange auf der Flucht sind und Stabilität brauchen, nicht sachgerecht. Es widerspricht dem Grundsatz der Pädagogik, dass das stärkste Instrument für eine erfolgreiche Hilfe der Aufbau stabiler Bindungen ist.
Die Anforderung an ein Umverteilungssystem, effizient und effektiv zu sein, steht im Widerspruch zur Anforderung, einzelfallbezogene Bedarfe zu berücksichtigen. Einige der stark beanspruchten Kommunen sind Zielort der Jugendlichen, während andere Kommunen vor allem deshalb zuständig sind, weil Kinder und Jugendliche in ihrem Zuständigkeitsbereich aufgegriffen werden, diese jedoch dort nicht verbleiben wollen. Vor allem für die Stadtstaaten als häufiger Zielort würde eine solche Regelung daher bei Berücksichtigung des Rechts der Kinder und Jugendlichen auf Mitsprache keine Entlastung bringen.
Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege lehnen daher die geplanten Regelungen im vorliegenden Gesetzesantrag ab. Probleme aufgrund der Zunahme von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen werden nur verlagert, möglicherweise weitere geschaffen. Aus der praktischen Erfahrung mit Verteilungsregelungen wie dem EASY-System für erwachsene Schutzsuchende ist zu befürchten, dass das Kindeswohl durch eine analoge Anwendung nicht beachtet oder verletzt wird. Im EASY-System werden systematisch humanitäre Aspekte unberücksichtigt gelassen.
Zentraler Ansatzpunkt, um den Herausforderungen einiger Jugendämter zu begegnen, wäre ein finanzieller Ausgleich zwischen Kommunen und Ländern statt einer Umverteilung von Kindern und Jugendlichen. Der Bundesrat hatte am 22.03.2013 einen Beschluss (Bundesratsdrucksache 93/13) gefasst, um das Ziel einer ausgewogeneren Kostenverteilung zu erreichen. Die dort beschriebene Regelung erscheint deutlich besser geeignet, eine Lösung herbeizuführen, sollte aufgegriffen und vor dem Hintergrund der neueren Entwicklungen weiterentwickelt werden. Für den Erfolg einer Kostenerstattungsregelung ist es notwendig, dass alle Kosten, beispielsweise auch die Verwaltungskosten, berücksichtigt werden.
Insofern im Bereich einiger Jugendämter die örtliche Aufnahmekapazität an ihre Grenzen stößt, könnten Kommunen vor Ort miteinander kooperieren und Jugendliche in der kommunalen Nachbarschaft bei grundsätzlicher Zuständigkeit des örtlichen Jugendamtes verbleiben, statt bundesweit verteilt zu werden. Zu diesem Zweck wäre auch denkbar, dass eine Kostenregelung so konzipiert wird, dass für Kommunen Anreize geschaffen werden, unbegleitete minderjährige Flüchtlinge aufzunehmen. Dies könnte ein Pull-Effekt anderer Kommunen auslösen, um die stark beanspruchten Kommunen zu entlasten, ohne dass es eines Verteilungssystems bedarf. Insbesondere kann es für eine Kommune auch hilfreich sein, wenn die im Rahmen der Jugendhilfe aufgenommenen unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge auf den Königsteiner Schlüssel zur Aufnahme von Asylsuchenden insgesamt angerechnet würden. Ein Wohnortwechsel muss jedoch effektiv möglich sein, wenn Gründe des Kindeswohls dies erfordern, z.B. wenn an einem anderen Ort nahe Verwandte des unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings leben. Die Zusammenführung z.B. mit nahen Verwandten könnte auch Kosten der Jugendhilfe reduzieren.
Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege plädiert dafür, in allen Bundesländern Standards in der Jugendhilfe zu etablieren, die dem Kindeswohl unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge gerecht werden. Trotz Fortschritten in den letzten Jahren, gibt es hier große Unterschiede und an einigen Orten noch deutlichen Verbesserungsbedarf. Wenn unbegleitete minderjährige Flüchtlinge umverteilt werden sollen, da aufgrund der Quantität in besonders beanspruchten Kommunen das Kindeswohl nicht sichergestellt erscheint, so kann ebenfalls aufgrund der Unterschiede in den Standards nicht davon ausgegangen werden, dass diese am Zielort nach Umverteilung besser sind.
]]>Seit der Verabschiedung des Asylbewerberleistungsgesetzes im Jahr 1993 haben die in der BAGFW zusammengeschlossenen Verbände immer wieder wesentliche Kernpunkte des Asylbewerber-leistungsgesetzes kritisiert (z. B. durch Schreiben der BAGFW an die Ressortministerien BMJV und BMAS vom 07.04.2014) und sich ins- gesamt für eine Aufhebung des Asylbewerberleistungsgesetzes ausgesprochen. Zentrale Kritikpunkte waren und sind dabei die Höhe der Grundleistungen, die Ein- beziehung immer weiterer Personenkreise in das Asylbewerberleistungsgesetz, der Zeitrahmen, in dem die betroffenen Personen lediglich abgesenkte Leistungen erhalten, die eingeschränkten Gesundheitsleistungen sowie das Sachleistungsprinzip.
Das AsylbLG hat seinen Ursprung in der „Asylkompromiss“ bezeichneten Neuregelung des Asylrechts von 1993 und folgte damals explizit migrationspolitischen Erwägungen, die bei der Bestimmung des menschenwürdigen Existenzminimums nunmehr erwiesenermaßen verfassungswidrig sind. „Die in Art. 1 Abs. 1 GG garantierte Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren (BVerfG, 1 BvL
10/10 vom 18.7.2012, Absatz-Nr. 121). Damit ist der ursprüngliche Normsetzungszweck des Asylbewerberleistungsgesetzes entfallen: Niedrige Sozialleistungen in Kombination mit dem Arbeitsverbot sollten von einer Einreise zum Zweck der Asylantragstellung abhalten.
Mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 18.07.2012 wurde dem Gesetzgeber aufgegeben, die Regelleistungen zur Sicherung des menschenwürdigen Existenzminimums für Leistungsempfänger nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) neu zu regeln. Die Anstrengungen des Gesetzgebers zielen derzeit auf eine Anpassung im Rahmen des bestehenden Asylbewerberleistungsgesetzes. Der Gesetzentwurf nimmt weitere Annäherungen an das Sozialgesetzbuch (SGB) vor, indem er sich in einigen Neuregelungen explizit auf das SGB bezieht. Die erforderliche gesetzliche Neuregelung böte jedoch auch die Gelegenheit, erneut über eine Aufhebung des AsylbLG vertieft nachzudenken, denn die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts könnten auch vollständig im Rahmen der bestehenden Hilfesysteme der Bücher II und XII des Sozialgesetzbuches umgesetzt werden (vgl. hierzu die Publikation FLUCHTPUNKTE zum Thema "Abschaffung Asylbewerberleistungsgesetz-Gesetzlicher Änderungsbedarf bei Überführung der Personengruppen in die Hilfesysteme der Bücher II und XII des Sozialgesetzbuches" des Deutschen Caritasverbandes).
Im Falle einer Beibehaltung des Asylbewerberleistungsgesetzes stellen die in der BAGFW zusammengeschlossenen Verbände jedoch gewisse Mindestanforderungen an eine Neuregelung, die nachfolgend kurz aufgeführt werden:
Zu begrüßen ist:
• Für die Dauer des Bezugs von Leistungen nach AsylbLG wird nicht mehr wie bisher auf die Zeiten des Vorbezugs, sondern auf die Zeit des Aufenthalts im Bundesgebiet abgestellt.
• Auch für die erste Zeit des Aufenthalts im Bundesgebiet wird für die leistungsberechtigten Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen ein Anspruch auf Leistungen für Bildung und Teilhabe festgeschrieben (Bildungspaket).
• Es wird ein Aufwendungsersatzanspruch des Nothelfers im AsylbLG eingeführt, da das Bundessozialgericht mit Entscheidung vom 30.10.2013 die zuvor überwiegend vertretene analoge Anwendung des Nothelferanspruchs nach § 25 SGB XII im AsylbLG abgelehnt hat.
Bei den nachfolgenden Regelungen des Gesetzentwurfs gibt es zwar Verbesserungen. Diese bleiben jedoch hinter den von der BAGFW geforderten Mindestanforderungen zurück:
• Die Dauer des Bezugs von Grundleistungen bis zum Bezug von Analogleistungen nach SGB XII wird von derzeit 48 Monaten auf 15 Monate verkürzt. Dies stellt eine Verschlechterung gegenüber dem Referentenentwurf des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales vom 12.08.2014 dar, der noch 12
Monate vorsah. Als Mindestanforderung wurde jedoch von der BAGFW eine Verkürzung auf 3 Monate gefordert. Dies würde zum einen der maximalen Dauer der gesetzlichen Verpflichtung entsprechen, in einer Erstaufnahmeeinrichtung zu wohnen und mit dem neu geregelten Arbeitsmarktzugang der Asylsuchenden und Geduldeten nach bereits drei Monaten einhergehen. Analogleistungen sind nur nach dem SGB XII, nicht nach SGB II vorgesehen. Aus unserer Sicht sollte jedoch eine direkte Anwendung sowohl des zweiten als auch des zwölften Sozialgesetzbuches erfolgen.
• Zu begrüßen ist, dass die Inhaber eines Aufenthaltstitels nach §§ 25 Abs. 4a und 4b aus dem personalen Anwendungsbereich des AsylbLG herausgenommen werden. Die Inhaber eines humanitären Aufenthaltstitels nach § 25 Abs. 5 AufenthG werden ebenfalls herausgenommen, allerdings nur, sofern die Entscheidung über die Aussetzung ihrer Abschiebung mindestens 18 Monate zurückliegt. Diese zeitliche Einschränkung war im Referentenentwurf für den Bezug von Leistungen nach dem SGB II oder SGB XII bislang nicht vorgesehen. Als Begründung wird angeführt, dass bei einer exante Prognose diese Personengruppe sich regelmäßig nicht nur vorübergehend in Deutschland aufhält und allein dauerhafte und nicht bloß vorübergehende Abschiebungshindernisse den Anwendungsbereich des AsylbLG entfallen lassen. Allerdings halten sich auch andere Gruppen nicht nur vorübergehend in Deutschland auf. Genannt seien hier Geduldete und Menschen mit anderen Aufenthaltstiteln aus völkerrechtlichen, humanitären oder politischen Gründen, und zwar von Anfang an. Aus Sicht der BAGFW sollten auch diese Personengruppen aus dem personalen Anwendungsbereich des AsylbLG herausge- nommen und der Kreis der Leistungsbezieher nach dem AsylbLG allein auf Asylantragsteller beschränkt werden.
• Die akzessorische Anspruchseinschränkung bei Familienangehörigen im Rahmen des § 1a AsylbLG wird aufgegeben. Damit soll ein Fehlverhalten nur noch individuell durch eine Leistungseinschränkung sanktioniert werden und nicht mehr auf Familienangehörige übertragen werden. Grundsätzlich bleibt jedoch weiterhin fraglich, ob die Möglichkeit einer Leistungskürzung der verfassungsrechtlich gebotenen Sicherstellung eines menschenwürdigen Existenzminimums gerecht wird. Einige Landessozialgerichte haben dies bereits verneint.
In den nachfolgenden Regelungen wurden keine Änderungen vorgenommen:
• Der Sachleistungsvorrang bleibt nach diesem Gesetzentwurf unverändert bestehen, wobei zur Kenntnis genommen wird, dass in dem Referentenentwurf der Bundesregierung zu einem Gesetz zur Verbesserung der Rechtsstellung von asylsuchenden und geduldeten Ausländern die Abschaffung des bislang geltenden Vorrangs von Sachleistungen für die Zeit nach der Erstaufnahme vorgesehen ist. Die BAGFW fordert seit langem die Abschaffung des Sachleistungsprinzips, da es diskriminierende und integrationshemmende Wirkung hat.
• Unverändert bleiben die Leistungen bei Krankheit, Schwangerschaft und Geburt. Es sollen also weiterhin lediglich Leistungen im Falle akuter Erkrankungen und Schmerzzustände erbracht werden. Nach Auffassung der BAGFW muss jedoch eine umfassende Gesundheitsversorgung gewährleistet werden. Das durch das Bundesverfassungsgericht begründete Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums umfasst auch das physische Existenzminimum, für das die Versorgung bei Krankheit essentiell ist. Eine Abweichung vom Versorgungsgrad anderer Bedürftiger darf nicht nach dem Aufenthaltsstatus geschehen. Ein besonderer sachlicher Grund für eine abweichende Behandlung wurde in der Gesetzesbegründung bislang nicht angeführt. Aus diesem Grund bedarf es einer sofortigen Umsetzung.
Zu den Änderungen im Einzelnen:
1. Leistungsberechtigte nach § 1 AsylbLG-E (Art. 1 Nr. 1)
Nach der Neuregelung in § 1 Abs. 1 Nr. 3 AsylbLG-E sollen Personen mit Aufenthaltstiteln nach §§ 25 Abs. 4a und 4b sowie § 25 Abs. 5 AufenthG aus dem Anwendungsbereich des AsylbLG herausge-nommen werden. Personen mit Aufenthaltstiteln nach § 25 Abs. 5 AufenthG allerdings nur, sofern die Entscheidung über die Ausset- zung der Abschiebung mindestens 18 Monate zurückliegt.
Bewertung
Die BAGFW begrüßt grundsätzlich die Herausnahme dieser Personengruppen, be- dauert jedoch, dass in den Anwendungsbereich des Gesetzes weiterhin Personen mit anderen humanitären Aufenthaltstiteln fallen. Eine Verschlechterung gegenüber dem Referentenentwurf hat dahingehend stattgefunden, dass die Entscheidung über die Aussetzung der Abschiebung bei Personen mit einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG mindestens 18 Monate zurückliegen muss.
Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts muss der Gesetzgeber, will er existenznotwendige Leistungen für eine bestimmte Personengruppe anhand der Aufenthaltsdauer gesondert feststellen, sicherstellen, dass die gesetzliche Um- schreibung dieser Gruppe hinreichend zuverlässig tatsächlich nur diejenigen erfasst, die sich regelmäßig nur kurzfristig in Deutschland aufhalten (BVerfG a.a.O, Rnr. 101). Dies ist bei Personen mit einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG nachweislich nicht der Fall, da es bereits Erteilungsvoraussetzung der Aufenthaltser- laubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG ist, dass mit dem Wegfall der Abschiebehindernisse in absehbarer Zeit nicht zu rechnen ist. Ein weiteres 18 Monate langes Abwarten ist für die Prognose des nicht nur kurzfristigen Aufenthalts somit nicht nur überflüssig, sondern verstößt aus unserer Sicht auch gegen die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts.
Die Auswahl der in § 1 Abs. 1 Nr. 3 AsylbLG enthaltenen Aufenthaltstitel lässt schon allein aufgrund der vollkommen unterschiedlichen Anforderungen und Fallgestaltungen, die hier erfasst sind, keine zuverlässige Prognose darüber zu, ob der Aufenthalt tatsächlich nur kurzfristiger Natur ist. Bei allen aufgezählten Aufenthaltstiteln aus völkerrechtlichen, humanitären oder politischen Gründen sieht das Gesetz vielmehr eine Aufenthaltsverfestigung nach § 26 Abs. 4 AufenthG ausdrücklich vor.
Auch die tatsächliche Aufenthaltsdauer der von dem Gesetz Betroffenen, die nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ebenfalls zu berücksichtigen ist (BVerfG a.a.O, Rn. 101, 118) spricht gegen diese Prognose: So lebten zum 31. Dezember 2012 von den 45.669 InhaberInnen einer Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Abs. 1 AufenthG 41250 Personen länger als 6 Jahre in Deutschland. Das sind 90,3 % der Betroffenen. (Dies ergibt sich ebenfalls aus der in der Gesetzesbegründung für die Herausnahme der Personengruppe nach § 25 Abs. 5 AufenthG genannten BT-Drucksache 17/12457. Siehe dort S. 9f.) In der Gesetzesbegründung des Referentenentwurfes waren bereits 78 % der Personen mit einem Aufenthaltstitel nach § 25 Abs. 5 AufenthG, die länger als sechs Jahre im Bundesgebiet leben für ausreichend erachtet worden, um die Herausnahme aus dem Anwendungs-bereich des Asylbewerberleistungsgesetzes zu rechtfertigen. Dies muss dann erst recht bei
90 % der Personen mit einem Aufenthaltstitel nach § 23 Abs. 1 AufenthG gelten. Dies betrifft zurzeit vor allem die zahlreichen Fälle der Verwandtenaufnahme von sy- rischen Bürgerkriegsflüchtlingen sowie hier aufhältiger syrischer Studierender durch die derzeitigen Bundesländererlasse, die eine Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Abs. 1 AufenthG erhalten. Eine Orientierung allein am Wortlaut des § 23 Abs. 1 AufenthG hilft hier angesichts der tatsächlichen Aufenthaltsdauer dieser Personengruppe nach Auffassung der BAGFW nicht weiter. Eine hinreichend verlässliche Grundlage für eine nur kurze Aufenthaltsdauer (BVerfG a.a.O, Rnr. 118) liegt hier nicht vor.
Die Begründung des Gesetzentwurfs, dass sich bei einer exante Prognose die Personengruppe mit Aufenthaltstiteln nach § 25 Abs. 5 AufenthG regelmäßig nicht nur vorübergehend in Deutschland aufhält, muss nach Auffassung der BAGFW auch für Geduldete gelten, die derzeit noch von § 1 Abs. 1 Nr. 4 AsylbLG erfasst sind. Auch die übrigen von § 1 Abs. 1 Nr. 3 AsylbLG-E erfassten Aufenthaltserlaubnisse
(§ 24; § 25 Abs. 4 Satz 1) sollten dem Rechtskreis der Sozialgesetzbücher zugeordnet werden, da bei einer exante Prognose auch diese Personengruppen sich regelmäßig nicht nur vorübergehend in Deutschland aufhalten.
Es besteht zudem die Gefahr, dass trotz der Herausnahme der Personen mit einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG diesen in der Praxis der § 1 Abs. 2 AsylbLG entgegen gehalten werden kann.
Da die Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG zunächst nur für 6 Monate erteilt wird, kann es zu Fehlentscheidungen bei Jobcentern kommen.
Handlungsempfehlung
Aus Sicht der BAGFW sollte der Kreis der Leistungsberechtigten - wie dies auch ursprünglich der Fall war - allein auf Asylantragsteller beschränkt werden.
2. Leistungseinschränkung nach § 1a AsylbLG-E (Art. 1 Nr.2)
In § 1a AsylbLG-E sollen weiterhin die Fälle geregelt werden, die zu Anspruchseinschränkungen führen können. Die Möglichkeit zur Leistungseinschränkung bleibt nahezu unverändert. Lediglich in § 1a Nr. 2 AsylbLG-E wird das Wort „selbst“ im Gesetzestext eingefügt, um sicher zu stellen, dass ein „Fehlverhalten“ nur noch individuell sanktioniert und nicht mehr auf Familienangehörige übertragen wird.
Bewertung
Die neue Regelung stellt klar, dass künftig keine akzessorische Anspruchseinschränkung bei Familienangehörigen im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 6 AsylbLG aufgrund des Fehlverhaltens anderer Familienangehöriger mehr möglich ist. Ein Fehlverhalten soll nur noch individuell durch eine Leistungseinschränkung sanktioniert und nicht mehr auf Familienangehörige übertragen werden. Dies stellt zunächst eine begrüßenswer- te Verbesserung im Vergleich zur bisherigen Regelung dar.
Die grundsätzliche weiterhin bestehende Möglichkeit einer Leistungskürzung wird der verfassungsrechtlich gebotenen Sicherstellung eines menschenwürdigen Existenzminimums jedoch nicht gerecht. Einige Landessozialgerichte haben bereits entschie- den, dass die Möglichkeit der Leistungs-kürzung des § 1a AsylbLG verfassungswidrig ist und deshalb nicht mehr angewandt werden darf.
Besonders gravierend wirkt sich eine Leistungskürzung im Falle der „Einreiseabsicht zum Sozialhilfebezug“ aus: Hier birgt die Regelung die Gefahr einer fortdauernden Unterschreitung des menschenwürdigen Existenzminimums, die durch eine „Verhaltensänderung“ auch für die Zukunft nicht heilbar ist. Ein Einreisemotiv lässt sich rückwirkend nicht verändern.
Dies würde besonders schwerwiegende Folgen haben in Verbindung mit den in dem "Entwurf eines Gesetzes zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthalts- beendigung" geplanten Definitionen für die „Einreise zum Sozialleistungsbezug“: Demnach sieht der geplante § 11 Abs. 7 AufenthG-E vor, dass ein Einreise- und Auf- enthaltsverbot verhängt werden kann, wenn eine Einreiseabsicht zum Bezug von öffentlichen Leistungen angenommen wird, was wohl auch Leistungen nach dem AsylbLG sein dürften. Im Folgenden wird sodann gesetzlich vermutet, dass eine Einreise zu diesem Zwecke regelmäßig dann erfolgt sei, wenn "ein Asylantrag als unzulässig, unbeachtlich oder als offensichtlich unbegründet abgelehnt wird."
Hiermit wäre somit gleichsam automatisch die Voraussetzung für die Verhängung einer Leistungseinschränkung nach § 1a Nr. 2 AsylbLG erfüllt. Im letzten Jahr wurden zwei Drittel der Ablehnungen als offensichtlich unbegründet eingeschätzt. Der weit überwiegende Teil der abgelehnten Asylantragsteller würde demnach künftig einer zeitlich unbefristeten und nicht zu beeinflussenden Leistungseinschränkung unterliegen.
Zudem ist das Verhältnis von § 1a Nr. 1 AsylbLG zu § 2 AsylbLG unklar: § 1a Nr. 1
AsylbLG würde als Spezialnorm auch nach einer einjährigen Aufenthaltsdauer weiter anwendbar bleiben und den Zugang zu den Leistungen nach § 2 AsylbLG versper- ren. Damit wird der Normzweck des § 2 AsylbLG in Frage gestellt.
Handlungsempfehlung
§ 1a AsylbLG sollte gestrichen werden, da er die Sicherstellung eines menschenwürdigen Existenzminimums durch mögliche Leistungskürzungen eventuell dauerhaft gefährdet.
3. Bezugsdauer für Leistungen nach dem AsylbLG gemäß § 2 Abs. 1 AsylbLG- E (Art. 1Nr. 3)
§ 2 Abs. 1 AsylbLG-E soll nun regeln, dass statt nach einer 48-monatigen Bezugsdauer von Leistungen nach § 3 AsylbLG künftig die Analogleistungen nach SGB XII bereits erbracht werden, wenn sich die Leistungsberechtigten seit fünfzehn Monaten ohne wesentliche Unterbrechung im Bundesgebiet aufhalten und die Aufenthaltsdauer nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben.
Bewertung
Für den Bezug von Leistungen nach § 2 Abs.1 AsylbLG-E i.V.m. dem SGB XII soll nicht mehr wie bisher auf die Zeiten des Vorbezugs, sondern auf die Zeit des Aufent- halts im Bundesgebiet abgestellt werden. Dies wird von der BAGFW begrüßt, denn bei der Bezugnahme auf die Voraufenthaltszeit werden künftig auch Zeiten einer Er- werbstätigkeit oder des Bezugs anderer Grundsicherungsleistungen mitgerechnet. Zudem wird klar gestellt, dass kurzfristige Auslandsaufenthalte (für Klassenfahrten, Besuche von Angehörigen, Teilnahme an Beerdigungen von Angehörigen, sowie im Falle einer rechtmäßigen Ausreise und Wiedereinreise innerhalb einer Frist nach § 51 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG) nicht mehr zu einem Neustart der Wartefrist führen sollen.
Die Änderung der Vorbezugszeit auf eine auf fünfzehn Monate verkürzte Voraufent- haltszeit ist grundsätzlich zu begrüßen, entspricht jedoch nicht der von den in der BAGFW zusammengeschlossenen Verbänden geforderten Verkürzung auf drei Monate und stellt eine Verschlechterung gegenüber dem ursprünglichen Referenten- entwurf dar, der nur zwölf Monate Vorbezugszeit vorgesehen hatte. Die Festlegung des Grundleistungsbezugs auf über ein Jahr ist aus unserer Sicht mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts über einen kurzfristigen, nicht auf Dauer angelegten Aufenthalt kaum zu vereinbaren. Die Gesetzesbegründung ist in dieser Hinsicht nur in Teilen nachvollziehbar. Die vorgesehene 15-Monats-Frist stößt schon deshalb auf Bedenken, da die dazu im Gesetzentwurf vertretene Begründung auf die Länge des Asylverfahrens abstellt, die bei den anderen Leistungs-berechtigten des Asylbewerberleistungsgesetzes, die nicht Asylantragsteller sind als solche nicht grei- fen kann. Darüber hinaus sieht der Koalitionsvertrag der Bundesregierung vor, dass Asylverfahren zukünftig in der Regel nicht mehr als 3 Monate dauern sollen.
Sachgerecht wäre aus Sicht der Verbände eine Bezugsdauer von drei Monaten. Dies würde auch der maximalen Dauer der gesetzlichen Verpflichtung entsprechen, in einer Erstaufnahmeeinrichtung zu leben (§ 47 Abs. 1 AsylVfG) und mit der neu geregelten Wartefrist für den Arbeitsmarktzugang der Asylsuchenden und Geduldeten nach bereits drei Monaten einhergehen. Außerdem würde es dem Maßstab Logik des Aufenthaltsgesetzes und des Schengener Durchführungsübereinkommens folgen, wonach bei einem Aufenthalt von mehr als 3 Monaten von einem längerfristigen Aufenthalt ausgegangen wird (vgl. § 6 Abs. 3 AufenthG, Art. 18 SDÜ).
Weiterhin gewährt jedoch auch die beabsichtigte Neufassung des § 2 AsylbLG-E lediglich Analogleistungen nach dem Zwölften Buch des Sozialgesetzbuches. Aus unserer Sicht sollte jedoch eine direkte Anwendung sowohl des zweiten als auch des zwölften Sozialgesetzbuches erfolgen. Nach dem Zweiten Buch des Sozialgesetzbuches würden Leistungen zur Integration in den Arbeitsmarkt gewährt werden können, was bislang nicht möglich war. Eine Zuweisung zu den Rechtskreisen des Zweiten und Zwölften Buches des Sozialgesetzbuches nach den Kriterien der Erwerbsfähigkeit und der Nicht-Erwerbsfähigkeit und ein entsprechender Leistungsbezug sollten jedoch künftig möglich sein.
Als unbeabsichtigter Nebeneffekt wird die Verkürzung des Grundleistungsbezuges auf ein Jahr zu einer Verschärfung des sog. „leistungsrechtlichen Ausbildungsverbots“ führen: Bislang konnten Personen auch während einer dem Grunde nach för- derfähigen Ausbildung innerhalb der ersten vier Jahre Grundleistungen nach dem AsylbLG beziehen. Dies wird künftig nur noch während des ersten Jahres möglich sein. In Verbindung mit den ausländerrechtlichen Ausschlüssen im Bereich des BA- föG und der Berufsausbildungsbeihilfe, nach denen mit Aufenthaltsgestattung gar keine und mit Duldung sowie Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 4 Satz 1 erst nach vier Jahren Voraufenthaltszeit Leistungen der Ausbildungsbeihilfe beansprucht wer- den können, wird sich die jetzt schon bestehende „Ausbildungsförderungslücke“ wei- ter vergrößern. § 8 BAföG sollte daher dringend entsprechend angepasst werden.
Handlungsempfehlung
Die maximale Dauer des Bezugs von Leistungen nach dem AsylbLG sollte in § 2 Abs. 1 AsylbLG-E auf drei Monate gesenkt werden. Im Anschluss daran sollte eine direkte Anwendung der Sozialgesetzbücher erfolgen. Dies würde auch die Gewäh- rung von Leistungen zur Integration erwerbsfähiger Personen in den Arbeitsmarkt nach dem SGB II sicherstellen. Um eine Ausbildungsförderung zu gewährleisten, sollte das Bundesausbildungsförderungsgesetz entsprechend angepasst werden.
4. Grundleistungen - Sachleistungsvorrang nach § 3 AsylbLG-E (Art. 1 Nr. 4a
und b)
Gemäß § 3 AsylbLG-E soll weiterhin vorrangig die Sachleistungsgewährung gelten, indem klargestellt wird, dass Sachleistungen neben einer Geldleistung den existenz- notwendigen Bedarf sicherstellen können sollen. Gleichzeitig regelt die Vorschrift unverändert den Sachleistungsvorrang auch außerhalb von Erstaufnahmeeinrichtungen.
Bewertung
Der Sachleistungsvorrang bleibt nach diesem Gesetzentwurf unverändert, wobei zur Kenntnis genommen wird, dass in dem Referentenentwurf der Bundesregierung zu einem Gesetze zur Verbesserung der Rechtsstellung von asylsuchenden und geduldeten Ausländern die Abschaffung des bislang geltenden Vorrangs von Sachleistun- gen für die Zeit nach der Erstaufnahme vorgesehen ist. Ein durch die BAGFW seit langem kritisiertes Hauptinstrument des sozialen Ausschlusses bleibt nach dem Ge- setzentwurf zur Änderung des AsylbLG damit zunächst bestehen. Die Umsetzung der gesetzlichen Regelung bleibt eine politische Entscheidung der Kommunen bzw. Bundesländer. Laut Gesetzesbegründung kann der Träger des AsylbLG außerhalb von Erstaufnahmeeinrichtungen auch zukünftig von der vorrangigen Leistungserbrin- gungsform Sachleistungen abweichen und die Bedarfsdeckung vollständig über Geldleistungen erbringen. Die Entscheidung über die Art der Leistungserbringung bei einer Unterbringung außerhalb von Erstaufnahmeeinrichtungen bleibt damit zunächst weiterhin in das Ermessen des Leistungserbringers gestellt.
Die Mehrzahl der Bundesländer, Landkreise und Kommunen hat bereits in Abkehr von dem Vorrangprinzip aus Kosten- und Praktikabilitätsgründen auf die Gewährung von Barleistungen umgestellt. Nur wenige Bundesländer wie etwa flächendeckend in Bayern und Teile Brandenburgs, Baden-Württembergs und Thüringens halten bis- lang an der Ausgabe von Sachleistungen oder Gutscheinen fest. Die tägliche Erfahrung der Verbände zeigt, dass durch Sachleistungen besonders zur Deckung des physischen Existenzminimums immer wieder akute Versorgungsengpässe entstehen und der Bedarf oft nicht wie individuell erforderlich gedeckt werden kann. Eine Bedarfsdeckung ist besonders bei echten Sachleistungen weder in Bezug auf den konkreten Zeitpunkt der Leistungsgewährung, Qualität, Menge oder tatsächlichem Gegenwert mangels objektiver Kriterien und Kontrollen überprüfbar. Die Verbände der BAGFW halten daher Sachleistungen zur Deckung des grundrechtlich geschützten existenznotwendigen Bedarfs für nicht geeignet. Das Sachleistungsprinzip wirkt zudem besonders bei Ausgaben von Gutscheinen diskriminierend und erschwert insgesamt die Integration.
Handlungsempfehlung
Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege fordern die Bundesregierung auf, im Rahmen der Neuregelung des AsylbLG das Sachleistungsprinzip gänzlich aufzugeben. Insbesondere die Beibehaltung der aktuellen Formulierung in § 3 Abs. 2 S.1 AsylbLG, die Sachleistungen als „vorrangig“ zu gewähren vorsieht, ist aus Sicht der
Verbände obsolet.
5. Grundleistungen - Bildungspaket nach § 3 Abs. 3 und § 12 Abs. 2 AsylbLG- E (Art.1 Nr. 4c und Nr. 8)
Gemäß § 3 Abs. 3 AsylbLG-E und § 12 Abs. 2 AsylbLG-E sollen künftig alle vom AsylbLG erfassten Kinder, Jugendlichen und junge Erwachsene von Anfang an Anspruch auf Bildungs- und Teilhabeleistungen entsprechend SGB XII haben.
Bewertung
Die BAGFW begrüßt ausdrücklich die Festschreibung des Anspruches auf Bildungs- und Teilhabeleistungen auch für Leistungsempfänger nach dem AsylbLG. Die Neu- regelung setzt damit eine immer wieder geltend gemachte Forderung der BAGFW um und beendet damit die Ausgrenzung der Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die nach AsylbLG Leistungen empfangen.
6. Krankenversorgung gemäß § 3 Abs. 2 AsylbLG-E sowie § 4 und § 6 AsylbLG (Art.1 Nr. 4b) bb)
Bei der Regelung der notwendigen Bedarfe in § 3 Abs. 2 AsylbLG-E sollen auch künftig regelbedarfsrelevante Ausgaben für die Gesundheitspflege (Rezeptgebühren, Eigenanteile) unberücksichtigt bleiben. Hinsichtlich der §§ 4 und 6 AsylbLG sieht der Entwurf keine Änderungen vor. Die Leistungen bei Krankheit, Schwangerschaft und Geburt gemäß § 4 und § 6 AsylbLG bleiben bestehen. Es sollen also weiterhin lediglich Leistungen im Falle akuter Erkrankungen und Schmerzzustände (§ 4), bzw. insofern sie für die Gesundheit unerlässlich sind (§ 6), erbracht werden.
Bewertung
Nach Auffassung der BAGFW muss eine umfassende Gesundheitsversorgung gewährleistet werden. Eine Kompensation des § 4 AsylbLG durch die Bestimmung des § 6 Abs. 1Ssatz 1 AsylbLG, der im Einzelfall Leistungen ermöglichen soll, die u.a. zur Sicherung der Gesundheit unerlässlich sind, findet in der Praxis nicht statt. Hier entscheiden medizinisch nicht sachkundige Mitarbeitende des Sozialamts über die beantragten Leistungen. Vielmehr besteht durch die unklare Rechtslage der reduzierten Gesundheitsleistungen und dem hohen bürokratischen Aufwand durch die Leistungserbringer oft eine zeitliche Verzögerung zu Lasten der Betroffenen. Das durch das Bundesverfassungsgericht begründete Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums umfasst auch das physische Existenzminimum, für das die Versorgung bei Krankheit essentiell ist. Eine Abweichung vom Versorgungsgrad anderer Bedürftiger darf nicht nach dem Aufenthaltsstatus geschehen. Ein sachlicher Grund für eine abweichende Behandlung wurde in der Gesetzesbegründung zudem nicht angeführt.
Das BVerfG hat in der Entscheidung vom 18.07.2012 die Gesundheitsversorgung nach § 4 AsylbLG nicht eigens erwähnt. Da die Entscheidung aber auf das sog. Hartz-IV Urteil vom 9.2.2010 verweist und damit auf die dort getroffenen Aussagen zum physischen Existenzminimum, wird deutlich, dass die bisherige Praxis, nur akute Erkrankungen und Schmerzzustände zu behandeln, nicht fortgesetzt werden kann. Das entsprechend der Verfassung zu garantierende physische Existenzminimum umfasst auch eine angemessene Krankenversorgung.
Zudem steht dieser Regelung Art. 12 Abs.1 des Internationalen Pakts über wirt- schaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte entgegen. Danach erkennen die Vertragsstaaten das Recht eines jeden auf das für ihn erreichbare Höchstmaß an körperlicher und geistiger Gesundheit an. Die derzeitige Fassung des AsylbLG erkennt dieses Recht nicht an.
Die richtlinienkonforme Umsetzung der Richtlinie 2003/9/EG (Aufnahmerichtlinie), neugefasst durch Richtlinie 2013/33/EU (Aufnahmerichtlinie n.F.) muss zeitnah gewährleistet werden.
In Art. 15 Abs. 2 der Aufnahmerichtlinie (Art. 19 Abs. 2 Aufnahmerichtlinie n.F.) ist vorgesehen, Asylbewerbern mit besonderen Bedürfnissen die „erforderliche medizi- nische oder sonstige Hilfe“ zu gewähren. Diese umfasst nach Auffassung der BAGFW mehr als die in Art. 15 Abs. 1 der Aufnahmerichtlinie (Art. 19 Abs. 1 Auf- nahmerichtlinie n.F.) geregelte "Notversorgung und unbedingt erforderliche Behand- lung von Krankheiten". Besonders schutzbedürftige Personen sind nach Art. 17 der Aufnahmerichtlinie „Minderjährige, unbegleitete Minderjährige, Behinderte, ältere
Menschen, Schwangere, Alleinerziehende mit minderjährigen Kindern und Personen, die Folter, Vergewaltigung oder sonstige schwere Formen psychischer, physischer oder sexueller Gewalt erlitten haben (nach Art. 21 Aufnahmerichtlinie n.F. zusätzlich auch Opfer des Menschenhandels, Personen mit schweren körperlichen Erkrankungen, Personen mit psychischen Störungen). “Die erforderliche medizinische oder sonstige Hilfe geht über die „Behandlung akuter Erkrankungen und Schmerzzustän- de“ im Sinne des § 4 AsylbLG und über Leistungen, wenn sie „für die Gesundheit unerlässlich ist“ im Sinne des § 6 AsylbLG deutlich hinaus. Schon bei der Umsetzung der alten Fassung der Aufnahmerichtlinie in nationales Recht ist eine richtlinienkon- forme Regelung versäumt worden. Die Europäische Kommission hat dies in ihrem Bericht zur Anwendung der Richtlinie an den Rat und das Europäische Parlament deutlich angemerkt.
Die Beschränkung der Übernahme von Kosten auf die Behandlung akuter Erkran- kungen und Schmerzzustände bewirkt häufig die Verschleppung und Verschlechterung von Krankheiten. Dies zeigt, dass die einzelfallbezogene Auffangregelung nach § 6 AsylbLG unzureichend ist. Diese Leistungen werden zudem von den Kommunen und Sozialleistungsträgern in Häufigkeit und Umfang sehr unterschiedlich bewilligt. Zudem verursacht die derzeitige Rechtslage im Bereich der Krankheitsversorgung für die leistungspflichtigen Kommunen einen nicht unerheblichen zusätzlichen administ- rativen und finanziellen Aufwand. Gerade im Hinblick auf zwei tragische Fälle in der jüngeren Vergangenheit, in denen ein Kind wegen Nicht-Behandlung gestorben ist und ein anderes Kind nur noch knapp gerettet werden konnte, zeigen eindringlich die Notwendigkeit auf, den Zugang zu Gesundheitsleistungen neu zu regeln. Es sollte in keinem Falle durch eingeschränkte Leistungen im Krankheitsfall eine Verschlechte- rung des Gesundheitszustandes oder eine Chronifizierung von Krankheiten in Kauf genommen werden, denn dies bedeutet vermeidbares Leid für die Kranken und er- höhte Kosten nach Ablauf des Leistungsbezuges nach § 3 AsylbLG.
Es wäre daher sinnvoll, für alle Leistungsberechtigten des AsylbLG die Mitgliedschaft in der Gesetzlichen Krankenversicherung einzuführen. Auch hier dürfen die Versi- cherten nur das medizinisch Notwendige erhalten. Dafür müssten die nach AsylbLG berechtigten Personengruppen im Rahmen der jeweils zuständigen Leistungsgeset- ze in die Krankenversicherung aufgenommen werden bzw. Hilfen zur Gesundheit erhalten (§ 5 Abs. 1 Nr. 2a und Nr. 13 SGB V, § 264 SGB II, §§ 47 ff. SGB XII). Gleichzeitig wären sie über § 20 Abs. 1 Nr. 12 i.V.m. § 28 SGB XI in die Pflegeversi- cherung aufzunehmen. Dies wäre auch bei eingeschränkter Bleibeperspektive sinn- voll, da eine Pflegebedürftigkeit jederzeit entstehen kann, auch bei jungen Menschen (z. B. durch Unfall, Schlaganfall etc.). Einige Personen, die bereits erwerbstätig waren, waren gegebenenfalls auch schon vorversichert, so dass eine Weiterversicherung auch folgerichtig wäre.
Dann wären allerdings auch die regelbedarfsrelevanten Ausgaben für die Gesund- heitspflege (Rezeptgebühren, Eigenanteile) in die notwendigen Bedarfe aller nach § 3 Abs. 2 AsylbLG-E Leistungsberechtigten mitaufzunehmen. Handlungsempfehlung Die BAGFW-Verbände fordern eine Eingliederung in das System der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung, um den Vorgaben des Internationalen Pakts für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte gerecht zu werden. Eine frühestmögliche Einbindung in die allgemeinen Sozialgesetzbücher würde eine ausreichende medizinische Versorgung und damit das physische Existenzminimum automatisch sicherstellen. Die regelbedarfselevanten Ausgaben für die Gesund- heitspflege sollten dann in die notwendigen Bedarfe nach § 3 Abs. 2 AsylbLG-E auf- genommen werden. Zumindest muss die Bundesregierung im Rahmen des vorliegenden Gesetzentwurfes eine richtlinienkonforme Gestaltung der Gesundheitsversorgung im AsylbLG vornehmen.
7. Aufwendungserstattung des Nothelfers - § 6a AsylbLG-E (Art. 1 Nr. 5)
Mit § 6a AsylbLG-E wird ein Aufwendungsersatzanspruch des Nothelfers im AsylbLG eingeführt, da das Bundessozialgericht mit Entscheidung vom 30.10.2013 die zuvor überwiegend vertretene analoge Anwendung des Nothelferanspruchs nach § 25 SGB XII im AsylbLG abgelehnt hat. Die BAGFW begrüßt ausdrücklich die Einführung einer Erstattungsgrundlage für die Aufwendungen Dritter (niedergelassene Ärzte und Zahnärzte sowie Krankenhausträger), die in einer akuten Notlage tätig werden und Leistungsberechtigten nach AsylbLG (Not-)Hilfe gewähren. Der Gesetzgeber kommt damit einer Anregung der in der BAGFW zusammengeschlossenen Verbände nach.
8. Einkommen und Vermögen von Familienangehörigen - § 7 Abs. 1 AsylbLG
Laut Gesetzentwurf wird der bisherige § 7 Abs. 1 AsylbLG beibehalten.
Bewertung
In § 7 Abs. 1 AsylbLG sollte eine Klarstellung erfolgen, wer unter den Begriff der „Familienangehörigen, die im selben Haushalt leben“ zu zählen ist. Das Bundessozialgericht hat im vergangenen Jahr klar gestellt, dass sich auch das AsylbLG an der Definition der „Bedarfsgemeinschaft“ orientieren muss. Entgegen dem Wortlaut zählen dazu nicht etwa entferntere Familienmitglieder.
Das BSG formulierte am 26. Juni 2013:
"§ 7 AsylbLG definiert nämlich weder eigenständig die Begriffe des Einkommens und Vermögens, noch bestimmt er, wessen Einkommen und Vermögen zu berücksichtigen ist. Die Regelungen des AsylbLG sind vielmehr unvollständig; sie setzen nach der historischen Entwicklung des AsylbLG, Sinn und Zweck, Wortlaut des § 7 AsylbLG und der gesamten Systematik des Gesetzes unausgesprochen voraus,
dass in diesen Punkten - einschließlich der Bedarfsdeckungsfiktion - dieselben Kriterien gelten wie im Sozialhilferecht allgemein. Im Sinne einer dynamischen Konzeption muss deshalb insoweit bei Anwendung des AsylbLG auf die jeweiligen Vorschriften des Sozialhilferechts zurückgegriffen werden. Die Vorstellung des Gesetzgebers ist es, Personen, die dem AsylbLG unterfallen, soweit es die Frage der Berücksichtigung von Einkommen Dritter betrifft, weder schlechter noch besser zu behandeln als sonstige Ausländer, die nach § 23 SGB XII Sozialhilfeleistungen beziehen.
Dies bedeutet zum einen, dass unter "Familienangehörigen" in § 7 Abs 1 Satz 1 AsylbLG wie im SGB XII nicht der volljährige Sohn der Klägerin und die Schwiegertochter zu verstehen sind." (Terminbericht; B 7 AY 6/11 R)
Handlungsempfehlung
Im Zuge der Neufassung des Asylbewerberleistungsgesetzes sollte hier eine Klarstellung im Gesetzestext des § 7 Abs. 1 AsylbLG erfolgen und deutlich gemacht werden, wer als Familienangehörige, die im selben Haushalt leben im Sinne des § 7 Abs. 1 AsylbLG zu betrachten ist, welcher Familienangehörige zunächst also sein Einkommen und Vermögen vor Eintritt von Leistungen nach dem AsylbLG aufzu- brauchen hat.
9. Anrechnung von Einkommen aus Erwerbstätigkeit - § 7 Abs. 3 AsylbLG-E (Art. 1 Nr. 6)
In § 7 Abs. 3 AsylbLG soll künftig geregelt werden, dass Einkommen aus Erwerbstätigkeit zu 25 vom Hundert, höchstens jedoch zu 50 vom Hundert nicht erst aufzu- brauchen sind, bevor Leistungen nach dem AsylbLG gewährt werden, mithin also außer Betracht bleiben.
Bewertung
Der Erwerbstätigenfreibetrag soll künftig gemäß § 7 Abs. 3 Satz 1 AsylbLG-E auf eine Höchstgrenze von 50 vom Hundert der jeweiligen Regelbedarfsstufe begrenzt werden. Bisher lag die Höchstgrenze bei 60 vom Hundert des maßgeblichen Betrags. Der Gesetzgeber begründet diese Absenkung damit, dass auch im SGB XII (§ 82 Abs. 3 Satz 1 SGB XII) die Obergrenze bei 50 vom Hundert liege. Diese Begründung überzeugt jedoch nur zum Teil, denn bei der durchaus sinnvollen Angleichung der beiden Regelungen müsste dann im Rückschluss auch zugleich die Mindesthöhe des Erwerbstätigenfreibetrags im AsylbLG von 25 auf 30 vom Hundert des Bruttoer- werbseinkommens angehoben werden. Denn dies ist auch die geltende Regelung im SGB XII (§ 82 Abs. 3 Satz 1 SGB XII).
Erstmalig sollen gemäß § 7 Abs. 3 Satz 2 AsylbLG-E Regelungen zur Einkommens- bereinigung auch im AsylbLG eingeführt werden. Laut Gesetzesbegründung trägt die Einführung weiterer Abzugs-möglichkeiten der politischen Zielsetzung Rechnung, die Erwerbstätigkeit von Asylbewerbern und Geduldeten zu fördern. Auch dieses Ziel würde eine Eingliederung der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten in den Rechtskreis des SGB II unterstützen. Hier ist jedoch anzumerken, dass einerseits eine Re- gelung zum anzurechnenden Einkommen im Zusammenhang mit eventueller Erwerbstätigkeit in das AsylbLG aufgenommen, wodurch der Wille zur Eingliederung der Zielgruppe in die Arbeitswelt zwar erkennbar wird, denn damit soll laut Gesetzes- begründung der Anreiz für die Aufnahme einer Beschäftigung verstärkt werden. An- dererseits wird die erwerbsfähige Zielgruppe durch die sog. Analogleistungen gemäß § 2 AsylbLG-E weiter im Rechtskreis des SGB XII gehalten und nicht im Rechtskreis des SGB II betrachtet, wo eine Eingliederung in den Arbeitsmarkt tatsächlich gefördert werden könnte. Nach Auffassung der BAGFW ist es nicht zielführend, erwerbs- fähige Personen, deren Erwerbstätigkeit offiziell gefördert werden soll, weiterhin einem Leistungssystem für nichterwerbsfähige Personen zuzuordnen.
Die Gesetzesbegründung stellt klar, dass der Erwerbstätigenfreibetrag stets vom Bruttoeinkommen zu berechnen ist und nicht vom Netto- oder gar vom bereinigten Einkommen. Mit Ausnahme des Erwerbstätigenfreibetrags enthielt § 7 AsylbLG bislang keine Regelungen über eine Bereinigung des Einkommens. Als Absetzbeträge vom Erwerbseinkommen werden nunmehr genannt: Einkommenssteuern, Sozialver- sicherungspflichtbeiträge, die mit der Einkommenserzielung verbundenen notwendigen Ausgaben („Werbungskosten“) und gesetzlich vorgeschriebene Beiträge zu öffentlichen oder privaten Versicherungen oder ähnlichen Einrichtungen. Laut Geset- zesbegründung entspricht diese Regelung weitgehend den Absetzbeträgen des § 82 Abs. 2 SGB XII. Dennoch bleibt fraglich, warum nicht wie in § 82 Abs. 2 Nr. 3 SGB XII auch Versicherungsbeiträge absetzbar sein sollen, die „nach Grund und Höhe angemessen sind“ – also vor allem private Haftpflicht- und Hausratversicherungen.
Zudem fehlt eine Regelung, die wie in § 82 Abs. 3 Satz 4 SGB XII für Einkommen aus Aufwands-entschädigungen für ehrenamtliche Tätigkeiten einen Grundfreibetrag von 200 Euro festlegt – zumal die ehrenamtliche Tätigkeit für den Personenkreis mit Duldung und Aufenthaltsgestattung gerade während der Zeit des nachrangigen Arbeitsmarktzugangs die Möglichkeit der Betätigung und der Heranführung an den Arbeitsmarkt darstellen kann.
Handlungsempfehlung
Um die Erwerbstätigkeit von erwerbsfähigen Geduldeten und Asylsuchenden tatsächlich zu fördern, sollte ihnen auch der Zugang zu den Leistungen zur Integration in den Arbeitsmarkt des SGB II eröffnet werden. Der Erwerbstätigenfreibetrag sollte in Angleichung an § 82 Abs. 3 Satz 1 SGB XII in seiner Mindesthöhe auf 30 vom Hundert angehoben werden. In Angleichung an § 82 Abs. 2 SGB XII sollten auch Versicherungsbeiträge als Absetzbeträge vom Erwerbseinkommen angenommen werden können, die nach Grund und Höhe angemessen sind. Außerdem sollte wie in § 82 Abs. 3 Satz 4 SGB XII für Einkommen aus Aufwandsentschädigungen für ehrenamtliche Tätigkeiten ein Grundfreibetrag von 200 Euro festlegt werden.
10. Vermögensfreibetrag § 7 Abs. 5 AsylbLG-E (Art. 1 Nr. 6e)
Mit § 7 Abs. 5 AsylbLG-E wird für den Leistungsberechtigten und seine Familienangehörigen, die im selben Haushalt wohnen, für notwendige Anschaffungen (Bekleidung, z.B. Wintermantel, Wäsche, Schuhe) ein kleiner Vermögensfreibetrag von 200 Euro eingeführt, ferner sollen Vermögensgegenstände außer Betracht bleiben, die zur Aufnahme oder Fortsetzung der Berufsausbildung oder der Erwerbs-tätigkeit unentbehrlich sind.
Bewertung
Die Einführung einer solchen Regelung wird von den BAGFW-Verbänden sehr begrüßt, die Vermögensfreibeträge in SGB II und SGB XII sind jedoch erheblich höher und nach Lebensalter gestaffelt. Es besteht kein Anlass für eine hiervon abweichende Regelung. Insgesamt sollte aus Gründen der Gleichbehandlung und Rechtsklar- heit auf sämtliche bestehenden Einkommens- und Vermögensdefinitionen der Sozialgesetzbücher verwiesen werden, die aktuellen sozialrechtlichen Anforderungen entsprechen.]]>
Nach den Erfahrungen der letzten Jahrzehnte und in Anbetracht der aktuellen Schutzquote wird ein erheblicher Teil der Schutzsuchenden dauerhaft in Deutschland bleiben. Aus Sicht der Verbände könnten erhebliche Folgekosten eingespart werden, wenn Schutzsuchende von Anfang an ausreichend versorgt werden, Chancen auf Teilhabe haben und die notwendige Infrastruktur zur Integration zur Verfügung steht.
Vor diesem Hintergrund wird der vorliegende Gesetzentwurf im Ergebnis kritisch gesehen. Dazu im Einzelnen:
I. Dezentrale Wohnraumversorgung vor Gemeinschaftsunterkünften
Die BAGFW setzt sich für eine dezentrale Wohnraumversorgung von Asylsuchenden ein. Sie sollten nach dem Erstaufnahmeverfahren möglichst in eigenen Wohnungen untergebracht werden, da dies die gesellschaftliche Teilhabe von Anfang an ermöglicht, denn mindestens 60 % der ankommenden Menschen werden dauerhaft in Deutschland bleiben. Die Übernahme der Kosten der Unterkunft von Flüchtlingen in privatem Wohnraum im Rahmen von Grundsicherungsleistungen ist zudem nach Modellberechnungen[1] erheblich günstiger als der Betrieb einer Gemeinschaftsunterkunft.
Menschen mit einer Flüchtlingsanerkennung oder einem sonstigen Schutzstatus dürfen aus völker- und europarechtlichen Gründen nicht in einer Gemeinschaftsunterkunft untergebracht werden. Menschen mit einem Duldungsstatus sind zumeist nicht nur vorübergehend in Deutschland, in überwiegender Zahl beträgt ihr Aufenthalt länger als sechs Jahre. Sie müssen von der Wohnpflicht in Unterkünften, wie sie in einigen Bundesländern besteht, aus Teilhabegesichtspunkten ausgenommen werden.
II. Keine Erleichterung für Bauvorhaben in Gewerbegebieten und im Außenbereich
Bereits jetzt lässt das geltende Bauplanungsrecht Spielräume in unterschiedlichen Baugebieten zur Unterbringung von Flüchtlingen zu. Es gibt derzeit bereits Gemeinschaftsunterkünfte in Gewerbegebieten oder im Außenbereich, die zeigen, dass eine Unterbringung an ungeeigneten Standorten zu Desintegration und Ausgrenzung der Bewohnerinnen und Bewohner führen. Eine bundesweite Regelung zur Erleichterung von Bauvorhaben in Gewerbegebieten und im Außenbereich wird daher trotz der teils sehr angespannten Unterbringungssituation nicht befürwortet. Die Trennung von Baugebieten in Gewerbegebiete und Gebiete zum Wohnen (reine Wohn- und Mischgebiete) hat gute Gründe, die auch bei der Aufnahme von Flüchtlingen gelten. Zu diesen Gründen zählt u.a. der Schutz von Wohnräumen vor störenden Einflüssen durch Gewerbebetriebe, wie Lärm und Schmutz. Die Unterbringung von Schutzsuchenden in Gemeinschaftsunterkünften ist wohnähnlich und die Bewohner(innen) bedürfen mindestens des gleichen Schutzes, wie Menschen, die über ihren Wohnort selbst bestimmen können. Wie auch der Deutsche Anwaltsverein halten die Verbände der BAGFW eine „immissionsschutzrechtliche Zwei-Klassen-Gesellschaft“ (Flüchtlinge/andere Bürger) für bedenklich“ und lehnen die geplante Erleichterung für Bauvorhaben in Gewerbegebieten ab.
Im Übrigen sollte die Flüchtlingsaufnahme nicht dazu dienen, den bauplanerischen Schutz von Außenbereichsgebieten weiter abzuschwächen. Es gibt keinen objektiven Grund für die geplante baurechtliche Privilegierung von Gemeinschaftsunterkünften. Da gerade Schutzsuchende besonders negativ davon betroffen sind, dass im Außenbereich regelmäßig die kommunale Infrastruktur nur schwer erreichbar ist, lehnen die Verbände der BAGFW die geplante Erleichterung für Bauvorhaben im Außenbereich aus bauplanerischen Gründen und im Interesse von Schutzsuchenden ab.
III. Flexibilisierung im Innenbereich und Vorbeugung von Nachbarschaftsklagen
In Wohn-, Misch- und Kerngebieten sollen durch die Betonung der Flüchtlingsaufnahme als ein besonders zu berücksichtigendes öffentliches Interesse, die Möglichkeiten erleichtert werden, im Innenbereich Unterkünfte zu errichten oder vorhandene geeignete Gebäude zu nutzen. Die Verbände der BAGFW sprechen sich für diese Regelung aus. Sie sollte dazu genutzt werden, Unterkünfte in möglichst kleinen Einheiten zu verwirklichen. Die Belange und Bedürfnisse von Asylsuchenden müssen auch bei Bauvorhaben im Innenbereich stärker als bisher beachtet werden. Dazu bedarf es der Festlegung verbindlicher Standards.[2]
IV. Keine Befristungsregelungen
Die Anzahl der aufzunehmenden Flüchtlinge wird in den kommenden Jahren voraussichtlich nicht sinken. Die dafür notwendigen bauplanerischen Entscheidungen werden derzeit in Kommunen und Landkreisen getroffen und in Standorte investiert, die im Interesse aller langfristig bestehen bleiben sollen.
Die im Gesetz angelegte Befristungsregelung auf 5 Jahre bis zum 31. Dezember 2019 ist allerdings nur für die Genehmigungsverfahren selbst relevant. Die dadurch genehmigten Bauvorhaben und Nutzungsänderungen werden über die 5 Jahre hinaus dauerhaften Bestandsschutz genießen. Insofern wird die Befristung der - aus unserer Sicht nachteiligen - Privilegierung von Bauvorhaben im Außenbereich und in Gewerbegebieten faktisch keine Wirkung zeigen, da in 5 Jahren voraussichtlich ausreichend Kapazitäten ausgebaut worden sind. Aus diesem Grund muss von Anfang an in geeignete Standorte mit angemessener Infrastruktur investiert werden, ohne von menschenwürdigen Standards abzuweichen.
V. Erforderliche weitere Maßnahmen
Änderungen im Bauplanungsrecht werden der derzeitigen Unterbringungssituation kurzfristig alleine nicht abhelfen. Es bedarf weiterer flankierender Maßnahmen im Bereich der Flüchtlingsaufnahmegesetze der Länder, der Bundespolitik und der Kommunalpolitik.
Seit 2009 steigen die Zahlen der Asylsuchenden kontinuierlich an. Insoweit sind auch die für das Jahr 2014 erwartete Zahlen von ca. 200.000 Asylantragstellern in Deutschland angesichts der bekannten Prognosen nicht überraschend. In Anbetracht der derzeitigen Krisen- und Kriegsregionen insbesondere in Nahost und Subsahara werden sich die Zahlen von Asylsuchenden in Deutschland in den kommenden Jahren voraussichtlich auf einem hohen Niveau stabilisieren.
Aus Sicht der BAGFW muss in Deutschland als viertgrößte Wirtschaftsnation der Welt eine menschenwürdige Aufnahme auch von 200.000 Schutzsuchenden im Jahr grundsätzlich zu bewerkstelligen sein. Dies betrifft insbesondere auch die Kosten. Laut Statistischem Bundesamt entsprechen die Kosten für Lebensunterhalt, Unterbringung und medizinische Versorgung einem Beitrag von 13 Euro pro Bundesbürger pro Jahr. Gleichwohl führt die ungleiche Verteilung der Kosten teilweise zu großen Herausforderungen für einige Kommunen.
Bei der Sammelunterbringung von Schutzsuchenden müssen deren Bedarfe berücksichtigt werden. So muss die Erreichbarkeit von Ärzten, Behörden, Schulen und Ausbildungsstätten und Beratungsangeboten, sowie Einkaufs- und Freizeitmöglichkeiten gewährleistet sein. Kleine Wohneinheiten sind vorzuziehen, damit weniger Konfliktpotenzial unter der Bewohnern selbst und mit der Nachbarschaft entsteht.
Die Betroffenen sind aufgrund der fluchtauslösenden Ereignisse in ihrem Herkunftsland und den Erlebnissen während der Flucht zum Teil erheblich psychisch belastet, oft sogar traumatisiert. In beengtem Wohnraum mit Mehrbettzimmern und Gemeinschaftsräumen besteht die Gefahr der Verschlechterung des Gesundheitszustandes. Insofern sollte der Aufenthalt in einer Gemeinschaftsunterkunft gesetzlich auf ein Minimum begrenzt werden.
Die dezentrale Unterbringung von Flüchtlingen durch Anmietung von privatem Wohnraum könnte mit Hilfe von Vermittlungsprojekten gefördert werden (sog. „Leverkusener-Modell“). Hierzu regen wir einen bundesweiten Austausch über die derzeitigen best-practice Modelle an.
Wir verweisen auch auf die aktuellen Positionen der Diakonie Deutschland „Positionen zur Aufnahme, Wohnraumversorgung und Unterbringung von Flüchtlingen“[3] und des Deutschen Roten Kreuzes „Empfehlungen des DRK zu Standards in Gemeinschaftsunterkünften“[4], und der Arbeiterwohlfahrt „AWO Positionen und Empfehlungen zur Unterbringung von Flüchtlingen“[5], die der Stellungnahme beiliegen.
Kurzfristig plädieren wir für finanzielle Unterstützungsleistungen an Landkreise und Kommunen, um die Schutzsuchende vorübergehend in Beherbergungsbetrieben und sonstigen Unterkünften unterzubringen. Zelte sind hierfür ungeeignet und daher abzulehnen. Ebenso ist vor allem die finanzielle Unterstützung für Um- und Neubauten erforderlich, wenn die Kosten für Baugrund im Innenbereich durch die Kommunen und Landkreise nicht bestritten werden können.
Langfristig sollte der soziale Wohnungsbau mit modernen Konzepten wiederbelebt werden. Viele Programme bestehen nicht mehr oder laufen aus. Insofern begrüßen die Verbände auch vor diesem Hintergrund die diesjährige Erhöhung des Bundesprogramms „Soziale Stadt“ und fordern weitere Förderungsmaßnahmen des Bundes und der Länder.
Unsere Erfahrungen zeigen, dass oftmals der politische Wille und die Mitnahme der Bevölkerung besonders dafür ausschlaggebend sind, inwieweit Unterbringungen von Flüchtlingen im Innenbereich im allseitigen Einvernehmen gut realisierbar sind. Denn aufgrund von drittschützenden Normen sind Bauvorhaben immer der Gefahr von Nachbarklagen ausgesetzt, ob in einem Gewerbe- oder in einem Wohngebiet. Hier können Kommunalpolitik, Vereine, Wohlfahrtsverbände und Kirchen im Vorfeld durch gute Aufklärungsarbeit Konflikten und Nachbarschaftsklagen entgegenwirken und das zivilgesellschaftliche Engagement vor Ort verstärken. Die Aufnahmebereitschaft in der Nachbarschaft hängt zu einem erheblichen Teil davon ab, ob die Beschaffenheit und Größe der Unterbringungs-einrichtungen geeignet sind, sich in das Gemeinwesen einzufügen.
VI. Zu den geplanten Regelungen im Einzelnen unter Bezugnahme auf den Änderungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD zum Gesetzentwurf des Bundesrates Entwurf eines Gesetzes über Maßnahmen im Bauplanungsrecht zur Erleichterung der Unterbringung von Flüchtlingen Drucksache 18/2752):
Soweit der Gesetzentwurf die Formulierung „für Aufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünfte für Flüchtlinge oder Asylbegehrende“ benutzt, sollte das Wort “Flüchtlinge“ in seinem untechnischen Sinne gestrichen werden. Anerkannte Flüchtlinge sind nach den Regelungen in der Genfer Flüchtlingskonvention und in der EU-Qualifikationsrichtlinie im Sozialbereich und der Wohnraumversorgung eigenen Staatsangehörigen gleichgestellt. Auch eine ausnahmsweise Unterbringung außerhalb von Wohn- oder Mischgebieten kann für sie nicht in Betracht kommen.
Artikel 1 Änderung des Baugesetzbuchs
Nr. 2 b): Grundsätze der Bauleitplanung in § 1 Abs. 6 Nr.13 BauGB-E
In § 1 Abs. 6 Nr. 13 sollen zukünftig die Belange von Flüchtlingen oder Asylbegehrenden und ihrer Unterbringung als Grundsatz der Bauleitplanung zu berücksichtigen und ihnen verstärkt Rechnung zu tragen sein.
Diese Änderung ist zu begrüßen, da sie hervorhebt, dass die Belange der Flüchtlinge oder der Asylbegehrenden genauso relevant sind wie beispielsweise die sozialen und kulturellen Bedürfnisse der übrigen Bevölkerung (vgl. § 1 Abs. 6 Nr. 3 BauGB) und damit ihre Relevanz auch im Bauplanungsrecht verdeutlicht. Die Definition dieser Belange sollten im Rahmen eines Konzepts für menschenwürdige Flüchtlingsunterbringung näher beschrieben werden. Die Verbände der BAGFW sind gerne bereit, sich in die Entwicklungen eines nachhaltigen Konzepts einzubringen.
Nr. 3: § 31 Abs. 2 Nr.1 BauGB-E Gründe des Allgemeinwohls
Durch die Änderung in § 31 Abs. 2 BauGB-E BauGB soll der Bedarf an Unterbringungseinrichtungen für „Flüchtlinge“ und Asylbegehrende als Grund des Allgemeinwohls explizit benannt werden. Nach § 31 Abs. 2 Nr. 1 kann ein Bauvorhaben von den Festsetzungen des Bebauungsplans befreit werden, wenn die Grundzüge der Planung nicht berührt werden und Gründe des Wohls der Allgemeinheit die Befreiung erfordern.
Diese Regelung kann aus Sicht der Verbände ein Instrument sein, das die Planung vor Ort erleichtert.
Nr.4 b): Sonderregelungen für einzelne Länder; Sonderregelungen für Flüchtlingsunterkünfte § 246 Abs. 8 BauGB-E
Hier soll klargestellt werden, dass § 34 Abs. 3a Satz 1 BauGB entsprechend auch auf Nutzungsänderungen von Geschäfts-, Büro- oder Verwaltungsgebäuden im nicht beplanten Innenbereich Anwendung findet. Nach § 34 Abs. 3a Satz 1 kann bei einer Nutzungsänderung im Einzelfall von der Voraussetzung des Einfügens in die Umgebung abgewichen werden.
Aus Sicht der Verbände sollten sich Einrichtungen zur Unterbringung von Flüchtlingen jedoch grundsätzlich immer in das Gemeinwesen und damit in die Umgebung einfügen, um die Integration zu fördern und Stigmatisierungen vorzubeugen. Die Neuregelung kann jedoch auch ein Instrument sein, mit dem die Umnutzung von geeigneten Gebäuden vor Ort erleichtert wird. Grundsätzlich ist die Standortsituation in den einzelnen Bundesländern und Kommunalverbänden jedoch sehr unterschiedlich, sodass die Folgen einer solchen bundesweiten Regelung nicht abschätzbar sind. Sofern die Regelung zu einer geeigneten Standortauswahl im Innenbereich führen kann, ist sie zu begrüßen.
§ 246 Abs. 9 BauGB-E
Durch die Regelung sollen Vorhaben im Außenbereich in unmittelbaren räumlichen Zusammenhang mit einem bebautem Ortsteil innerhalb eines Siedlungsbereiches gem. § 30 Abs. 1 BauGB oder im Zusammenhang mit bebauten Ortsteilen gem. § 34 BauGB erleichtert werden, die bisher nur im Ausnahmefall möglich waren.
Diese Regelung lehnen die Verbände der BAGFW ab, da gerade Asylsuchende einen guten Zugang zur allgemeinen Infrastruktur und zur Anbindung des öffentlichen Nahverkehrs benötigen, der im Außenbereich, der lediglich an einen bebauten Ortsteil angrenzt, oftmals nicht möglich sein wird.
Nr. 4 c) § 246 Abs. 10 BauGB-E
Die geplante Regelung sieht vor, dass künftig in Gewerbegebieten von den Festsetzungen des Bebauungsplanes abgewichen werden kann und Flüchtlingsunterkünfte errichtet werden dürfen, wenn an dem Standort Anlagen für soziale Zwecke nach Würdigung nachbarschaftlicher Interessen und öffentlicher Belange zulässig wären.
Aus Sicht der Verbände ist diese Regelung ebenfalls abzulehnen. In Gewerbegebieten ist regelmäßig nicht sichergestellt, dass die zum Leben notwendige Infrastruktur (Schule, Ärzte, Einkaufmöglichkeiten, ÖPNV) vorzufinden ist. Die Trennung zwischen Wohngebieten und Gewerbegebieten muss aus Sicht der BAGFW wie allgemein anerkannt auch für Asylsuchende gelten. Auch sie sollten regelmäßig in Wohnungen in Wohngebieten leben können. Einzelne unter den konkreten Umständen des Einzelfalls sinnvolle Abweichungen hiervon können bereits mit dem derzeitigen Bauplanungsrecht ermöglicht werden.
[1] Vgl. Stadt Heidelberg, Dezernat III, Amt für Soziales und Senioren (01.03.2012): Lebens- und Wohnsituation von Asylbewerbern in Heidelberg hier: Kosten bei zentraler und bei dezentraler Unterbringung. Drucksache: 0041/2012/IVVgl sowie das „Leverkusener Modell“ Konzept und Kostenvergleich auf www.nds-fluerat.org/9832/aktuelles/initiativen-fordern-nachhaltige-konzepte-fuer-die-aufnahme-und-unterbringung-von-fluechtlingen/
[2] Vorschläge sind bereits formuliert: Liga der freien Wohlfahrtspflege in Baden-Württemberg e.V. (2009): Unterbringung von Asylsuchenden und Flüchtlingen. Mindeststandards für die Unterbringung von Asylsuchenden und Flüchtlingen in Gemeinschaftsunterkünften, sowie Der Sächsische Ausländerbeauftragte (2011): Mitmenschen im Schatten 2011. Heim-TÜV 2011 über das Leben in sächsischen Gemeinschaftsunterkünften
[3] <link http: www.diakonie.de>www.diakonie.de/07-2014-positionen-zur-aufnahme-von-fluechtlingen-15656.html
[4] <link http: drk-wohlfahrt.de fileadmin user_upload pdf broschueren>drk-wohlfahrt.de/fileadmin/user_upload/PDF/Broschueren/Empfehlungen_f%C3%BCr_Standards_von_Gemeinschaftsunterk%C3%BCnften.pdf
[5] <link http: www.awo-informationsservice.org aktuelle-meldungen einzelmeldung datum awo-positionen-und-empfehlungen-zur-unterbringung-von-fluechtlingen>www.awo-informationsservice.org/aktuelle-meldungen/einzelmeldung/datum/2012/08/15/awo-positionen-und-empfehlungen-zur-unterbringung-von-fluechtlingen/
]]>
sammenarbeitenden Spitzenverbände begrüßen die Intention des Bundesfinanzmi-
nisteriums, die Umsatzsteuerbefreiung für Leistungen im Bereich der Sozialfürsorge
und der sozialen Sicherheit (§ 4 Nr. 18 UStG) neu zu fassen und an Recht und
Rechtsprechung der Europäischen Union anzupassen. Eine richtlinienkonforme Aus-
gestaltung des § 4 Nr. 18 UStG wird auch von Seiten der Freien Wohlfahrtspflege
seit vielen Jahren gefordert. Darüber hinaus begrüßen die Spitzenverbände der
Freien Wohlfahrtspflege, dass das Bundesfinanzministerium mit der Überarbeitung
keine Einschränkung des bisherigen Anwendungsbereichs anstrebt, sondern dass
die satzungsgemäßen Aufgaben der Dienste und Einrichtungen der Freien Wohl-
fahrtspflege auch weiterhin von der Umsatzsteuer befreit sein sollen.
1. Kritik der BAGFW am bisherigen § 4 Nr. 18 UStG
Nach der derzeitigen Formulierung des § 4 Nr. 18 UStG sind Leistungen der
amtlich anerkannten Verbände der Freien Wohlfahrtspflege nur dann umsatz-
steuerbefreit, wenn die Entgelte für diese Leistungen hinter den durchschnittlich
für gleichartige Leistungen von Erwerbsunternehmen verlangten Entgelten zu-
rück bleiben.
Nach Auffassung des BFH (Urteil vom 17. Februar 2009, Aktenzeichen XI R
67/06) handelt es sich hierbei um keine richtlinienkonforme Umsetzung des Ar-
tikels 132 Abs. 1 Buchstabe g in Verbindung mit Artikel 133 Buchstabe c der
Richtlinie 2006/112/EG (MwStSystRL). Der BFH stellt in dem Urteil den Leitsatz
auf, dass das in § 4 Nr. 18 Satz 1 Buchstabe c UStG geregelte Abstandsgebot
insofern gemeinschaftsrechtswidrig ist, als nach Artikel 13 Teil A Abs. 2 Buch-
stabe a 3. Gedankenstrich der EU-Richtlinie 77/388/EWG (entspricht Artikel 133
Buchstabe c der Richtlinie 2006/112/EG) die Entgeltklausel auch für behördlich
genehmigte Preise gilt. Die Umsetzung dieses Halbsatzes fehlt im deutschen
Umsatzsteuerrecht, so dass die Wettbewerbsklausel der EU-Richtlinie nicht
vollständig in deutsches Recht umgesetzt worden ist.
Die Erfahrungen der letzten Jahre haben zudem gezeigt, dass ein Preisab-
standsgebot als Prämisse für eine Umsatzsteuerbefreiung in der Praxis nur
schwer zu handhaben ist. Zum einen ist die Abgrenzung des für den Preisver-
gleich relevanten Marktes schwierig. Zum anderen müsste schon bei der Kalku-
lation eines Angebots bekannt sein, ob nicht gleichzeitig privat gewerbliche An-
bieter die gleiche Leistung zu vergleichbaren Preisen anbieten.
2. Erster Entwurf einer Neufassung mit dem JStG 2013
Im Zuge der Gesetzgebung zum Jahressteuergesetz 2013 (JStG 2013) wurde
erstmals eine Neufassung von § 4 Nr. 18 UStG vorgelegt. Die Umsatzsteuerbe-
freiung sollte sich danach nicht mehr an den Leistungen der amtlich anerkann-
ten Verbände der Freien Wohlfahrtspflege ausrichten, sondern für alle Leistun-
gen gelten, die eng mit der Sozialfürsorge verbunden sind und von Einrichtun-
gen des öffentlichen Rechts oder anderen Einrichtungen mit sozialem Charak-
ter erbracht werden. Eine Einrichtung mit sozialem Charakter sollte dann gege-
ben sein, wenn sich die Einrichtung im Vorjahr überwiegend aus Zahlungen öf-
fentlicher Kassen finanziert hat.
Der erste Entwurf entsprach in vielen Punkten nicht der zugrunde liegenden
Richtlinie 2006/112/EG. Ferner war die Regelung wenig praktikabel. Problema-
tisch waren insbesondere folgende Punkte:
• Viele neue unbestimmte Rechtsbegriffe, deren Auslegung offen ist (wie „Zah-
lungen der Staatskasse“).
• Bezugnahme auf die „Einrichtung“ und nicht auf die erbrachte Leistung oder
den Unternehmer insgesamt.
• Bestimmte Einnahmen der Freien Wohlfahrtspflege waren nicht – wie die
Spenden - als unschädliche Einnahmen aufgeführt (Vermögenserträge, Ver-
mächtnisse, Sponsoring, Zuschüsse privater Stiftungen).
• Bezugnahme auf die Einnahmen des Vorjahres.
Insgesamt stellte sich die Ausrichtung der Umsatzsteuerbefreiung an der Art
der Finanzierung als hochkompliziert und in der Praxis nur schwer umsetzbar
dar. Ferner war der bisherige Umfang der Umsatzsteuerbefreiungen im Bereich
der Freien Wohlfahrtspflege nicht gewährleistet.
3. Formulierungsvorschlag des Bundesfinanzministeriums (BMF)
Die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege bedauern ausdrücklich, dass
nach der vorgelegten Formulierung die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege
als Begriff aus dem Umsatzsteuergesetz gestrichen werden sollen. Auch wenn
die zugrunde liegende Mehrwertsteuersystemrichtlinie diese Formulierung nicht
explizit vorsieht, ist sie dennoch nicht ausgeschlossen. Nach der EU-Richtlinie
ist lediglich eine Umsatzsteuerbefreiung nach einer spezifischen Verbandszu-
gehörigkeit unzulässig, nicht jedoch die Nennung der Verbände der Freien
Wohlfahrtspflege als erläuternder Hinweis bei der Definition der Einrichtungen
mit sozialem Charakter.
Begrüßt wird hingegen, dass die nun vorgelegte Formulierung nicht mehr auf
ein Preisabstandsgebot oder die Art der Finanzierung abstellt, sondern sich an
Einrichtungen ohne systematische Gewinnerzielung ausrichtet. Zur Gewährleis-
tung der bisherigen Umsatzsteuerbefreiungen im Bereich der Freien Wohl-
fahrtspflege sowie zur Sicherstellung einer praxistauglichen und bürokratiear-
men Regelung verbleiben jedoch noch Punkte, die der Präzisierung und Klar-
stellung bedürfen.
3.1. Beschränkung der Befreiung auf gemeinwohlorientierte Anbieter
Nach dem Urteil des Bundesfinanzhofs vom 18. August 2005 (Aktenzeichen V
R 71/03) räumt Artikel 13 Teil A Abs. 1 Buchstabe g der Richtlinie 77/388 EWG,
der wortgleich in Artikel 132 Abs. 1 Buchstabe g der Richtlinie 2006/112/EG
übernommen wurde, den Mitgliedstaaten ein Ermessen in der Frage ein, ob sie
bestimmten Einrichtungen sozialen Charakter zuerkennen. Als Einrichtung mit
sozialem Charakter werden nach dem vorliegenden Entwurf Einrichtungen defi-
niert, die keine systematische Gewinnerzielung anstreben und etwaige Gewin-
ne, die trotzdem anfallen, nicht entnehmen sondern zur Erhaltung oder Verbes-
serung der durch die Einrichtung erbrachten Leistungen verwenden.
Offen bleibt die Frage, was unter dem Begriff „keine systematische Gewinner-
zielung“ zu verstehen ist. Bezogen auf die Einrichtungen der Freien Wohlfahrts-
pflege ergibt sich dies aus den Vorgaben der Abgabenordnung (§§ 51 ff AO).
So müssen gemeinnützige Körperschaften die Vorgaben der Mustersatzung für
gemeinnützige Körperschaften (Anlage 1 zu § 60 AO) erfüllen. Diese sieht je-
doch keine entsprechende Formulierung vor, vielmehr ergibt sich die Not-For-
Profit-Ausrichtung aus den Vorgaben zur Selbstlosigkeit in § 55 AO. Nach § 66
Abs. 2 AO ist unter Wohlfahrtspflege „die planmäßige, zum Wohle der Allge-
meinheit und nicht des Erwerbs wegen ausgeführte Sorge für notleidende und
gefährdete Menschen“ zu verstehen. Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege
gehen davon aus, dass jede dieser beiden Vorgaben aus dem Gemeinnützig-
keitsrecht zum Nachweis einer fehlenden systematischen Gewinnerzielungsab-
sicht ausreicht.
Schwieriger wird der Nachweis hingegen bei gewerblichen Anbietern. Ein wort-
getreuer Passus in der Satzung z.B. einer gewerblichen Gesellschaft kann nach
Auffassung der Verbände der Freien Wohlfahrtspflege allein nicht ausreichend
sein. Zur Sicherstellung einer allein am Gemeinwohl orientierten Mittelverwen-
dung sieht die Abgabenordnung in § 55 AO weitergehende Beschränkungen
vor, beispielsweise die gemeinnützige Vermögensbindung oder das Begünsti-
gungsverbot (Vermeidung unverhältnismäßig hoher Vergütungen). Fast unmög-
lich wird der Nachweis einer fehlenden systematischen Gewinnerzielungsab-
sicht bei Einzelunternehmern. Auch wenn die vorgelegte Formulierung auf den
ersten Blick grundsätzlich alle Arten von Anbietern erfasst, führt sie faktisch zu
einer Diskriminierung einzelner Unternehmer.
Eine Beschränkung der Umsatzsteuerbefreiung für Leistungen im Bereich der
Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit auf gemeinwohlorientierte Anbieter
stellt keinen Verstoß gegen den Neutralitätsgrundsatz der EU-Richtlinie dar,
sondern ist in Artikel 133 Buchstabe a MwStSystRL als Gestaltungsmöglichkeit
ausdrücklich vorgesehen. Zusätzlich hat der Gesetzgeber ein Ermessen bei der
Definition von Einrichtungen mit sozialem Charakter. Bei der vorliegenden For-
mulierung, die sich eng an der Wortwahl der Richtlinie 2006/112/EG ausrichtet,
wird dieses zweifache Ermessen nicht ausreichend genutzt. Soll die Umsatz-
steuerbefreiung für Leistungen der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit
allein auf gemeinwohlorientierte Anbieter beschränkt werden, dann sollte dies
durch einen Verweis im Gesetz – zumindest aber in der Gesetzesbegründung -
auf die seit Jahren bewährten Vorgaben der Abgabenordnung in §§ 51 ff. AO
erfolgen. Ein solcher Verweis sichert eine einheitliche Rechtsanwendung,
schafft Rechtssicherheit und vermeidet Bürokratie.
Der Vorteil der Ausrichtung am Gemeinnützigkeitsrecht zeigt sich auch bei der
Gewinnverwendungsklausel. Nach der vorliegenden Formulierung dürfen trotz-
dem anfallende Gewinne nicht entnommen, sondern müssen zur Erhaltung
oder Verbesserung der durch die Einrichtung erbrachten Leistungen verwendet
werden. Auch hier bleibt die praktische Anwendung der Vorschrift offen. Müs-
sen Gewinne für die genau gleiche Leistung oder generell für Leistungen nach
§ 4 Nr. 18 UStG-neu verwendet werden oder ist wie bisher auch eine Verwen-
dung für andere satzungsgemäße Aufgaben des Unternehmers möglich? Was
ist mit Gewinnen, wenn eine Leistung eingestellt wird, geht dann rückwirkend
die Umsatzsteuerbefreiung verloren? Dient die Bildung von Rücklagen der „Er-
haltung“ der Leistung? Und wenn ja, in welchem Umfang sind Rücklagen dann
zulässig, nur im Rahmen einer Betriebsmittel- und Wiederbeschaffungsrücklage
nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 und 2 AO oder ist auch die Bildung freier Rücklagen
(§ 62 Abs. 1 Nr. 3 oder Abs. 4 AO) möglich? Darüber hinaus stellt sich die Fra-
ge, ob etwaige Gewinne aus nach § 4 Nr. 18 UStG-neu steuerbefreiten Zweck-
betrieben auch zukünftig noch für Zuwendungen an andere gemeinnützige Kör-
perschaften verwendet werden können, wie es die Abgabenordnung in § 58 Nr.
2 AO ausdrücklich vorsieht.
Zur Vermeidung einer Schlechterstellung und weiterer Bürokratie sowie zur Er-
höhung der Rechtssicherheit sollte sich auch die Gewinnverwendungsklausel
an den bewährten Vorgaben der Abgabenordnung orientieren. Ansonsten be-
steht die Gefahr, dass die Vorgaben zur Umsatzsteuer und zum Gemeinnützig-
keitsrecht auseinander laufen und neben dem Nachweis zur zeitnahen Mittel-
verwendung nach § 55 Abs. 1 Nr. 5 AO zusätzlich noch eine Mittelverwen-
dungsrechnung nach § 4 Nr. 18 UStG zu erstellen ist.
3.2. Leistungen im Bereich der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit
Nach der vorgelegten Formulierung wird die Umsatzsteuerbefreiung nach § 4
Nr. 18 UStG davon abhängen, ob es sich um eng mit der Sozialfürsorge und
der sozialen Sicherheit verbundene Leistungen handelt oder nicht. Für die
Mahlzeitendienste (nachfolgend unter 3.3. erläutert) wurde diese Frage vom
BMF bereits verneint. Um zumindest in anderen Bereichen der Freien Wohl-
fahrtspflege den bisherigen Umfang der Umsatzsteuerbefreiungen zu gewähr-
leisten, muss der Begriff „eng verbundene Leistung der Sozialfürsorge und der
sozialen Sicherheit“ großzügig ausgelegt werden.
In Pflegeeinrichtungen und Einrichtungen für behinderte Menschen werden ne-
ben den notwendigen Pflege- und Betreuungsleistungen auch zusätzliche Leis-
tungen erbracht, wie z.B. besondere Komfortleistungen bei Unterkunft und Ver-
pflegung (z.B. Reinigungsleistungen) oder zusätzliche pflegerisch-betreuende
Leistungen. Ferner gibt es vielfältige Angebote zur Freizeitgestaltung wie Gym-
nastik-, Tanz-, Mal- oder Handarbeitsgruppen sowie Ausflüge oder Reisen für
Menschen mit Behinderung. Diese Leistungen unterliegen bisher der Umsatz-
steuerbefreiung nach § 4 Nr. 18 UStG. Nach § 88 SGB XI handelt es sich bei
Zusatzleistungen nicht um notwendige Leistungen. Hieraus könnte mit Blick auf
die Umsatzsteuer der Schluss gezogen werden, dass es sich um Leistungen
handelt, die für die Sozialfürsorge nicht unerlässlich sind (Artikel 134 MwStSys-
tRL). Diese Schlussfolgerung ist unzutreffend, denn auch diese Leistungen sind
eng mit der Sozialfürsorge verbunden, da die Angebote der Bereicherung des
Alltags, der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft sowie dem Erhalt und der
Förderung der persönlichen Fähigkeiten und Kompetenzen dienen. Zur Klarstel-
lung sollten diese Angebote in der Gesetzesbegründung und im Umsatzsteuer-
Anwendungserlass ausdrücklich als eng mit der Sozialfürsorge verbundene
Leistungen genannt werden.
Darüber hinaus sollte die Liste der eng mit der Sozialfürsorge verbundenen
Leistungen um die bisher nach § 4 Nr. 18 UStG ebenfalls von der Umsatzsteuer
befreiten Fahrdienste für kranke, alte, pflegebedürftige oder behinderte Men-
schen in nicht besonders eingerichteten Fahrzeugen (z.B. der Transport von
geistig behinderten oder blinden Menschen), Leistungen der Seniorentages-
und –begegnungsstätten sowie den Verkauf von Kioskware an Bewohner (sog.
Schrankkioske) ergänzt werden. Ebenfalls sollte in der Gesetzesbegründung
und/oder im Umsatzsteuer-Anwendungserlass klar gestellt werden, dass der
Verkauf von Broschüren und Informationsmaterialien (z.B. zur Bewusstseinsbil-
dung) auch zukünftig als eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit
verbundene Leistung nach § 4 Nr. 18 UStG steuerbefreit ist.
Während Verpflegungsdienstleistungen gegenüber Studenten und Schülern an
Hochschulen zukünftig nach § 4 Nr. 25 UStG steuerbefreit sein sollen, werden
weitergehende Leistungen der Studentenwerke in den Bereichen Vermietung
und Beratung nur nach § 4 Nr. 18 UStG steuerbefreit sein können. Leistungen
wie die Studienfinanzierungsberatung (zu BAföG, Darlehen, Stipendien), die
psycho-soziale Beratung sowie die Beratung für Studierende mit Behinderung,
Studierende mit Kind oder ausländische Studierende werden wohl auch weiter-
hin unstrittig unter die Regelung des § 4 Nr. 18 UStG-neu fallen. Für die bisher
nach § 4 Nr. 18 UStG steuerbefreite kurzfristige Vermietung an Studierende
(unter 6 Monate) sollte hingegen in der Gesetzesbegründung und/oder im Um-
satzsteuer-Anwendungserlass klar gestellt werden, dass es sich hierbei auch
zukünftig um Leistungen handelt die eng mit der Sozialfürsorge und der sozia-
len Sicherheit verbunden sind, auch wenn im Einzelfall der Nachweis der Hilfs-
bedürftigkeit aufgrund der Vielzahl der Vermietungen nicht praktikabel ist. Die
kurzzeitige Vermietung betrifft vor allem Studierende aus dem Ausland, die im
Rahmen der Internationalisierungsstrategie des Bundes und der Länder an
deutschen Hochschulen nur kurzzeitig studieren und aufgrund ihrer schlechten
finanziellen Situation auf preiswerte Unterkünfte in den Studentenwohnheimen
angewiesen sind. Gleiches gilt für die mit der Vermietung von Studentenwoh-
nungen verbundenen zahlreichen Nebenleistungen. Zur Betreuung und Integra-
tion von Studienanfängern, Studierenden mit Behinderung und ausländischen
Studierenden sowie zur Sicherung des Bildungserfolgs bieten gerade die Stu-
dentenwohnheime z.T. zahlreiche Nebenleistungen wie Gemeinschaftsräume,
Internetzugang, sozialpädagogische Betreuung oder die Betreuung durch Tuto-
ren an. Die Verlagerung der Umsatzsteuerbefreiung für Verpflegungsleistungen
nach § 4 Nr. 25 UStG darf die weiteren Betreuungsaktivitäten der Studenten-
werke nicht von der Steuerbefreiung ausschließen. Ein Szenario, bei dem die
Studentenwerke bei sämtlichen Leistungen die Hilfebedürftigkeit der Studieren-
den nachweisen müssten, wäre nicht umsetzbar.
In der Gesetzesbegründung wird ferner ausgeführt, dass unter § 4 Nr. 18 UStG-
neu insbesondere Leistungen an wirtschaftlich hilfsbedürftige Personen „zur
Überwindung der wirtschaftlichen Hilfsbedürftigkeit“ fallen sollen (Seite 2). Die-
se Formulierung ist zu eng gefasst, da viele der genannten Beispiele (z.B. Hil-
fen für obdachlose Menschen oder „Tafeln“) nicht zur Überwindung der wirt-
schaftlichen Hilfebedürftigkeit führen, sondern allenfalls zur einer Linderung von
deren Folgen. Der Zusatz „zur Überwindung der wirtschaftlichen Hilfebedürftig-
keit“ sollte ersatzlos gestrichen werden. Zur Vermeidung einer unterschiedli-
chen Handhabung im Umsatzsteuer- und Gemeinnützigkeitsrecht sollte ferner
durch einen Verweis in der Gesetzesbegründung auf § 53 AO der Begriff „wirt-
schaftliche Hilfebedürftigkeit“ präzisiert werden. Damit wäre auch klargestellt,
dass sich § 4 Nr. 18 UStG-neu nicht in erster Linie auf Leistungen an wirtschaft-
lich hilfebedürftige Menschen beschränkt, sondern auch Hilfen und Angebote
an persönlich hilfebedürftige Menschen erfasst sind, wie beispielsweise Ange-
bote an chronisch kranke Menschen zur Krankheitsbewältigung.
Die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege begrüßen ausdrücklich, dass
die Leistungen, die auf Grund von Verträgen über die Übertragung von Aufga-
ben nach § 16 BFDG erbracht werden, als eng mit der Sozialfürsorge verbun-
dene Leistungen auch weiterhin nach § 4 Nr. 18 UStG umsatzsteuerbefreit sein
sollen. Ebenso sollten aber auch die Leistungen und Kostenumlagen im Zu-
sammenhang mit dem Freiwilligen Sozialen Jahr (FSJ) als Leistungen der So-
zialfürsorge von der Umsatzsteuer befreit werden. In ihrer sozialen Ausrichtung
sind die beiden Freiwilligendienste vergleichbar, sodass eine umsatzsteuerliche
Schlechterstellung des FSJ nicht nachvollziehbar ist.
Nach der bisherigen Fassung des § 4 Nr. 18 Satz 2 UStG sind auch die Beher-
bergung, Beköstigung und die übrigen Naturalleistungen für die Beschäftigten
im Bereich der sozialen Leistungen von der Umsatzsteuer befreit, sofern sie als
Vergütung für die geleisteten Dienste gewährt werden. Zur Vermeidung unnöti-
ger Bürokratie sollte dieser Satz beibehalten oder in den Umsatzsteuer-
Anwendungserlass übernommen werden.
3.3. Versagung der Steuerbefreiung für Menübringdienste
Der BFH hat mit Urteil vom 1. Dezember 2010 (XI R 46/08) Leistungen eines
"Menüservices" als umsatzsteuerpflichtige Leistungen qualifiziert, da es sich
nach Auffassung der Richter weder um eine Einrichtung mit sozialem Charakter
noch um eine eng mit der Fürsorge oder der sozialen Sicherheit verbundene
Leistung handle. Im vorliegenden Entwurf einer Gesetzesbegründung wurde
dieses Urteil aufgegriffen und die zukünftige Anwendung der Steuerbefreiung
nach § 4 Nr. 18 UStG auf Menübringdienste versagt.
Nach Auffassung der Richter ist eine Einrichtung mit sozialem Charakter des-
halb nicht gegeben, weil der deutsche Gesetzgeber das ihm zustehende Er-
messen nicht dahingehend ausgeübt hat, in § 4 Nr. 16 Buchstabe d UStG auch
Mahlzeitendienste als eine Einrichtung mit sozialem Charakter anzuerkennen
(Textziffer 45 des zitierten Urteils). Daraus kann nicht geschlossen werden,
dass Mahlzeitendienste generell keine Einrichtung mit sozialem Charakter sein
können. Naheliegender wäre es vielmehr, wenn der Gesetzgeber sie parallel zu
§ 68 Nr. 1 Buchstabe a AO auch in § 4 Nr. 16 Buchstabe d UStG explizit auf-
nehmen würde.
Diese in einem Einzelfall ergangene BFH-Entscheidung lässt sich im Übrigen
nicht verallgemeinern. Im gleichen Urteil werden Leistungen der hauswirtschaft-
lichen Versorgung für körperlich oder wirtschaftlich hilfsbedürftige Personen den
umsatzsteuerfreien Leistungen von Einrichtungen mit sozialem Charakter zu-
geordnet (Textziffer 24). Das von den Wohlfahrtsverbänden angebotene „Essen
auf Rädern" ist eine Form der hauswirtschaftlichen Versorgung und deshalb
auch in § 68 Ziffer 1 Buchstabe a AO als Mahlzeitendienst in den Katalog der
Zweckbetriebe aufgenommen.
Ferner bestreitet der BFH, dass es sich bei dem Menüservice um eine eng mit
der Sozialfürsorge oder der sozialen Sicherheit verbundene Leistung handelt.
Begründet wird dies damit, dass unabhängig vom jeweiligen Gesundheitszu-
stand oder vom Alter alle Menschen essen würden. Die Richter verkennen da-
bei, dass bei einer Leistung wie „Essen auf Rädern“ nicht allein der Aspekt des
Essens im Vordergrund steht, sondern die lebensnotwendige und flächende-
ckende Versorgung insbesondere alter und gebrechlicher Menschen. Die belie-
ferten Menschen sind oft gerade nicht oder nicht mehr in der Lage, sich ihr Es-
sen selbst einzukaufen und zuzubereiten. Wie wichtig die Versorgung gerade
alter Menschen mit einer ausgewogenen und altersgerechten Mahlzeit ist, zeigt
eine Schätzung des Medizinischen Dienstes der Spitzenverbände der Kranken-
kassen (MDS), nach der nahezu jeder 12. der über 60-Jährigen in Deutschland
unter chronischer Mangelernährung leidet (www.dsl-mangelernaehrung.de) !
Die Versorgung mit zubereiteten Speisen ist zentraler Bestandteil einer ambu-
lanten Versorgung alter und/oder pflegebedürftiger Menschen. Die Leistungen,
die oft in ein Bündel altersgerechter Dienstleistungen eingebunden sind, führen
dazu, dass ältere und alte Menschen möglichst lange ein selbstbestimmtes Le-
ben in ihrem eigenen, vertrauten Sozial- und Wohnumfeld führen können. Damit
wird dem allgemeinen Prinzip „ambulant vor stationär“ entsprochen.
Darüber hinaus wird „Essen auf Rädern“ bei wirtschaftlicher Hilfebedürftigkeit
von den Trägern der Sozialhilfe nach § 27 Abs. 3 oder § 70 SGB XII finanziert.
Es bestehen ferner Vereinbarungen über die Leistung „Essen auf Rädern“ für
hilfsbedürftige Personen nach § 75 SGB XII im Sinne des § 4 Nr. 16 Buchstabe
h UStG. Ferner entsprechen Mahlzeitendienste den in § 71 SGB XII genannten
Leistungen der Altenhilfe.
Die Ausführungen des BFH in der vorgenannten Entscheidung in Textziffer 47
sind in ihrer Pauschalität nicht zutreffend. Die Ausführungen in der Begründung
zur Neufassung des § 4 Nr. 18 UStG, wonach ein Menüservice generell nicht
umsatzsteuerbefreit sein kann, sind insoweit ebenfalls unzutreffend und verwir-
rend. Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege fordern, Leistungen wie „Essen
auf Rädern“, die an hilfebedürftige Menschen nach § 53 AO erbracht werden,
auch zukünftig als eine eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit
verbundene Leistung anzuerkennen und auch weiterhin von der Umsatzsteuer
zu befreien.
Durch eine Versagung der Umsatzsteuerbefreiung für Mahlzeitendienste wer-
den sich diese Leistungen voraussichtlich verteuern. Schätzungen im Bereich
der Caritas gehen bei Anwendung des ermäßigten Steuersatzes nach § 12 Abs.
2 Nr. 8 Buchstabe a UStG und unter Berücksichtigung des Vorsteuerabzugs
von einer Preiserhöhung von rd. 2 % aus. Das scheint auf den ersten Blick im
Rahmen der derzeit üblichen Preissteigerungen zu liegen. Hinzurechnen muss
man aber noch die derzeit üblichen Tarifsteigerungen, so dass sich die Leistun-
gen deutlich verteuern werden. Da die Mehrzahl der Dienste ihre Angebote kos-
tendeckend kalkuliert, kann die zusätzliche Belastung durch die Umsatzsteuer
durch die gemeinnützigen Anbieter nicht aufgefangen werden. Eine solch gra-
vierende Änderung der Rahmenbedingungen kann kurzfristig kaum umgesetzt
werden. Wenn überhaupt, dann sollte für die Anwendung des BFH-Urteils vom
1. Dezember 2010 (XI R 46/08) – wie bei BFH-Urteilen nicht unüblich – eine
ausreichend lange Übergangsfrist eingeräumt werden. Einer Neufassung des
§ 4 Nr. 18 UStG steht eine solche Übergangsfrist nicht entgegen.
3.4. Abschaffung des § 4 Nr. 18 UStG als Auffangklausel
Nach der bisherigen Formulierung waren alle gemeinnützigen Zweckbetriebe
umsatzsteuerbefreit. Das hatte den Vorteil, dass einzelne Leistungen nicht
zwingend zu den Pflege- und Heilbehandlungsleistungen oder zu Leistungen
der Kinder- und Jugendhilfe abgegrenzt werden mussten, sofern sie bereits
nach § 4 Nr. 18 UStG steuerbefreit waren. Durch die exklusive Zuordnung der
zuvor genannten Leistungen zu § 4 Nr. 14, 16 und 25 UStG entfällt § 4 Nr. 18
UStG als allgemeine Auffangklausel. Bei einigen Leistungen ist jedoch unklar,
ob diese nach der Neuausrichtung weiterhin unter § 4 Nr. 18 UStG fallen kön-
nen oder möglicherweise einer anderen Befreiungsnorm zuzurechnen sind.
Beispielsweise sind derzeit sanitätsdienstliche Leistungen sowie Blut- und Or-
gantransporte nach § 4 Nr. 18 UStG umsatzsteuerbefreit. Hier spielen zwar
auch Aspekte der Sozialfürsorge eine Rolle, vor allem aber geht es um Aspekte
der medizinischen Versorgung. Die Steuerbefreiung für medizinische Leistun-
gen ist in § 4 Nr. 14 UStG formuliert, diese befreit derzeit aber weder die Sani-
tätsdienste noch Blut- und Organtransporte von der Umsatzsteuer. Um Miss-
verständnisse zu vermeiden und um für beide Bereiche auch zukünftig eine
Umsatzsteuerbefreiung zu gewährleisten, sollten sie als Leistungen der Sozial-
fürsorge in der Gesetzesbegründung sowie im Umsatzsteuer-Anwendungs-
erlass ausdrücklich genannt werden.
Gleiches gilt für Bewegungstherapien (wie Funktions- und Bewegungstrainings
für Menschen mit rheumatischen Erkrankungen) sowie für Informations- und
Schulungsangebote für Menschen mit chronischen Erkrankungen und Behinde-
rungen, wie sie beispielsweise von Verbänden der Selbsthilfe angeboten wer-
den. Diese nicht auf Basis einer ärztlichen Verordnung durchgeführten Maß-
nahmen und Angebote sind derzeit nur nach § 4 Nr. 18 UStG steuerbefreit. Um
die Steuerbefreiung auch zukünftig zu gewährleisten, sollten auch sie in der
Gesetzesbegründung sowie im Umsatzsteuer-Anwendungserlass ausdrücklich
als Leistungen der Sozialfürsorge genannt werden.
3.5. Änderung des § 4 Nr. 25 UStG
Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege bedauern ausdrücklich, dass auch in
§ 4 Nr. 25 Buchstabe a UStG die amtlich anerkannten Verbände der Freien
Wohlfahrtspflege als Begriff gestrichen werden sollen. Zur Klarstellung, dass
diese als anerkannte Träger der freien Jugendhilfe dennoch weiterhin und un-
verändert mit ihren Leistungen der Umsatzsteuerbefreiung des § 4 Nr. 25 UStG
unterliegen, wäre ein entsprechender Verweis auf § 75 Abs. 3 SGB VIII in der
Gesetzesbegründung und/oder im Umsatzsteuer-Anwendungserlass hilfreich.
Die Verlagerung der Umsatzsteuerbefreiung für Verpflegungsleistungen an
Studierende und Schüler nach § 4 Nr. 25 UStG wird grundsätzlich begrüßt. Un-
klar bleibt jedoch, ob die Verpflegung von Schülern in den Mensen und anderen
Einrichtungen der Hochschule weiterhin umsatzsteuerbefreit sind. Eine ent-
sprechende Klarstellung in der Gesetzesbegründung und/oder im Umsatzsteu-
er-Anwendungserlass wäre hilfreich. Ferner stellt sich die Frage nach der um-
satzsteuerlichen Handhabung bei der Belieferung anderer begünstigter Einrich-
tungen durch Studentenwerke. Bei einer Umsatzsteuerpflicht würden für die
Studentenwerke Abgrenzungsprobleme mit erheblichem bürokratischem Auf-
wand entstehen.
Ferner sollte auch in § 4 Nr. 25 Satz 3 Buchstabe d UStG anstatt auf das Feh-
len einer systematischen Gewinnerzielungsabsicht und einer eigenen Gewinn-
verwendungsklausel auf die bewährten Begriffe des Gemeinnützigkeitsrechts
zurückgegriffen werden. Zur Begründung verweisen wir auf die Ausführungen
unter Punkt 3.1.
Bisher wurden Angebote der Familienfreizeit und der Familienerholung vielfach
nach § 4 Nr. 18 UStG steuerbefreit (vgl. Punkt 3.4.). Genau genommen handelt
es sich nach § 2 Abs. 2 Nr. 2 SGB VIII i. V. m. § 16 Abs. 2 Nr. 3 SGB VIII um
Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe, die nach der Neufassung des § 4 Nr.
18 UStG nur noch der Steuerbefreiung nach § 4 Nr. 25 UStG zuzurechnen sind.
Ein entsprechender Hinweis in der Gesetzesbegründung und / oder im Umsatz-
steuer-Anwendungserlass wäre hilfreich.
4. Formulierungsvorschlag der Verbände der Freien Wohlfahrtspflege
Unter Abwägung insbesondere der unter 3.1. vorgetragenen Argumente schla-
gen die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege für die Neufassung des § 4 Nr.
18 UStG folgende Formulierung vor:
„§ 4 UStG Steuerbefreiungen bei Lieferungen und sonstigen Leistungen
Von den unter § 1 Abs. 1 Nr. 1 fallenden Umsätzen sind steuerfrei:
…
18. eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbundene Leistun-
gen, die von Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder anderen Einrichtungen
mit sozialem Charakter erbracht werden. Einrichtungen mit sozialem Charakter
im Sinne dieser Vorschrift sind steuerbegünstigte Körperschaften im Sinne der
§§ 51 ff. AO, die ausschließlich und unmittelbar gemeinnützige, mildtätige oder
kirchliche Zwecke verfolgen. Für die in Nummer 15, 15a, 16, 25 und 27 Buch-
stabe b genannten Leistungen kommt die Steuerbefreiung nur unter den dort
genannten Voraussetzungen in Betracht.“
Auf eine ausdrückliche Gewinnverwendungsklausel kann nach Auffassung der
Verbände der Freien Wohlfahrtspflege verzichtet werden, da durch den Verweis
auf §§ 51 ff. AO und die insbesondere in §§ 55, 62 AO formulierten Regelungen
zur Selbstlosigkeit und Rücklagenbildung die gemeinwohlorientierte Verwen-
dung etwaiger Gewinne bereits gewährleistet ist.
Ebenso sollte sich die Umsatzsteuerbefreiung nach § 4 Nr. 25 Satz 3 Buchsta-
be d UStG an den Vorschriften der Abgabenordnung ausrichten.]]>
Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) nimmt eine Bewertung des nunmehr veröffentlichten Abschlussberichts der Bund-Länder-AG „Rechtsvereinfachung im SGB II“ vor.
Bezüglich der an sich konsentierten Vorschläge zu Sanktionen hat allein Bayern einen Vorbehalt angemeldet. Dementsprechend verbleibt dieser Vorschlag in der Darstellung.
Die konsentierten Vorschläge der Bund-Länder-AG aus dem Abschlussbericht sind wörtlich in Kästen zitiert, die Zusammenfassung aus Sicht der BAGFW und die Bewertung sind jeweils ohne Kasten darunter gefasst.
Zusammenfassung
Zentrale Vorschläge sind u. a.
· Die Verlängerung des Regelbewilligungszeitraums auf zwölf Monate, · die Zulässigkeit der Darlehensgewährung bei vorzeitigem Verbrauch einer einmaligen Einnahme, · die Schnittstellen zur Ausbildungsförderung, · die Aufnahme eines eigenständigen Tatbestandes zur vorläufigen Leistungsgewährung in das SGB II, · die Ermöglichung einer trägerübergreifenden Aufrechnung und weitere Erleichterungen bei der Aufrechnung, · die Sicherstellung von Erstattungsansprüchen der Grundsicherungsträger gegen andere Sozialleistungsträger bei Vorleistungen, · Vereinfachungen im Sanktionsrecht, wie die Angleichung der Sanktionsvorschriften für die Altersgruppen unter 25 Jahre und ab 25 Jahre und · die Einführung eines einheitlichen Minderungsbetrages für jede Pflichtverletzung.
Die Vereinfachungsvorschläge zum Sanktionsrecht lehnt das Land Bayern ab.“ |
1. Einkommen und Vermögen
Nr. 3: Behandlung einmaliger Einnahmen; Darlehensgewährung bei
vorzeitigem Verbrauch einer einmaligen Einnahme - § 11 Abs. 3 SGB II
Kurzbeschreibung:
„Bei der Verteilung einmaliger Einnahmen auf sechs Monate kommt es vor, dass Leistungsberechtigte die Einnahme vorzeitig verbrauchen und Hilfebedürftigkeit eintritt. Nach der Rechtsprechung besteht in diesem Fall ein Anspruch auf Arbeitslosengeld II, weil durch den Verbrauch der einmaligen Einnahme keine "bereiten Mittel" zur Bestreitung des Lebensunterhaltes zur Verfügung stehen. Wurde Hilfebedürftigkeit zumindest grob fahrlässig herbeigeführt, sind Ersatzansprüche nach § 34 SGB II zu prüfen.
Zur Vermeidung aufwändiger Prüfungen von Ersatzansprüchen soll die darlehensweise Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes (Ergänzung § 24 SGB II) ermöglicht werden.“
Zusammenfassung aus Sicht der BAGFW:
Einmalige Einnahmen (z. B. Weihnachts- und Urlaubsgeld) werden grundsätzlich nicht nur im Zuflussmonat angerechnet, sondern werden, wenn der Leistungsanspruch bei Anrechnung in einem Monat entfällt, auf 6 Monate aufgeteilt. Hierdurch kann auch in diesen Monaten der Leistungsanspruch verloren werden. Wenn das Geld jedoch schon ausgegeben worden ist, erkennt die Rechtsprechung wiederum einen Anspruch auf ALG II in den Folgemonaten an. Die Regelung zur Verteilung des Einkommens läuft daher leer, es sei denn, das Jobcenter kann Ersatz für das erneut gezahlte ALG II verlangen, weil die Hilfebedürftigkeit „grob fahrlässig herbeigeführt“ wurde. Der Vorschlag sieht vor, statt einem Anspruch auf ALG II zukünftig nur einen Darlehensanspruch einzuführen.
Bewertung:
Grundsätzlich ist das Existenzminimum zu sichern. Soweit die hierfür erforderlichen Mittel nicht mehr zur Verfügung stehen, scheint die Gewährung eines Darlehens besser als gar keine Leistung. Der Vorschlag löst das zugrundeliegende Problem jedoch nicht, sondern weist in die falsche Richtung. In Fällen, in denen bisher auf Grundlage der Rechtsprechung Leistungen als Zuschuss gewährt wurden, führt er zu einer deutlichen Verschlechterung und ist abzulehnen. Wünschenswert wäre eine gesetzliche Klarstellung dahingehend, dass Leistungen erneut gewährt werden müssten, wenn die einmaligen Einnahmen bereits verbraucht wurden und keine bereiten Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts zur Verfügung stehen. Gem. § 11 Abs. 3 SGB II sind einmalige Einnahmen (z. B. Steuererstattung, Erbschaft) gleichmäßig auf einen Zeitraum von sechs Monaten aufzuteilen, wenn deren Anrechnung in einem Monat die Hilfebedürftigkeit entfallen ließe. Wurde die einmalige Einnahme aber bereits vorher verbraucht, können SGB II-Leistungen als Zuschuss beantragt werden. Demgegenüber kann der Grundsicherungsträger allenfalls einen Erstattungsanspruch nach § 34 SGB II wegen schuldhaften Herbeiführens einer Notlage geltend machen (vgl. BSG, Urteil vom 29.11.2012, Az: B 14 AS 33/12 R). Nach Auffassung des BSG kommt eine darlehensweise Leistungsgewährung derzeit nicht in Betracht, da auch weitere Voraussetzungen des § 24 SGB II nicht erfüllt sind.
Soweit mit der Neuregelung eine Entlastung erwerbstätiger Leistungsbeziehender von komplizierten Ersatzvorschriften mit unklaren Folgen intendiert wird, ist diese Intention zu begrüßen. Die vorgeschlagene darlehensweise Leistungsgewährung bei vorzeitigem Verbrauch einer einmaligen Einnahme würde nunmehr die für die Leistungsberechtigten günstigere Zuschusslösung „verbauen“ und die Darlehenslösung festschreiben, obwohl das BSG zurecht darauf hingewiesen hat, dass in einer solchen Konstellation die weiteren in § 24 SGB II verankerten Voraussetzungen für ein Darlehen nicht erfüllt sind.
Die BAGFW spricht sich daher dafür aus, dass im Falle einer Hilfebedürftigkeit nach Aufzehren der einmaligen Einnahme nach wie vor SGB II-Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts als Zuschuss beantragt werden können. Folgerichtig wäre es zudem, wenn einmalige Zuflüsse auch nur im Monat des Zuflusses als Einkommen angerechnet würden und verbleibende Mittel danach entsprechend der Regelungen für Schonvermögen behandelt würden.
Nr. 7: Bagatellgrenze bei Einkommen; Einführung eines Freibetrags für
geringfügige Kapitalerträge- § 11a SGB II, §1 Alg II V
Kurzbeschreibung:
„Die geltende Bagatellgrenze von 10 Euro monatlich (§ 1 Absatz 1 Nummer 1 Alg II-V) erfasst nicht Kapitalerträge, die nur einmal jährlich anfallen und wenn auch nur geringfügig - darüber liegen. Da es sich um eine Bagatellgrenze handelt, sind Kapitalerträge, die höher als 10 Euro sind, in voller Höhe als Einkommen zu berücksichtigen. Betroffen sind insbesondere Sparbücher von Kindern mit geringen Zinseinnahmen.
Mit einem jährlichen Freibetrag von 100 Euro für Kapitalerträge sollen diese Kapitalerträge weitestgehend anrechnungsfrei werden.“
Bewertung:
Der Vorschlag einer Ausweitung der Bagatellgrenze bei Einkommen und Einführung eines Freibetrages für geringfügige Kapitalerträge wird begrüßt. Jedoch ist die Festsetzung des jährlichen Freibetrags von 100 Euro nicht nachvollziehbar. Um eine Ungleichbehandlung gegenüber Personen, die monatlich bis zu 10 Euro an anrechnungsfreiem Einkommen erhalten, zu vermeiden, wäre ein Freibetrag von 120 Euro konsequent. Die BAGFW regt daher an, die Bagatellgrenze auf 120 Euro anzuheben.
Nr. 9: Einführung eines Pauschbetrages für "Riester-Renten"-Abzug- § 11b Abs. 1 Nr. 4 SGB II
Kurzbeschreibung:
„Aufwendungen für eine "Riester-Rente" können in Höhe des förderbaren Betrages vom Einkommen abgesetzt werden. Zur Prüfung, ob die geleisteten Aufwendungen für eine .“Riester-Rente" plausibel sind, d. h. dem förderbaren Betrag entsprechen, ist grundsätzlich das Heranziehen des Vorjahreseinkommens erforderlich. Dieses liegt den Jobcentern nicht vor.
Zur Vereinfachung soll der "Riester-Renten"-Abzug pauschaliert werden: 3% des monatlichen Bruttoeinkommens, mindestens aber 5 Euro. Dieser Betrag mindert sich um 0,5% für jedes zulagenberechtigte Kind, höchstens um 2 Prozentpunkte.“
Bewertung:
Der Wunsch nach einer Pauschalierung, der in Absatz zu bringenden Aufwendungen für eine „Riester-Rente“ erscheint unter dem Gesichtspunkt der Verfahrensvereinfachung für die Jobcenter nachvollziehbar. Dennoch darf in diesem Zusammenhang nicht außer Betracht bleiben, dass in den unteren Einkommensbereichen nur sehr wenige Personen überhaupt privat für ihr Alter vorsorgen können. Insoweit steht der Vorschlag, den „Riester-Renten“-Abzug zu pauschalieren, im Widerspruch zur politischen Forderung, mehr Menschen dazu zu bewegen, privat zusätzlich Altersvorsorge zu betreiben. Leistungsberechtigte sollten nach Ansicht der BAGFW deshalb eine andere Absetzung beantragen können, wenn sie mit der Pauschale ihren Riester-Mindestbeitrag nicht decken können.
Problematisch ist aus Sicht der BAGFW auch, die Pauschale an die Höhe des aktuellen monatlichen Bruttoeinkommens anzuknüpfen. Denn § 86 Abs. 1 Satz 2 EStG sieht als Mindesteigenbetrag 4% der Einnahmen des vorangegangenen Kalenderjahres vor. Dies berücksichtigt nicht die zum Teil erheblichen Einkommenseinbußen infolge einer länger anhaltenden Arbeitssuche. Hier kann insbesondere nach dem Übergang von Arbeitslosengeld zu Arbeitslosengeld II der Vergleich mit dem Einkommen des vorvergangenen Jahres erhebliche Differenzen ergeben, die der vorgeschlagene pauschale Absetzbetrag in einer Vielzahl der Fälle nicht abdeckt und den die Leistungsberechtigten dann aus ihrem Regelbedarf finanzieren müssten. In den Fällen, in denen der Absetzbetrag nicht ausreicht, müsste dann der Riester-Vertrag ruhend gestellt werden. Kritisch wird auch die Möglichkeit der Minderung des Pauschalbetrages gesehen. Es ist nicht nachvollziehbar, warum sich der Pauschalbetrag für jedes zulagenberechtigte Kind um weitere 0,5 Prozentpunkte mindern soll.
Insgesamt kann damit ein zu niedrig angesetzter Pauschalbetrag für Beiträge zur geförderten Altersvorsorge Menschen davon abhalten, für ihr Alter vorzusorgen bzw. diese dazu zwingen, ihre Verträge ruhend zu stellen, was die Gefahr künftiger Altersarmut weiter erhöht.
Nr. 11: Klarstellung hinsichtlich des Absetzbetrags von 100 € (Grundfreibetrag bei Einkommen-§ 11b Abs. 2 Satz 2 SGB II)
Kurzbeschreibung:
„Nach § 11b Abs. 2 Satz 1 SGB II ist anstelle der Beträge nach Absatz 1 Satz 1 Nummer 3 bis 5 ein Betrag von 100 Euro abzusetzen; bei Einkommen über 400 Euro können auch nachgewiesene höhere Aufwendungen berücksichtigt werden. Aus dem Wortlaut ist nicht ersichtlich, dass diese Regelung nur für Erwerbseinkommen gilt. Dies soll klar gestellt werden.“
Zusammenfassung aus Sicht der BAGFW:
Den pauschalierten Grundfreibetrag übersteigende Absetzbeträge für tatsächliche Aufwendungen können nur bei Erwerbseinkommen von mehr als 400 EUR geltend gemacht werden.
Bewertung:
Eine solche Klarstellung entspricht dem Gesetzeszweck, da § 11b Abs. 2 Satz 2 SGB II eine Privilegierung lediglich von Erwerbseinkommen und nicht von allen Einkommensarten (z. B. aus Vermietung) bezweckt. Diese Einschränkung geht allerdings aus dem Wortlaut des § 11 Abs. 2 SGB II nicht hervor, insofern ist die angestrebte Klarstellung nachvollziehbar. Aktuell können - entgegen dem offenbar angestrebten Regelungszweck - Leistungsberechtigte, die Erwerbseinkommen beziehen, den Absetzbetrag auch in Bezug auf andere Einkommensarten (z. B. Mieteinnahmen) beanspruchen. Dieser Widerspruch ist durch zwei Wege auflösbar: entweder es erfolgt die vorgeschlagene Klarstellung oder die Absetzmöglichkeit in § 11b Abs. 2 Satz 2 SGB II muss sich auf alle Einkommensarten erstrecken.
Nr. 12: Klarstellung des Grundfreibetrags bei Zusammentreffen von Erwerbs- einkommen aus ehrenamtlicher und sonstiger Tätigkeit (§ 11b Abs. 2 Satz 3 SGB II)
Kurzbeschreibung:
„Bei Einnahmen aus ehrenamtlicher Tätigkeit gilt ein erhöhter Freibetrag von 200 Euro statt 100 Euro. Aus dem Wortlaut der Norm ist nicht klar ersichtlich, wie mit Fällen umzugehen ist, in denen neben Erwerbseinkommen auch Einkommen aus ehrenamtlicher Tätigkeit erzielt wird, das geringer als der erhöhte Freibetrag ist.
Es soll klar gestellt werden, dass der erhöhte Freibetrag auf die Höhe des Einkommens aus ehrenamtlicher Tätigkeit begrenzt wird.“
Zusammenfassung aus Sicht der BAGFW:
Der Grundfreibetrag wird zukünftig immer nach der Einkommensart bemessen, nach der er höher ausfällt. Liegt das Einkommen aus ehrenamtlicher Tätigkeit z. B. bei 105 Euro (also über 100 Euro, aber unterhalb von 200 Euro) wird der Grundfreibetrag in Höhe von 105 Euro gewährt werden. Das soll auch dann gelten, wenn zusätzlich ein Erwerbseinkommen von z. B. 75 € erzielt wird. Liegt das Einkommen aus ehrenamtlicher Tätigkeit unterhalb von 100 Euro, aber das Erwerbseinkommen oberhalb von 100 Euro, soll der Grundfreibetrag 100 Euro betragen.
Bewertung:
Die gesetzliche Klarstellung des Grundfreibetrags bei Zusammentreffen von Erwerbseinkommen aus ehrenamtlicher und sonstiger Tätigkeit wird begrüßt, jedoch sollte in diesen Fällen immer der Grundfreibetrag von 200,00 Euro Anwendung finden.
Derzeit kann gemäß § 11b Absatz 2 Satz 3 SGB II eine Person, die mindestens aus einer Tätigkeit eine steuerfreie Aufwandsentschädigung im Sinn des EStG erhält, pauschal 200,00 Euro monatlich vom Einkommen (für Pflichtversicherungen, notwendige Ausgaben, die mit der Erzielung des Einkommens verbunden sind und geförderte Altersvorsorgebeiträge) absetzen. Folgt man dem Gesetzeswortlaut, kann also eine Person, die z. B. Erwerbseinkommen hat und eine Übungsleiterpauschale erhält, die 200,00 Euro pauschal absetzen. So wird dies auch von der Fachsoftware PROSOZ der BA berechnet. Die Fachlichen Hinweise (FH) der Bundesagentur für Arbeit (BA) sehen jedoch eine geringere Minderung vor. Sie gehen davon aus, dass nur die tatsächlich gezahlte Aufwandsentschädigung abgezogen werden darf. Die AG Rechtsvereinfachung schließt sich dieser Auffassung an.
Dies ist besonders dann problematisch, wenn die steuerfreie Einnahme unter 200,00 Euro liegt. Eine Gesetzesbegründung fehlt, weil die Sonderregelung im Zuge des Regelbedarfermittlungsgesetzes erst auf Vorschlag des Vermittlungsausschusses eingeführt wurde. Nach Kreikebohm/Spellbrink und Waltermann liegt es angesichts des Wortlautes näher, vom höheren Grundfreibetrag auszugehen, wenn eine entsprechende privilegierte Tätigkeit überhaupt ausgeübt wird (Kommentar zum SGB II,
§ 11b SGB II, Rn. 27). Auch die BAGFW ist der Ansicht, dass in diesen Fallkonstellationen grundsätzlich der Grundfreibetrag von 200 Euro maßgeblich sein sollte. Sofern die Summe aus dem Grundfreibetrag für Einkünfte aus Erwerbstätigkeit (§ 11b Abs. 2 Satz 1 SGB II) und aus den Einkünften aus ehrenamtlicher Tätigkeit unter 200 Euro liegt, ist dieser Betrag anzusetzen. Diese Lösung wäre auch zielführend, weil sie der Intention des Ehrenamtsstärkungsgesetzes entspricht. Denn wer erwerbstätig ist, erhält bereits einen Freibetrag von 100 Euro. Nimmt er nun zusätzlich ein Ehrenamt mit einer Mehraufwandsentschädigung von z. B. 105 Euro auf, erhöht sich der Grundfreibetrag nach der vorgesehenen Neuregelung nur um 5 Euro, nach dem Vorschlag, den die BAGFW befürwortet, hingegen um 95 Euro. Der Erwerbstätigenbonus erhöht sich in beiden Varianten um 21 Euro (§ 11b Abs. 3 Nr. 1 SGB II).
2. Anspruchsvoraussetzungen
Nr. 20: Systematische Bereinigung und Überführung der Leistungsaus- schlüsse des § 7 (Abs. 1 Satz 2, Abs. 4 bis 6) in eigene Vorschriften - ohne inhaltliche Änderungen.
Kurzbeschreibung:
„Durch eine systematische Bereinigung soll die Norm zum einen übersichtlicher werden, zum anderen soll eine deutlichere Systemabgrenzung zum SGB XII (dort: § 21 SGB XII) die Rechtssicherheit- und Rechtsklarheit fördern. Darüber hinaus soll klarer herausgestellt werden, welche Personen dem Grunde nach leistungsberechtigt nach dem SGB II sind (Ausschlusstatbestände bündeln).“
Zusammenfassung aus Sicht der BAGFW:
Mit der angestrebten systematischen Bereinigung sollen die Leistungsausschlüsse für EU-Bürger/innen, Leistungsberechtigte nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, stationär Untergebrachte, Rentnerinnen, Beurlaubte und Auszubildende neu geregelt werden.
Bewertung:
Nach Auffassung der BAGFW ist eine solche systematische Klarstellung im Gesetz zwar grundsätzlich begrüßenswert. Die BAGFW weist jedoch darauf hin, dass die Leistungsausschlüsse für EU-Bürger/innen von den Wohlfahrtsverbänden grundsätzlich kritisch gesehen werden. Dies gilt vor dem Hintergrund, dass sie Europarechtskonformität der Ausschlussgründe des § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II umstritten ist und eine höchstrichterliche Entscheidung hierzu noch aussteht.
Dringend regt die BAGFW eine Klärung insoweit an, dass behinderte Auszubildende, die Ausbildungsgeld nach §§ 117 ff. SGB III, besonders § 122 und § 123 SGB III erhalten, nicht unter den Ausschlusstatbestand des § 7 Abs. 5 SGB II fallen. Die bisherige Rechtsprechung dazu ist uneinheitlich, ein BSG-Urteil liegt unserer Kenntnis nach noch nicht vor.
Die Rechtsauffassung der Bundesagentur für Arbeit (BA), die das Gesetz so interpretiert, dass ein Ausschlusstatbestand vorliegt, hat im Zusammenwirken mit § 27 Abs. 2 SGB II de facto zu einer Abschaffung des Mehrbedarfs für behinderte Auszubildende geführt. Die damalige Gesetzesbegründung, dass notwendige behinderungsbedingte Leistungen über § 33 SGB IX (Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben) zu erhalten seien, trifft nicht die Lebenswirklichkeit und hat in der Praxis zu einer erheblichen Verschlechterung der Förderung junger behinderter Menschen in Ausbildung geführt.
Nr. 23: Temporäre Bedarfsgemeinschaft (§ 7 SGB II)
Kurzbeschreibung:
„Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes können umgangsberechtigte Elternteile für die Zeiten der besuchsweisen Aufenthalte der Kinder Leistungen für diese beantragen. Dies erfordert eine aufwändige, tageweise Berechnung für zwei bestehende Bedarfsgemeinschaften.
Ein Kind soll künftig nur einer Bedarfsgemeinschaft zugeordnet werden (Haupt-BG); maßgebliches Kriterium könnte die Kindergeldberechtigung sein. Dem umgangsberechtigten Elternteil soll ein Auszahlungsanspruch zuerkannt werden, wenn eine Einigung der Elternteile im Innenverhältnis nicht zu Stande kommt. Um diesen Auszahlungsanspruch mindert sich der Anspruch des Kindes in der Haupt-BG. Durch die Zubilligung eines Auszahlungsanspruches werden umfangreiche Änderungsbescheide entbehrlich.“
Zusammenfassung aus Sicht der BAGFW:
Für Kinder von getrennt Lebenden soll nur noch für den Hauptwohnsitz des Kindes Grundsicherung geleistet werden. Die Anwesenheit beim anderen Elternteil soll intern monetär ausgeglichen werden. Die Prüfung des Sachverhaltes durch die Jobcenter soll regelmäßig entfallen. Der Vorschlag geht in seinem Wortlaut offenbar davon aus, dass es regelmäßig einen allein sorgeberechtigten und einen nur umgangsberechtigten Elternteil geben würde und sich dieser Tatbestand an der Kindergeldberechtigung festmachen ließe.
Bewertung:
Der Vorschlag zur Regelung der Berücksichtigung umgangsberechtigter Elternteile geht von der Überlegung aus, dass einem alleinerziehenden Elternteil der Regelsatz für sein Kind ungeteilt zufließen sollte. Ferner geht der Vorschlag davon aus, dass Eltern üblicherweise autonom und in gemeinsamer Absprache regeln, dass der sorge- dem umgangsberechtigten Elternteil den Anteil am Regelsatz zukommen lässt, der für den Unterhalt des Kindes während des Umgangs erforderlich ist. Für den Konfliktfall sieht der Vorschlag eine die Verwaltung des Jobcenters vereinfachende Regelung vor, nach der eine Haupt-BG festgestellt und hierfür ein Bedarf ermittelt wird, während gleichzeitig vom Jobcenter ein Auszahlungsanspruch an den umgangsberechtigten Elternteil festgelegt wird.
Für die Betroffenen, insbesondere in konfliktbelasteten Konstellationen, stellt die Regelung jedoch keine Verbesserung dar. Fraglich ist, ob die Kindergeldberechtigung ein geeigneter Zuordnungspunkt des Kindes bzw. der Kinder zu einer Hauptbedarfsgemeinschaft sein kann, da das Kindergeld im Regelfall beiden Eltern zusteht.
Die BAGFW spricht sich dafür aus, dass dem sorgeberechtigten Elternteil in diesen Konstellationen der volle Regelbedarf verbleibt. Sie schlägt vor, dem umgangsberechtigten Elternteil einen Mehrbedarf zuzubilligen.
Soweit ein gemeinsames Sorgerecht besteht, ist am Prinzip der temporären Bedarfsgemeinschaft festzuhalten. Die Unterstellung, es gäbe hier eine Haupt-BG widerspricht den im Familienrecht festgestellten Rechten und Pflichten bei der Ausübung der gemeinsamen Sorge. Eine Abschaffung der temporären Bedarfsgemeinschaft dürfte in diesen Fällen zu zahlreichen Rechtsfragen und Rechtsklärungsversuchen führen, die nicht allein aus dem Leistungsrecht des SGB II heraus begründet werden, sondern aus dem Familien- und Sorgerecht.
Nr. 27: Weiterentwicklung der Abgrenzung der Grundsicherung für
Arbeitsuchende von der Ausbildungsförderung - § 7 Abs. 5 SGB II
Kurzbeschreibung:
„Derzeit erhalten Auszubildende, die sich in einer dem Grunde nach mit Leistungen nach dem BAföG oder mit Berufsausbildungsbeihilfe bzw. Ausbildungsgeld förderungsfähigen Ausbildung befinden, kein Arbeitslosengeld II, sondern Leistungen nach § 27 SGB II (insbesondere für Mehrbedarfe und für Unterkunftskosten). Diese Rechtskonstruktion ist sehr kompliziert und führt insbesondere beim Übergang von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende in die Ausbildungsförderung zu Problemen bei der Sicherung des Lebensunterhalts. Zudem besteht in einigen Fällen kein Anspruch auf Ausbildungsförderung, was die Aufnahme einer Ausbildung unmöglich macht. Die Probleme sollen durch eine möglichst weitgehende Einbeziehung aller Auszubildenden in Berufsausbildung und berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahmen sowie von Schülerinnen und Schülern in schulischen Ausbildungen in die Anspruchsberechtigung für ergänzendes Arbeitslosengeld II gelöst werden.“
Bewertung:
Der Vorschlag wird ausdrücklich begrüßt. Wenn Auszubildende oder Schüler/innen Berufsausbildungsbeihilfe bzw. BAföG erhalten, liegt der Betrag grundsätzlich unter der Höhe der Leistungen nach dem SGB II. Dies führt dazu, dass sie ergänzend Leistungen nach dem SGB II beantragen müssen. Dieser Personenkreis hat jedoch keinen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts mit Ausnahme der Leistungen nach § 27 SGB II. Danach haben sie unter bestimmten Voraussetzungen Anspruch auf die Mehrbedarfe und auf einen Zuschuss zu den Kosten für Unterkunft und Heizung. Die Ermittlung der Leistungshöhe ist in diesen Fällen für die Verwaltung sehr aufwändig.
Zu Problemen kann es insbesondere in der Übergangszeit zwischen dem Bezug von Arbeitslosengeld II und dem Bezug von Ausbildungsförderung kommen. Nach derzeitiger Rechtslage haben Auszubildende lediglich für den ersten Monat des Ausbildungsbeginns einen Anspruch auf darlehensweise Gewährung von SGB II-Leistungen. Daher kann es zu einer Unterdeckung der Bedarfe der Auszubildenden kommen, wenn die Anträge verzögert gestellt wurden oder über die gestellten Anträge nicht schnell genug entschieden wird.
Ebenso problematisch ist es für Auszubildende, wenn sie keinerlei Anspruch auf irgendeine Form der Ausbildungsförderung haben. Dies erschwert die Aufnahme einer Ausbildung erheblich.
Zielführend ist es daher, wenn Auszubildende und Schüler/innen zukünftig ergänzend Arbeitslosengeld II beziehen können, um sie bei ihrer Berufsausbildung zu unterstützen.
3. Kosten der Unterkunft und Heizung
Nr. 35a: Anspruchsbeschränkung nach § 22 Absatz 1 Satz 2 SGB II
Kurzbeschreibung:
„Zieht eine leistungsberechtigte Person ohne Zusicherung von einer angemessenen Wohnung in eine ebenfalls angemessene, aber teurere Wohnung, werden nur die bisherigen Aufwendungen als Bedarf anerkannt. Zieht die Person hingegen in eine unangemessene Wohnung, sind mangels anderslautender Regelung die (vollen) angemessenen Aufwendungen als Bedarf anzuerkennen.
Die aktuelle Regelung sollte daher auf Fälle ausgedehnt werden, in denen innerhalb eines Wohnungsmarktes ohne Zusicherung ein Umzug von einer angemessenen in eine unangemessene Wohnung erfolgt. Dazu ist in § 22 Absatz 1 Satz 2 SGB II das Wort „angemessenen" zu streichen.“
Zusammenfassung aus Sicht der BAGFW:
Wenn Leistungsberechtigte ohne Erlaubnis umziehen, sollen sie nach dem Vorschlag der Bund-Länder-AG in jedem Fall nur noch die vorherigen Aufwendungen erstattet bekommen. Durch diese Klarstellung sollen Rechtsstreitigkeiten darüber, ob Umzüge in Wohnungen unterhalb der Angemessenheitsgrenzen generell zulässig wären, vermieden werden. Diese Fälle wurden nicht bundeseinheitlich entschieden. Auch sollen Fälle entsprechend behandelt werden, bei denen im Anschluss an einen Umzug in eine Wohnung, die oberhalb der Angemessenheitsgrenze liegt, bislang ein Mietzuschuss entsprechend der maximalen Angemessenheitsgrenze erfolgte.
Bewertung:
Die BAGFW steht sowohl der alten Regelung als auch der neuen Regelung kritisch gegenüber. Maßgeblich für die Übernahme der Unterkunftskosten sollte allein die Angemessenheitsgrenze sein. Generell sollte das Genehmigungserfordernis entfallen, wenn die Aufwendungen für die Wohnung in die der bzw. die Leistungsberechtigte umziehen möchte, ebenfalls angemessen sind.
Wer jemals eine Wohnung in sehr schlechtem Zustand bezogen hat, weil sonst nichts frei war, kann faktisch – und nach der Neuregelung abschließend – keine Wohnung in gutem Zustand erlangen, auch wenn diese an sich als angemessen gilt. Wenn die Neuregelung auch für den Umzug an einen anderen Ort oder sogar Bundesland gelten würde, wäre die Freizügigkeit völlig ausgehebelt. Dann wäre etwa nach einem Umzug aus einer Gegend mit extrem niedrigem Mietniveau in eine besonders hochpreisige Gegend trotzdem die Ausgangsmiete weiter maßgeblich.
Eine gedeckelte Miete führt dazu, dass viele Betroffene nie mehr den vollen Regelsatz zur Verfügung haben, sondern diesen regelhaft für die Mietkosten mit verwenden müssen. Die Gefahr von Wohnungslosigkeit und einer fehlenden Deckung grundlegender Bedarfe, wie Nahrung und Kleidung, ist gegeben.
Aus diesen Gründen lehnt die BAGFW den Vorschlag ab. Sollte der Vorschlag umgesetzt werden, wäre ohnehin zu prüfen, wie lange die Absenkung Gültigkeit haben soll.
Nr. 35c: Zuständigkeit für die Zusicherung bei Umzug (§ 22 Abs. 4 SGB II)
Kurzbeschreibung:
„Bislang soll vor Abschluss eines Vertrages über eine neue Unterkunft eine Zusicherung des bisher örtlich zuständigen kommunalen Trägers eingeholt werden. Der künftig zuständige Träger ist zu beteiligen. Die Regelung hat sich in der Praxis nicht bewährt, weil der bisher örtlich zuständige kommunale Träger sich zunächst bei dem für die neue Unterkunft örtlich zuständigen kommunalen Träger hinsichtlich dessen Kriterien für die Angemessenheit der Aufwendungen für Unterkunft und Heizung informieren muss, um dann eine eigenständige Entscheidung in Anwendung der Angemessenheitskriterien des für die neue Unterkunft örtlich zuständigen kommunalen Trägers zu treffen. Zudem hat sich als problematisch herausgestellt, dass der für die neue Unterkunft örtlich zuständige kommunale Träger dann zunächst an die Entscheidung des bisher örtlich zuständigen kommunalen Trägers gebunden ist. Problematisch kann es auch sein, wenn solche Entscheidungen innerhalb kürzester Zeit getroffen werden müssen.
Es soll daher geregelt werden, dass der am Ort der neuen Unterkunft örtlich zuständige kommunale Träger künftig für die Entscheidung über die Zusicherung der Unterkunftskosten am neuen Wohnort zuständig ist. Er kann die Angemessenheit vor Ort besser beurteilen und ist, soweit die Übernahme einer Mietkaution begehrt wird, ohnehin von der leistungsberechtigten Person zu kontaktieren.“
Bewertung:
Der Vorschlag wird von der BAGFW begrüßt. Der bisherige örtlich zuständige Leistungsträger kann die Zusicherung nur erteilen, wenn der zukünftige Wohnraum den Angemessenheitskriterien am Zuzugsort entspricht. Um das beurteilen zu können, muss er den künftigen Leistungsträger am Zuzugsort in die Zusicherungsentscheidung einbeziehen. Dieser soll aufgrund seiner Kenntnisse der örtlichen Angemessenheitskriterien das konkrete Wohnungsangebot prüfen und den bisherigen Leistungsträger über die Angemessenheit der Kosten für Unterkunft und Heizung informieren. Da der künftige Leistungsträger sowieso maßgeblich an der Entscheidung involviert und außerdem für die Zusicherung zur Übernahme der Mietkaution zuständig ist, ist es sinnvoll, die Zusicherung vollständig dem künftigen Leistungsträger zu überlassen. Jedoch ist sicherzustellen, dass eine nahtlose Erbringung von Leistungen gewährleistet ist, denn bei längerer Entfernung ist es den Leistungsberechtigten nicht möglich, die Fahrtkosten zur Klärung dieser Rechtsfrage beim zuständigen Jobcenter zu tragen. Auch ist zu klären, wo der entsprechenden Antrag zu stellen ist. Eine Antragstellung sollte sowohl beim künftigen Leistungsträger als auch beim bisherigen Leistungsträger möglich sein. Wenn der Antrag beim bisherigen Leistungsträger gestellt wird, muss sichergestellt sein, dass dieser sich dann mit dem zukünftigen ins Einvernehmen setzt.
Nr. 37.5: Ermöglichung einer Gesamtangemessenheitsgrenze für die Bedarfe für Unterkunft und Heizung (Bruttowarmmiete)
Kurzbeschreibung:
„Nach bisheriger Rechtsauslegung ist die Bildung einer Gesamtangemessenheitsgrenze (Bruttowarmmiete) unter Berücksichtigung sowohl des Unterkunfts- als auch des Heizungsbedarfs bei der Prüfung der Aufwendungen für Unterkunft und Heizung auf ihre Angemessenheit nicht zulässig (siehe beispielhaft BSG, Urteil vom 2.7.2009, B 14 AS 36/08 R).
Die Beurteilung der Angemessenheit der Aufwendungen für Unterkunft und Heizung im Rahmen einer Gesamtangemessenheitsgrenze kann im Zuständigkeitsbereich einiger kommunaler Träger eine deutliche Vereinfachung bedeuten. Insbesondere wird dadurch die Flexibilität der leistungsberechtigten Personen bei der Wohnungssuche erhöht, indem mehr angemessene Wohnungen zur Verfügung stehen, weil höhere Aufwendungen für die Unterkunft durch geringere Aufwendungen für die Heizung ausgeglichen werden können und umgekehrt.“
Bewertung:
Das Anliegen, die Berücksichtigung einer Bruttowarmmiete im Rahmen der Angemessenheit der Kosten für Unterkunft und Heizung zu regeln ist aus Perspektive des Gesetzgebers zunächst einmal nachvollziehbar. Angestrebt ist eine Verwaltungsvereinfachung auf Seiten der Leistungsträger, die aktuell nur auf Grundlage einer kommunalen Satzung möglich ist. Argumentiert wird, das Verfahren über die kommunale Satzung habe sich bisher in der Praxis nicht bewährt. Zum anderen werde dadurch die Zahl der für den Wohnungssuchenden zur Verfügung stehenden Wohnungen erhöht. Diese könnten zwischen Wohnungen mit einer höheren Grundmiete und dafür geringeren Heizkosten oder Wohnungen mit einer geringen Grundmiete und dafür höheren Heizkosten wählen.
Aus der Beratungspraxis werden allerdings umfassende Bedenken vorgetragen. Bereits jetzt sind die örtlichen Angemessenheitsgrenzen für die Kaltmiete ein Hauptkonfliktfeld bei den Sozialgerichten. Das BSG hat festgestellt, dass eine prognostische Bemessung von Heizkosten nicht möglich und daher unzulässig ist. Durchschnittswerte können nur für zurückliegende Zeiten errechnet werden, während die Härte des nächsten Winters oder zukünftige Energiepreise nicht vorhersehbar sind. Die Erfahrung mit der Ermittlung der Angemessenheit der Kaltmietgrenzen zeigt, wie stark diese der Marktentwicklung hinterherhinken und oft viel zu spät angepasst werden. Zudem können Betroffene die gebäude- und anlagebedingten Faktoren des Heizungsverbrauchs nicht steuern.
Dementsprechend trägt der Deutsche Verein in seinen Empfehlungen zu den Kosten der Unterkunft[1] die folgenden Bedenken zur Realisierbarkeit (S. 58/59) vor, die aufzeigen, dass es zahlreiche praktische Umsetzungsprobleme geben wird: „Mit der Bildung einer Gesamtangemessenheitsgrenze nach § 22b Abs. 1 Satz 3 Alternative 2 SGB II wird dem Satzungsgeber ausdrücklich gestattet, die angemessenen Bedarfe für Unterkunft und Heizung in einem Richtwert zusammenzufassen (= Bruttowarmmiete).(…) Das Bundessozialgericht hat die Bildung einer Gesamtangemessenheitsgrenze im Rahmen eines Bruttowarmmietenkonzeptes in seiner bisherigen Rechtsprechung zu § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II zwar bislang ausgeschlossen, jedoch nicht für generell unzulässig erklärt. Es hat vielmehr darauf hingewiesen, dass es der Festlegung eines als abstrakt angemessen anzusehenden Heizkostenpreises pro Quadratmeter für eine „einfache“ Wohnung (gestaffelt nach abstrakt angemessenen Wohnungsgrößen) im unteren Segment des Wohnungsmarktes bedürfe und nicht erkennbar sei, wie der Leistungsträger das dafür erforderliche Datenmaterial ermitteln soll.
Die Gesetzesbegründung zu § 22b Abs. 1 Satz 3 Alternative 2 SGB II hat sich mit den Bedenken des Bundessozialgerichts nicht auseinandergesetzt. Das Problem der Bestimmung des angemessenen Bedarfs für Heizung besteht weiterhin fort. Auch die Vorgaben in § 22c SGB II zur Datenerhebung, -auswertung und -überprüfung zeigen keinen Weg auf, um einen solchen als abstrakt angemessen anzusehenden Heizkostenpreis pro Quadratmeter, der die Verhältnisse im einfachen Marktsegment widerspiegelt, realitätsnah abzubilden.“
Insofern ist insgesamt fragblich, ob die avisierte Neuregelung a) nicht einerseits schon rechtlich grundsätzlich möglich ist, oder aber b) im Konkreten an den Unwägbarkeiten ihrer Umsetzung scheitern muss. Es ist daher davon auszugehen, dass die kurzfristige Umsetzung der Einführung einer Angemessenheitsgrenze für die Bruttowarmmiete zu wachsenden Problemen führt. Die BAGFW empfiehlt deshalb, die anvisierte Neuregelung mit den anstehenden Gesetzesänderungen nicht weiter zu verfolgen. Sofern der Änderungsvorschlag weiterverfolgt werden sollte, müssen die Rahmenbedingungen jedenfalls so angepasst werden, dass die Leistungsberechtigten überhaupt von der Änderung profitieren können. Die Angemessenheitsgrenzen müssen unter Berücksichtigung der Heizkosten entsprechend angehoben werden. Außerdem wäre eine Regelung aufzunehmen, nach der im Einzelfall höhere Bedarfe anerkannt werden können.
Nr. 43: Genossenschaftsanteile als Mietkaution im Sinne des § 22 Abs. 6 SGB II
Kurzbeschreibung:
„ln der Praxis ist streitig, ob Genossenschaftsanteile wie Mietkautionen (in der Regel als Darlehen vom aufnehmenden Träger) oder als Wohnungsbeschaffungskosten (Zuschuss vom abgebenden Träger) zu behandeln sind. Genossenschaftsanteile sollen wie Mietkautionen behandelt werden.“
Zusammenfassung aus Sicht der BAGFW:
Entsprechend der Mietkaution soll auch die Übernahme von Genossenschaftsanteilen durch die Gewährung eines Darlehens ermöglicht werden.
Bewertung:
Der Vorschlag, Genossenschaftsanteile wie Mietkautionen zu behandeln, kann grundsätzlich nachvollzogen werden. Wenn Mieter eine Wohnung bei einer Wohnungsbaugenossenschaft anmieten wollen, müssen sie oftmals auch Pflichtanteile an der Genossenschaft erwerben. Bereits heute urteilt die Rechtsprechung, dass Fälle des Erwerbs von Genossenschaftsanteilen der Übernahme einer Mietkaution wegen der vergleichbaren Interessenlage im Hinblick auf den Sicherungscharakter gleichzustellen sind (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss v. 08.06.2011 – L 19 AS 958/11 B ER).
Allerdings bestehen begründete Zweifel an der Rechtmäßigkeit der durch das Regelbedarfsermittlungsgesetz in § 42a Abs. 3 Satz 1 SGB II eingeführten Rückzahlungsregelung für Kautionen. Nach dieser erfolgt eine monatliche Aufrechnung in Höhe von 10 Prozent des maßgeblichen Regelbedarfs. Eine Rückzahlung des Darlehens erst bei Auszug, in dem der Vermieter unmittelbar an den Grundsicherungsträger auszahlt, ist indes nicht vorgesehen. Verschiedene Landessozialgerichte haben deshalb bereits entschieden, dass diese Regelung nicht rechtmäßig ist. Insofern sollte sie nicht auch auf Genossenschaftsanteile angewandt werden. Erschwerend kommt hinzu, dass es sich bei Genossenschaftsanteilen oft um hohe Beträge handelt. Für viele Leistungsberechtigte würde die Neuregelung sogar eine Verschlechterung bedeuten, da die Praxis der Jobcenter bisher nicht einheitlich ist und in vielen Fällen Genossenschaftsanteile voll übernommen wurden und erst bei Auszug an das Jobcenter zurückzuzahlen waren.
Sinnvollerweise sollte ein Vorschlag zur Rechtsvereinfachung deshalb auf eine Regelung abzielen, die die volle darlehensweise Übernahme sowohl von Kautionen als auch von Genossenschaftsanteilen, vorsieht und bei der die Rückzahlung über eine Abtretungserklärung für den Fall des Auszuges erfolgt. Die BAGFW spricht sich daher dafür aus, dass die Rückzahlung von Kaution und Genossenschaftsanteilen über eine Abtretungserklärung erfolgt.
4. Verfahrensrecht
Nr. 65: Ersatzanspruch § 34 SGB II - Klarstellung, welche Leistungen zu
ersetzen sind und Anpassung der Erlöschensregelung
Kurzbeschreibung:
„Bei sozialwidrigem Verhalten können Leistungsberechtigte zum Ersatz der an sie und die Mitglieder ihrer Bedarfsgemeinschaft gewährten Leistungen verpflichtet sein. Durch die Änderung wird klargestellt, dass Geld- und Sachleistungen zu ersetzen sind.
Nach § 34 Abs. 3 SGB II erlöschen Ersatzansprüche drei Jahre nach Ablauf des Jahres, in dem die Leistung erbracht worden ist. Da Leistungen für einen Monat zu unterschiedlichen Zeitpunkten erbracht werden (Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts im Voraus und Beiträge zur Sozialversicherung im laufenden Monat), soll künftig auf den Zeitpunkt abgestellt werden, für den die Leistung erbracht wurde.“
Bewertung:
Die bisherige gesetzliche Regelung in § 34 SGB II ist insoweit widersprüchlich, als dass Absatz 1 vom Ersatz „gezahlter“ Leistungen (also nur Geldleistungen) spricht, während Absatz 3 vom Ersatz „erbrachter“ Leistungen (also Geld- und Sachleistungen) ausgeht. Es erscheint somit nachvollziehbar, dass dieser Widerspruch aufgelöst werden muss. Der Gesetzgeber möchte, dass Ersatzansprüche einheitlich nach 36-Monaten erlöschen, auch wenn Leistungen zu unterschiedlichen Zeitpunkten erbracht wurden. Dabei ist nachvollziehbar, dass für das Erlöschen der Ersatzpflicht einheitlich auf den Monat abgestellt werden soll, für den die Leistung erbracht wird (also entsprechend der Verbescheidung). Die derzeitige Verfristungsregelung in § 34 Abs. 3 SGB II ist insoweit unbefriedigend, weil sie zu unterschiedlichen Verfristungszeitpunkten und damit zu einem erhöhten Verwaltungsaufwand führt, obwohl die Leistungen für ein und denselben Monat bewilligt wurden. Die vorgeschlagene Klarstellung bringt somit Klarheit im Sinne der Betroffenen.
Generell sollte die Anwendung des Ersatzanspruchs in § 34 SGB II nach Auffassung der BAGFW aber restriktiv gehandhabt, da er mit weitreichenden Folgen für die Leistungsberechtigten einhergeht. Insbesondere ist zu beachten, dass die nachhaltige Eingliederung in den Arbeitsmarkt und damit die Unabhängigkeit von öffentlichen Leistungen nicht durch die Geltendmachung des Ersatzanspruchs konterkariert werden darf.[2] Ebenso wird man eine Härte annehmen müssen, wenn mit der Geltendmachung aufgrund der finanziellen Situation, in der sich der an sich Ersatzpflichtige befindet, für ihn eine dauerhafte wirtschaftliche Schwächung verbunden wäre.[3] Zur Erzielung eines individuellen und sachangemessenen Ergebnisses hat der Träger im Rahmen einer Prognose abzuschätzen, inwieweit sich die Belastung durch den Ersatzanspruch auf die Situation des Betroffenen und ggf. dessen Familie auswirken wird.[4] Der Ersatzanspruch darf also nicht dazu führen, dass der Betroffene in seiner Fähigkeit, am Leben der Gemeinschaft teilzunehmen unzumutbar eingeschränkt wird. Vielmehr kommt seine Geltendmachung grundsätzlich erst dann in Betracht kommen, wenn ein Ende des Leistungsbezugs absehbar ist.[5] Aufgenommen werden sollte auch eine Konkretisierung, in welchen Fällen kein Sachverhalt nach § 34 SGB II vorliegt.
Nr. 66: Ersatzanspruch auch bei erhöhen, aufrecht erhalten und nicht
verringern der Hilfebedürftigkeit (§ 34 SGB II)
Kurzbeschreibung:
„ln § 34 SGB II ist allgemein von "herbeiführen" der Hilfebedürftigkeit die Rede. Strittig ist, ob auch in Fällen der Erhöhung, des aufrecht Erhaltens und der nicht erfolgten Verringerung ein Ersatzanspruch besteht. Es soll klar gestellt werden, dass auch in diesen Fällen Ersatzansprüche bestehen können.“
Bewertung:
§ 34 SGB II regelt die Ersatzansprüche des Leistungsträgers bei sozialwidrigem Verhalten. Es handelt sich dabei um einen eng auszulegenden Ausnahmetatbestand. Das konkret vorgeworfene Verhalten muss nach den Wertungen des SGB II sozialwidrig sein. Die Bund-Länder-AG möchte die Vorschrift auch auf den Fall der Erhöhung der Hilfebedürftigkeit anwenden, z. B. bei nicht zweckentsprechender Verwendung der Leistungen für Unterkunft und Heizung (KdU) und mit Mietrückständen aufgerechnetem Guthaben aus der Jahresabrechnung. Besonders bei der zweiten Fallkonstellation kommt es entscheidend darauf an, wer das Guthaben aufgerechnet hat, da es sich um eine weit verbreitete Praxis von Vermietern handelt, auf die die Leistungsberechtigten oftmals keinen Einfluss haben. Im Einzelfall kann es bei dem Nachweis, ob die Erhöhung der Hilfebedürftigkeit kausal verursacht wurde, zu Schwierigkeiten kommen. Es stellt sich somit die Frage, ob mit der angedachten Klarstellung durch die Wörter „Erhöhung“, aufrecht Erhalten“ und „nicht erfolgte Verringerung“ nicht neue unbestimmte Rechtsbegriffe und damit zusätzliche Unschärfen geschaffen werden.
Zielführender wäre es, es bei dem allgemeineren Begriff „herbeiführen“ zu belassen und stattdessen sicherzustellen, dass die Jobcenter den Sachverhalt genau prüfen, bevor sie den Regressanspruch geltend machen. Von der Geltendmachung des Ersatzanspruchs sollte insbesondere in Fällen, in denen die Ursache für das Verhalten des Hilfebedürftigen beim Jobcenter liegt (z. B. weil die Zahlungen nicht rechtzeitig erfolgt sind oder die Miete zum Ausgleich von Stromschulden benutzt wurde, die das Jobcenter nicht übernommen hat, obwohl es dazu verpflichtet gewesen wäre), abgesehen werden.
Nr. 67: Redaktionelle Anpassung der Überschrift des § 34a SGB II sowie sprachliche Anpassung in Abs. 1
Kurzbeschreibung:
„Lediglich redaktionelle Anpassung; einheitliche Begriffsverwendung: "erbracht" statt "erhalten". Zudem wird Abs. 1 sprachlich an § 34 Abs. 1 angepasst.“
Bewertung:
Aus Sicht der BAGFW bestehen keine Einwände gegen diese Änderung. Die bisherige Überschrift lautet „Ersatzansprüche für rechtswidrig erhaltene Leistungen“. Im Gesetzesinhalt selber ist dagegen von „erbrachten“ Leistungen die Rede. Eine Anpassung der Überschrift an den Inhalt des Gesetzes trägt zu dessen Klarheit bei.
Nr. 69: Änderung auf Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft - § 34b SGB II
Kurzbeschreibung:
„ln der Norm sind Ersatzansprüche, z. B. gegen die Träger der Rentenversicherung bei rückwirkender Rentenbewilligung, geregelt. Derzeit sind jedoch nicht alle Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft erwähnt, dafür aber Kinder unter 25 Jahren, selbst wenn diese nicht zur Bedarfsgemeinschaft gehören. Damit besteht eine Abweichung zu den Vorschriften über die Anrechnung von Einkommen.
Künftig soll sich der Ersatzanspruch auf die Leistungen der gesamten Bedarfsgemeinschaft erstrecken.“
Bewertung:
§ 34b SGB II regelt den Aufwendungsersatzanspruch der Leistungsträger gegenüber einem dem Leistungsberechtigten vorrangig verpflichteten Leistungsträger. Der Ersatzanspruch erstreckt sich auch auf alle Aufwendungen, die an den nicht getrennt lebenden Ehegatten oder Lebenspartner sowie dessen unverheiratete Kinder, die das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, erbracht wurden. Bisher bezieht sich der Ersatzanspruch nicht auf alle Personen der Bedarfsgemeinschaft, z. B. solche, die mit dem Leistungsberechtigten in einer Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft (§ 7 Abs. 3 Nr. 3.c) i. V. m. Abs. 3a SGB II) leben. Die Einbeziehung dieses Personenkreises hält die BAGFW für konsequent. Eines expliziten Herausstellens der Kinder unter 25 Jahren bedarf es in diesem Fall nicht mehr, denn es könnte sein, dass diese z. B. mit Genehmigung des Jobcenters ausgezogen oder mit ihrem Kind eine eigene Bedarfsgemeinschaft bilden und nicht mehr Teil der Verantwortungs- und Einstandsgemeinschaft sind.
Nr. 70: Einführung eines Herausgabeanspruchs bei Doppelleistungen (§ 34c SGB II neu)
Kurzbeschreibung:
„Die Leistungen des SGB II werden gegenüber anderen Sozialleistungen nachrangig gewährt. Bei einem Anspruch auf vorrangige Sozialleistungen wird der Nachrang des SGB II in der Regel über das Erstattungsverfahren nach §§ 102 ff. SGB X hergestellt. Sofern jedoch die leistungsberechtigte Person die Antragstellung bei einem anderen Leistungsträger dem Jobcenter nicht mitteilt, kann dieses keinen Erstattungsanspruch anmelden und die Leistung des vorrangigen Trägers wird mit befreiender Wirkung an die leistungsberechtigte Person erbracht. Damit entfällt ein Rückgriff auf den vorrangig verpflichteten Leistungsträger. Eine rückwirkende Anrechnung als Einkommen widerspricht dem im SGB II geltenden Zuflussprinzip.
Durch die Einführung eines Herausgabeanspruchs wird ein Anspruch gegen die leistungsberechtigte Person bei Doppelleistung geschaffen.“
Zusammenfassung aus Sicht der BAGFW:
Wurden während des Bezugs von SGB II-Leistungen darüber hinaus Leistungen anderer Träger von Sozialleistungen bezogen, die vorrangig sind, ohne dass das Jobcenter hiervon Kenntnis erlangt hat, müssen die Leistungsberechtigten die vom Jobcenter zu viel gezahlten Beträge zurückzahlen.
Bewertung:
Nach Ansicht der BAGFW drohen mit der Einführung eines solchen Herausgabeanspruchs auch bei Unkenntnis oder komplexer Rechtslage Abzüge vom Existenzminimum. Sinnvoller wäre es, die Pflicht zum Antrag vorrangiger Sozialleistungen und die anschließende Verrechnung mit dem Jobcenter durch einheitliche Regelungen zur Sicherung des Existenzminimums zu beenden, die den bisher kombinierten Bezug unterschiedlicher Leistungen betreffen, wie z. B. Kindergeld, Elterngeld, Betreuungsgeld und Grundsicherungsleistungen.
Derzeit gehen Irrtümer und die fehlerhafte Kombination von an sich unvereinbaren Leistungen zulasten der Leistungsberechtigten, die die Anträge zu stellen haben. Gerade im Sinne einer Rechtsvereinfachung erscheint es sinnvoller und zielführender, eine entsprechende Klärung und Verrechnung zwischen den Leistungsträgern herbeizuführen. Anders als die Leistungsberechtigten treffen die Sozialleistungsträger Auskunfts- und Beratungspflichten und sie sollten auf eine unverzügliche, klare und vollständige Antragstellung beim zuständigen Leistungsträger hinwirken. Idealerweise sollten nur Leistungen zur Auszahlung gelangen, für die schon im Vorgriff entsprechende Verrechnungen vorgenommen wurden.
Für die Leistungsempfänger ist es ungleich schwieriger als für die Leistungsträger, Zahlungen, die aufgrund eines zuvor gestellten Antrages bei ihnen eingehen, als korrekt oder fehlerhaft zuzuordnen. Die Erstattungsregelung erlegt ihnen gleichwohl das Risiko für die korrekte Behandlung solcher Zuflüsse auf. Insbesondere gilt dies für Leistungen des SGB II-Leistungsträgers, die dieser trotz vorrangiger Leistungsverpflichtungen anderer Leistungsträger erbracht hat und für die der Leistungsträger einen Erstattungsanspruch gegen den anderen Leistungsträger hat. Insbesondere wenn dieser Fehler erst einige Zeit nach dem Geldzufluss auffällt und per Ersatzanspruch korrigiert wird, kann die Rückforderung der Leistung durch den Grundsicherungsträger zu einer Unterdeckung des Existenzminimums führen, wenn diese bereits im Vertrauen auf die Rechtmäßigkeit ausgegeben wurde. Solche Fehler müssen die verantwortlichen Leistungsträger unter einander ausgleichen bzw. selbst haften. Für die BAGFW ist die Einführung eines Herausgabeanspruchs somit nur denkbar, wenn sichergestellt ist, dass das Existenzminimum (etwa bei Aufrechnung von Leistungen) gewahrt bleibt.
Sofern die Leistungsberechtigten den Bezug von weiteren Sozialleistungen nicht angeben, erscheint die Einführung eines Erstattungsanspruchs sinnvoll, wenn die doppelte Leistung weder über eine Einkommensanrechnung noch über die im SGB II bereits existierenden Erstattungsansprüche herausverlangt werden kann. Sicherzustellen bleibt, dass nicht Sachverhalte von der Regelung mit erfasst werden, in denen die Jobcenter rechtzeitig Kenntnis von dem Erhalt dieser Leistungen hatten, aber selber nicht rechtzeitig einen Erstattungsanspruch geltend gemacht haben.
Nr. 75: Einführung eines eigenständigen Tatbestandes zur vorläufigen
Leistungsgewährung in das SGB II
Kurzbeschreibung:
„Aktuell ist in der Arbeitslosengeld II/Sozialgeld-Verordnung eine Regelung zur vorläufigen Leistungsgewährung für Leistungsfälle mit schwankendem Einkommen enthalten (§ 2 Abs. 3 Satz 3). Die Anwendung des § 328 SGB III ist durch den Verweis in § 40 Abs. 2 Nr. 1 SGB II möglich. Diese Regelungen bereiten den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Jobcentern nach Feststellungen des Bundesrechnungshofs erhebliche Schwierigkeiten. ln das SGB II soll daher ein eigenständiger Tatbestand zur vorläufigen Leistungsgewährung mit Regelfallkonstellationen eingefügt werden.“
Bewertung:
Diese Neuregelung ist ohne konkreten Gesetzesänderungstext kaum sinnvoll zu bewerten. Sofern der Vorschlag in Richtung eines gebundenen Ermessens geht, wird er begrüßt, da eine gebundene Entscheidung die Möglichkeit einer vorläufigen Sicherstellung des Lebensunterhalts im Interesse der Antragsteller deutlich verbessert. Diese Ermessensentscheidung, die nach geltender Gesetzeslage bei einer vorläufigen Entscheidung zu treffen ist, ist verwaltungsaufwändig und damit fehleranfällig. Das gilt insbesondere dann, wenn unklar ist, ob bei ablehnender Entscheidung realistische Aussichten bestehen, die vorläufig gewährten Leistungen zurückzuerhalten. Andererseits ist in der Praxis der Bedarf an sofortiger vorläufiger Gewährung von Arbeitslosengeld II oftmals sehr hoch. Viele Menschen beantragen erst dann diese Leistungen, wenn sie keine finanziellen Reserven mehr haben. Eine gebundene Entscheidung wird den Bedürfnissen der Rechtspraxis daher besser gerecht.
Nr. 76: Anwendung des § 330 SGB III (Verweis in § 40 Abs. 2 Nr. 2 SGB II),
bereits dann, wenn eine Norm durch ständige Rechtsprechung
abweichend von der Verwaltungspraxis der einzelnen Leistungsträger ausgelegt wird
Kurzbeschreibung:
„Die Regelung dient dem Zweck zu verhindern, dass die Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach einer von ihrer bisherigen Rechtsauslegung abweichenden höchstrichterlichen Rechtsprechung massenhaft Leistungen rückwirkend neu berechnen müssen. Der Anwendungsbereich dieser Vorschrift wurde durch zwei Entscheidungen des Bundessozialgerichts erheblich eingeschränkt. Ein Jobcenter kann sich daher derzeit nur dann auf diese Vorschrift berufen, wenn es vor der höchstrichterlichen Rechtsprechung eine bundeseinheitliche abweichende Verwaltungspraxis aller Leistungsträger (BA, örtlicher kommunaler Träger und zugelassener kommunaler Träger) gegeben hat.
Künftig soll es allein auf die Einheitlichkeit der Verwaltungspraxis im Zuständigkeitsbereich des für die jeweilige Leistungsart zuständigen Trägers (Bundesagentur für Arbeit, kommunaler Träger oder zugelassener kommunaler Träger) ankommen.“
Zusammenfassung des Sachverhaltes aus Sicht der BAGFW:
Eine Korrektur von rechtswidrigen Verwaltungsakten für vergangen Zeiträume wird zukünftig erschwert. Werden Verwaltungsakte durch höchstrichterliche Rechtsprechung für nichtig erklärt, soll es im Bereich eines Jobcenters keine rückwirkende Korrektur dieses Fehlers durch Anspruch auf Erstattung von zuvor zu niedrig angesetzten Leistungen für die Zeit vor dieser Entscheidung geben, wenn z.B. dieses Jobcenter für die Vergangenheit eine einheitliche Verwaltungspraxis nachweisen kann. Die Fehlerkorrektur wirkt in diesem Fall nur für die Zukunft.
Bewertung:
Nach Einschätzung der BAGFW soll mit diesem Vorschlag die bestehende BSG-Rechtsprechung umgangen werden.
Dass ein Verwaltungsakt künftig nur noch für die Zukunft (nach der Entscheidung des BVerfG oder dem Bestehen der ständigen Rechtsprechung) zurückzunehmen ist, wenn allein der jeweilige Leistungsträger eine einheitliche Verwaltungspraxis für die Vergangenheit nachweisen kann, bedeutet eine deutliche Verschlechterung der Rechtsstellung der Leistungsberechtigten. Demgegenüber senkt die vorgeschlagene Neuregelung die Hürden für die eingeschränkte Richtigstellung deutlich ab. Es kommt nicht mehr auf eine einheitliche Verwaltungspraxis von BA und Kommunen an. Vielmehr reicht es aus, dass je nach Sachzusammenhang entweder die BA oder die Kommunen diesbezüglich eine einheitliche Verwaltungspraxis entwickelt haben. Gelingt dem Leistungsträger der Nachweis, muss der Verwaltungsakt nur für den Zeitpunkt nach der maßgeblichen Rechtsprechung zurückgenommen werden. Gelingt ihm das nicht, sind Leistungen für einen Zeitraum von einem Jahr vor der Rücknahme des Verwaltungsaktes zu leisten.
Wenn rechtswidrige Formen der Leistungsgewährung bei gerichtlicher Klärung nicht ausgeglichen werden, hat die Rechtsprechung keine korrigierende Funktion für die rechtswidrige Praxis; in diesem Fall bleibt es für die Vergangenheit bei der Rüge und der Feststellung unrechtmäßigen Verwaltungshandelns. Eine rückwirkende Wiederherstellung des rechtmäßigen Zustands unterbleibt hingegen – ungeachtet der Folgen, die eine Unterdeckung des Existenzminiums für die betroffenen Leistungsberechtigten gehabt haben mag. Die verweigerte rückwirkende Korrektur ist um so problematischer als es den Betroffenen damit auch unmöglich ist, Schulden zu begleichen, die durch die Unterdeckung des Existenzminimums bis zur Richtigstellung der Leistungsbescheide möglicherweise eingetreten sind und die sich auch nicht ohne Weiteres aus den später korrekt zufließenden Leistungen begleichen lassen.
Die im SGB II geltende Sonderregelung zur Aufhebung von Verwaltungsakten (§§ 40 Abs. 2 Satz 2 SGB II i. V. m 330 Abs. 1 SGB III) wird insgesamt für bedenklich erachtet. Generell gilt im Sozialrecht, dass rechtswidrige Verwaltungsakte auch für die Vergangenheit zurückgenommen werden können, in der Regel für 4 Jahre (§ 44 Abs. 4 S. 1 SGB X). Im Bereich des SGB II wurde dieser Zeitraum zuletzt auf ein Jahr eingeschränkt (§ 40 Abs.1 Satz 2 SGB II). Eine weitergehende Begrenzung auf die Zeit nach einer geänderten Rechtsprechung wird nicht für gerechtfertigt erachtet, da damit teilweise versucht wird, die Rechtsprechung des BSG zurückzunehmen. Die Sonderregelung (§ 330 Abs. 1 SGB III) gilt überdies nur im SGB II und SGB III, im Sozialhilferecht indes nicht. Es ist nicht nachvollziehbar, warum Grundsicherungsempfänger schlechter gestellt werden sollen als Sozialhilfeempfänger.
Auch die Signalwirkung einer solchen Regelung ist mehr als bedenklich.
Nr. 77: Einführung einer Kleinbetragsgrenze für Erstattungsforderungen im SGB II
Kurzbeschreibung:
„Bei den Leistungen nach dem SGB II handelt es sich um lndividualansprüche, die dem einzelnen Hilfebedürftigen bei Anspruchsberechtigung gewährt werden. Das Rückforderungsverwaltungsverfahren, z. B. aufgrund der Erzielung von Einkommen, ist aufwändig, weil die Rückforderungen auf die einzelnen Bedarfsgemeinschaftsmitglieder, die Rückforderungszeiträume und die Art der Leistungen mit jeweiliger Trägerschaft personengenau aufzuschlüsseln sind. Darüber hinaus entsteht ein Folgeaufwand bei der Einziehung und möglichen Vollstreckung der Forderungen. Insbesondere bei geringen Überzahlungen führt das aufwändige Verwaltungsverfahren zu einem Missverhältnis im Vergleich zum Forderungsvolumen und bindet erhebliche Mitarbeiterkapazitäten. Es wird daher geprüft, ob und bis zu welcher Höhe von der Geltendmachung einer Forderung abgesehen werden kann; aktuell gelten 7 Euro nach den Bestimmungen der Bundeshaushaltsordnung.“
Zusammenfassung aus Sicht der BAGFW:
Eingeführt wird eine Bagatellgrenze von bezüglich der Erstattung von durch das Jobcenter erfolgten Überzahlungen, da in diesen Fällen Kosten und Ertrag in keinem Zusammenhang stehen und es meist um Kleinstbeträge geht.
Bewertung:
Die Einführung einer Bagatellgrenze wird von der BAGFW begrüßt. Der Erlass eines Aufhebungs- und Erstattungsbescheids ist für die Sachbearbeiter bei den Jobcentern sehr verwaltungsaufwändig. Wenn gegen den Bescheid Widerspruch erhoben und danach Klage eingereicht wird und es sich nur um einen Bagatellbetrag handelt, stehen die damit verursachten Kosten in keinem Verhältnis. Die Einführung einer Bagatellgrenze für Überzahlungen würde sich nicht nur positiv auf die Leistungsbeziehenden auswirken, sondern auch zu einer Entlastung der Jobcenter-Mitarbeitenden und der Gerichte führen.
Nr. 80: Aufrechnung modifizieren (einzelfallbezogen); Erledigung der
vorherigen Aufrechnungserklärungen streichen - § 43 SGB II
Kurzbeschreibung:
„Kommt zu einer laufenden Aufrechnung eine weitere Aufrechnung hinzu, durch die der Aufrechnungsbetrag über 30% liegen würde, erledigt sich die bisherige laufende Aufrechnung.
Die Regelung hat sich nicht bewährt, da die "alte" Aufrechnung nach Erledigung der "neuen" Aufrechnung wieder aufzunehmen ist. Künftig sollen daher die laufenden, älteren Aufrechnungen auch dann fortgeführt werden, wenn eine neue Aufrechnungserklärung dazukommt. Die Höhe aller Aufrechnungen bleibt auf einen Betrag von 30% begrenzt.“
Bewertung:
Die neue Regelung wird von der BAGFW grundsätzlich begrüßt, da durch sie die Tilgung der bestehenden Forderungen in höherem Maße transparent und nachvollziehbar ist. Nach der bisher geltenden Regelung darf monatlich höchstens bis zu einem Betrag in Höhe von insgesamt 30 Prozent des maßgebenden Regelbedarfs aufgerechnet werden (§ 43 Abs. 2 Satz 2 SGB II). Wird eine weitere Aufrechnung erklärt, die im Ergebnis dazu führen würde, dass ein höherer Betrag als 30 Prozent des maßgebenden Regelbedarfs aufzurechnen wäre, so erledigen sich die vorangegangenen Aufrechnungen. Sind mehrere Aufrechnungen vorangegangen, die zu einem höheren Aufrechnungsbetrag als 30 Prozent des maßgebenden Regelbedarfs führen würden, so erledigt sich zunächst der letzte Aufrechnungsverwaltungsakt, sodann ggf. der zeitlich zuvor angeordnete usw. Diese Vorgehensweise sorgt sowohl bei den zuständigen Sachbearbeitern der Jobcenter als auch bei den betroffenen Leistungsberechtigten oftmals für Verwirrung, da nicht immer allen Beteiligten klar ist, welche Forderungen gerade gegeneinander aufgerechnet werden und welche Forderungen noch offen bleiben. Nach Ansicht der BAGFW sollten die Forderungen zeitlich chronologisch nach ihrem Entstehen, beginnend mit der ältesten Forderung, abgearbeitet werden.
Die Leistungsempfänger sollten zumindest einmal jährlich einen Überblick über den tatsächlich ausgezahlten Betrag erhalten, einschließlich einer Information über bestehende Aufrechnungen, Darlehnsforderungen und Sanktionen, die in Abzug gebracht werden.
Es ist ferner zu gewährleisten, dass die Aufrechnungsforderungen der Jobcenter, die an die Regionaldirektionen als Inkasso abgegeben werden (und dort ggf. zu einzelvereinbarten Ratenzahlungen führen) mit in die Begrenzungsregelung einbezogen werden.
Nr. 81: Durchsetzung des Erstattungsanspruchs nach § 50 Abs. 2 SGB X durch Rücküberweisung durch das Bankinstitut, wenn ein Leistungsberech- tigter verstirbt.
Kurzbeschreibung:
„Mit Tod eines Leistungsberechtigten erledigt sich dessen Bewilligungsbescheid auf sog. andere Weise (§ 39 Abs. 2 SGB X). Die Leistungen, die nach dem Tod des Leistungsberechtigten gezahlt wurden, sind dann ohne Rechtsgrund erbracht und nach § 50 Abs. 2 SGB X von den Erben zu erstatten.
Die aufwändige Durchsetzung des Erstattungsanspruchs (Erbenermittlung, Bescheiderteilung) soll durch eine Regelung vermieden werden, durch die das Bankinstitut in die Lage versetzt wird, die nach dem Tod des Leistungsberechtigten eingegangenen Leistungen dem Jobcenter zurückzuerstatten (Anwendung des § 118 Abs. 3 bis 4a SGB VI).“
Zusammenfassung aus Sicht der BAGFW:
Der Neuregelung zufolge sind Beträge, die nach dem Tod einer leistungsberechtigten Person eingingen, zurück zu erstatten.
Bewertung:
Die BAGFW hat grundsätzlich keine Einwände gegen die Einführung einer Regelung zur Durchsetzung des Erstattungsanspruchs im Todesfall. Eine Regelung, nach der Geldinstitute verpflichtet sind, zu Unrecht erhaltenen Überweisungen zurück zu überweisen, existiert bisher nur in § 118 Abs. 3 Satz 2 SGB VI. Der Leistungsträger ist auch berechtigt, die Leistungen zurückzufordern, da die Überweisung mit den Tod des Leistungsberechtigten im Grunde ins Leere geht. Durch diese Möglichkeit werden auch die Erben des Verstorbenen entlastet, da diese sich dann nicht mehr mit den Erstattungsforderungen des Jobcenters auseinander setzen müssen.
Probleme können sich jedoch im Zusammenhang mit den fortlaufenden Kosten ergeben, wie z. B. den Kosten der Unterkunft.
Nr. 83: Vorauszahlungen von Leistungen mit Verrechnung im Folgemonat
Kurzbeschreibung:
„ln der Praxis der Jobcenter sprechen Leistungsberechtigte zuweilen vor Monatsende hilfesuchend bei den Jobcentern vor, weil ein kurzfristiger finanzieller Engpass vorliegt und die Leistungen bereits aufgebraucht sind. ln diesem Fall besteht nur die Möglichkeit einer Darlehensgewährung nach § 24 Absatz 1 SGB II, was im Einzelfall sehr verwaltungsaufwändig ist. Vor diesem Hintergrund soll eine „Abschlagszahlung" auf den zum nächsten Monatsanfang fällig werdenden Anspruch ermöglicht werden. Es sind auch ergänzende Regelungen für eine "Verrechnung" der Vorleistung im Folgemonat erforderlich. Der Höhe nach soll die Vorauszahlung auf 30% des Regelbedarfs begrenzt sein, damit der Lebensunterhalt im kommenden Monat mit der verbleibenden Leistung noch bestritten werden kann. Bei laufenden Sanktionen oder Aufrechnungen ist die vorzeitige Auszahlung ausgeschlossen, weil in diesem Fall der Lebensunterhalt im kommenden Monat nicht gesichert wäre.“
Zusammenfassung aus Sicht der BAGFW:
Eingeführt werden soll eine Vorauszahlungsmöglichkeit für kommende Leistungen. Noch offen bleibt jedoch, welche Einzelheiten die Neuregelung beinhalten wird.
Bewertung:
Der Vorschlag zur Schaffung einer gesetzlichen Grundlage für Vorauszahlungen wird begrüßt. Zahlreihe Engpässe entstehen dadurch, dass der Regelbedarf im SGB II nicht ausreichend ist. Derzeit gibt es keine Rechtsgrundlage, die es dem Träger der Grundsicherung erlaubt, „Abschlagszahlungen“ zu erbringen. Es gibt lediglich die Möglichkeit, Vorschüsse zu zahlen, wenn ein Anspruch auf Geldleistungen dem Grunde nach besteht und zur Feststellung seiner Höhe voraussichtlich längere Zeit erforderlich ist (§ 42 SGB I).
Um Bedarfe, die frühzeitig entstehen, zu decken, ist es im Rahmen des SGB II bisher nur möglich, Darlehen zu gewähren. Dafür muss jedoch ein Darlehensvertrag vereinbart werden, was aufgrund des damit verbundenen Verwaltungsaufwandes oftmals unterbleibt. Allerdings erfolgt bei Darlehen grundsätzlich nur eine Aufrechnung in Höhe von 10 Prozent des maßgebenden Regelbedarfs.
Nach der neuen Regelung erfolgt hingegen bei Inanspruchnahme eines Vorschusses eine vollständige Verrechnung mit den Leistungen des Folgemonats, d.h. die Leistungen werden bis zu 30 Prozent gekürzt.
Die Vorschussregelung sollte so ausgestaltet werden, dass der Leistungsberechtigte zwischen der Inanspruchnahme eines Vorschlusses (mit einer vollständigen Tilgung im Folgemonat) oder eines Darlehens (mit einer ratenweisen Tilgung) wählen kann.
Nr. 84: Verlängerung des Bewilligungszeitraums (mit Öffnungsklausel
Verkürzung) – § 42 SGB II
Kurzbeschreibung:
„Arbeitslosengeld II wird in der Regel für sechs Monate bewilligt, im Ausnahmefall für zwölf. Das Verfahren zur Weiterbewilligung von Arbeitslosengeld II ist kostenintensiv und bindet Personalressourcen zur Bearbeitung, auch wenn überwiegend keine oder kaum neue leistungsrechtlich relevante Änderungen eintreten.
Das Regel-/Ausnahmeverhältnis soll umgekehrt werden. Künftig sollen Leistungen in der Regel für zwölf Monate bewilligt werden, im Ausnahmefall für einen kürzeren Zeitraum. Dadurch kann der Verwaltungsaufwand in erheblichem Umfang gemindert werden. Die Leistungsberechtigten sind ohnehin verpflichtet, eintretende Änderungen, die leistungsrechtlich relevant sind, dem Jobcenter mitzuteilen, was regelmäßig auch geschieht. Gewonnene Kapazitäten können für eine ggf. erforderliche Prüfung eingesetzt werden, ob in Einzelfällen die Anspruchsvoraussetzungen noch weiterhin vorliegen.“
Bewertung:
Die Verlängerung des Bewilligungszeitraums auf zwölf Monate wird grundsätzlich begrüßt. In Fällen gleichbleibender Voraussetzungen für den Leistungsbezug stellt die Änderung eine Reduktion eines unnötigen Verwaltungsaufwandes, der für Träger der Grundsicherung wie für Leistungsberechtigte selbst negativ wirkt. Für Personen mit stark schwankendem Einkommen stellt die Verlängerung allerdings dann ein großes Problem dar, wenn sie erst am Ende des Bewilligungszeitraums einen Ausgleich erhalten. Es kann vorkommen, dass Jobcenter ihren Berechnungen das mögliche Maximaleinkommen pro Monat als Regelfall zugrunde legen. Dadurch können große Unterdeckungen entstehen. Ebenso ist darauf zu achten, dass die Einkommensanrechnung bei einer Lohnerhöhung im Bewilligungszeitraum entsprechend angepasst wird, damit die Leistungsberechtigten nach Ablauf des Bewilligungszeitraums nicht mit erheblichen Rückforderungen konfrontiert werden. Gerade bei Selbständigen und andere Erwerbstätige mit monatlich schwankendem Einkommen muss in ihrem Interesse sichergestellt werden, dass nach einem Jahr weder eine zu hohe Rückzahlungsforderung an die Leistungsberechtigten ergeht, noch dass die vorläufige Einkommensanrechnung zu hoch ausfällt. Dies könnte in Form einer ergänzenden Regelung erfolgen, nach der die Betroffenen in dem Monat, in dem sie eine Unterdeckung bzw. eine Lohnerhöhung haben, eine Nachberechnung und Anpassung der Einkommensanrechnung beantragen können.
Die BAGFW regt an, bei monatlich schwankenden Einkommen grundsätzlich immer von der Möglichkeit der vorläufigen Leistungsbewilligung unter Anrechnung eines monatlichen Durchschnittseinkommens (§ 2 Alg II-VO) Gebrauch zu machen. Wenn bei der abschließenden Entscheidung das tatsächliche monatliche Durchschnittseinkommen das bei der vorläufigen Entscheidung zu Grunde gelegte monatliche Durchschnittseinkommen um nicht mehr als 20 Euro übersteigt, kann dann von einer erneuten Berechnung abgesehen werden. Dies trägt auch zu einer erheblichen Verwaltungsentlastung bei.
Nr. 86: Ausschluss der Pfändbarkeit und Übertragbarkeit von Ansprüchen nach dem SGB II
Kurzbeschreibung:
„Nach derzeitiger Rechtslage sind Ansprüche auf laufende Geldleistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II - anders als Ansprüche nach dem SGB XII oder dem Wohngeldgesetz- gemäߧ 54 Abs. 4 SGB I wie Arbeitseinkommen pfändbar (§§ 850c ff Zivilprozessordnung - ZPO). Das überzeugt nicht. Zum einen ist es schwer nachvollziehbar, wieso der Pfändungsschutz nicht für das Arbeitslosengeld II gelten soll, zum Anderen ist die Entscheidung über Pfändungsbeschlüsse verwaltungsaufwändig, obwohl sich in aller Regel keine pfändbaren Beträge ergeben.
Eine gesetzliche Regelung, wonach das Arbeitslosengeld II/Sozialgeld unpfändbar ist, erleichtert die Entscheidung und dürfte auch Gläubiger davon abhalten, einen Pfändungsbeschluss zu erwirken.“
Bewertung:
Die Neuregelung wird von der BAGFW begrüßt. Empfänger von Leistungen nach dem SGB II sind besonders schutzwürdig, da sie bereits am Existenzminimum leben. Im Rahmen der Sozialhilfe ist eine Übertragung und Pfändung von Leistungen ausgeschlossen (§ 17 Abs. 1 Satz 2 SGB XII).
SGB II-Ansprüche können hingegen grundsätzlich, insbesondere beim Überschreiten der Pfändungsfreigrenzen (§ 850c ZPO), gepfändet werden (vgl. § 54 Abs. 4 SGB I). Auch eine Übertragung ist aktuell noch möglich (vgl. § 53 Abs. 2 SGB I). Es ist nicht nachvollziehbar, warum Empfänger von Arbeitslosengeld II und von Sozialhilfe im Hinblick auf den Pfändungsschutz bisher unterschiedlich behandelt worden sind.
Ergänzend müsste geregelt werden, dass § 53 Abs. 2 SGB I weiter wirksam bleibt und so „Nothelfer“ ihre Vorleistung weiter durch eine wirksame Abtretung von SGB II Leistungen vom Jobcenter erstattet bekommen können.
Sicher gestellt werden muss in jedem Fall auch, dass auch Geldinstitute, bei denen die Leistungsberechtigten ein Girokonto mit negativem Saldo laufen haben, keine Aufrechnung ihrer Forderung mit SGB II-Leistungen vornehmen (z. B. Leistungsberechtigte hat ein Minus von 3.000,- Euro auf dem Konto und bekommt Leistungen, die direkt verrechnet werden und so über mehrere Monate gegen Null gehen). Solange die Bank keinen Pfändungsbeschluss vorweist, sondern aufrechnet, reicht der übliche Pfändungsschutz möglicherweise nicht aus.
In Fällen, die aufgrund von eigenem Erwerbseinkommen über den SGB-II-Leistungsbezug hinausgehen und in denen bisher das bereinigte Nettoeinkommen Grundlage des Pfändungsschutzes ist, darf es zu keiner Rechtsverschlechterung kommen.
Unklar bleibt, wie in diesem Zusammenhang mit der de facto Unterhaltsverpflichtung von Stiefvätern/müttern umgegangen werden soll, die nach dem BGB nicht zum Unterhalt verpflichtet sind. Es kann in solchen Fällen dazu kommen, dass zwar die ausbezahlte SGB II-Leistung zukünftig vor Pfändung schützt, nicht aber das Gehalt des Stiefvaters bzw. der Stiefmutter, das in die Bedarfsgemeinschaft eingebracht wird und zu einem ergänzenden Leistungsbezug der Bedarfsgemeinschaft führt, denn in diesen Fällen gibt es keinen Pfändungsschutz, da es auch keinen einklagbaren Unterhaltsanspruch gibt, sondern nur die Unterhaltsvermutung des Jobcenters, die zum Konstrukt der Bedarfsgemeinschaft führt. Hier gibt es einen Widerspruch zwischen zwei Rechtskreisen.
Gleiches trifft auf Eltern nicht unterhaltsberechtigter Kinder zwischen 18 und 25 Jahren zu. Es bleibt offen, wie hier die Regelung des § 9 Abs. 2 Satz 3 (Bedürftigkeit) im Verhältnis zu den Regelungen des BGB und der ZPO angewandt werden soll.
Nr. 87: Aussetzung der Aufrechnung (§ 43 SGB II) bei Sanktionen
Kurzbeschreibung:
„Wird während des Minderungszeitraumes aufgrund einer Pflichtverletzung gleichzeitig gegen Ansprüche von Leistungsberechtigten aufgerechnet, kann es zu einer Absenkung des Arbeitslosengeldes II von mehr als 30% des maßgeblichen Regelbedarfs kommen. Die aktuelle Rechtslage regelt dieses Zusammentreffen von Sanktion und Aufrechnung nicht, insbesondere sind auch keine ergänzenden Sachleistungen möglich, die bei einer Minderung von mehr als 30% wegen Pflichtverletzungen erbracht werden können. Lediglich im Weisungsweg (so z. B. die BA in ihren Fachlichen Hinweisen zu § 43 SGB II) kann ein Zusammentreffen von Aufrechnung und Sanktion ausgeschlossen werden.
Es soll durch gesetzliche Regelung sichergestellt werden, dass bei einer Minderung des Leistungsanspruchs um 30% des maßgebenden Regelbedarfs eine (zusätzliche) Aufrechnung unzulässig ist.“
Zusammenfassung aus Sicht der BAGFW:
Treffen Sanktionen und Aufrechnungstatbestände aufeinander, werden während der Sanktion zukünftig keine Aufrechnungen vorgenommen, jedenfalls nicht, insoweit eine Minderung um mehr als 30% des Regelbedarfs erfolgen würde.
Bewertung:
Die Aussetzung der Aufrechnung bei Sanktionen stellt aus Sicht der BAGFW eine deutliche Verbesserung für die Leistungsbeziehenden dar. Eine Aufrechnung sollte in diesen Fällen gar nicht erfolgen, denn das Kumulieren von Sanktionstatbeständen und die Minderung des Regelsatzes um Aufrechnungen oder Darlehensraten greifen in das Existenzminimum stark ein.
Nr. 88: Aufrechnung (§ 43 SGB II) ermöglichen in Fällen, in denen eine
Nachzahlung mit einer Erstattungsforderung zusammenfällt
Kurzbeschreibung:
„Mit der Vorschrift soll ermöglicht werden, Forderungen aus Erstattungsansprüchen gegen Nachzahlungsansprüche eines Leistungsberechtigten in voller Höhe aufzurechnen, wenn die Aufhebungsentscheidung den gleichen Zeitraum betrifft, für den Leistungen noch zu erbringen sind.“
Zusammenfassung aus Sicht der BAGFW:
Entstehen Nachzahlungen, weil in der Vergangenheit Teile des Leistungsanspruchs nicht ausgezahlt wurden, kann der Träger der Grundsicherung diese direkt mit anstehenden Aufrechnungen verrechnen.
Bewertung:
Eine Aufrechnung macht nach Ansicht der BAGFW nur dann Sinn, wenn Bedarfsgemeinschaften in einem Bewilligungszeitraum sowohl Nachzahlungen für bestimmte Monate erhalten als auch Leistungen für andere Monate zu erstatten haben und somit Nachzahlungsbescheid und Erstattungsbescheid aufgrund einer geänderten Bedürftigkeit im selben Zeitraum zusammentreffen. In jedem Fall sichergestellt werden muss, dass der Bedarf des Leistungsberechtigten gedeckt war bzw. ist. Die Neuregelung muss deshalb klar auf den beschriebenen Fall beschränkt sein und darf nicht für Fälle gelten, in denen das Jobcenter Leistungen rechtswidrig nicht erbracht oder gekürzt hat und der Leistungsberechtigte aufgrund dessen Schulden hat. In diesen Fällen sind die Nachzahlungen auszubezahlen.
Die Zusammenfassung von Nachzahlung und Erstattung in einem bereinigten (also um die fällige Erstattung gekürzten Nachzahlungsbetrag) muss außerdem transparent und nachvollziehbar bleiben, sonst geht läuft der „Befriedungseffekt“ einer solchen Vereinfachung ins Leere. Maßgebend für die Frage, ob die BAGFW einem solchen Vorschlag zustimmen kann bleibt jedoch, ob sich die konkrete Gesetzesformulierung trennscharf nur auf den Fall „Nachzahlungen von SGB II-Regelbedarfen bei gleichzeitigem Bestehen von Rückforderungen mit SGB II-Regelbedarfen aufgrund einer geänderten Bedarfsprüfungs-Sachverhalte, wie etwa bei schwankenden Zuflüssen“, bezieht.
Die BAGFW regt an, bei monatlich schwankenden Einkommen grundsätzlich immer von der Möglichkeit der vorläufigen Leistungsbewilligung unter Anrechnung eines monatlichen Durchschnittseinkommens (§ 2 Alg II-VO) Gebrauch zu machen. Dadurch kann vermieden werden, dass es innerhalb eines Bewilligungszeitraum in einigen Monaten zu Nachzahlungen und in anderen Monaten zu Überzahlungen kommt.
Nr. 91: Aufrechnung (§ 43 SGB II) bei unterschiedlichen Kostenträgem
Kurzbeschreibung:
„Nach der aktuellen Rechtslage ist strittig, ob Forderungen der Träger der Grundsicherung gegen Ansprüche von Leistungsberechtigten auf Geldleistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes trägerübergreifend aufgerechnet werden können (z. B. Forderung aus überzahlten Regelbedarfen gegen Anspruche auf Bedarfe für Unterkunft und Heizung).
Durch die Änderung soll klargestellt werden, dass dies zulässig ist. Es ist somit unerheblich, in wessen Trägerschaft die geschuldete und die geforderte Geldleistung erbracht wird. Arbeitslosengeld II und Sozialgeld sind jeweils als einheitliche Leistungen zu betrachten, unabhängig davon dass einzelne Bestandteile von unterschiedlichen Trägern erbracht werden. So können Forderungen des Bundes (z. B. zu Unrecht erbrachte Regelbedarfe) gegen Ansprüche gegenüber dem kommunalen Träger (Bedarfe für Unterkunft und Heizung) aufgerechnet werden, und umgekehrt.“
Zusammenfassung aus Sicht der BAGFW:
Nach der Neuregelung soll eine Aufrechnung von Leistungen auch dann erfolgen können, wenn eine andere Kostenträgerschaft für die Leistungen oder Leistungsanteile besteht.
Bewertung:
Aktuell herrscht Unklarheit darüber, ob eine Aufrechnung mit einer Forderung, die zum Kostenkreis des Bundes gehört, mit einer Leistung, die zum Kostenkreis der Kommunen gehört (insbesondere Sozialhilfe sowie Kosten der Unterkunft und Heizung), möglich ist. Problematisch ist in diesem Zusammenhang die für eine Aufrechnung notwendige Voraussetzung der „Gegenseitigkeit“ der Forderungen (§ 387 BGB); § 395 BGB bekräftigt dieses Gegenseitigkeitserfordernis ausdrücklich bei der Aufrechnung mit Forderungen der öffentlichen Hand. Das BGB lässt die Aufrechnung gegen Forderungen öffentlich-rechtlicher Körperschaften jedoch nur zu, wenn die Leistung an dieselbe Kasse zu erfolgen hat, aus der die Forderung des Aufrechnenden zu berichtigen ist.
Der Vorschlag hat das Ziel, die Aufrechnung unabhängig von den Kostenträgereigenschaften zu ermöglichen. Zukünftig sollen, z. B. Überzahlungen aus Regelbedarfen mit Ansprüchen auf Kosten der Unterkunft und Heizung aufgerechnet werden können. Zwar besteht die Möglichkeit einer Aufrechnung ohne Gegenseitigkeit bereits in § 52 SGB I. Diese Vorschrift ist aber im Rahmen des SGB II nicht entsprechend anwendbar. Es erscheint somit prinzipiell nachvollziehbar, dass die Bund-Länder-AG wünscht, solche Aufrechnungen möglich zu machen. Allerdings würde dies ausgehend von den Grundsätzen des BGB eine Verschlechterung zu Ungunsten der Leistungsberechtigten darstellen.
Nr. 92: Erstattungsansprüche der Grundsicherungsträger bei Vorleistungen nach dem SGB II sicher stellen - Ergänzung § 44a SGB II
Kurzbeschreibung:
„Auf Grund der BSG-Rechtsprechung vom 31.10.2012 (AZ: B 13 R 11/11 Rund B 13 R 9/12 R) sind die Träger der Rentenversicherung dazu übergegangen, angemeldete Erstattungsansprüche der Jobcenter nicht mehr zu erfüllen, wenn eine Rente wegen Erwerbsminderung bzw. eine Altersrente rückwirkend zuerkannt wird. Die Rentennachzahlung wurde an den Rentenberechtigten ausgezahlt mit der Folge, dass diese Leistungen doppelt beziehen.
Das BSG hatte seine Entscheidung im Wesentlichen damit begründet, dass wegen fehlender Erwerbsfähigkeit das Arbeitslosengeld II zu Unrecht erbracht worden sein. Ein Erstattungsanspruch nach § 103 SGB X wäre nur in den Fällen des § 44a Abs. 3 Satz 1 SGB II (sog. Divergenzfälle) möglich.§ 44a Abs. 3 SGB II sollte auf die Fälle erweitert werden, in denen Leistungen der Grundsicherung erbracht worden sind, weil zum Zeitpunkt der Bewilligung keine Zweifel an der Erwerbsfähigkeit vorlagen und ein Rentenversicherungsträger dennoch zu einem späteren Zeitpunkt rückwirkend eine Rente wegen Erwerbsminderung zuerkannt hat. Zusätzlich ist der Erstattungsanspruch bei einer rückwirkenden Bewilligung einer Altersrente sicher zu stellen.“
Zusammenfassung aus Sicht der BAGFW:
Mit der Neuregelung wird ein Erstattungsanspruch gegenüber dem SGB VI-Leistungsträger eingeführt, falls eine Erwerbsfähigkeit nicht besteht.
Bewertung:
Nach Ansicht der BAGFW darf es in den Fällen, auf den die Neuregelung abzielt, zu keinen Nachteilen in der Gewährleistung des Existenzminimums an sich kommen. Daher sind genauere Umsetzungsvorschläge maßgeblich, um den Vorschlag abschließen bewerten zu können. Es wird jedoch als unerlässlich erachtet, dass während der Feststellung, ob Erwerbsfähigkeit und/oder Hilfebedürftigkeit besteht, Leistungen an die betroffene Person nahtlos erbracht werden, damit deren Existenzminimum gesichert ist. Der zugrundeliegende Gedanke, dass in diesen sog. Divergenzfällen über § 44a Abs. 3 SGB II ein Erstattungsanspruch gegenüber dem Träger der Rentenversicherung nach § 103 SGB X eröffnet werden sollte, erscheint jedoch nachvollziehbar.
Zudem kommt es regelmäßig dadurch zu Problemen, dass SGB-II-Leistungen zu Monatsanfang, Rentenleistungen aber zum Monatsende gezahlt werden. In der Übergangszeit besteht eine faktische Lücke in der Gewährleistung des Existenzminimums von einem Monat. Diese sollte im Zuge der Neuregelungen dadurch geschlossen werden, dass sowieso für den Monat, in dem am Monatsende der Rentenanspruch ausgezahlt wird, für die vorhergehenden Tage noch die SGB-II-Leistung gewährt und tageweise bemessen wird. Diese Lücken wurden bisher faktisch durch die Nicht-Zurückzahlung geschlossen. Die hier vorgeschlagene Neuregelung würde das zugrundeliegende Problem beheben und stünde im Einklang mit dem Anspruch, ansonsten einen nahtlosen Übergang sicher zu stellen. Ansonsten würde die avisierte Neuregelung in vielen Fällen zu existenzieller Not führen
Nr. 95b: Datenabgleich nach § 52 Abs. 1 Nr. 3 SGB II: Keine Weiterleitung von Daten nach § 45d Abs. 1 EStG bei Kapitalerträgen unter 10 Euro
Kurzbeschreibung:
„Derzeit werden bei o. g. Datenabgleich auch Mitteilungen über Kapitalerträge von weniger als 10 Euro weiter geleitet. Aufgrund der Bagatellgrenze nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 Alg II-V werden Kapitalerträge unter 10 Euro in der Regel nicht angerechnet.
Aus diesem Grund kann auf die Weiterleitung dieser Informationen über Kapitalerträge unter 10 Euro im Rahmen des Datenabgleichs verzichtet werden.“
Bewertung:
Der Vorschlag, bei sehr geringfügigen Kapitalerträgen auf eine Weiterleitung dieser Information im Rahmen des Datenabgleichs zu verzichten, wird begrüßt. Die Umsetzung dieses Vorschlags ist auch deswegen sinnvoll, da Kapitalerträge bis zu 10 Euro sowieso nicht angerechnet werden dürfen, weil sie unter dem Einkommensfreibetrag von 10 Euro (§ 1 Abs. 1 Nr. 1 Alg II-VO) liegen. Außerdem bindet die Überprüfung unnötig Personalressourcen, die sinnvoller anderweitig eingesetzt werden könnten.
Nr. 95f: Erhöhung der Frequenz der Datenabgleiche mit den Meldungen von Beschäftigungsverhältnissen auf einen Abgleich pro Monat
Kurzbeschreibung:
„Nach § 52 Abs. 1 SGB II ist zum 1. Januar, 1. April, 1. Juli und 1. Oktober eines jeden Jahres ein Datenabgleich durchzuführen.
Um ggf. Leistungsmissbrauch frühzeitig aufzudecken und Überzahlungen für die Zukunft zu vermeiden soll es den Trägern ermöglicht werden, die Frequenz des Abgleichs nach § 52 Abs. 1 Nr. 2 SGB II (Beschäftigungszeiten) bis zu einem Abgleich pro Monat zu erhöhen.“
Bewertung:
Eine Erhöhung der Frequenz des Datenabgleichs erachtet die BAGFW nicht für nicht notwendig. Die bisherige vierteljährliche Kontrolle scheint ausreichend zu sein, um relevante Leistungsmissbräuche festzustellen. Mit der Neuregelung würde der Turnus des Datenabgleichs schlichtweg verdreifacht. Es darf bezweifelt werden, dass eine so hohe Frequenz des automatisierten Datenabgleichs zu einer Verwaltungsvereinfachung bei den Trägern der Grundsicherung führt.
Nr. 96: Einschränkung der Anzeige- und Bescheinigungspflicht bestimmter Personenkreise bei Arbeitsunfähigkeit
Kurzbeschreibung:
„Nach § 56 Abs. 1 SGB II sind erwerbsfähige Leistungsberechtigte, die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes beantragt haben oder beziehen, verpflichtet, eine eingetretene Arbeitsunfähigkeit und deren voraussichtliche Dauer unverzüglich anzuzeigen. Innerhalb von drei Tagen nach Eintritt der Arbeitsunfähigkeit ist eine ärztliche Bescheinigung vorzulegen. Die Norm unterscheidet nicht nach Personenkreisen; so unterliegen z. B. auch Schüler nach Vollendung des 15. Lebensjahres der Bescheinigungspflicht.
Die Anzeige- und Nachweispflicht nach § 56 SGB II sollte auf Personen, für die tatsächlich Integrationsbemühungen unternommen werden sollen, beschränkt werden, also auf regulär arbeitslos gemeldete erwerbsfähige Leistungsberechtigte und erwerbsfähige Leistungsberechtigte, die weiterhin vermittlerisch betreut werden (z. B. Vermittlung in Vollzeitbeschäftigung trotz bestehender Teilzeitbeschäftigung}. Bei der Definition des von der Bescheinigungspflicht zu befreienden Personenkreises kann auf die Zumutbarkeitsregelungen des § 10 abgestellt werden.“
Zusammenfassung aus Sicht der BAGFW:
Wer keine Integrationsbemühungen in den Arbeitsmarkt zu leisten hat, wie beispielsweise. Erwerbsaufstockende, Maßnahmenteilnehmende, Schülerinnen und Schüler, muss bei Krankheit keine Arbeitsunfähigkeit mehr anzeigen.
Bewertung:
Die Einschränkung der Anzeige- und Nachweispflicht bestimmter Personengruppen bei eingetretener Arbeitsunfähigkeit wird von der BAGFW ausdrücklich begrüßt. Eine Begrenzung der Obliegenheit aus § 56 Abs. 1 SGB II auf erwerbsfähiger Leistungsberechtigte, für die Vermittlungsbemühungen unternommen werden, erscheint sinnvoll. Die mit der Neuregelung angestrebte Änderung hat sowohl eine Entlastung der Leistungsberechtigten als auch der Verwaltung und Ärzte zur Folge.
5. Sanktionen
Nr. 107 u. a: Angleichung der Sanktionsvorschriften für die Personenkreise U25/Ü25 - §31a SGB II
Kurzbeschreibung:
„Die bisher geltenden (verschärften) Sanktionsregelungen für Leistungsberechtigte, die das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, sollen aufgegeben werden. Künftig sollen für alle Bezieher von Arbeitslosengeld II einheitliche Sanktionsvorschriften gelten.“
Bewertung:
Die Aufgabe der Ungleichbehandlung hinsichtlich der Rechtsfolgen einer Pflichtverletzung allein aufgrund des Lebensalters wird von der BAGFW ausdrücklich begrüßt. Es handelt sich bei der verschärften Sanktionsregelung für unter 25-Jährige um eine massive und einschneidende Leistungseinschränkung, die bereits beim ersten Verstoß eintritt. Der Gesetzgeber begründete diese harte Sanktion bisher mit der Erforderlichkeit, bei jungen Menschen von vornherein der Langzeitarbeitslosigkeit entgegenzuwirken. Weiterhin wurde auf die Regelung des § 3 Abs. 2 SGB II verwiesen, wonach erwerbsfähige Leistungsberechtigte, die das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, unverzüglich nach Antragstellung in eine Arbeit oder Ausbildung zu vermitteln sind. Dieser staatlichen Verpflichtung stünden schärfere Sanktionen gegenüber.
Die Ungleichbehandlung der beiden Altersgruppen stößt vor dem Hintergrund des Gleichbehandlungsgebots auf verfassungsrechtliche Bedenken: Es ist zweifelhaft, ob die vom Gesetzgeber angeführten Gründe ausreichen, diese Altersgruppe schlechter zu stellen als die über 25-Jährigen. Gewichtige Unterschiede zwischen den Normadressaten, welche die verschieden schweren Eingriffe in das verfassungsrechtlich verbürgte Existenzminimum rechtfertigen könnten, sind nicht ersichtlich. Beide Gruppen unterscheiden sich allein nach dem Lebensalter, sind überdies jedoch hinsichtlich sozialer und persönlicher Merkmale (wie Familienstand, Bildungsniveau, Befähigungen) heterogen. Junge Menschen, die über 18, aber unter 25 Jahre alt sind, sind genauso „erwachsen“ wie über 25-Jährige. In keinem anderen Sozialgesetzbuch ist die Gruppe der unter 25-Jährigen mit Sonderrechten oder Sonderpflichten ausgestattet.
Aus arbeitsmarktpolitischer wie auch aus jugendpolitischer Perspektive bewerten die Wohlfahrtsverbände die schärferen Sanktionsregelungen sehr kritisch, vor allem nachdem sich in der Praxis gezeigt hat, dass die Sanktionen bei einem Teil der Jugendlichen dazu führen können, dass sich die jungen Menschen vollständig zurückziehen, in die Wohnungslosigkeit ausweichen und/oder kriminelle Handlungen begehen, um sich das Lebensnotwendigste zu besorgen. Die Abschaffung der schärferen Sanktionsregelungen für unter 25-Jährige ist daher dringend erforderlich.
Nr. 110 u. a: Einheitlicher Minderungsbetrag für jede Pflichtverletzung - § 31a SGB II
Kurzbeschreibung:
„Die gestuften Minderungen der Leistungen, die an den Tatbestand der wiederholten Pflichtverletzung geknüpft sind und bis zum vollständigen Wegfall der Leistungen, einschließlich Bedarfe für Unterkunft und Heizung, führen können, sind in der Praxis nur mit hohem Aufwand umzusetzen. Künftig ist für jede Pflichtverletzung ein einheitlicher Minderungsbetrag vorgesehen, unabhängig von erstmaliger oder wiederholter Pflichtverletzung.“
Bewertung:
Derzeit werden bei einer ersten Pflichtverletzung eines Über 25-Jährigen ohne wichtigen Grund (z. B. wenn sich jemand weigert, eine zumutbare Arbeit aufzunehmen) 30% des Regelbedarfes gekürzt. Bei der zweiten Pflichtverletzung beträgt die Kürzung 60% und bei jeder weiteren Pflichtverletzung entfällt das Arbeitslosengeld II komplett. Es werden somit auch keine Leistungen mehr für Unterkunft und Heizung und für einen Mehrbedarf erbracht. In der Regel soll bei einer Sanktion ab 60% die Miete an den Vermieter gezahlt werden. Innerhalb einer Bedarfsgemeinschaft entfällt „nur“ der Anteil des Sanktionierten am Gesamtbedarf. Bei einem sog. Meldeversäumnis (in der Praxis dem häufigsten Sanktionstatbestand) mindert sich das Arbeitslosengeld II um jeweils 10%. Bei einem U25 entfällt bereits bei der ersten Pflichtverletzung (mit Ausnahme eines Meldeversäumnisses) der Regelbedarf mit Ausnahme der Bedarfe für Unterkunft und Heizung. Bei einer wiederholten Pflichtverletzung entfallen auch die Leistungen für die KdU.
Die vorgeschlagene Vereinheitlichung des Minderungsbetrages für jede Pflichtverletzung lässt offen, bis zu welcher Höhe des Gesamtregelbedarfs maximal sanktioniert werden kann. Von der BAGFW für vertretbar erachtet wird nur eine Sanktionshöhe, die sich auf maximal 30 Prozent des Regelbedarfs bezieht, ohne eine existentielle Not bei dem Sanktionierten zu verursachen. Bis zu dieser maximalen Sanktionshöhe von 30 Prozent des Regelbedarfs sollten die Sanktionsmöglichkeiten im Hinblick auf ihre Höhe und Dauer flexibel ausgestaltet werden. Insbesondere sollte es möglich sein, bei der Festsetzung der Sanktion die besonderen Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen.
Nr. 106/108: Schriftform der Rechtsfolgenbelehrung - § 31 SGB II
Kurzbeschreibung:
„Nach aktueller Rechtslage ist neben der (in der Regel schriftlichen) Belehrung über die Rechtsfolgen bei Pflichtverletzungen auch deren Kenntnis ausreichend. Künftig soll aus Gründen der Rechtsicherheit die schriftliche Rechtsfolgenbelehrung erforderlich sein.“
Bewertung:
Der Vorschlag, bei der Rechtsfolgenbelehrung auf das das Schriftformerfordernis zu bestehen und nicht mehr auf die bloße Kenntnis abzustellen, wird unterstützt. Seit Inkrafttreten des Regelbedarfsermittlungsgesetzes zum 01. April 2011 genügt für die Sanktionierung einer Pflichtverletzung die bloße Kenntnis über dessen Rechtsfolgen (vgl. § 31 Abs. 1 Satz 1 SGB II). Eine schriftliche Rechtsfolgenbelehrung ist dann nicht erforderlich. Ihre Aufklärungs- und Warnfunktion kann eine Rechtsfolgenbelehrung aber nur erfüllen, wenn die Belehrung tatsächlich in schriftlicher Form erfolgt. Zwar trägt der Leistungsträger die Beweislast für den Nachweis über die Kenntnis der Rechtsfolgen. Jedoch trägt nur eine ordnungsgemäß erfolgte schriftliche Rechtsfolgenbelehrung den Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit und Rechtssicherheit Rechnung. Auf dieses Erfordernis sollte in keinem Fall verzichtet werden. Nur so kann der jeweils Betroffene abschätzen, welche Folgen ihn treffen, wenn er eine ihm obliegende Pflicht nicht erfüllt.
Nr. 113/118: Keine Minderung der Bedarfe für Unterkunft und Heizung - § 31a SGB II
Kurzbeschreibung:
„Aktuell wird der Minderungsbetrag (30%, 60%) vom Gesamtanspruch abgesetzt; somit können auch Bedarfe für Unterkunft und Heizung von der Minderung betroffen sein.
Eine Minderung der Bedarfe für Unterkunft und Heizung soll künftig nicht mehr möglich sein.“
Bewertung:
Der Vorschlag, künftig von einer Minderung der Bedarfe für Unterkunft und Heizung abzusehen wird von der BAGFW ausdrücklich begrüßt. Die Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG umfasst auch das Wohnen. Werden die Bedarfe für Unterkunft und Heizung nicht erbracht, droht die Kündigung durch den Vermieter und damit die schwerwiegende Konsequenz des Verlusts der Wohnung. Die bisher geltende Regelung, nach der eine Sanktion auch die Kosten der Unterkunft und Heizung betreffen kann, wird von der BAGFW abgelehnt. Für die Leistungsbeziehenden stellt Wohnungslosigkeit oft ein kaum zu überbrückendes Hindernis für die Erwerbsintegration dar. Aber auch dem Leistungsträger drohen mit dem Verlust der Wohnung ein hoher Verwaltungsaufwand und immense Folgekosten.
Weitergehende Hinweise der BAGFW
Die BAGFW möchte das bevorstehende Gesetzgebungsverfahren zur „Rechtsvereinfachung im SGB II“ auch zum Anlass nehmen, einige weitergehende Hinweise zu erteilen, die zu einer Vereinfachung des Leistungs- und Verwaltungsverfahren im Rahmen des SGB beitragen und zu einer Erhöhung der Servicequalität im Interesse der Leistungsbeziehenden führen könnten.
1. Organisation der Leistungsträger und Verfahrensabläufe bei der Leistungserbringung
Die Bundesagentur für Arbeit versteht sich als Dienstleistungsunternehmen. Bei der Organisation und der Gestaltung der Verfahrensabläufe hat sie jedoch noch Nachholbedarf. Nach Ansicht der Wohlfahrtsverbände ist es dringend erforderlich, die Umsetzung des Leistungsrechts dadurch zu optimieren, dass zugleich auch die Organisation der Leistungsträger und Verfahrensabläufe kundenfreundlicher ausgestaltet werden. So fehlt es für Antragsteller häufig an festen Ansprechpartnern, die das Antrags- und Bewilligungsverfahren einer Bedarfsgemeinschaft kontinuierlich begleiten. Auf diese Weise wären die zuständigen Sachbearbeiter besser imstande, bei einzelnen Schritten Auskunft zu geben, weil sie den Sachverhalt der betroffenen Bedarfsgemeinschaft kennen. Ein weiteres Problem ist nach wie vor die Gestaltung der Leistungsbescheide und ihrer Begründungen, die oft für den Durchschnittsbürger unverständlich formuliert sind. Der Verwaltungsaufwand und die Reibungsverluste sind größer, wenn Fragen, die ein Leistungsberechtigter nicht stellen kann, weil sie im Rahmen eines unpersönlichen Verwaltungsverfahrens eher abgeblockt als zugelassen werden, per Widerspruch geltend machen werden müssen. Insofern wird die organisatorische Umsetzung durch die Jobcenter der in § 14 SGB I verankerten Verpflichtung der Leistungsträger zur Beratung über die Rechte und Pflichten nach dem jeweiligen Leistungsgesetz nur unzureichend gerecht.
Eine kontinuierliche und schrittweise Sachverhaltserfassung wird vor allem dann gesichert, wenn sich ein Bearbeiter kontinuierlich mit ihm zugewiesenen Fällen befasst und während dieser Bearbeitung auch nach außen hin als Ansprechpartner erkennbar ist. Diese Erkennbarkeit nach außen ermöglicht auch einen unmittelbaren Informationsfluss zwischen den Leistungsberechtigten und den Sachbearbeitern. Eine solche verbesserte Kommunikationsmöglichkeit könnte auch dazu beitragen, die Nachvollziehbarkeit der schriftlichen Begründung von Bescheiden zu erhöhen und Konfliktpotentiale zu vermeiden bzw. zu reduzieren.
Ein weiterer Ansatz zur besseren Verständlichkeit des Behördenhandelns kommt bei wechselnden Leistungshöhen in Betracht. Mitteilungen über die Höhe des tatsächlich ausgezahlten Betrags (einschließlich einer Auflistung noch offener Aufrechnungen, Forderungen, Sanktionen, die in Abzug gebracht werden) erhöhen ohne großen Aufwand die Transparenz und die Nachvollziehbarkeit über das Verwaltungshandeln.
Im Umgang mit bestimmten besonderen Personengruppen, wie bspw. unter 25-Jährigen Schwangeren, bedarf es einer erhöhten Aufmerksamkeit und Sensibilität der Mitarbeitenden. Immer wieder kommt es vor, dass das Einkommen der Eltern entgegen den Regelungen des § 9 Abs. 2 SGB II angerechnet wird, so als wären diese Personen Teil einer Bedarfsgemeinschaft mit ihren Eltern. Sie bilden aber ab der Geburt ihres Kindes zusammen mit diesem eine selbstständige Bedarfsgemeinschaft, was ebenfalls nicht immer beachtet wird. Anfänglich falsch vorgenommene Zuweisungen können über Jahre unbemerkt bleiben. Bereits die Tätigkeit an den Servicedesks ist deshalb von entscheidender Bedeutung für die Zuweisung der Antragstellenden zu den jeweiligen Verfahren. Sichergestellt werden muss, dass eine falsche Weichenstellung vor Beginn des eigentlichen Antragsverfahrens nicht das gesamte Verfahren bestimmt und beeinträchtigt.
2. Flexibilisierung der Sanktionszeiträume im SGB II
Über die angestrebten Änderungen im Sanktionsrecht hinaus, die die Mitgliedsverbände der Freien Wohlfahrtspflege überwiegend positiv bewerten, weil sie langjährige Forderungen der BAGFW aufgreifen, wie etwa die Abschaffung der Sondersanktionsregelung bei Jugendlichen, die Gewährung der Bedarfe für Unterkunft und Heizung auch bei wiederholten Pflichtverletzungen und die zwingende schriftliche Belehrung über die Rechtsfolgen der Pflichtverletzung, bieten sich aus Sicht der BAGFW weitere Reformschritte an.
Sinnvoll wäre nach Ansicht der BAGFW, die Reform auch für eine Flexibilisierung der Sanktionszeiträume nach unten hin zu nutzen. Die bisher in § 31b Abs. 1 Satz 4 SGB II nur für erwerbsfähige Leistungsberechtigte, die das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, vorgesehene Minderungsmöglichkeit der Sanktion auf einen Zeitraum von sechs Wochen, sollte altersunabhängig gewährt werden. Wie insbesondere der Deutsche Verein in seinen Empfehlungen zur Reform der Sanktionen im SGB II[6] überzeugend darlegt, hat sich die Regelung in der Praxis bewährt. Die bisher zwingend vorgesehene Sanktionsdauer von drei Monaten ermöglicht kaum, Verhaltensänderungen zu berücksichtigen, etwa wenn das sanktionsbewährte Verhalten aufgegeben wird. Indem an der Absenkung der Leistung festgehalten wird, obwohl die Sanktionieren sich längst kooperativ zeigen, an der Überwindung ihrer Hilfebedürftigkeit mitzuwirken, erhält die Sanktion einen apodiktischen Charakter, der eine Deprivation und das Gefühl einer Benachteiligung hervorrufen kann.
Ebenso wie der Deutsche Verein spricht sich deshalb auch die BAGFW dafür aus, die Minderungsmöglichkeit auf einen Zeitraum von sechs Wochen altersunabhängig zu gewähren und in das Ermessen des Leistungsträgers zu stellen, um künftig einen sorgsameren, flexibleren und zielgerichteten Umgang mit Sanktionen zu ermöglichen.
3. Reform der Leistungen für Bildung und Teilhabe
Obwohl der Bund-Länder-AG einige Änderungsvorschläge auch zum Bereich „Bildung und Teilhabe“ vorlagen, bedauert die BAGFW, dass bisher keiner dieser Vorschläge aufgegriffen worden ist.
Zur Verwaltungsvereinfachung und Gewährleistung von Bildungs- und Teilhabeleistungen wäre es sinnvoll, dass diese gleichzeitig mit der Beantragung von ALG II durch einen sogenannten Globalantrag dem Grunde nach beantragt werden.
Knapp dreieinhalb Jahre nach Inkrafttreten der Regelungen liegen zahlreiche empirische Befunde zum Bildungs- und Teilhabepaket (BuT) vor. Diese zeigen, dass die Inanspruchnahme der BuT-Leistungen - mit Ausnahme der Leistungen für den Schulbedarf, die automatisch ohne Antrag gewährt werden - nach wie vor verbesserungswürdig ist und mit dem BuT bei Weitem nicht alle Kinder und Jugendlichen erreicht werden (vgl. Apel/Engels, Forschungsprojekt: Bildung und Teilhabe von Kindern und Jugendlichen im unteren Einkommensbereich). Eine Ursache mag in den mangelnden Informationen über die Leistungen liegen, denn in der Gesamtbevölkerung liegt der Kenntnisstand über die Möglichkeit der Förderung nur bei etwa 67 Prozent (vgl. Evaluation der bundesweiten Inanspruchnahme und Umsetzung der Leistungen für Bildung und Teilhabe, S. 260). Problematisch ist aber auch, dass Schwellenhaushalte über die Leistungen kaum oder gar nicht beraten und informiert werden (vgl. Evaluation der bundesweiten Inanspruchnahme und Umsetzung der Leistungen für Bildung und Teilhabe, S. 85f.). Auch bestehen in der Angebotsstruktur große regionale Unterschiede. Dort, wo die infrastrukturellen Voraussetzungen nicht gegeben sind, können die Leistungen nicht abgerufen werden und der staatliche Auftrag, Bildung und Teilhabe aller Kinder sicherzustellen, ist nicht erfüllt.
Diese Einschätzungen decken sich mit den Rückmeldungen aus den Einrichtungen der Freien Wohlfahrtspflege. Zwar sind diese sensibilisiert für die Angebote des BuT und haben den Auftrag für sich angenommen, Familien bei der Leistungsbeantragung zu unterstützen. Es zeigt sich jedoch ein ungleicher „Nutzungsgrad“ bei den einzelnen BuT-Leistungen: einige Leistungen, wie der individuelle Anspruch auf eine Mittagsverpflegung, laufen dort, wo Schulen keine Kantinen oder Personal vorhalten ins Leere, auch wenn sich mit dem Ausbau der Ganztagsschulen einiges gebessert hat. Nicht in allen Kindertagesstätten, Schulen, Tagespflegeeinrichtungen und Tagesmüttern/-vätern ist eine Mittagsverpflegung vorhanden (vgl. Evaluation der bundesweiten Inanspruchnahme und Umsetzung der Leistungen für Bildung und Teilhabe, S. 126). Auch die Erstattung der Kosten für Kita- oder Schulausflüge ist verbesserungswürdig. Etwas mehr als die Hälfte der Leistungsträger lehnen es ab, BuT-Leistungen für mehrtägige Ausflüge in schulfreien Zeiten zu übernehmen (vgl. Evaluation der bundesweiten Inanspruchnahme und Umsetzung der Leistungen für Bildung und Teilhabe, S. 116 und 117). Bei einem Viertel der Kommunen erfolgt keine nachträgliche Erstattung verauslagter Geldmittel bei der Schülerbeförderung, eintägigen Ausflügen und mehrtätigen Fahrten (vgl. Evaluation der bundesweiten Inanspruchnahme und Umsetzung der Leistungen für Bildung und Teilhabe, S. 108f.).Schulen und Kitas erhöhen in der Praxis eher ihre Klassen- oder Kitakassenbeiträge als sich auf ein solch verwaltungsaufwändiges Verfahren einzulassen.
Die BAGFW ist außerdem der Auffassung, dass das Reformvorhaben zur „Rechtsvereinfachung im SGB II“ dazu genutzt werden sollte, Verbesserungen bei den Leistungen für Bildung und Teilhabe nach § 28 SGB II auf den Weg zu bringen und ggf. über Alternativen zu diskutieren. Hierbei müssen auch Konsequenzen aus dem aktuellen Beschluss des Bundesverfassungsgerichts einschließlich BVerfG, 1 BvL 10/12 vom 23.07.2014 etwa zur Gewährung von Fahrtkosten für die Zugänglichmachung der Angebote einfließen.
4. SGB II-Anspruch von Personen in stationären Einrichtungen
Das anstehende Gesetzesvorhaben könnte auch dazu genutzt werden, in § 7 Abs. 4 SGB II eine Klarstellung betreffend des SGB II-Anspruchs von Personen in stationären Einrichtungen vorzunehmen.
Das Bundessozialgericht hat am 05.06.2014 ein Urteil zum Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II für nicht erwerbsfähige Leistungsberechtigte, die sich in stationären Einrichtungen nach den §§ 67 ff. und 53 ff. SGB XII befinden, erlassen (BSG, Urteil vom 05.06.2014 – B 4 AS 32/13 R). Die Praxis versteht die Entscheidung so, dass eine Abkehr von der bisherigen Rechtsprechung stattfindet. Bisher hat das BSG weniger auf den Begriff der Erwerbsfähigkeit abgestellt, sondern vielmehr auf den Begriff der „stationären Einrichtung“. Nach der Rechtsprechung zum funktionalen Einrichtungsbegriff kam es darauf an, ob die objektive Struktur der Einrichtung eine Erwerbstätigkeit im genannten Umfang ermöglichte (vgl. BSG, Urteil v. 06.09.2007 – B 14/7b AS 16/07 R – BSGE 99, 88; BSG, Urteil v. 07.05.2009 – B 14 AS 16/08 R).
Die neue Rechtsprechung des BSG wird teilweise so verstanden, dass die Kriterien, die zur Vorgängerregelung des § 7 Abs. 4 SGB II entwickelt wurden, auf die Neufassung des § 7 Abs. 4 SGB II nicht mehr heranzuziehen, seien. Gemäß der alten Fassung des § 7 Abs. 4 SGB II erhielt Leistungen nach dem SGB II nicht, wer länger als sechs Monate in einer stationären Einrichtung untergebracht ist oder Rente wegen Alters bezieht. § 7 Abs. 4 Satz 3 Nr. 2 SGB II sehe dagegen lediglich für den Fall einer tatsächlichen Erwerbstätigkeit eine Rückausnahme vom Leistungsausschluss vor. Zentrales Kriterium wird damit eine tatsächliche Erwerbstätigkeit im Umfang von 15 Wochenstunden unter den Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes. Die objektive Möglichkeit der Ausübung einer Erwerbstätigkeit findet danach weder im Gesetz noch in den Gesetzesmaterialien eine Stütze und tritt gegenüber dem Kriterium der tatsächlichen Erwerbstätigkeit aus § 7 Abs. 4 Satz 3 Nr. 2 SGB II zurück. Im Ergebnis wird die Entscheidung des BSG von der Praxis so verstanden, dass stationär betreute und Arbeit suchende Personen, die einer Erwerbsfähigkeit im Umfang von 15 Wochenstunden auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nachgehen könnten, aber noch keinen solchen Arbeitsplatz haben, keinen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II haben. Einige Jobcenter aus verschiedenen Bundesländern haben bereits Bescheide über die Gewährung von Leistungen nach dem SGB II ab 01. Juli 2014 unter Berufung auf das Urteil zurückgenommen.
So wie die Entscheidung derzeit von der Praxis verstanden wird, hat sie erhebliche Folgen für Personen in stationären Einrichtungen und ist für diese mit erheblichen Nachteilen verbunden. Sie werden so behandelt, als hätten sie künftig keinen Anspruch mehr auf Leistungen zur Eingliederung in Arbeit in der Einrichtung. Dies betrifft sowohl erwerbsfähige Personen, die in der stationären Wohnungslosenhilfe als auch in sog. Freigängerheimen untergebracht sind. Sinnvoll wäre deshalb eine gesetzliche Klarstellung in § 7 Abs. 4 SGB II dahingehend, dass es für die Frage, ob eine stationäre Einrichtung vorliegt, nicht auf eine tatsächliche Erwerbstätigkeit ankommt, sondern auf die Möglichkeit der Erwerbstätigkeit aus der Einrichtung heraus.
5. Übernahme der Kosten für eine Brille
ALG II-Empfänger/innen haben erhebliche Schwierigkeiten, die Kosten für eine Brille aufzubringen. Zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) besteht ein Anspruch auf Sehhilfen bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres. Ab dem 18. Lebensjahr werden Sehhilfen von der GKV nur bei einer schweren Sehbeeinträchtigung übernommen. Diese liegt vor, wenn bei bestmöglicher Korrektur trotz Verwendung von Sehhilfen, die Sehschärfe auf beiden Augen nur noch maximal 30% beträgt. Eine schwere Sehbeeinträchtigung auf nur einem Auge führt damit nicht zur Kostenübernahme durch die GKV. Die Kosten für das Brillengestell werden von der GKV in keinem Fall übernommen.
Die Kosten der Brille werden auch vom Jobcenter grundsätzlich nicht als Zuschuss übernommen. Das bedeutet, dass ALG II-Empfänger/innen die Brille in der Regel aus dem Regelbedarf zahlen müssen. Im Regelbedarf der Regelbedarfsstufe 1 war bei der letzten Einkommens- und Verbrauchsstichprobe im Jahr 2008 ein Anteil für therapeutische Geräte und Mittel in Höhe von monatlich 2,26 Euro enthalten. Auch nach der Fortschreibung dieses Wertes in den Folgejahren kann eine Brille von diesem Betrag praktisch nicht zeitnah bezahlt werden. ALG II-Empfänger/innen müssen in der Regel ein Darlehen aufnehmen. Das führt dazu, dass ihnen über mehrere Monate ein gekürzter Regelbedarf zur Bestreitung des Lebensunterhalts zur Verfügung steht. ALG II-Empfänger/innen mit Sehbeeinträchtigung steht damit in diesem Fall monatlich weniger zur Verfügung als anderen ALG II-Empfänger/innen ohne Sehschwäche. Auch das BVerfG hat in einer aktuellen Entscheidung erkannt, dass es zu einer Unterdeckung kommen kann, „wenn Gesundheitsleistungen wie Sehhilfen weder im Rahmen des Regelbedarfs gedeckt werden können, noch anderweitig gesichert sind“ (BVerfG, Beschluss v. 23.07.2014 – 1 BvL 10/12, 1 BvL 12/12, 1 BvR 1691/13). Nach Ansicht des BVerfG muss der Gesetzgeber zukünftig darauf achten, dass der existenznotwendige Bedarf insgesamt gedeckt ist. Dies setze voraus, dass die Bemessung der Regelbedarfe hinreichend Spielraum für einen Ausgleich lasse. Dies kann auch dazu führen, dass mit der Anschaffung einer neuen Brille trotz Notwendigkeit abgewartet bzw. ganz darauf verzichtet wird.
Die BAGFW schlägt vor, dass die Kosten für notwendige Sehhilfen als einmalige Leistung vom Jobcenter übernommen werden.
Der § 24 Abs. 3 SGB II ist um eine Ziffer 4 wie folgt zu ergänzen:
„Nicht vom Regelbedarf nach § 20 umfasst sind Bedarfe für
4. Anschaffungen und Reparaturen von Sehhilfen. Diese umfassen auch das Brillengestell.“
[1] Empfehlungen des Deutschen Vereins zu den angemessenen Aufwendungen für Unterkunft und Heizung nach §§ 22ff. SGB II und §§ 35ff. SGB XII vom 12. März 2014.
[2] Schwitzky in LPK-SGB II, § 34 Rn. 14.
[3] OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 22.05.2000, 16 A 5805/96.
[4] Niedersächsisches OVG, Urteil vom 26. August 1992, 4 L 1894/91.
[5] Schwitzky in LPK-SGB II, § 34 Rn. 14.
[6] Empfehlungen des Deutschen Vereins zur Reform der Reform der Sanktionen im SGB II vom 11. Juni 2013, S. 14.
]]>I. Stärkung der hospizlichen und palliativen Kompetenzen in den stationären Pflege- einrichtungen und in der Häuslichkeit
Der Umgang mit Sterben, Tod und Trauer hat sich in den letzten hundert Jahren grundle- gend verändert. Während früher der Tod als ein Teil des Lebens akzeptiert wurde und in das alltägliche Leben integriert war, werden heute Tod und Sterben aus dem Alltag ausgegliedert und zunehmend an „Spezialisten“ in den Einrichtungen und Diensten, wie z.B. Krankenhaus, Hospiz oder die stationäre Pflegeeinrichtung delegiert.
Die leistungs- und konsumorientierte Gesellschaft klammert Fragen der Vergänglichkeit, der Begrenztheit des Lebens oder der Bewältigung von Verlust tendenziell aus. Auch die moder- ne Medizin richtet sich hauptsächlich darauf aus, den Tod zu bekämpfen und weniger darauf, Sterben gut zu begleiten.
Mit der Hospizbewegung ist dieser Entwicklung der Verdrängung von Tod, Sterben und Trauer aus dem Alltag entgegengetreten worden. Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege unterstützen diesen W andel in der öffentlichen Meinungsbildung und fördern ihn im Rahmen ihrer sozialpolitischen Positionierungen und konzeptionellen Verbandsarbeit.
Die Begleitung und Versorgung schwerst- und sterbenskranker Menschen erfolgt nach den Grundprinzipien Hospizarbeit und Palliative Care. Hierzu gehören, die Lebensqualität durch eine fachgerechte Palliativpflege zu erhalten, ein würdevolles Abschiednehmen sowie die Trauerbegleitung und -bearbeitung.
Es geht vor allem darum, sterbenden Menschen zu ermöglichen, in der vertrauten Umge- bung zu bleiben; sei es in der eigenen Häuslichkeit oder in einer stationären Pflegeeinrich- tung. Eine gute allgemeine ambulante Palliativversorgung muss daher zur Regelleistung von Diensten und Einrichtungen werden, die sterbende Menschen begleiten. Die Mitarbeiter in den ambulanten Diensten und stationären Einrichtungen müssen hierfür über entsprechende Palliativkompetenzen und ausreichend zeitliche Ressourcen verfügen. Eine solche Qualifika- tion und eine entsprechende personelle Ausstattung ist erforderlich, um sterbende Menschen und ihre Zugehörigen1 entsprechend ihrer körperlichen, psychischen, sozialen und spirituel- len Bedürfnisse versorgen und begleiten zu können.
II. Definition Allgemeine (Ambulante) Palliativversorgung (AAPV/ APV)
Die Allgemeine Ambulante Palliativversorgung ist im Unterschied zur Spezialisierten Ambu- lanten Palliativversorgung (SAPV) durch den Bundesgesetzgeber nicht definiert. Dies führt in
1 Der Begriff „Zugehörige“ umfasst nicht nur Verwandte (wie der Begriff Angehörige), sondern auch
Freunde, Nachbarn, Kollegen, Bekannte etc.
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der Praxis vielfach zu Unsicherheiten, vor allem bezüglich der Abgrenzung der Leistungen von SAPV und AAPV.2
In Anlehnung an die Definition der Arbeitsgruppe „Allgemeine Ambulante Palliativversor- gung“ im Bayerischen Gesundheitsministerium, schlägt die BAGFW die folgende Definition von AAPV vor: „Die AAPV kümmert sich um Patienten und ihr soziales Umfeld, bei denen sich das Lebensende abzeichnet und deren Leiden einen regelmäßigen und hohen Zeitauf- wand in der pflegerischen, ärztlichen, psychosozialen und spirituellen Betreuung sowie in der Kommunikation mit ihnen und ihren Zugehörigen erfordert. Das bestehende Bezugssystem des Patienten und die Leistungen, der in ihrer palliativen Kompetenz gestärkten und mit ge- nügend zeitlichen Ressourcen ausgestatteten, beruflichen und ehrenamtlichen Begleitung reichen aus, um den Patienten in seiner vertrauten Umgebung ausreichend und entspre- chend seinen Bedürfnissen zu versorgen.“
In Abgrenzung dazu kommt die Spezialisierte Ambulante Palliativversorgung (SAPV) in Be- tracht, wenn durch die AAPV keine befriedigende Symptomkontrolle oder Leidensminderung erreicht werden kann, also wenn eine besonders aufwändige Versorgungssituation vorliegt.
Menschen, die AAPV benötigen
· haben, im Gegensatz zur SAPV, kein komplexes Symptomgeschehen. Häufig ist nur ein Symptom virulent, z.B. bei gelungener Schmerzeinstellung bei einem Patienten oder Tumorpatienten, bei denen Kuration und Heilung nicht mehr möglich sind.
· haben intermittierende Verläufe, z.B. bei Schluckbeschwerden und Ernährungsprob- lemen.
· haben einen im Vergleich zur SAPV geringeren palliativmedizinischen und palliativ-
pflegerischen Versorgungsbedarf, aber in der Regel den gleichen psychosozialen Be- treuungsbedarf wie SAPV Patienten.
Insgesamt existiert keine einheitliche Definition von AAPV bzw. Abgrenzung zur SAPV. Bei- de Formen ergänzen sich. Man wird feststellen können, dass die SAPV dann zum Einsatz kommt, wenn die Symptome in der AAPV nicht mehr kontrollierbar sind oder eine besonders aufwendigen Versorgungssituation vorliegt.3
III. AAPV/APV als Bestandteil der Regelversorgung
Für die Entwicklung einer allgemeinen Kultur der Begleitung Sterbender und palliativen Ver- sorgung müssen alle Dienste und Einrichtungen mit den Themen Tod und Sterben fachge- recht umgehen können, auch wenn sie keine spezialisierte Einrichtung sind. Die AAPV/APV muss nach Auffassung der Verbände der Freien Wohlfahrtspflege integraler Bestandteil der Regelversorgung werden. Es sollen ausdrücklich keine „Sonderdienste“ geschaffen werden.
Wesentliche Elemente der AAPV/APV sind die pflegerische und die ärztliche Versorgung sowie die psychosoziale und spirituelle Begleitung. Hierzu gehört eine regelmäßige, verbind- liche fallbezogene Vernetzung zwischen Ärzten, ambulanten Pflegediensten bzw. stationären
2 W ir orientieren uns in diesem Papier an der Systematik des SGB V. Unter AAPV verstehen wir alle Leistungen, die nicht der stationären Krankenbehandlung im Krankenhaus oder stationäre Hospizver- sorgung zuzurechnen ist. In diesem Sinne sind APV und AAPV synonym zu betrachten.
3 Vgl. Robert Roßbruch: Zur Freistellung der Forderung eines Pflegedienstes wegen der "Palliativ- Behandlungs-pflege" eines Versicherten | PflR 2013, 779.
Pflegeeinrichtungen und ambulanten Hospizdiensten unter Einbeziehung der Angehörigen und Zugehörigen und ggf. weiterer Kooperationspartner wie Apotheken, Sanitätshäuser, Seelsorger, Angehörigen therapeutischer Berufe oder Selbsthilfegruppen.
IV. APV in der stationären Pflege
Die Leistungsanforderungen stationärer Pflegeeinrichtungen in Bezug auf die Palliativversor- gung verändern sich durch die Zunahme von Sterbefällen. In der Regel ziehen Menschen in ihrer letzten Lebensphase, meist im hohen Alter, mit fortgeschrittener Multimorbidität und/ oder Demenz in stationäre Pflegeeinrichtungen ein. Sie benötigen nicht erst in der Sterbe- phase hospizlich-palliative Pflege und Begleitung, sondern über einen viel längeren Zeit- raum, häufig mit Beginn ihres Einzugs.
In den meisten Landesrahmenverträgen stationär nach § 75 SGB XI, die den Inhalt der Pfle- geleistungen regeln, wird die palliative Versorgung mit einem kurzen Hinweis auf die Sterbe- begleitung im Rahmen der sozialen Betreuung/ Hilfen bei der persönlichen Lebensführung erwähnt. Dies wird dem gegenwärtigen Leistungsgeschehen in den Einrichtungen angesichts der immer kürzer werdenden Verweildauer und der Zunahme der Sterbefälle nicht gerecht.
Die Pflege-Transparenzvereinbarung stationär (PTVS) verlangt in Prüffrage 49 ein Angebot zur Begleitung Sterbender auf der Basis eines Konzeptes. Die Umsetzung des erarbeiteten Konzepts muss in der Einrichtung begleitet und durch geeignete Maßnahmen unterstützt werden.
Stationäre Pflegeeinrichtungen müssen sich im hospizlich-palliativen Sinne weiterentwickeln. Hierzu sind Fort- und Weiterbildungs- sowie Reflexions- und Entlastungangebote, verknüpft mit Organisationsentwicklungsprozessen, notwendig. Ergänzend dazu ist eine Kooperation mit ambulanten Hospiz- und Palliativdiensten sowie spezialisierten Diensten (z. B. SAPV- Leistungserbringern) sinnvoll, um eine umfassende Versorgung und Begleitung der Betroffe- nen zu ermöglichen.
In der letzten Lebensphase ist eine intensive Personalpräsenz der Pflegemitarbeitenden er- forderlich. Im Einzelnen entsteht ein hoher zeitlicher Mehraufwand für:
· Behandlungspflege im Rahmen der Palliativpflege
· eine intensive psychosoziale Begleitung der Sterbenden
· die Koordinierung von Pflege, Ärzten, ggf. SAPV-Teams, ambulanten Hospizdiens- ten und der Seelsorge
· Gespräche mit Angehörigen bzw. Zugehörigen
· Mitarbeit in den örtlichen Hospiznetzwerken im Rahmen eines sozialraumorientierten
Handelns
· ggf. (ethische) Fallbesprechungen bzw. (ethische) Supervision
In der letzten Lebensphase werden auch an die pflegerische Versorgung sterbender Men- schen besondere fachliche und zeitintensive Anforderungen gestellt. Sterbende Menschen haben in der Regel einen deutlichen Mehrbedarf an medizinischer Behandlungspflege wie z. B. pflegerische Interventionen bei Schmerzen sowie spezielle Krankenbeobachtung bei schwerstkranken und sterbenden Bewohnerinnen und Bewohnern, einschließlich häufiger Symptomkontrolle und Überwachung symptomlindernder Interventionen.
Dieser erhöhte behandlungspflegerische Aufwand muss der stationären Einrichtung leis- tungsgerecht vergütet werden.
Zudem brauchen ambulante Hospizdienste, die ehrenamtlich an der zeitintensiven Beglei- tung sterbender Menschen in stationären Einrichtungen mitwirken, kontinuierlich einen festen
und kompetenten Ansprechpartner in der Einrichtung. Dieser koordiniert die multiprofessio- nelle Zusammenarbeit aller internen und externen Beteiligten und gewährleistet einen koor- dinierten Prozess, z.B. durch Fallbesprechungen oder moderierte Übergaben.
Zur Finanzierung einer kompetenten palliativen Versorgung schlägt die BAGFW einen Ver- gütungszuschlag vor. Dieser soll, analog zu § 87b SGB XI, aus den Mitteln der Pflegeversi- cherung direkt an die stationäre Pflegeeinrichtung vergütet werden, z.B. als neu einzufüh- render § 87c SGB XI.
Mit den zusätzlichen Fachkräften kann die unmittelbare palliative Versorgung sterbender Menschen, abhängig vom palliativen Konzept der Einrichtung, erfolgen. Des Weiteren sollen diese Fachkräfte grundsätzlich auch für die Förderung und konzeptionelle Weiterentwicklung einer palliativen Kultur in der Einrichtung zuständig sein bzw. an dieser mitwirken.
Je nach Aufgabe, müssen sie nicht zwingend Pflegefachkräfte sein, sondern können auch vergleichbare Qualifikationen aufweisen, wie z.B. Sozialarbeiter/ in, Heilerziehungspfleger/ in oder Ergotherapeut/ in. Voraussetzung ist in jedem Fall, dass die Fachkraft eine Qualifi- zierung in Palliative Care im Umfang von mindestens 160 Stunden nachweisen muss.
Nach Auffassung der BAGFW gehört die Behandlungspflege in der stationären Pflege grundsätzlich in die Finanzverantwortung des SGB V.
V. AAPV in der ambulanten Pflege
Der pflegerische Teil der AAPV soll keine eigenständige Leistungsform begründen, son- dern Bestandteil der Häuslichen Krankenpflege (HKP) sein. Dies erfordert jedoch entspre- chende Ergänzungen in der Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Verordnung von häuslicher Krankenpflege (Häusliche Krankenpflege-Richtlinie). Durch die Integration von AAPV in die HKP können neue Abgrenzungsprobleme zwischen einer noch zu schaffenden AAPV und der schon bestehenden SAPV vermieden werden.
Um auch die grundpflegerischen Bedarfe abzudecken, müssen AAPV auch als HKP- Leistungen nach § 37 Abs. 1 SGB V verordnet werden können, auch wenn keine Kranken- hausbehandlung geboten ist. Leistungen der AAPV sollen über einen Zeitraum von mehr als vier Wochen verordnet werden können, da sie dem Grundsatz nach einen „begründe- ten Ausnahmefall“ darstellen.
Erforderliche Änderungen der HKP Richtlinien
Im Rahmen der Häuslichen Krankenpflege ist es bei schwerstkranken und/ oder sterben- den Menschen erforderlich, dass eine regelmäßige Symptomkontrolle durchgeführt wird, und symptomlindernde Interventionen erfolgen und überwacht werden. Spezifische Aufga- ben von Pflegediensten im Rahmen der AAPV in der letzten Lebensphase des Patienten sind z.B. die Begleitung bei manifesten Depressionen, Angstzuständen, Verwirrtheit, Delir und bei Verschlechterung der Symptome, intensivere Pflegemaßnahmen, häufigere Bera- tungsgespräche und Krisenintervention.
Um die AAPV fachgerecht umsetzen zu können, muss die HKP-Richtlinie aus Sicht der Verbände der Freien Wohlfahrtspflege auch die besonderen Belange schwerkranker und sterbender Menschen berücksichtigen und insbesondere um die folgenden Leistungsbe- reiche, erweitert werden.
1. Versorgung der Schmerzpumpe/Kassettenwechsel
Hierzu gehören die Vorbereitung der Medikation, die Einstellung und Überwachung der Medikation mittels Schmerzpumpe einschließlich Kassettenwechsel, die Überwachung einer symptomlindernden Behandlung und/ oder Hilfestellung bei der Anwendung von symptomlindernden Medikamenten sowie die Überwachung von apparativen palliativmedi- zinischen Behandlungsmaßnahmen (z. B. Medikamentenpumpe).
2. i.v.- Infusion zur Medikamentengabe
Hierzu gehören das Anlegen von Kurzinfusionen bei liegenden Zugängen und die Überwa- chung einer Infusionstherapie. Darüber hinaus gehört auch die Punktion eines Port-a-cath für entsprechend nachweislich qualifizierte Dienste zu den HKP-Leistungen.
3. Spezifizierung der HKP-Richtlinie zur Wundversorgung
Die Richtlinie zur häuslichen Krankenpflege beinhaltet unter Nr. 31 auch die Leistung
„Verbände“. Hier entspricht die Leistungsbeschreibung nicht mehr dem State of the Art. Auch die spezifischen Erfordernisse der Wundversorgung von sterbenden Menschen wer- den nicht hinreichend berücksichtigt wie z.B. die umfassende Versorgung exulzerierender Tumore/ blutende, sezernierende und mit starker Geruchsbildung einhergehender Wunden (z. B. zur Reduktion der Blutungsgefahr und Wundinfektion). Die Leistungsbeschreibung soll die Erfassung des Wundzustands inklusive Wundgröße und Wundinfektion, die patho- physiologischen Ursachen sowie relevante Begleitparameter, das Wundmanagement, die Mitwirkung und Begleitung bei diagnosebedingter Interventionen, die Prozesssteuerung und die Durchführung therapeutischer Maßnahmen beinhalten.
Die Wundversorgung (Behandlung, „Beobachtung“ und Dokumentation) ist in erster Linie der Symptomlinderung und nicht der Heilung verpflichtet. Das Befinden des Patienten (Empfinden der Wunde z.B. durch Geruchsbelästigung, Schmerz, Bewegungseinschrän- kungen, „entstellende“ bzw. „wiederherstellende“ Wirkung durch Verbände) ist u.U. wichti- ger als der Wundverlauf (Zustand und Größe).
4. Erstgespräch mit Patienten und Zugehörigen
Dieses kann in der Häuslichkeit bzw. im Krankenhaus vor der Übernahme der AAPV statt- finden. Hierzu gehören ein Eingangsassessment, die persönliche Übernahme des Patien- ten, eine erste Einschätzung des Koordinierungsbedarfes, das Erstellen eines Pflege- und Krisenplans und dessen Dokumentation.
5. Spezifische Beratungselemente
Diese ergeben sich aus der Notwendigkeit zu einer psychosozialen, spirituellen und pallia- tiven Begleitung und Beratung von sterbenskranken Menschen und ihren Zugehörigen aufgrund der typischer Weise auftretenden Symptome, wie z. B. Unsicherheit, Angst, Pa- nik oder Störungen der Wahrnehmung sowie bei ihrer Auseinandersetzung mit Tod und Sterben. Zusätzlich benötigen die Zugehörigen oft eine edukative Beratung, um die häusli- che Versorgung aufrechterhalten zu können.
6. Koordinierungsbedarf fallbezogen
Falls eine Koordination der palliativmedizinischen und palliativpflegerischen Versorgung im Einzelfall notwendig ist, ist sie verordnungsfähig. Die Koordination umfasst auch die Ein- beziehung weiterer Berufsgruppen (z.B. Physiotherapeuten, Seelsorger, Psychologen) und ambulanter Hospizdienste im Rahmen einer multiprofessionellen Zusammenarbeit. Die Koordinations- und Palliativberatungsleistung der ambulanten Hospizdienste bleibt hiervon unberührt.
Die in den HKP Richtlinien aufgeführten Leistungen können länderspezifisch ausgestaltet werden. Neben den in der HKP Richtlinie genannten Einzelleistungen kann die AAPV auch als Komplexleistung in der Verträgen nach § 132a Abs. 2 SGB V (Landes-/ Dienstebene) vereinbart werden.
Intensiver Pflege- und Begleitungsbedarf in den letzten Lebenstagen im Rahmen der
Ersatzpflege
Viele sterbende Menschen, die im Rahmen der AAPV und der SAPV versorgt werden, ha- ben in den letzten Lebenstagen zusätzlich einen intensiven Pflege- und Begleitungsbedarf, der nicht über die beiden Leistungskomponenten abgedeckt ist. Hierzu zählen die Grund- pflege- und die hauswirtschaftlichen Leistungen, die bestmögliche Schmerzlinderung in Ab- sprache mit dem Arzt sowie die Rufbereitschaft des Ambulanten Pflegedienstes.
Sofern der sterbende Mensch bereits Leistungen der Pflegekassen bezieht, können Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung im Rahmen der Ersatzpflege/ Verhinde- rungspflege in Anspruch genommen werden. Menschen, die ihren Anspruch bereits aus- geschöpft haben, können einen weiteren Jahresbetrag in der Sterbephase erhalten. Für Menschen, die noch keinen Anspruch auf SGB XI-Leistungen haben, sollen die Regelun- gen zu verkürzten Begutachtungsfristen nach § 18 Abs.3 SGB XI gelten.
VI. Anforderungen an die Leistungserbringer der AAPV/ APV im Detail
Die Anforderungen an die Leistungserbringer sind auf der Landesebene festzulegen. Hier- bei sind die regionalen Unterschiede in der Leistungserbringung und die gewachsenen Versorgungsstrukturen zu beachten.
]]>
A) Hintergrundinformationen zur öffentlichen Konsultation:
Die Strategie „Europa 2020“ wurde im <link http: eur-lex.europa.eu lexuriserv>März 2010 als EU-Strategie zur Förderung eines intelligenten, nachhaltigen und integrativen Wachstums auf den Weg gebracht. Sie zielt auf eine wissensgestützte, wettbewerbsfähige europäische Wirtschaft bei gleichzeitiger Wahrung der sozialen Marktwirtschaft in der EU und Verbesserung der Ressourceneffizienz. Daher wurde sie als Partnerschaft zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten zur Förderung von Wachstum und Beschäftigung konzipiert.
Die Strategie Europa 2020 ist auf fünf <link http: ec.europa.eu europe2020 europe-2020-in-a-nutshell targets index_de.htm>Kernziele in den Bereichen Beschäftigung, Forschung und Entwicklung, Klima und Energie[1], Bildung sowie Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung ausgerichtet. Außerdem umfasst sie sieben Aktionsprogramme, so genannte <link http: ec.europa.eu europe2020 europe-2020-in-a-nutshell flagship-initiatives index_de.htm>Vorreiterinitiativen, in Bereichen, die als entscheidende Triebkräfte für das Wachstum gelten, nämlich Innovation, digitale Wirtschaft, Beschäftigung, Jugend, Industriepolitik, Armut und Ressourceneffizienz. Die Ziele der Strategie werden auch durch Maßnahmen auf EU-Ebene unterstützt, beispielsweise in den Bereichen Binnenmarkt, EU-Haushalt und Außenpolitik der EU.
Die Umsetzung und Überwachung der Strategie Europa 2020 erfolgt im Rahmen des <link http: ec.europa.eu europe2020 making-it-happen index_de.htm>Europäischen Semesters (jährlicher Zyklus der Koordinierung der Wirtschafts- und Haushaltspolitik der EU-Länder). Im Rahmen des Europäischen Semesters einigen sich die EU-Institutionen auf allgemeine Prioritäten und die jährlichen Mittelbindungen der Mitgliedstaaten und erörtern die von der Kommission erarbeiteten und auf höchster Ebene von den Staats- und Regierungschefs im Europäischen Rat gebilligten länderspezifischen Empfehlungen. Diese Empfehlungen sollten dann in die Politik- und Haushaltsgestaltung der Mitgliedstaaten einfließen. Zusammen mit dem EU-Haushalt sind die länderspezifischen Empfehlungen wesentliche Instrumente für die Umsetzung der Strategie Europa 2020.
Vier Jahre nach der Einführung der Strategie Europa 2020 hat die Kommission vorgeschlagen, die Strategie einer Überprüfung zu unterziehen, und der Europäische Rat hat diesem Vorschlag am 20./21. März 2014 zugestimmt. Am 5. März 2014 hat die Kommission eine Mitteilung „Bestandsaufnahme der Strategie Europa 2020 für intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum“ angenommen (<link http: ec.europa.eu europe2020 pdf europe2020stocktaking_de.pdf europe2020stocktaking_en.pdf>Mitteilung und <link http: ec.europa.eu europe2020 pdf europe2020stocktaking_annex_de.pdf europe2020stocktaking_annex_en.pdf>Anhänge), in der sie vorläufige Schlüsse aus den ersten Jahren der Umsetzung der Strategie zieht. Aufbauend auf diesen ersten Ergebnissen und im Umfeld einer allmählichen Erholung der europäischen Volkswirtschaften sollten wir nun über die Ausgestaltung der Strategie für die kommenden Jahre nachdenken.
Mit diesen Fragen möchten wir Ihre Meinung dazu einholen, was aus den ersten Jahren der Strategie Europa 2020 zu lernen ist und was wir bei ihrer Weiterentwicklung zu einer Nachkrisen-Wachstumsstrategie berücksichtigen müssen.
B) Fragen:
1) Bilanz der Strategie „Europa 2020“ von 2010 bis 2014
Inhalt und Umsetzung
· Was bedeutet die Strategie Europa 2020 für Sie? Was verbinden Sie hauptsächlich mit der Strategie?
Ganz allgemein ist es aus Sicht der BAGFW ein politischer Gewinn, dass der Wachstumsbegriff eine Qualifizierung erhalten hat, die Nachhaltigkeit, Inklusion und Intelligenz im Umgang mit Wachstum umfasst.
Für die BAGFW sind vor allem die sozialpolitischen Ziele von Relevanz. Neben den Beschäftigungs- und Bildungszielen ist besonders das Armutsziel für die BAGFW entscheidend. Erstmals wurde das Thema „soziale Inklusion“ durch die Europa 2020 Strategie auf die europäische Agenda gesetzt, weshalb die BAGFW die Strategie ausdrücklich unterstützt.
Ziel der Strategie „Europa 2020“ ist es, Wachstums- und Beschäftigungsimpulse zu setzen. Die Wirtschafts- und Finanzkrise hat aber in zahlreichen Mitgliedstaaten zu einer Austeritäts- und ausgabenreduzierten Wachstumspolitik geführt. Darunter litten vor allem in den Programmländern die sozialpolitischen Ziele, insbesondere das Armutsziel.
Aus Sicht der BAGFW kann die Europa 2020 Strategie am Ende der Dekade aber nur erfolgreich sein, wenn sich für die Menschen „soziale Inklusion“ im Sinne des erklärten integrativen Wachstums in ihrer Lebenswirklichkeit erkennen lässt. Die wirtschaftliche Überwindung der Krise und die Verwirklichung der sozialen Inklusion müssen als zwei Seiten einer Medaille gesehen werden.
· Hat die Strategie Europa 2020 Ihrer Auffassung nach etwas bewirkt? Bitte erläutern.
Die Strategie hat es zumindest geschafft, klare Zielvorgaben zu benennen. Auch die Verknüpfung mit dem Europäischen Semester ist zu begrüßen und sinnvoll. Allerdings bedarf es hierbei einer noch intensiveren Verzahnung. Eine verbesserte Abstimmung zwischen den Instrumenten der Offenen Methode der Koordinierung und dem Europäischen Semester ist notwendig. Die sozialpolitischen Vorgaben und insbesondere das Ziel zur Armutsbekämpfung: Reduzierung der von Armut bedrohten Menschen um mindestens 20 Mio. (= -25%) müssen mehr und besser in den Prozess der Nationalen Reformprogramme (NRP) integriert werden, um eine stärkere Zielverpflichtung der Mitgliedstaaten zu erreichen und dadurch mehr Verbindlichkeit sicherzustellen.
Die Wirkung und der Wert der Strategie liegen vor allem in der Notwendigkeit der Mitgliedstaaten, sich enger miteinander abzustimmen, und in der damit verbundenen Möglichkeit einer gemeinschaftlichen Prozesssteuerung. Dabei soll der richtige makroökonomische Reformpfad beschritten werden und sich die nationalen Wirtschaftspolitiken am Reform- und Modernisierungsbedarf ausrichten, wie er vom Jahreswachstumsbericht und den Nationalen Reformprogrammen (NRPs) beschrieben wird.
Allerdings ist zu berücksichtigen, dass sich die Reformen häufig in Gebieten bewegen, in denen die Kommission keine oder eine nur teilweise Möglichkeit zur Gesetzgebung hat. Bewirkt hat die Strategie u.a. über ihren Prozess des Europäischen Semesters, dass eine stärkere politische Wahrnehmung gesamteuropäischer Zusammenhänge auf nationaler Ebene und auch eine stärkere Verbindlichkeit vor allem der Wachstumsverpflichtung erzielt wird. Die Verbindlichkeit der qualitativen Ziele leidet allerdings unter der oft eindimensionalen Ausrichtung der Mitgliedstaaten auf das wirtschaftliche Wachstum.
· Hat sich Ihr Land von dem Vorgehen anderer EU-Länder in den Europa-2020-Kernbereichen beeinflussen lassen? Bitte führen Sie Beispiele an.
Hierzu liegen uns keine Erkenntnisse vor. Nach unserem Eindruck ist dies nicht der Fall.
· Sind die Interessenträger in Ihrem Land ausreichend in die Strategie Europa 2020 eingebunden? Sind Sie selbst in die Strategie Europa 2020 eingebunden? Würden Sie sich gern stärker beteiligen? Falls ja, wie?
Nach anfänglichen Schwierigkeiten hat das deutsche Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) die Sozialverbände bei der Erstellung der jährlichen Fortschreibung des NRP einbezogen. Die Fristsetzungen sind jedoch – auch durch die Terminsetzung des Europäischen Semesters – immer noch zu eng. Ohne entsprechende Vorarbeiten und Begleitung durch vorhandene administrative Strukturen in den Organisationen, die den europäischen Prozess verfolgen, wäre eine Mitwirkung kaum möglich. Oft müssen Rückmeldungen innerhalb weniger Tage (in 2014 waren es lediglich 2 Werktage!) bei den Ministerien eingehen. Wir fordern daher eine Frist von mindestens 10 Werktagen, um eine angemessene Zeit für eine ordentliche Konsultation der Organisationen der Zivilgesellschaft sicherzustellen.
Bislang fanden die mündlichen Konsultationen durch das BMAS vor allem in einem Rahmen statt, in dem Verfahrensabläufe, Zeitfenster und Fragen zum Verhältnis des Europäischen Semesters zur Methode der offenen Koordinierung thematisiert werden konnten. Im Semester 2014 hatte das Konsultationstreffen keine Textgrundlage, d.h. der Entwurf des Nationalen Reformprogramms (NRP) lag noch nicht vor. Die Verbände konnten ihre Interventionen also allenfalls auf der Grundlage der länderspezifischen Empfehlungen von 2013 und ihrer Erwartungen an mögliche Schwerpunkte der Bundesregierung im NRP formulieren. Ein regelmäßiger Dialog mit dem bei der Erstellung des NRP federführenden Bundeswirtschaftsministerium findet bedauerlicherweise nicht statt.
Von daher schlägt die BAGFW vor, dass die Kommission, wie im Rahmen ihrer Leitinitiative der Plattform zur Bekämpfung von Armut und Ausgrenzung angekündigt, einen Konsultationsleitfaden veröffentlicht, der sich z.B. am Verhaltenskodex der Strukturfondsverordnungen orientieren könnte und den Mitgliedstaaten Leitlinien für die Einbeziehung zivilgesellschaftlicher Organisationen an die Hand gibt. Der Leitfaden könnte sich auch an <link http: www.partizipation.at fileadmin media_data downloads standards_oeb standards_der_oeffentlichkeitsbeteiligung_2008_druck.pdf>Partizipationsmustern orientieren, wie sie etwa die österreichische Bundes-regierung vorgelegt hat.
Instrumente
· Entsprechen die derzeitigen Ziele für 2020 den mit der Strategie angestrebten Zielen, Wachstum und Beschäftigung zu fördern? [Ziele: Beschäftigungsgrad in der Altersgruppe 20 bis 64 Jahre mindestens 75 %; Investitionen in Forschung und Entwicklung in Höhe von 3 % des BIP; Senkung der Treibhausgasemissionen um mindestens 20 %, Steigerung des Anteils erneuerbarer Energien auf 20 % und Verbesserung der Energieeffizienz um 20 %; Verringerung des Anteils frühzeitiger Schulabgänger auf unter 10 % und Steigerung des Anteils junger Menschen mit Hochschulabschluss auf mindestens 40 %; Verringerung der Zahl von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedrohter Personen um mindestens 20 %].
Im Grundsatz kann den Zielen zugestimmt werden. Die Finanzkrise hat allerdings gezeigt, dass externe Faktoren schnell einzelne Ziele, wie etwa das der Armutsbekämpfung, gefährden. Es wird deshalb bis 2020 nicht darauf ankommen, es bei der Beschreibung der Ziele zu belassen. Es kommt vielmehr darauf an, die Verbindlichkeit der vorhandenen Strategien zu verbessern. Hierzu gehört, dass die politischen Entscheidungen in ihren Wirkungen auf die Ziele besser überprüft werden.
Auch wenn die angestrebten Ziele bis 2020 voraussichtlich nicht mehr zu erreichen sind, sollte man nicht generell von einem Scheitern der Strategie sprechen. Die Strategie ist komplex und in sich von Zielkonflikten zwischen wirtschaftspolitischen Strategien einerseits und sozialpolitischen Zielen andererseits geprägt. Dieser Widerspruch in den möglichen Instrumenten lässt sich nicht auflösen und führt teilweise zum Stillstand. Gleichwohl spricht sich die BAGFW für die Weiterverfolgung der 2010 gesetzten Ziele aus, denn nur so kann die Chance realisiert werden, qualitatives wirtschaftliches Wachstum zu erreichen und u.a. erfolgreiche Maßnahmen zur Armutsbekämpfung umzusetzen.
Im Hinblick auf die Jugendarbeitslosigkeit und die Förderung von Beschäftigung ist die Fokussierung auf junge Menschen mit Hochschulabschluss zu einseitig. Hier sollte auch die berufliche Bildung stärker einbezogen und die Ansätze der Jugendstrategie vertieft werden.
· Sind Ihrer Ansicht nach einige der derzeitigen Ziele wichtiger als andere? Bitte erläutern.
Aus Sicht der sozialen Organisationen sind die soziale Integration von benachteiligten Menschen, und damit die Bekämpfung von Armut, die Schaffung von Arbeitsplätzen und die Verbesserung der Bildungssysteme, besonders wichtig. Dies bedeutet aber nicht, dass wir uns für eine generelle Gewichtung der Europa 2020 Ziele aussprechen.
Ein jedes Ziel sollte für sich genommen zu seiner optimalen Entfaltung gebracht werden, und Zielkonflikte sollten zugunsten einer würdevollen Existenzgrundlage für die Menschen aufgelöst werden.
· Halten Sie es für sinnvoll, dass die EU-weiten Ziele in nationale Ziele untergliedert sind? Wenn ja, wie lassen sich dann Ihrer Ansicht nach die nationalen Ziele am besten festsetzen? Wurden die nationalen Ziele bisher angemessen/zu hoch/nicht hoch genug angesetzt?
Eine Untergliederung in nationale Ziele ist sinnvoll, um die unterschiedlichen Systeme in den Mitgliedstaaten angemessen zu berücksichtigen. Deutschland hat sich bislang im Bereich der sozialen Eingliederung wenig ambitionierte Ziele gesetzt, da eine Beschränkung auf den Indikator „Langzeitarbeitslosigkeit“ vorgenommen wurde. Der Indikator Langzeitarbeitslosigkeit zielt zwar auf eine Zielgruppe, die besonders von Armut betroffen ist. Es war allerdings von Anfang an absehbar, dass die Reduzierung um 20 % angesichts der Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt in Deutschland frühzeitig, nämlich schon in 2012, erreicht würde. Deutschland muss sich daher deutlich ambitioniertere Ziele setzen, sei es bei der Zahl der Langzeitarbeitslosen oder bei anderen Personengruppen, die in besonderem Maße von Armut betroffen und von materieller und gesellschaftlicher Teilhabe ausgegrenzt sind. Außerdem sind nach Auffassung der BAGFW deutlich umfassendere sozialpädagogische und förderpolitische Maßnahmen nötig, um gerade Langzeitarbeitslosen und Menschen mit multiplen Vermittlungsproblemen zu helfen (z.B. Wohnungslose oder Suchterkrankte).
Die EU-Kommission hatte es ursprünglich den Mitgliedstaaten überlassen, ob sie bezüglich der Messung der Fortschritte im Bereich „soziale Inklusion“ einen, zwei oder alle drei Indikatoren anwenden.
Die den Mitgliedstaaten eröffnete Option, aus den drei europäischen Indikatoren einen nationalen Indikator zu wählen, wurde in Deutschland dazu genutzt, um die nationale Besonderheit der deutlichen (statistischen) Absenkung der Langzeitarbeitslosigkeit seit 2008 herauszustellen. Dies soll als spezifisch für die Politik der Armutsbekämpfung angesehen werden. Die typisch deutsche Situation könne danach nur mit dem Indikator „Langzeitarbeitslosigkeit“ dargestellt werden. Dies rechtfertige den Verzicht auf die beiden weiteren Indikatoren, denn eine Berichterstattung zur Armutspolitik gegenüber der Kommission könne sich nur auf einen spezifischen, zum jeweiligen Mitgliedstaat passenden Indikator beziehen.
Diese Argumentation widerspricht jedoch der nationalen Berichterstattung zur Armuts- und Reichtumslage in Deutschland (vgl. 4. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung: <link http: www.bmas.de de service publikationen a334-4-armuts-reichtumsbericht-2013.html>Link zum Bericht), in der alle drei Indikatoren eine wesentliche Rolle zur Bemessung der Quoten spielen.
Die Zahlen zur relativen Einkommensarmut in Deutschland sind nach EU-SILC von 15,2 % im Jahr 2008 auf 16,1 % im Jahr 2012 gestiegen. Die Quote der Beziehenden von Sozialleistungen nimmt seit Jahren ab. Ebenso sinken die Erwerbslosen-zahlen. In Deutschland besteht also die Situation, dass prekäre Beschäftigung (working poor) zu und Erwerbslosigkeit abnimmt. In diesem Kontext steigt aber auch das Armutsrisiko insgesamt. Eine Konzentration auf den Indikator Langzeitarbeitslosigkeit bildet diesen Zusammenhang nicht ab.
Die EU-Kommission sollte sich deshalb dafür einsetzen, dass zukünftig in der nationalen Berichterstattung alle drei Indikatoren als Grundlage der Beschreibung zur Situation der von Armut und Ausgrenzung betroffenen Menschen herangezogen werden.
· Welchen zusätzlichen Nutzen haben die sieben Aktionsprogramme für Wachstum gebracht? Können Sie konkrete Beispiele für die Auswirkungen dieser Programme nennen? [„Vorreiterinitiativen“: „Digitale Agenda für Europa“, „Innovationsunion“, „Jugend in Bewegung“, „Ressourcenschonendes Europa“, „Eine Industriepolitik für das Zeitalter der Globalisierung“, „Agenda für neue Kompetenzen und neue Beschäftigungsmöglichkeiten“, „Europäische Plattform zur Bekämpfung der Armut“].
……
2) Anpassung der Strategie Europa 2020: Wachstumsstrategie für ein Europa nach der Krise
Inhalt und Umsetzung
· Braucht die EU eine umfassende und übergreifende mittelfristige Strategie für Wachstum und Beschäftigung für die nächsten Jahre?
Eine übergreifende mittelfristige Strategie für inklusives Wachstum und Beschäftigung halten wir für erforderlich. Dabei muss es um eine eigenständige sozial verantwortliche Politik gehen.
Zugleich ist bei der strategischen Ausrichtung von „Wachstum und Beschäftigung“ den kompletten beschäftigungspolitischen Leitlinien mehr Rechnung zu tragen. Dies in dem Sinne, dass Beschäftigung nicht nur als ein Instrument zum Wachstum angesehen wird, sondern als ein zentraler Faktor für eine auskömmliche materielle Lebensgrundlage und für soziale Teilhabe.
· In welchen Bereichen müssen wir vorrangig tätig werden, um ein intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum zu erreichen?
Der Fokus sollte vor allem auf gering Qualifizierte, Menschen mit Migrationshintergrund, Alleinerziehende, Haushalte mit Langzeitarbeitslosen gerichtet sein.
Wachstum setzt Innovation voraus. Innovation setzt lebensdienliche Rahmen-bedingungen für Menschen voraus, von denen innovatives und kreatives Handeln ausgeht und ausgehen soll. Der Bereich der Infrastruktur, der Daseinsvorsorge z.B. im Gesundheits- und Sozialsektor, sollte angesichts von Krise und demografischem Wandel einen innovativen Schub erfahren. Hier besteht ein großes Wachstumspotenzial.
· Welche neuen Herausforderungen sollten künftig berücksichtigt werden?
Eine der größten Herausforderungen für die Europäische Union sind die wachsenden Ungleichheiten, sowohl innerhalb der Mitgliedstaaten als auch zwischen den Mitgliedstaaten. Eine Voraussetzung für die Unterstützung der europäischen Einigung durch die Bevölkerung ist das Versprechen von sich angleichenden Lebensverhältnissen und des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhaltes in der EU. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte schwindet als Folge der Krise dieser Zusammenhalt und öffnet sich die Schere zwischen reichen und armen Mitgliedstaaten. Die Vorgaben der EU im Hinblick auf die Sanierung der nationalen öffentlichen Haushalte und eine gemeinsame Wirtschaftspolitik werden für die Verschlechterungen im täglichen Leben der Menschen verantwortlich gemacht. Der Wert der europäischen Einigung für den einzelnen EU-Bürger wird nicht mehr gesehen und damit das ganze Projekt in Frage gestellt. Die EU muss auf diese Herausforderung auch mit einer Stärkung ihres sozialen Profils antworten. Deshalb sollte die Sozialpolitik im Europäischen Semester nicht wie ein Annex der Wirtschaftspolitik behandelt und ähnlich konkrete politische Empfehlungen für sie gegeben werden. Auch sollte geprüft werden, inwieweit finanzpolitischen Maßnahmen erforderlich und geeignet sind, um Ungleichheiten abzubauen, und deshalb im Rahmen der länderspezifischen Empfehlungen den Mitgliedstaaten entsprechende Maßnahmen vorgeschlagen werden können.
Darüber hinaus stellt die Bewältigung des demografischen Wandels eine besondere Anforderung an die Europäische Union und die Mitgliedstaaten dar. Es geht um
- die qualitativ hochwertige Versorgung der Menschen mit erschwinglichen Sozial- und Gesundheitsdienstleistungen,
- die Handlungsfähigkeit und Auskömmlichkeit der sozialen Sicherungssysteme,
- die selbstbestimmte Mobilität von Beschäftigten und
- die flächendeckende und nachhaltige Erbringung sozialer Dienstleistungen.
· Wie lässt sich die Strategie am besten mit anderen EU-Strategien verknüpfen?
Durch Kohärenzabsprachen unter den Akteuren. Dies gilt dann auch für die Europäische Förderpolitik, um Doppelförderungen zu vermeiden. Auch kann die Einbindung in eine umfangreiche Strategie der Nachhaltigkeit hilfreich sein.
Die Europa 2020-Strategie sollte z. B. stärker mit der Agenda des Sozial-investitionspakets und der Strategien der aktiven Eingliederung verknüpft werden. Die Prioritäten des Sozialinvestitionspakets könnten in den Rahmen des Jahreswachstumsberichts aufgenommen werden. Über Fortschritte bei der Umsetzung des Sozialinvestitionspakets sollte in den Nationalen Reformprogrammen berichtet werden.
· Wodurch ließe sich die Einbindung der Interessenträger in eine Wachstumsstrategie für ein Europa nach der Krise verbessern? Was könnte getan werden, damit Ihr Land auf diese Strategie aufmerksam wird und sie unterstützt und besser umsetzt?
Zum Beispiel wäre es ein kleiner aber wesentlicher Schritt, wenn der Deutsche Bundestag eine Plenardebatte zur Ausgestaltung und zu den möglichen Wirkungen der länderspezifischen Empfehlungen für Deutschland ansetzen würde. Dies gilt auch für die anderen mitgliedstaatlichen Parlamente.
Instrumente
· Welche Instrumente hielten Sie für geeigneter, um ein intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum zu erreichen?
Hierzu sollte die Kommission Expertisen unter der Fragestellung einholen, ob globale Wettbewerbsfähigkeit, insbesondere der EU im Verhältnis zu den USA, China/Japan, Mercosur, allein von Wachstum abhängig ist bzw. welche alter-nativen Strategien gesehen werden.
· Wie kann die EU am besten sicherstellen, dass die Strategie Ergebnisse liefert? Was sollten die Mitgliedstaaten dafür tun?
Die EU-Kommission sollte die Nationalen Reformprogramme stärker auf Übereinstimmung mit der Europa 2020 Strategie überprüfen, deutlich Defizite und Erfolge aus ihrer Sicht benennen, insbesondere bezüglich des Ziels der Verringerung von Armut um 20 Millionen Menschen bis 2020. Für die Erreichung dieses Ziels ist die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit zwar ein wichtiger, aber nicht der einzige Faktor. Die EU-Kommission sollte im Benehmen mit dem Rat versuchen, mehr Verbindlichkeit in den immer noch unverbindlichen Charakter der Empfehlungen zu erzielen.
Darüber hinaus könnten in den Mitgliedstaaten während des gesamten Europäischen Semesters Runde Tische mit Beteiligung der für die Umsetzung der Strategie relevanten zivilgesellschaftlichen Akteure eingesetzt werden. Die Agenda für die Diskussion sollte einen Abgleich von NRPs und länderspezifischen Empfehlungen des jeweiligen Mitgliedstaates aus der Vergangenheit beinhalten. Auf Regierungsseite ebenso wie auf zivilgesellschaftlicher Seite sollten weniger die EU-Experten als die Experten der Politikbereiche der Europa 2020-Ziele sitzen. Es wäre über ein trial-and-error System herauszufinden, welchen thematischen Umfang eine solche Runder-Tisch-Sitzung einnehmen sollte. Entscheidend wäre, dass auf Regierungsseite die Ressorts an den Sitzungen aktiv teilnehmen, die die NRPs schreiben und die die länderspezifischen Empfehlungen auswerten.
· Wie kann die Strategie die Mitgliedstaaten dahingehend beeinflussen, dass sie sich in ihrer Politik stärker auf Wachstum konzentrieren?
Die Mitgliedstaaten werden vor allem durch den globalen Wettbewerb zum Wachstum gedrängt, so dass es ganz deutlich auf die Attribute „intelligent, nachhaltig, integrativ“ ankommt, um der Strategie zum Erfolg zu verhelfen.
Im Übrigen ist es ein vielfältiges Thema, wie Wachstum zu generieren ist. Erst wenn die Frage nach dem Instrument für ein „Mehr“ an Wachstum beantwortet ist, lässt sich über verstärkte Konzentration auf Wachstum nachdenken. Als probates Mittel bieten die EU-Verträge ein anzustrebendes Ziel: die soziale Marktwirtschaft. Im Übrigen siehe Frage (1) zu „Instrumente“.
· Sind Zielvorgaben sinnvoll? Bitte erläutern.
Grundsätzlich sind Zielvorgaben sinnvoll, um Anstöße zur Überwindung der unterschiedlichen wirtschaftlichen und sozialen Situationen in den Mitgliedstaaten zu geben. Damit kann eine gemeinsame Strategie auch einen Beitrag zur Kohäsion leisten. Zielvorgaben bleiben allerdings wirkungslos, wenn sie nicht mit konkreten Verpflichtungen und deren Kontrollmöglichkeiten verknüpft werden. Die Verbindlichkeit von Zielvorgaben ist eine wichtige Voraussetzung, wenn es um die Zielerreichung geht.
· Würden Sie empfehlen, bestimmte Ziele hinzuzufügen oder zu streichen – eventuell sogar alle? Bitte erläutern.
Eine Reduzierung der Ziele wird von uns abgelehnt. Allerdings könnten einzelne Ziele vertieft und präzisiert werden, wie bereits oben zur beruflichen Bildung ausgeführt. Im Bereich der Armutsbekämpfung und der sozialen Eingliederung sind weitere Indikatoren heranzuziehen, die die Lebenswirklichkeit der betroffenen Menschen, etwa im Hinblick auf die gesellschaftliche Teilhabe, besser abbilden und damit ein zielgerichteteres Handeln ermöglichen.
· In welchen Bereichen sollten die EU und die Mitgliedstaaten gemeinsam handeln? Welchen Zusatznutzen hätte dies?
Gemeinsam sollten die EU und die Mitgliedstaaten in allen von der Strategie angesprochenen Bereichen handeln. Dabei sollte die EU im Zusammenwirken mit den Mitgliedstaaten konkrete politische Zielvorgaben, gerade auch im Hinblick auf die Armutsbekämpfung, verabreden. Das Europäische Parlament, das bisher nur marginal beteiligt ist, ist sowohl bei der Erstellung des Jahreswachstumsberichtes als auch der Verabschiedung der länderspezifischen Empfehlungen einzu-beziehen. Auch die Vertreter der Zivilgesellschaft auf europäischer Ebene sollten mitwirken.
Die Umsetzung erfolgt durch die Mitgliedstaaten, unterstützt durch EU-Förderprogramme, insbesondere die Strukturfonds. An der Erarbeitung der nationalen Zielvorgaben in den NRP sind die nationalen Parlamente und die Akteure der Zivilgesellschaft substantiell zu beteiligen.
Die länderspezifischen Empfehlungen mit ihren Anknüpfungspunkten an die jeweiligen nationalen Reformprogramme können nämlich nur dann erfolgreich sein, wenn die Mitgliedstaaten eine ownership für die konkreten Inhalte übernehmen. Hier spielt wieder die Beteiligung der Zivilgesellschaft eine große Rolle, die ihre Modelle und Vorschläge zur Umsetzung der Empfehlungen in einem strukturierten Dialog mit der Regierung diskutieren können sollte.
Der in der Strategie angelegte Rechtfertigungsdruck gegenüber den Mitgliedstaaten, entsprechend der Empfehlungen zu handeln und wenn nicht, Gründe dafür zu benennen, wird erst dann konstruktiv und effektiv, wenn die Akteure der Zivilgesellschaft in eine partnerschaftliche Diskussion zur Strategie Europa 2020 und ihre Einzelschritte mit der Regierung eintreten können.
Zum Zusatznutzen des gemeinsamen Handelns zählt zudem der good practice Austausch unter den Stakeholdern (Regierungen, Zivilgesellschaft), begleitet durch Leitlinien der EU-Ebene. Damit die gewonnenen Ergebnisse dieser Austausche auch zu einem best practice werden und in einem oder mehreren Mitgliedstaaten implementiert werden können, braucht es künftig eine Öffnung des SPC für Teilnehmende aus der Zivilgesellschaft und dies nicht nur für von Regierungen herangezogene Experten.
3) Haben Sie weitere Anmerkungen oder Vorschläge zur Strategie Europa 2020?
Den Aussagen der Mitteilung der EU-Kommission vom 5. März 2014[2] zufolge ist die Strategie Europa 2020, im Hinblick auf ihre für die BAGFW relevanten Ziele, überwiegend erfolglos: Das Beschäftigungsziel wird europaweit nicht erreicht, das Armutsbekämpfungsziel wird nicht nur nicht erreicht, sondern die Anzahl armer Menschen in der EU hat sogar zugenommen.
Aus Sicht der BAGFW ist es ein wichtiger Fortschritt, dass die sozialen Ziele der Strategie Europa 2020 im Europäischen Semester – wenn auch noch nicht in ausreichender Weise – mit verhandelt werden. Noch nie haben sich nicht nur die EU-Institutionen, sondern - wohl auch verstärkt durch die Krise - auch die Staats- und Regierungschefs und die Öffentlichkeit so intensiv mit der sozialen Lage in den einzelnen Mitgliedstaaten befasst. Und das ist auch richtig so, denn ohne ausreichenden sozialen Schutz wird Wirtschaftspolitik nicht erfolgreich sein.
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Die EU-Kommission weist selbst auf die wachsende Ungleichheit der Lebensverhältnisse in den EU-Mitgliedstaaten hin. Die letzten Jahre haben gezeigt, wie sehr diese Entwicklung die Unterstützung des europäischen Einigungsprozesses nicht nur in Mitgliedstaaten, die von der Krise besonders betroffen sind, gefährdet, und dass Grundpfeiler dieser Einigung, wie die Arbeitnehmerfreizügigkeit, in Frage gestellt werden.
Das Armutsbekämpfungsziel und die anderen sozial bedeutsamen Ziele der Strategie Europa 2020 dürfen nicht aufgegeben, sondern müssen vielmehr deutlich gestärkt und im Europäischen Semester gleichrangig mit den wirtschaftlichen und haushalts-politischen Zielsetzungen behandelt werden. Dafür setzt sich die BAGFW in der aktuellen Konsultation zur Halbzeitbewertung der Strategie Europa 2020 ein.
Außerdem sollte die EU-Kommission noch einmal deutlich auf die drei Indikatoren zur Erfassung von Armut durch die Mitgliedstaaten hinweisen. Die Halbzeitbilanz könnte dazu genutzt werden die Indikatoren anzupassen. Die EU-Kommission sollte sich dafür einsetzen, dass alle drei Indikatoren („Langzeitarbeitslosigkeit“, „materielle Deprivation“ und „relative Einkommensarmut“) zur Messung von Armut in Europa verbindlich durch die Mitgliedstaaten berücksichtigt werden.
Mitgliedstaaten, die EU-Finanzhilfen in Anspruch nehmen („Programmländer“) sollten, wie alle anderen Länder auch, umfassende länderspezifische Empfehlungen erhalten. Die länderspezifischen Empfehlungen für Programmländer sollten nicht darauf beschränkt werden, die Mitgliedstaaten lediglich zur Umsetzung der getroffenen Vereinbarungen („Memorandum of Understanding“) aufzurufen. So wird sichergestellt, dass beispielsweise das Armutsziel weiter berücksichtigt wird.
Die EU sollte bei der Vergabe der Mittel aus den Strukturfonds (vor allem ESF) eine Quote vorgeben, welcher Anteil der Mittel von den Nationalstaaten selbst und welcher Anteil von zivilgesellschaftlichen Trägern für die Erlangung der Ziele eingesetzt werden. Dadurch würde die Zivilgesellschaft stärker beteiligt und die Effizienz der Mittelverwendung könnte gesteigert werden. Dieser Multiplikatoreffekt könnte die Erreichung der Ziele befördern.
[1] Im Januar 2014 hat die Kommission einen energie- und klimapolitischen <link http: eur-lex.europa.eu lexuriserv>Rahmen bis 2030 angenommen. Zu den wichtigsten Zielen in diesem neuen Rahmen zählen eine Verringerung der Treibhausgasemissionen um 40 % unter den Stand von 1990, ein verbindliches EU-weites Ziel für den Anteil erneuerbarer Energien von mindestens 27 % und die Wiederaufnahme einer ambitionierten Energieeffizienz-Politik.
[2] Mitteilung der EU-Kommission zur Bestandsaufnahme der Strategie Europa 2020 vom 05.03.2014, siehe: <link http: ec.europa.eu europe2020 pdf europe2020stocktaking_de.pdf>ec.europa.eu/europe2020/pdf/europe2020stocktaking_de.pdf
<link>
Die Strategie „Europa 2020“ wurde im März 2010 als EU-Strategie zur Förderung eines intelligenten, nachhaltigen und integrativen Wachstums auf den Weg gebracht. Sie zielt auf eine wissensgestützte, wettbewerbsfähige europäische Wirtschaft bei gleichzeitiger Wahrung der sozialen Marktwirtschaft in der EU und Verbesserung der Ressourceneffizienz. Daher wurde sie als Partnerschaft zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten zur Förderung von Wachstum und Beschäftigung konzipiert.
Die Strategie Europa 2020 ist auf fünf Kernziele in den Bereichen Beschäftigung, Forschung und Entwicklung, Klima und Energie1, Bildung sowie Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung ausgerichtet. Außerdem umfasst sie sieben Aktionsprogramme, so genannte Vorreiterinitiativen, in Bereichen, die als entscheidende Triebkräfte für das Wachstum gelten, nämlich Innovation, digitale Wirtschaft, Beschäftigung, Jugend, Industriepolitik, Armut und Ressourceneffizienz. Die Ziele der Strategie werden auch durch Maßnahmen auf EU-Ebene unterstützt, beispielsweise in den Bereichen Binnenmarkt, EU- Haushalt und Außenpolitik der EU.
Die Umsetzung und Überwachung der Strategie Europa 2020 erfolgt im Rahmen des Europäischen Semesters (jährlicher Zyklus der Koordinierung der Wirtschafts- und Haushaltspolitik der EU-Länder). Im Rahmen des Europäischen Semesters einigen sich die EU-Institutionen auf allgemeine Prioritäten und die jährlichen Mittelbindungen der Mitgliedstaaten und erörtern die von der Kommission erarbeiteten und auf höchster Ebene von den Staats- und Regierungschefs im Europäischen Rat gebilligten länderspezifischen Empfehlungen. Diese Empfehlungen sollten dann in die Politik- und Haushaltsgestaltung der Mitgliedstaaten einfließen. Zusammen mit dem EU-Haushalt sind die länderspezifischen Empfehlungen wesentliche Instrumente für die Umsetzung der Strategie Europa 2020.
Vier Jahre nach der Einführung der Strategie Europa 2020 hat die Kommission vorgeschlagen, die Strategie einer Überprüfung zu unterziehen, und der Europäische Rat hat diesem Vorschlag am 20./21. März 2014 zugestimmt. Am 5. März 2014 hat die Kommission eine Mitteilung „Bestandsaufnahme der Strategie Europa 2020 für intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum“ angenommen (Mitteilung und Anhänge), in der sie vorläufige Schlüsse aus den ersten Jahren der Umsetzung der Strategie zieht. Aufbauend auf diesen ersten Ergebnissen und im Umfeld einer allmählichen Erholung der europäischen Volkswirtschaften sollten wir nun über die Ausgestaltung der Strategie für die kommenden Jahre nachdenken.
Mit diesen Fragen möchten wir Ihre Meinung dazu einholen, was aus den ersten Jahren der Strategie Europa 2020 zu lernen ist und was wir bei ihrer Weiterentwicklung zu einer Nachkrisen-Wachstumsstrategie berücksichtigen müssen.
B) Fragen:
1) Bilanz der Strategie „Europa 2020“ von 2010 bis 2014
Inhalt und Umsetzung
• Was bedeutet die Strategie Europa 2020 für Sie? Was verbinden Sie hauptsächlich mit der Strategie?
Ganz allgemein ist es aus Sicht der BAGFW ein politischer Gewinn, dass der Wachstumsbegriff eine Qualifizierung erhalten hat, die Nachhaltigkeit, Inklusion und Intelligenz im Umgang mit Wachstum umfasst.
Für die BAGFW sind vor allem die sozialpolitischen Ziele von Relevanz. Neben den Beschäftigungs- und Bildungszielen ist besonders das Armutsziel für die BAGFW entscheidend. Erstmals wurde das Thema „soziale Inklusion“ durch die Europa 2020 Strategie auf die europäische Agenda gesetzt, weshalb die BAGFW die Strategie ausdrücklich unterstützt.
Ziel der Strategie „Europa 2020“ ist es, Wachstums- und Beschäftigungsimpulse zu setzen. Die Wirtschafts- und Finanzkrise hat aber in zahlreichen Mitgliedstaaten zu einer Austeritäts- und ausgabenreduzierten Wachstumspolitik geführt. Darunter litten vor allem in den Programmländern die sozialpolitischen Ziele, insbesondere das Armutsziel.
Aus Sicht der BAGFW kann die Europa 2020 Strategie am Ende der Dekade aber nur erfolgreich sein, wenn sich für die Menschen „soziale Inklusion“ im Sinne des erklärten integrativen Wachstums in ihrer Lebenswirklichkeit erkennen lässt. Die wirtschaftliche Überwindung der Krise und die Verwirklichung der sozialen Inklusion müssen als zwei Seiten einer Medaille gesehen werden.
• Hat die Strategie Europa 2020 Ihrer Auffassung nach etwas bewirkt? Bitte erläutern.
Die Strategie hat es zumindest geschafft, klare Zielvorgaben zu benennen. Auch die Verknüpfung mit dem Europäischen Semester ist zu begrüßen und sinnvoll. Allerdings bedarf es hierbei einer noch intensiveren Verzahnung. Eine verbesserte Abstimmung zwischen den Instrumenten der Offenen Methode der Koordinierung und dem Europäischen Semester ist notwendig. Die sozialpolitischen Vorgaben und insbesondere das Ziel zur Armutsbekämpfung: Reduzierung der von Armut bedrohten Menschen um mindestens 20 Mio. (= -25%) müssen mehr und besser in den Prozess der Nationalen Reformprogramme (NRP) integriert werden, um eine stärkere Zielverpflichtung der Mitgliedstaaten zu erreichen und dadurch mehr Verbindlichkeit sicherzustellen.
Die Wirkung und der Wert der Strategie liegen vor allem in der Notwendigkeit der Mitgliedstaaten, sich enger miteinander abzustimmen, und in der damit verbundenen Möglichkeit einer gemeinschaftlichen Prozesssteuerung. Dabei soll der richtige makroökonomische Reformpfad beschritten werden und sich die nationalen Wirtschaftspolitiken am Reform- und Modernisierungsbedarf ausrichten, wie er vom Jahreswachstumsbericht und den Nationalen Reformprogrammen (NRPs) beschrieben wird.
Allerdings ist zu berücksichtigen, dass sich die Reformen häufig in Gebieten bewegen, in denen die Kommission keine oder eine nur teilweise Möglichkeit zur Gesetzgebung hat. Bewirkt hat die Strategie u.a. über ihren Prozess des Europäischen Semesters, dass eine stärkere politische Wahrnehmung gesamteuropäischer Zusammenhänge auf nationaler Ebene und auch eine stärkere Verbindlichkeit vor allem der Wachstumsverpflichtung erzielt wird. Die Verbindlichkeit der qualitativen Ziele leidet allerdings unter der oft eindimensionalen Ausrichtung der Mitgliedstaaten auf das wirtschaftliche Wachstum.
• Hat sich Ihr Land von dem Vorgehen anderer EU-Länder in den Europa-2020- Kernbereichen beeinflussen lassen? Bitte führen Sie Beispiele an.
Hierzu liegen uns keine Erkenntnisse vor. Nach unserem Eindruck ist dies nicht der Fall.
• Sind die Interessenträger in Ihrem Land ausreichend in die Strategie Europa 2020 eingebunden? Sind Sie selbst in die Strategie Europa 2020 eingebunden? Würden Sie sich gern stärker beteiligen? Falls ja, wie?
Nach anfänglichen Schwierigkeiten hat das deutsche Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) die Sozialverbände bei der Erstellung der jährlichen Fortschreibung des NRP einbezogen. Die Fristsetzungen sind jedoch – auch durch die Terminsetzung des Europäischen Semesters – immer noch zu eng. Ohne entsprechende Vorarbeiten und Begleitung durch vorhandene administrative Strukturen in den Organisationen, die den europäischen Prozess verfolgen, wäre eine Mitwirkung kaum möglich. Oft müssen Rückmeldungen innerhalb weniger Tage (in 2014 waren es lediglich 2 Werktage!) bei den Ministerien eingehen. Wir fordern daher eine Frist von mindestens 10 Werktagen, um eine angemessene Zeit für eine ordentliche Konsultation der Organisationen der Zivilgesellschaft sicherzustellen.
Bislang fanden die mündlichen Konsultationen durch das BMAS vor allem in einem Rahmen statt, in dem Verfahrensabläufe, Zeitfenster und Fragen zum Verhältnis des Europäischen Semesters zur Methode der offenen Koordinierung thematisiert werden konnten. Im Semester 2014 hatte das Konsultationstreffen keine Textgrundlage, d.h. der Entwurf des Nationalen Reformprogramms (NRP) lag noch nicht vor. Die Verbände konnten ihre Interventionen also allenfalls auf der Grundlage der länderspezifischen Empfehlungen von 2013 und ihrer Erwartungen an mögliche Schwerpunkte der Bundesregierung im NRP formulieren. Ein regelmäßiger Dialog mit dem bei der Erstellung des NRP federführenden Bundeswirtschaftsministerium findet bedauerlicherweise nicht statt.
Von daher schlägt die BAGFW vor, dass die Kommission, wie im Rahmen ihrer Leitinitiative der Plattform zur Bekämpfung von Armut und Ausgrenzung angekündigt, einen Konsultationsleitfaden veröffentlicht, der sich z.B. am Verhaltenskodex der Strukturfondsverordnungen orientieren könnte und den Mitgliedstaaten Leitlinien für die Einbeziehung zivilgesellschaftlicher Organisationen an die Hand gibt. Der Leitfaden könnte sich auch an Partizipationsmustern orientieren, wie sie etwa die österreichische Bundes-regierung vorgelegt hat.
Instrumente
• Entsprechen die derzeitigen Ziele für 2020 den mit der Strategie angestrebten Zielen, Wachstum und Beschäftigung zu fördern? [Ziele: Beschäftigungsgrad in der Altersgruppe 20 bis 64 Jahre mindestens 75 %; Investitionen in Forschung und Entwicklung in Höhe von 3 % des BIP; Senkung der Treibhausgasemissionen um mindestens 20 %, Steigerung des Anteils erneuerbarer Energien auf 20 % und Verbesserung der Energieeffizienz um 20 %; Verringerung des Anteils frühzeitiger Schulabgänger auf unter 10 % und Steigerung des Anteils junger Menschen mit Hochschulabschluss auf mindestens 40 %; Verringerung der Zahl von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedrohter Personen um mindestens 20 %].
Im Grundsatz kann den Zielen zugestimmt werden. Die Finanzkrise hat allerdings gezeigt, dass externe Faktoren schnell einzelne Ziele, wie etwa das der Armutsbekämpfung, gefährden. Es wird deshalb bis 2020 nicht darauf ankommen, es bei der Beschreibung der Ziele zu belassen. Es kommt vielmehr darauf an, die Verbindlichkeit der vorhandenen Strategien zu verbessern. Hierzu gehört, dass die politischen Entscheidungen in ihren Wirkungen auf die Ziele besser überprüft werden.
Auch wenn die angestrebten Ziele bis 2020 voraussichtlich nicht mehr zu erreichen sind, sollte man nicht generell von einem Scheitern der Strategie sprechen. Die Strategie ist komplex und in sich von Zielkonflikten zwischen wirtschaftspolitischen Strategien einerseits und sozialpolitischen Zielen andererseits geprägt. Dieser Widerspruch in den möglichen Instrumenten lässt sich nicht auflösen und führt teilweise zum Stillstand. Gleichwohl spricht sich die BAGFW für die Weiterverfolgung der 2010 gesetzten Ziele aus, denn nur so kann die Chance realisiert werden, qualitatives wirtschaftliches Wachstum zu erreichen und u.a. erfolgreiche Maßnahmen zur Armutsbekämpfung umzusetzen.
Im Hinblick auf die Jugendarbeitslosigkeit und die Förderung von Beschäftigung ist die Fokussierung auf junge Menschen mit Hochschulabschluss zu einseitig. Hier sollte auch die berufliche Bildung stärker einbezogen und die Ansätze der Jugendstrategie vertieft werden.
• Sind Ihrer Ansicht nach einige der derzeitigen Ziele wichtiger als andere? Bitte erläutern.
Aus Sicht der sozialen Organisationen sind die soziale Integration von benachteiligten Menschen, und damit die Bekämpfung von Armut, die Schaffung von Arbeitsplätzen und die Verbesserung der Bildungssysteme, besonders wichtig. Dies bedeutet aber nicht, dass wir uns für eine generelle Gewichtung der Europa 2020 Ziele aussprechen.
Ein jedes Ziel sollte für sich genommen zu seiner optimalen Entfaltung gebracht werden, und Zielkonflikte sollten zugunsten einer würdevollen Existenzgrundlage für die Menschen aufgelöst werden.
• Halten Sie es für sinnvoll, dass die EU-weiten Ziele in nationale Ziele untergliedert sind?
Wenn ja, wie lassen sich dann Ihrer Ansicht nach die nationalen Ziele am besten festsetzen? Wurden die nationalen Ziele bisher angemessen/zu hoch/nicht hoch genug angesetzt?
Eine Untergliederung in nationale Ziele ist sinnvoll, um die unterschiedlichen Systeme in den Mitgliedstaaten angemessen zu berücksichtigen. Deutschland hat sich bislang im Bereich der sozialen Eingliederung wenig ambitionierte Ziele gesetzt, da eine Beschränkung auf den Indikator „Langzeitarbeitslosigkeit“ vorgenommen wurde. Der Indikator Langzeitarbeitslosigkeit zielt zwar auf eine Zielgruppe, die besonders von Armut betroffen ist. Es war allerdings von Anfang an absehbar, dass die Reduzierung um 20 % angesichts der Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt in Deutschland frühzeitig, nämlich schon in 2012, erreicht würde. Deutschland muss sich daher deutlich ambitioniertere Ziele setzen, sei es bei der Zahl der Langzeitarbeitslosen oder bei anderen Personengruppen, die in besonderem Maße von Armut betroffen und von materieller und gesellschaftlicher Teilhabe ausgegrenzt sind. Außerdem sind nach Auffassung der BAGFW deutlich umfassendere sozialpädagogische und förderpolitische Maßnahmen nötig, um gerade Langzeitarbeitslosen und Menschen mit multiplen Vermittlungsproblemen zu helfen (z.B. Wohnungslose oder Suchterkrankte).
Die EU-Kommission hatte es ursprünglich den Mitgliedstaaten überlassen, ob sie bezüglich der Messung der Fortschritte im Bereich „soziale Inklusion“ einen, zwei oder alle drei Indikatoren anwenden.
Die den Mitgliedstaaten eröffnete Option, aus den drei europäischen Indikatoren einen nationalen Indikator zu wählen, wurde in Deutschland dazu genutzt, um die nationale Besonderheit der deutlichen (statistischen) Absenkung der Langzeitarbeitslosigkeit seit 2008 herauszustellen. Dies soll als spezifisch für die Politik der Armutsbekämpfung angesehen werden. Die typisch deutsche Situation könne danach nur mit dem Indikator„Langzeitarbeitslosigkeit“ dargestellt werden. Dies rechtfertige den Verzicht auf die beiden weiteren Indikatoren, denn eine Berichterstattung zur Armutspolitik gegenüber der Kommission könne sich nur auf einen spezifischen, zum jeweiligen Mitgliedstaat passenden Indikator beziehen.
Diese Argumentation widerspricht jedoch der nationalen Berichterstattung zur Armuts- und Reichtumslage in Deutschland (vgl. 4. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung: Link zum Bericht), in der alle drei Indikatoren eine wesentliche Rolle zur Bemessung der Quoten spielen.
Die Zahlen zur relativen Einkommensarmut in Deutschland sind nach EU-SILC von 15,2 % im Jahr 2008 auf 16,1 % im Jahr 2012 gestiegen. Die Quote der Beziehenden von Sozialleistungen nimmt seit Jahren ab. Ebenso sinken die Erwerbslosen-zahlen. In Deutschland besteht also die Situation, dass prekäre Beschäftigung (working poor) zu und Erwerbslosigkeit abnimmt. In diesem Kontext steigt aber auch das Armutsrisiko insgesamt. Eine Konzentration auf den Indikator Langzeitarbeitslosigkeit bildet diesen Zusammenhang nicht ab.
Die EU-Kommission sollte sich deshalb dafür einsetzen, dass zukünftig in der nationalen Berichterstattung alle drei Indikatoren als Grundlage der Beschreibung zur Situation der von Armut und Ausgrenzung betroffenen Menschen herangezogen werden.
• Welchen zusätzlichen Nutzen haben die sieben Aktionsprogramme für Wachstum gebracht? Können Sie konkrete Beispiele für die Auswirkungen dieser Programme nennen? [„Vorreiterinitiativen“: „Digitale Agenda für Europa“, „Innovationsunion“, „Jugend in Bewegung“, „Ressourcenschonendes Europa“, „Eine Industriepolitik für das Zeitalter der Globalisierung“, „Agenda für neue Kompetenzen und neue Beschäftigungsmöglichkeiten“, „Europäische Plattform zur Bekämpfung der Armut“].
2) Anpassung der Strategie Europa 2020: Wachstumsstrategie für ein Europa nach der Krise
Inhalt und Umsetzung
• Braucht die EU eine umfassende und übergreifende mittelfristige Strategie für Wachstum und Beschäftigung für die nächsten Jahre?
Eine übergreifende mittelfristige Strategie für inklusives Wachstum und Beschäftigung halten wir für erforderlich. Dabei muss es um eine eigenständige sozial verantwortliche Politik gehen.
Zugleich ist bei der strategischen Ausrichtung von „Wachstum und Beschäftigung“ den kompletten beschäftigungspolitischen Leitlinien mehr Rechnung zu tragen. Dies in dem Sinne, dass Beschäftigung nicht nur als ein Instrument zum Wachstum angesehen wird, sondern als ein zentraler Faktor für eine auskömmliche materielle Lebensgrundlage und für soziale Teilhabe.
• In welchen Bereichen müssen wir vorrangig tätig werden, um ein intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum zu erreichen?
Der Fokus sollte vor allem auf gering Qualifizierte, Menschen mit Migrationshintergrund, Alleinerziehende, Haushalte mit Langzeitarbeitslosen gerichtet sein.
Wachstum setzt Innovation voraus. Innovation setzt lebensdienliche Rahmen- bedingungen für Menschen voraus, von denen innovatives und kreatives Handeln ausgeht und ausgehen soll. Der Bereich der Infrastruktur, der Daseinsvorsorge z.B. im Gesundheits- und Sozialsektor, sollte angesichts von Krise und demografischem Wandel einen innovativen Schub erfahren. Hier besteht ein großes Wachstumspotenzial.
• Welche neuen Herausforderungen sollten künftig berücksichtigt werden?
Eine der größten Herausforderungen für die Europäische Union sind die wachsenden Ungleichheiten, sowohl innerhalb der Mitgliedstaaten als auch zwischen den Mitgliedstaaten. Eine Voraussetzung für die Unterstützung der europäischen Einigung durch die Bevölkerung ist das Versprechen von sich angleichenden Lebensverhältnissen und des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhaltes in der EU. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte schwindet als Folge der Krise dieser Zusammenhalt und öffnet sich die Schere zwischen reichen und armen Mitgliedstaaten. Die Vorgaben der EU im Hinblick auf die Sanierung der nationalen öffentlichen Haushalte und eine gemeinsame Wirtschaftspolitik werden für die Verschlechterungen im täglichen Leben der Menschen verantwortlich gemacht. Der Wert der europäischen Einigung für den einzelnen EU- Bürger wird nicht mehr gesehen und damit das ganze Projekt in Frage gestellt. Die EU muss auf diese Herausforderung auch mit einer Stärkung ihres sozialen Profils antworten. Deshalb sollte die Sozialpolitik im Europäischen Semester nicht wie ein Annex der Wirtschaftspolitik behandelt und ähnlich konkrete politische Empfehlungen für sie gegeben werden. Auch sollte geprüft werden, inwieweit finanzpolitischen Maßnahmen erforderlich und geeignet sind, um Ungleichheiten abzubauen, und deshalb im Rahmen der länderspezifischen Empfehlungen den Mitgliedstaaten entsprechende Maßnahmen vorgeschlagen werden können.
Darüber hinaus stellt die Bewältigung des demografischen Wandels eine besondere Anforderung an die Europäische Union und die Mitgliedstaaten dar. Es geht um
- die qualitativ hochwertige Versorgung der Menschen mit erschwinglichen Sozial- und
Gesundheitsdienstleistungen,
- die Handlungsfähigkeit und Auskömmlichkeit der sozialen Sicherungssysteme,
- die selbstbestimmte Mobilität von Beschäftigten und
- die flächendeckende und nachhaltige Erbringung sozialer Dienstleistungen.
• Wie lässt sich die Strategie am besten mit anderen EU-Strategien verknüpfen?
Durch Kohärenzabsprachen unter den Akteuren. Dies gilt dann auch für die Europäische Förderpolitik, um Doppelförderungen zu vermeiden. Auch kann die Einbindung in eine umfangreiche Strategie der Nachhaltigkeit hilfreich sein.
Die Europa 2020-Strategie sollte z. B. stärker mit der Agenda des Sozial- investitionspakets und der Strategien der aktiven Eingliederung verknüpft werden. Die Prioritäten des Sozialinvestitionspakets könnten in den Rahmen des Jahreswachstumsberichts aufgenommen werden. Über Fortschritte bei der Umsetzung des Sozialinvestitionspakets sollte in den Nationalen Reformprogrammen berichtet werden.
• Wodurch ließe sich die Einbindung der Interessenträger in eine Wachstumsstrategie für ein Europa nach der Krise verbessern? Was könnte getan werden, damit Ihr Land auf diese Strategie aufmerksam wird und sie unterstützt und besser umsetzt?
Zum Beispiel wäre es ein kleiner aber wesentlicher Schritt, wenn der Deutsche Bundestag eine Plenardebatte zur Ausgestaltung und zu den möglichen Wirkungen der länderspezifischen Empfehlungen für Deutschland ansetzen würde. Dies gilt auch für die anderen mitgliedstaatlichen Parlamente.
Instrumente
• Welche Instrumente hielten Sie für geeigneter, um ein intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum zu erreichen?
Hierzu sollte die Kommission Expertisen unter der Fragestellung einholen, ob globale Wettbewerbsfähigkeit, insbesondere der EU im Verhältnis zu den USA, China/Japan, Mercosur, allein von Wachstum abhängig ist bzw. welche alter-nativen Strategien gesehen werden.
• Wie kann die EU am besten sicherstellen, dass die Strategie Ergebnisse liefert? Was sollten die Mitgliedstaaten dafür tun?
Die EU-Kommission sollte die Nationalen Reformprogramme stärker auf Übereinstimmung mit der Europa 2020 Strategie überprüfen, deutlich Defizite und Erfolge aus ihrer Sicht benennen, insbesondere bezüglich des Ziels der Verringerung von Armut um 20 Millionen Menschen bis 2020. Für die Erreichung dieses Ziels ist die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit zwar ein wichtiger, aber nicht der einzige Faktor. Die EU-Kommission sollte im Benehmen mit dem Rat versuchen, mehr Verbindlichkeit in den immer noch unverbindlichen Charakter der Empfehlungen zu erzielen.
Darüber hinaus könnten in den Mitgliedstaaten während des gesamten Europäischen Semesters Runde Tische mit Beteiligung der für die Umsetzung der Strategie relevanten zivilgesellschaftlichen Akteure eingesetzt werden. Die Agenda für die Diskussion sollte einen Abgleich von NRPs und länderspezifischen Empfehlungen des jeweiligen Mitgliedstaates aus der Vergangenheit beinhalten. Auf Regierungsseite ebenso wie auf zivilgesellschaftlicher Seite sollten weniger die EU-Experten als die Experten der Politikbereiche der Europa 2020-Ziele sitzen. Es wäre über ein trial-and-error System herauszufinden, welchen thematischen Umfang eine solche Runder-Tisch-Sitzung einnehmen sollte. Entscheidend wäre, dass auf Regierungsseite die Ressorts an den Sitzungen aktiv teilnehmen, die die NRPs schreiben und die die länderspezifischen Empfehlungen auswerten.
• Wie kann die Strategie die Mitgliedstaaten dahingehend beeinflussen, dass sie sich in ihrer Politik stärker auf Wachstum konzentrieren?
Die Mitgliedstaaten werden vor allem durch den globalen Wettbewerb zum Wachstum gedrängt, so dass es ganz deutlich auf die Attribute „intelligent, nachhaltig, integrativ“ ankommt, um der Strategie zum Erfolg zu verhelfen.
Im Übrigen ist es ein vielfältiges Thema, wie Wachstum zu generieren ist. Erst wenn die Frage nach dem Instrument für ein „Mehr“ an Wachstum beantwortet ist, lässt sich über verstärkte Konzentration auf Wachstum nachdenken. Als probates Mittel bieten die EU- Verträge ein anzustrebendes Ziel: die soziale Marktwirtschaft. Im Übrigen siehe Frage (1) zu „Instrumente“.
• Sind Zielvorgaben sinnvoll? Bitte erläutern.
Grundsätzlich sind Zielvorgaben sinnvoll, um Anstöße zur Überwindung der unterschiedlichen wirtschaftlichen und sozialen Situationen in den Mitgliedstaaten zu geben. Damit kann eine gemeinsame Strategie auch einen Beitrag zur Kohäsion leisten. Zielvorgaben bleiben allerdings wirkungslos, wenn sie nicht mit konkreten Verpflichtungen und deren Kontrollmöglichkeiten verknüpft werden. Die Verbindlichkeit von Zielvorgaben ist eine wichtige Voraussetzung, wenn es um die Zielerreichung geht.
• Würden Sie empfehlen, bestimmte Ziele hinzuzufügen oder zu streichen – eventuell sogar alle? Bitte erläutern.
Eine Reduzierung der Ziele wird von uns abgelehnt. Allerdings könnten einzelne Ziele vertieft und präzisiert werden, wie bereits oben zur beruflichen Bildung ausgeführt. Im Bereich der Armutsbekämpfung und der sozialen Eingliederung sind weitere Indikatoren heranzuziehen, die die Lebenswirklichkeit der betroffenen Menschen, etwa im Hinblick auf die gesellschaftliche Teilhabe, besser abbilden und damit ein zielgerichteteres Handeln ermöglichen.
• In welchen Bereichen sollten die EU und die Mitgliedstaaten gemeinsam handeln?
Welchen Zusatznutzen hätte dies?
Gemeinsam sollten die EU und die Mitgliedstaaten in allen von der Strategie angesprochenen Bereichen handeln. Dabei sollte die EU im Zusammenwirken mit den Mitgliedstaaten konkrete politische Zielvorgaben, gerade auch im Hinblick auf die Armutsbekämpfung, verabreden. Das Europäische Parlament, das bisher nur marginal beteiligt ist, ist sowohl bei der Erstellung des Jahreswachstumsberichtes als auch der Verabschiedung der länderspezifischen Empfehlungen einzu-beziehen. Auch die Vertreter der Zivilgesellschaft auf europäischer Ebene sollten mitwirken.
Die Umsetzung erfolgt durch die Mitgliedstaaten, unterstützt durch EU- Förderprogramme, insbesondere die Strukturfonds. An der Erarbeitung der nationalen Zielvorgaben in den NRP sind die nationalen Parlamente und die Akteure der Zivilgesellschaft substantiell zu beteiligen.
Die länderspezifischen Empfehlungen mit ihren Anknüpfungspunkten an die jeweiligen nationalen Reformprogramme können nämlich nur dann erfolgreich sein, wenn die Mitgliedstaaten eine ownership für die konkreten Inhalte übernehmen. Hier spielt wieder die Beteiligung der Zivilgesellschaft eine große Rolle, die ihre Modelle und Vorschläge zur Umsetzung der Empfehlungen in einem strukturierten Dialog mit der Regierung diskutieren können sollte.
Der in der Strategie angelegte Rechtfertigungsdruck gegenüber den Mitgliedstaaten, entsprechend der Empfehlungen zu handeln und wenn nicht, Gründe dafür zu benennen, wird erst dann konstruktiv und effektiv, wenn die Akteure der Zivilgesellschaft in eine partnerschaftliche Diskussion zur Strategie Europa 2020 und ihre Einzelschritte mit der Regierung eintreten können.
Zum Zusatznutzen des gemeinsamen Handelns zählt zudem der good practice Austausch unter den Stakeholdern (Regierungen, Zivilgesellschaft), begleitet durch Leitlinien der EU-Ebene. Damit die gewonnenen Ergebnisse dieser Austausche auch zu einem best practice werden und in einem oder mehreren Mitgliedstaaten implementiert werden können, braucht es künftig eine Öffnung des SPC für Teilnehmende aus der Zivilgesellschaft und dies nicht nur für von Regierungen herangezogene Experten.
3) Haben Sie weitere Anmerkungen oder Vorschläge zur Strategie Europa 2020?
Den Aussagen der Mitteilung der EU-Kommission vom 5. März 20142 zufolge ist die Strategie Europa 2020, im Hinblick auf ihre für die BAGFW relevanten Ziele, überwiegend erfolglos: Das Beschäftigungsziel wird europaweit nicht erreicht, das Armutsbekämpfungsziel wird nicht nur nicht erreicht, sondern die Anzahl armer Menschen in der EU hat sogar zugenommen.
Aus Sicht der BAGFW ist es ein wichtiger Fortschritt, dass die sozialen Ziele der Strategie Europa 2020 im Europäischen Semester – wenn auch noch nicht in ausreichender Weise – mit verhandelt werden. Noch nie haben sich nicht nur die EU-Institutionen, sondern - wohl auch verstärkt durch die Krise - auch die Staats- und Regierungschefs und die Öffentlichkeit so intensiv mit der sozialen Lage in den einzelnen Mitgliedstaaten befasst. Und das ist auch richtig so, denn ohne ausreichenden sozialen Schutz wird Wirtschaftspolitik nicht erfolgreich sein.
Die EU-Kommission weist selbst auf die wachsende Ungleichheit der Lebensverhältnisse in den EU-Mitgliedstaaten hin. Die letzten Jahre haben gezeigt, wie sehr diese Entwicklung die Unterstützung des europäischen Einigungsprozesses nicht nur in Mitgliedstaaten, die von der Krise besonders betroffen sind, gefährdet, und dass Grundpfeiler dieser Einigung, wie die Arbeitnehmerfreizügigkeit, in Frage gestellt werden.
Das Armutsbekämpfungsziel und die anderen sozial bedeutsamen Ziele der Strategie Europa 2020 dürfen nicht aufgegeben, sondern müssen vielmehr deutlich gestärkt und im Europäischen Semester gleichrangig mit den wirtschaftlichen und haushalts-politischen Zielsetzungen behandelt werden. Dafür setzt sich die BAGFW in der aktuellen Konsultation zur Halbzeitbewertung der Strategie Europa 2020 ein.
Außerdem sollte die EU-Kommission noch einmal deutlich auf die drei Indikatoren zur Erfassung von Armut durch die Mitgliedstaaten hinweisen. Die Halbzeitbilanz könnte dazu genutzt werden die Indikatoren anzupassen. Die EU-Kommission sollte sich dafür einsetzen, dass alle drei Indikatoren („Langzeitarbeitslosigkeit“, „materielle Deprivation“ und „relative Einkommensarmut“) zur Messung von Armut in Europa verbindlich durch die Mitgliedstaaten berücksichtigt werden.
Mitgliedstaaten, die EU-Finanzhilfen in Anspruch nehmen („Programmländer“) sollten, wie alle anderen Länder auch, umfassende länderspezifische Empfehlungen erhalten. Die länderspezifischen Empfehlungen für Programmländer sollten nicht darauf beschränkt werden, die Mitgliedstaaten lediglich zur Umsetzung der getroffenen Vereinbarungen („Memorandum of Understanding“) aufzurufen. So wird sichergestellt, dass beispielsweise das Armutsziel weiter berücksichtigt wird.
Die EU sollte bei der Vergabe der Mittel aus den Strukturfonds (vor allem ESF) eine Quote vorgeben, welcher Anteil der Mittel von den Nationalstaaten selbst und welcher Anteil von zivilgesellschaftlichen Trägern für die Erlangung der Ziele eingesetzt werden. Dadurch würde die Zivilgesellschaft stärker beteiligt und die Effizienz der Mittelverwendung könnte gesteigert werden. Dieser Multiplikatoreffekt könnte die Erreichung der Ziele befördern.
/1 Im Januar 2014 hat die Kommission einen energie- und klimapolitischen Rahmen bis 2030 angenommen. Zu den wichtigsten Zielen in diesem neuen Rahmen zählen eine Verringerung der Treibhausgasemissionen um 40 % unter den Stand von 1990, ein verbindliches EU-weites Ziel für den Anteil erneuerbarer Energien von mindestens 27 % und die Wiederaufnahme einer ambitionierten Energieeffizienz-Politik.
/2 Mitteilung der EU-Kommission zur Bestandsaufnahme der Strategie Europa 2020 vom 05.03.2014, siehe: http://ec.europa.eu/europe2020/pdf/europe2020stocktaking_de.pdf
]]>im Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetz und der Beteiligung des Bundes an den Kos- ten der Unterkunft und Heizung im Rahmen des SGB II, sollen die Steueridentifikati- onsnummer von Antragstellern und deren Kindern nun Voraussetzung für eine Kin- dergeldbewilligung werden.
Die geplanten Änderungen im Einzelnen beurteilen wir wie folgt:
1. Aufenthaltsrecht für Arbeitssuchende (Art. 1 Nr.1 b)
In § 2 Abs. 2 FreizügG soll ergänzt werden, dass das Aufenthaltsrecht von EU- Bürger(innen) zur Arbeitsuche auf 6 Monate begrenzt ist, sofern sie nicht nachweisen können, dass sie weiterhin Arbeit suchen und begründete Aussicht haben, eingestellt zu werden (§ 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügG-E).
Bewertung
Die geplante Änderung der Befristung des Rechts auf Arbeitsuche auf zunächst bis zu sechs Monate entspricht im Wesentlichen der Rechtsprechung des EuGH, wie sie sich bisher in den AVwV zum Freizügigkeitsgesetz1 widerspiegelt.
Das Freizügigkeitsrecht von EU-Bürger(innen) ist allerdings als gegeben vorauszu- setzen, solange es keine berechtigten Zweifel daran gibt. Das gilt auch für das Frei- zügigkeitsrecht der Arbeitssuchenden. Der neue § 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügG-E könnte hingegen so verstanden werden, dass es zu einer Beweislastumkehr ab dem Zeit- punkt von sechs Monaten zu Lasten arbeitsuchender Unionsbürger(inn)en kommt. Das entspräche nicht den europarechtlichen Vorgaben.
Handlungsbedarf
Es muss klar gestellt sein, dass gem. Art. 14 Abs. 2 S. 2 und 3 der Unionsbürger- richtlinie (2004/38/EG) die zuständigen Behörden ausdrücklich nur bei begründeten
1 Art. 14 Abs. 4 b der Unionsbürgerrichtlinie und EuGH v. 26.02.1991, C-292/89 (Antonissen) RN 24. In der Verwaltungsvorschrift zum FreizügG/EU heißt es dazu in 2.2.1.3: „Begründete Aussicht, einen Arbeitsplatz zu finden, kann angenommen werden, wenn der Arbeitsuchende aufgrund seiner Qualifi- kation und des aktuellen Bedarfs am Arbeitsmarkt voraussichtlich mit seinen Bewerbungen erfolgreich sein wird. Dies ist zu verneinen, wenn er keinerlei ernsthafte Absichten verfolgt, eine Beschäftigung aufzunehmen.
Zweifeln im Einzelfall die Voraussetzungen des Rechts auf Arbeitsuche überprüfen dürfen. Diese Prüfung darf durch die geplante Gesetzesänderung nicht systematisch durchgeführt werden, beispielsweise bei bestimmten Minderheiten oder Staatsange- hörigen. Auch unterliegt eine entsprechende Ausreiseaufforderung den strengen An- forderungen der Art. 14 Abs. 4b und Art. 15 Abs. 3 (keine Wiedereinreisesperre er- laubt) der Unionsbürgerrichtlinie.
Nicht oder nur wenig vorhandene Deutschkenntnisse bei EU-Bürger(inne)n dürfen nicht zu dem vorschnellen Rückschluss führen, dass keine Aussicht auf eine Arbeit besteht. Aus unserer Beratungsarbeit vor Ort wissen wir, dass dieser Personenkreis durchaus Beschäftigung, aber vorrangig prekäre Arbeit im Niedriglohnbereich finden kann. Um die Chancen auf reguläre Arbeit und die schnellstmögliche Integration der Arbeitssuchenden in den Arbeitsmarkt zu verbessern,
sollten verstärkt Unterstützungsmaßnahmen ergriffen werden.. Hierzu gehören ins- besondere (Nach)qualifizierungsangebote.
2. Wiedereinreisesperre im Fall von Rechtsmissbrauch oder Betrug (Art. 1 Nr.
5)
§ 7 Abs. 2 FreizügG soll so geändert werden, dass Unionsbürger(innen) und ihre Familienangehörigen, die ihr Freizügigkeitsrecht nach § 2 Abs. 7 FreizügG verloren haben, mit einem Einreise- und Aufenthaltsverbot belegt werden können (§ 7 Abs. 2
S. 2 FreizügG-E). Dies ist dann der Fall, wenn die „betreffende Person das Vorliegen einer Voraussetzung für dieses Recht durch die Verwendung von gefälschten oder verfälschten Dokumenten oder durch Vorspiegelung falscher Tatsachen vorgetäuscht hat.“ Dies wird als Regelvorschrift eingeführt („soll untersagt werden“), wenn ein be- sonders schwerer Fall, insbesondere ein wiederholtes Vortäuschen des Vorliegens der Voraussetzungen des Rechts auf Einreise- und Aufenthalt vorliegt (§ 7 Abs. 2 S.
3 FreizügG-E).
Wird über das Vorliegen des Freizügigkeitsrechts in strafrechtlich relevanter Weise wie z.B. durch Urkundenfälschung getäuscht, bietet die deutsche Rechtsordnung bereits Mittel. Ist Urkundenfälschung oder Betrug nachweisbar und kommt es zu ei- ner Verurteilung, kann der Verlust des Aufenthaltsrechts nach § 6 Abs. 1 FreizügG festgestellt werden. Daran knüpft ein Einreise- und Aufenthaltsverbot an (§ 7 Abs. 2
FreizügG). Allerdings darf wegen der europarechtlichen Vorgaben auch eine straf- rechtliche Verurteilung für sich allein genommen nicht zum Verlust des Freizügig- keitsrechts führen, sondern es bedarf immer einer Prüfung im Einzelfall, ob eine Ge- fahr für Sicherheit und Ordnung dies rechtfertigen.
Das neue Einreise- und Aufenthaltsverbot soll nicht an eine strafrechtliche Verurtei- lung und eine Ausweisung anknüpfen, sondern an das Nichtbestehen oder den Ver- lust des Aufenthaltsrechts. EU-Bürger(innen), bei denen das Nichtbestehen oder der Verlust eines Aufenthaltsrechts festgestellt wurde, können sich jederzeit auf das Be- stehen eines anderen Freizügigkeitsrechts berufen, sofern sie dessen Vorausset- zungen erfüllen. Im Übrigen können sie nach der Ausreise mit Berufung auf das 3- monatige voraussetzungslose Freizügigkeitsrecht sofort wieder einreisen. Mit der Neuregelung soll nun ermöglicht werden, nach einer Verlustfeststellung „die Rück-
kehr im Einzelfall zu untersagen“2. Dies gilt aber nicht für alle Fälle einer Verlustfest- stellung, sondern nur den Verlust des Freizügigkeitsrechts nach § 2 Abs. 7 FreizügG.
2 Drs. 394/14 S. 18
Fälle, in denen das Freizügigkeitsrecht nicht mehr besteht, weil nach 6 Monaten kei- ne Aussicht auf erfolgreiche Arbeitsplatzsuche besteht oder weil ein wirtschaftlich nicht aktiver EU-Bürger Sozialleistungen bezieht, sind nicht erfasst. Erfasst sind folg- lich folgende Fallkonstellationen:
§ 2 Abs. 7 FreizügG sieht vor, dass ein Freizügigkeitsrecht dann nicht besteht, wenn über das Bestehen eines familiären Verhältnisses getäuscht wird oder über die Vo- raussetzungen für das Freizügigkeitsrecht. In diesen Fällen soll nicht nur festgestellt werden können, dass das Freizügigkeitsrecht nicht besteht, sondern auch das neue Einreise- und Aufenthaltsverbot verhängt werden kann.
Täuschung über ein familiäres Verhältnis
Das Freizügigkeitsrecht besteht bei drittstaatsangehörigen Familienangehörigen dann nicht, wenn der Familienangehörige nicht zum Zweck der Wahrung der Famili- eneinheit nachzieht. Gemeint sind Fälle von Scheinehen, die regelmäßig als typi- sches Beispiel für Rechtsmissbrauch genannt werden.3
In den Fällen, in denen es sich um eine Scheinehe mit einem Drittstaatler handelt und festgestellt wird, dass ein Freizügigkeitsrecht nicht besteht, bedeutet das, dass sich der/die Drittstaatler(in) ohne Aufenthaltsrecht in Deutschland aufhält und ausrei- sepflichtig ist (§ 50 AufenthG). Für eine Wiedereinreise bedürfte er/sie einer Aufent- haltserlaubnis, die nur unter den engen Voraussetzungen des AufenthG erteilt wer- den kann.
Täuschung über Voraussetzungen für das Freizügigkeitsrecht
Als gängige Formen dieser Art von Täuschung gilt die Fälschung von Identitäts- oder Aufenthaltsdokumenten. Aufenthaltsdokumente sind für EU-Bürger(innen) allerdings nicht Voraussetzung für das Bestehen des Freizügigkeitsrechts. Außer der Beschei- nigung für das Daueraufenthaltsrecht/EU gibt es gar keine Aufenthaltsdokumente,
die gefälscht werden könnten. Fälle, dass diese gefälscht wurden, sind nicht be- kannt.
In der Praxis relevant können Fälle sein, in denen über die Identität getäuscht wird. Drittstaatler(innen) könnten eine Identität als EU-Bürger(innen) vorspiegeln. Stellt sich die wahre Identität heraus, hätte der/die Betroffene auch ohne die Neuregelung kein Aufenthaltsrecht und wäre ausreisepflichtig. Als Drittstaatler(in) wäre die Wie- dereinreise dann nur unter den engen Voraussetzungen des AufenthG möglich.
In Betracht kommen auch Fälle, in denen ein EU-Bürger eine andere Identität an- nimmt, weil er/sie ausgewiesen wurde. In derartigen Fällen ist der Betroffene in sei- ner wahren Identität bereits mit einem Einreise- und Aufenthaltsverbot belegt. Die in der Praxis relevanteste Fallkonstellation ist das Vorspiegeln falscher Tatsachen in Bezug auf bestimmte Voraussetzungen spezifischer Freizügigkeitsrechte, wie etwa die „Vortäuschung eines tatsächlich nicht bestehenden Arbeitsverhältnisses“4. Hier stellt sich allerdings die Frage, welche Folgen eine solche Täuschung über die Vo-
raussetzung der Arbeitnehmerfreizügigkeit für das allgemeine Freizügigkeitsrecht
hat, das ja unabhängig von derartigen Bedingungen gilt. Wird Sozialhilfe in Anspruch genommen, kann zwar auch dieses Recht verloren gehen. Da aber über das Beste- hen dieses Rechts nicht getäuscht wurde, kann das Fehlen nicht nach § 2 Abs. 7
FreizügG festgestellt werden.
3 vgl.: COM(2013) 837 final S. 9; Art. 35 Unionsbürgerrichtlinie; Begründung für den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Freizügigkeitsgesetzes/EU und weiterer aufenthaltsrechtlicher Vorschrif- ten (Drs. 461/12), S. 12 f.
4 Drs. 394/14 S. 17 f.
Bewertung
Vor diesem Hintergrund wird das geplante Einreise- und Aufenthaltsverbot kaum praktische Wirkung entfalten. Aus Sicht der Verbände der BAGFW stellt sich nicht nur die Frage, ob die geplante Einreise- und Aufenthaltssperre zielführend ist, son-
dern vor allem, ob sie europarechtskonform ist. Laut Gesetzesbegründung beruht die beschriebene Regelung in § 7 Abs. 2 FreizügG auf Art. 35 Unionsbürgerrichtlinie,5
der erlaubt, Maßnahmen zu erlassen, die notwendig sind, um die durch die Richtlinie verliehenen Rechte im Falle von Missbrauch oder Betrug zu verweigern, aufzuheben oder zu widerrufen.
Fraglich ist, ob sich der geplante § 7 Abs. 2 FreizügG tatsächlich mit Art. 35 Unions- bürgerrichtlinie rechtfertigen lässt. Eine Einreise- und Aufenthaltssperre ist ein mas- siver Eingriff ins Freizügigkeitsrecht und muss deshalb mit den gleichen Maßstäben gemessen werden, wie die Ausweisung. Schließlich verhindert sie wie diese die Wahrnehmung eines im Übrigen bestehenden Freizügigkeitsrechts. „Maßnahmen,
die die Freizügigkeit beschränken, sind nur zu rechtfertigen, wenn der Grundsatz der
Verhältnismäßigkeit gewahrt wird. Dieser Grundsatz, der sich unmittelbar auf den
EU-Vertrag stützt, gilt für alle Grundfreiheiten.“6
Eine Ausweisung darf (nur) aus Gründen der Gesundheit, der Sicherheit und der Ordnung vorgenommen werden (Art. 27 Unionsbürgerrichtlinie). Art. 15 Unionsbür- gerrichtlinie sieht für Beschränkungen des Freizügigkeitsrechts, die nicht aus Grün- den der Sicherheit und Ordnung vorgenommen werden, die gleichen Verfahrensga- rantien wie für eine Ausweisung vor. Weiter sieht Art. 15 Abs. 3 Unionsbürgerrichtli- nie vor, dass Beschränkungen des Freizügigkeitsrecht, die nicht aus Gründen der Sicherheit und Ordnung vorgenommen werden (also keine Ausweisung sind), nicht mit einer Einreisesperre versehen werden dürfen. Aus Sicht der BAGFW stellt die geplante Rechtsänderung keine Maßnahme aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung dar, da bei den beschriebenen Fallkonstellationen keine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr erkennbar ist, die ein Grundinteresse der Ge- sellschaft im Sinne von Art. 27 Abs. 2 berührt. Dafür spricht auch, dass sie auf Art. 35
Unionsbürgerrichtlinie gestützt werden und Maßnahmen nach Art. 35 Unionsbürger- richtlinie generell keine Entscheidungen sind, die aus Gründen der öffentlichen Ord- nung, Sicherheit oder Gesundheit (vgl. Kapitel VI Unionsbürgerrichtlinie) erlassen werden.
Art. 15 Abs. 3 Unionsbürgerrichtlinie stellt mithin klar, dass eine Entscheidung, die die Freizügigkeit von Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen beschränkt und nicht aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung erlassen wird, nicht mit einem Einreiseverbot, also einer Wiedereinreisesperre einhergehen darf.
Handlungsbedarf
Die Wiedereinreisesperren im geplanten § 7 Abs. 2 FreizügG-E verstoßen nach Auf- fassung der Verbände der BAGFW demnach gegen Art. 15 Abs. 3 der Unionsbürger- richtlinie und müssen unterbleiben.
Sollte diese Regelung dennoch eingeführt werden, müssen zumindest die Verfah- rensgarantien nach Art. 15 und Art. 27 ff. Unionsbürgerrichtlinie beachtet werden. Das heißt, es ist in jedem Einzelfall der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wah- ren. Es dürfen keinesfalls Einreiseverbote für alle Personen in einer bestimmten Si-
5 Drs. 394/14 S. 17
tuation verhängt werden.7 Dem will der Gesetzgeber Rechnung tragen, indem § 7
Abs. 2 S. 4 FreizügG-E auf § 6 Abs. 3, 6 und 8 FreizügG verweist. § 7 Abs. 2 S. Frei- zügG-E sieht die Sperre aber als Soll-Regelung vor. Demnach würde in der Regel eben nicht auf den Einzelfall abgestellt. § 7 Abs. 2 S. 3 FreizügG-E entspricht nicht den europarechtlichen Vorgaben und muss gestrichen werden.
Die Verweigerung der Einreise bzw. eine Wiedereinreisesperre aus Gründen der öf- fentlichen Ordnung oder der öffentlichen Sicherheit dürfte nur dann erfolgen, wenn von einem Straftäter nachweislich auch künftig eine erhebliche Gefahr für die öffentli- che Ordnung ausgehen wird (Art. 27 Abs. 2 Unionsbürgerrichtlinie). Das muss gleichermaßen für die geplante Wiedereinreisesperre nach § 7 Abs. 2 FreizügG gel- ten. Da hier an einem Verhalten unterhalb der Schwelle einer strafbaren Tat ange- knüpft wird, kann das Schutzniveau nicht geringer sein als bei EU-Bürger(innen), die strafrechtlich verurteilt wurden. Demnach ist die Einreisesperre nach § 7 Abs. 2 S. 2
FreizügG-E wegen des hohen Schutzes den das Freizügigkeitsrecht auf Basis der Unionsbürgerrichtlinie, aber vor allem des AEUV und der Rechtsprechung des EuGH genießt, auf wenige besonders schwer wiegende Fälle zu beschränken.
3. Strafvorschriften (Art. 1 Nr. 6)
Mit § 9 Abs. 1 FreizügG-E wird eine Strafnorm geschaffen, wonach die Beschaffung von Aufenthaltskarten oder Aufenthaltsbescheinigungen durch unrichtige oder un- vollständige Angaben unter Strafe gestellt wird.
Bewertung
Die Sachverhalte, die durch diese neue Norm geregelt werden sollen, sind bereits nach jetzigem Recht strafbar. Eine Aufenthaltskarte erhalten nur Drittstaatler(innen). Hier ist illegaler Aufenthalt und Beihilfe dazu bereits strafbar. Sofern eine Urkunde gefälscht wird, ist dies als Urkundenfälschung ebenfalls bereits strafbar. Eine Be- scheinigung können EU-Bürger(innen) zum Nachweis des Daueraufenthaltsrechts erhalten. Diese Bescheinigung hat bloße deklaratorische Wirkung, das Aufenthalts- recht besteht auch ohne sie. Sofern die Bescheinigung genutzt wird, um sich wider- rechtlich Vorteile zu verschaffen, ist das als Betrug bereits strafbar.
Handlungsbedarf
Die Neuregelung ist aus diesem Grund überflüssig.
4. Bekämpfung der Schwarzarbeit und der illegalen Beschäftigung (Art. 2 Nr. 1 und 2)
Zur Bekämpfung der Schwarzarbeit und der illegalen Beschäftigung soll die Zusam- menarbeit zwischen den Behörden verbessert werden (§ 2 Schwarzarbeitsbekämp- fungsgesetz-E).
Bewertung
Für die betroffenen Arbeitnehmer(innen) stellt Schwarzarbeit oft eine hohe Belastung dar, weil sie nicht abgesichert sind. Sofern es zu Arbeitsausbeutung kommt, benöti- gen die Betroffenen Begleitung, Ermutigung und Information.
Handlungsbedarf
Aus Sicht der Verbände sollte im Fokus der Bekämpfung von Schwarzarbeit und Scheinselbständigkeit der Ausbau von Beratungsmöglichkeiten, besonders von Be- ratungsstellen gegen Arbeitsausbeutung und Menschenhandel stehen.
Ein wichtiges Element, um Schwarzarbeit, Scheinselbständigkeit und Arbeitsausbeu- tung effektiv zu bekämpfen, ist aber auch, dass genug Personal für Kontrollen zur Verfügung steht. Es bedarf einer „Verbesserung der Einsatzstärke der Finanzkontrol- le Schwarzarbeit des Zolls“8. Erst wenn das Risiko des Aufdeckens von illegaler Be- schäftigung groß genug ist, wird es zunehmend für Arbeitgeber(innen) unattraktiv, jemanden schwarz oder scheinselbständig zu beschäftigen.
5. Kindergeldberechtigung (Art. 3 Nr.2 und 3)
§§ 62 f. EStG sollen so geändert werden, dass ab 31.12.2015 die Kindergeldberech- tigung von der Identifikation durch Angabe der inländischen Steueridentifikations- nummer oder den in anderen Staaten üblichen Personenkennzeichen abhängig ge- macht wird. Bisher reichte eine Geburtsurkunde oder eine Bescheinigung für Kinder- geldzwecke als Nachweis aus.
Bewertung
Die Verbände der BAGFW unterstützen das Ziel, Betrug beim Kindergeld wirksam zu bekämpfen. Das Erfordernis die Steueridentifikationsnummer oder vergleichbare Personenkennzeichen vorzulegen, lehnen sie nicht generell ab. Allerdings gibt es an der geplanten Regelung einige Kritikpunkte.
Von der Neuregelung sind alle Personen betroffen, die in Deutschland Kindergeld nach EStG beziehen. Das BKGG wird anscheinend nicht angepasst. Kindergeld nach BKGG wird anders als Kindergeld nach EStG nicht für Kinder, die im Ausland
leben gezahlt. Damit wird deutlich, dass die geplante Änderung vorrangig im Ausland lebende Kinder von freizügigkeitsberechtigten EU-Bürger(inne)n erfassen soll. Dies
ist ein Indiz für eine europarechtwidrige mittelbare Diskriminierung, da die Neurege- lung sich damit nicht generell gegen Betrug beim Kindergeld wendet.
Bei deutschen Staatsbürger(inne)n wird die Steueridentifikationsnummer durch das Finanzamt von Amts wegen erteilt und seit 2008 gleich nach der Geburt zugesendet. Dies ist auch für hier geborene Kinder von Unionsbürger(inne)n der Fall. Bei im Aus- land geborenen Kindernkonntederen Existenz mit einer Geburtsbescheinigung für Kindergeldzwecke oder Geburtsurkunden nachgeweisen werden. Das wäre nach der Neuregelung nicht mehr möglich. Wenn die Kinder nicht hier geboren sind oder noch im Herkunftsland wohnen, müssen sie für Kindergeld nach EStG eine Steueridentifi- kationsnummer oder ein adäquates Personenkennzeichen aus ihrem Herkunftsland angeben. Dies zu erhalten, ist für Minderheiten in einigen EU-Ländern schwierig, da Angehörige insbesondere der Roma-Minderheit nicht immer staatlich registriert wer- den. Für im Herkunftsland derart diskriminierte Personen müssen andere Nachweis- möglichkeiten zugelassen werden. ..
Auch dass für Kinder, die im Ausland geboren sind, ggf. höhere Kosten anfallen, se- hen die Verbände der BAGFW kritisch. Insgesamt wird das Antragsverfahren für im Ausland geborene Kinder, das schon heute komplex und sehr aufwendig ist, weiter erschwert. Derzeit muss die Existenz von im Ausland geborenen Kindern durch amt- liche Dokumente wie die Geburtsurkunde nachgewiesen werden.9 Die Überprüfung
der nötigen Dokumente führt nach den Erfahrungen unserer Beratungsdienste viel-
8 Positionspapier des Deutschen Städtetages zu den Fragen der Zuwanderung aus Rumänien und
Bulgarien, Berlin 22.01.2013, S. 8
fach zu überlangen Verfahren. Es ist zu befürchten, dass diese Verfahren noch wei- ter bürokratisiert und verzögert werden.
Eine hinreichende Begründung für diese Neuregelung gibt es nicht. Es gibt aus Sicht der BAGFW keine Belege für das Erschleichen von Kindergeld durch EU- Bürger(innen) in erheblichem Umfang. Daher überwiegen nach dem derzeitigen Stand die Kritikpunkte.
Vor diesem Hintergrund werden auch die geänderten Dienstanweisungen zum Kindergeld nach dem Einkommensteuergesetz10 als sehr problematisch beurteilt. Die neuen Dienstanweisungen sehen erhebliche Änderungen bei der Prüfung der Freizügigkeitsvoraussetzungen durch die Familienkassen vor:
Die Familienkassen sollen zwar grundsätzlich von der Erfüllung der Freizügigkeitsvo- raussetzungen ausgehen, sind aber nun seit Juli 2014 selbst zur Überprüfung der Freizügigkeit verpflichtet. Wenn der Familienkasse "im Einzelfall konkrete Umstände
bekannt" werden, "aufgrund derer Zweifel an der Freizügigkeitsberechtigung beste- hen, hat sie das Vorliegen der Freizügigkeitsberechtigung zunächst in eigener Zu- ständigkeit zu prüfen. Solche Umstände können vorliegen, wenn der Berechtigte kein Daueraufenthaltsrecht hat und er seinen Lebensunterhalt allein durch Leistungen nach dem SGB II oder dem SGB XII sichert oder wenn er bereits zusammenhängend länger als sechs Monate arbeitslos ist. Ferner können Zweifel an der Freizügigkeits- berechtigung auch in Fällen der Verwendung von gefälschten oder verfälschten Do- kumenten oder bei Vorspiegelung falscher Tatsachen – etwa über ein tatsächlich nicht bestehendes Arbeitsverhältnis, einen tatsächlich nicht bestehenden Wohnsitz oder eine tatsächlich nicht bestehende familiäre Lebensgemeinschaft – bestehen.
Bei der Prüfung der Freizügigkeit kann die Familienkasse die zuständige Ausländer- behörde hinzuziehen. (...) Zu einer mit aufenthaltsrechtlichen Konsequenzen verbun- denen Feststellung des Verlustes des Freizügigkeitsrechts nach dem FreizügG/EU sind ausschließlich die Ausländerbehörden befugt.11Falls nach dieser Prüfung das Bestehen der Freizügigkeitsvoraussetzungen nicht angezweifelt wird, soll Kindergeld
dann nur für sechs Monate bewilligt werden, dann erneut geprüft werden und wiede- rum nur für sechs Monate bewilligt werden.12
Bewertung
Zunächst ist die Zuständigkeit der Familienkassen zur Prüfung der Freizügigkeitsvo- raussetzung problematisch, ebenso wie bei den JobCentern und Krankenkassen. Dass die verschiedenen Sozialträger, u.a. auch die Familienkassen, nebeneinander dafür zuständig sein sollen, wird in der Praxis zu erheblichen Problemen nicht nur beim Rechtsweg führen. Umso wichtiger ist, zu beachten, dass das Bestehen des Freizügigkeitsrechts in der Regel vorauszusetzen ist.
Weiterhin sind die Regelbeispiele, bei denen Zweifel am Bestehen des Freizügig- keitsrechts geltend gemacht werden, dafür teilweise ungeeignet. Die Lebensunter- haltssicherung aus eigenen Mitteln ist nur bei wirtschaftlich nicht aktiven EU- Bürger(innen) Voraussetzung des Freizügigkeitsrechts. EU-Bürger(innen) verlieren den Status als Erwerbstätiger bereits nach einem Jahr Erwerbstätigkeit nicht mehr, auch wenn sie arbeitslos werden. Es kann deshalb nicht generell bei längerer Ar- beitslosigkeit oder dem Bezug von Sozialleistungen vermutet werden, dass das Frei- zügigkeitsrecht entfällt. Mit den hier genannten Kriterien ist zu befürchten, dass die
10 <link http: www.bzst.de de steuern_national kindergeld_fachaufsicht familienkassen dienstanweisung>Dienstanweisungen zum <link http: www.bzst.de de steuern_national kindergeld_fachaufsicht familienkassen dienstanweisung>Kindergeld nach dem Einkommensteuergesetz (DA-KG) Stand 2014
11 Dienstanweisungen zum Kindergeld nach dem Einkommensteuergesetz, Stand 2014, A.3.5 (2).
Familienkassen künftig alle Bezieherinnen und Bezieher von Leistungen nach SGB II oder XII überprüfen. Das widerspräche dem Gebot, in der Regel vom Bestehen des Freizügigkeitsrechts auszugehen. Hier bedarf es einer europarechtkonformen Kon- kretisierung der „konkreten Umstände“, die Zweifel am Freizügigkeitsrecht auslösen können.
Die Regelung, das Kindergeld nur für sechs Monate zu bewilligen, ist europarecht- widrig. Ausländische EU-Bürger(innen) sind beim Zugang zu Kindergeld Deutschen gleichgestellt (Art. 4 i.V.m. Art. 3 Abs. 1 Ziff. j VO 883/2004). Es darf daher nicht an- ders als bei Deutschen befristet werden.
6. Art. 4: Änderung des SGB II
Die Bundesbeteiligung an den Kosten für Unterkunft und Heizung im SGB II im Jahr
2014 wird erhöht.
Bewertung
Die Verbände der BAGFW begrüßen diese Entlastung der Kommunen.
7. Art. 5: Änderung des SGB V
Gem. § 20d Abs. 3 S. 2 SGB V-E sind die gesetzlichen Krankenkassen künftig ver- pflichtet, die Impfstoffkosten für minderjährige EU-Bürger(innen) zu übernehmen, deren Krankenversicherungsstatus noch nicht geklärt ist und die nicht privatversi- chert sind.
Bewertung
Die Verbände der BAGFW begrüßen diese Entlastung der Kommunen.
Fazit:
Nachweise für einen übermäßigen Missbrauch des Freizügigkeitsrechts durch Er- schleichung oder Täuschung, die den vorliegenden Gesetzentwurf rechtfertigten, konnten weder im Rahmen des Zwischen- noch des Abschlussberichts des Staats- sekretärsausschusses vorgelegt werden.13 Vielmehr geht auch die Bundesregierung laut Gesetzesentwurf davon aus, dass die überwiegende Mehrzahl der Unionsbürge- rinnen und Unionsbürger ihr Freizügigkeitsrecht in Übereinstimmung mit den gelten- den nationalen und europäischen Regeln ausübt.14 In der öffentlichen Debatte wird hingegen oft ein anderer Anschein erweckt. Es bedarf daher der Klarstellung, dass die Inanspruchnahme des Freizügigkeitsrechts zur Arbeitssuche und der dadurch zustehende Anspruch auf soziale Leistungen oder Kindergeld kein Missbrauch oder
gar Betrug sind.
Aus diesem Grund sollte aus Sicht der BAGFW das Ziel politischer Initiativen sein, Zugewanderte dabei zu unterstützen, möglichst schnell in Deutschland Fuß zu fas- sen und insbesondere Zugänge zum Arbeitsmarkt zu schaffen. Ansonsten bleibt zu
13 vgl.: Zwischenbericht (Drs. 18/960) und Abschlussbericht (Drs. 18/2470) des Staatssekretärsaus- schusses zu Rechtsfragen und Herausforderungen bei der Inanspruchnahme der sozialen Siche- rungssysteme durch Angehörige der EU-Mitgliedstaaten
14 Bundesrat-Drucksache 394/14 vom 29.08.14, S.1
befürchten, dass neue soziale Brennpunkte entstehen und sich bereits bestehende menschenunwürdige Lebensbedingungen manifestieren.
]]>
1. Wie beurteilen Sie für Ihren Verband/Institution grundsätzlich die Normierung von Gesundheitsdienstleistungen?
2. Sehen Sie Bereiche, in denen Regulierungsdefizite bestehen und die durch
Normen geschlossen werden könnten?
3. Arbeiten Mitglieder Ihrer Institutionen in einem Normenausschuss oder Fach- beirat des DIN oder des CEN mit oder lassen Sie sich durch einen Dritten ver- treten? Falls ja, geben Sie bitte Namen, Funktion und den entsprechenden Normenausschuss oder Fachbeirat an.
Zu 1. und 2.:
Die sozialen Dienstleistungsbereiche Gesundheit/Pflege im Tätigkeitsbereich der Freien Wohlfahrtsverbände unterliegen einer weitgehenden gesetzlichen und unter- gesetzlichen Regulierung. Die Selbstverwaltungsinstrumente gewährleisten ein aus- reichendes Maß an Normierung im Rahmen von Leitlinien und Expertenstandards, die den jeweils geltenden fachlich anerkannten Standard auf aktuellem Stand be- schreiben. Qualitätsanforderungen (Struktur, Prozesse, Ergebnisse) werden zudem in gesetzlich vorgegebenen Vereinbarungen der Leistungsträger und der Leistungs- erbringer ausgehandelt, festgelegt und bei Bedarf aktualisiert. Sie sind für die Ein- richtungen verbindlich; ihre Einhaltung wird durch gesetzlich festgelegte Instanzen regelmäßig überprüft und bei Nichteinhaltung erfolgen Sanktionen. Wenngleich es in der Ausgestaltung dieser normgebenden Verfahren einzelne Verbesserungsbedarfe gibt, wird von den Wohlfahrtverbänden keinerlei Erfordernis einer Normierung von Gesundheitsdienstleistungen auf europäischer Ebene gesehen.
Die o. g. bestehenden Normierungsverfahren auf nationaler Ebene sind ausreichend, um eine jeweils aktuelle und zielorientierte, angemessene Normierung zu gewährleis- ten.
Vorhaben einer DIN-Normung von Gesundheitsdienstleistungen in Deutschland sind in der Vergangenheit über Ansätze nicht hinausgekommen. Die Normierungsinitiative des DIN hat 2006 zur Veröffentlichung der DIN-Norm 77800 „Betreutes Wohnen“ ge- führt, der jedoch in der Praxis keine wesentliche Bedeutung zukommt. Eine Normie- rung der Dienstleistungen der ambulanten Pflege ist nicht zustande gekommen, da der angenommene Bedarf nicht bestätigt werden konnte.
Im Bereich des Managements von Organisationen, die Gesundheitsdienstleistungen erbringen, werden internationale und europäische Normen dagegen für sinnvoll ge- halten. So hat die BAGFW an der von der europäischen Normierungsinstitution (CEN) organisierten Entwicklung eines „Freiwilligen Qualitätsrahmen“ („Common Quality Framework for Social Services of General Interest“), der den Interessen eu- ropäischer wie nationaler und lokaler Initiativen Rechnung tragen soll, mitgewirkt.
Bereich Pflege:
In mehreren Schritten ist hier eine Entwicklung erfolgt:
1. Im ersten Schritt hat sich das Pflegeangebot erweitert, so dass aktuell eine flächendeckende Versorgungsstruktur angenommen werden kann.
2. Als nächste Stufe wurde die Grundlage für eine Qualitätssicherung und öffent- liche Darstellung von Prüfungsergebnissen der Pflegeeinrichtungen sowie die Beauftragung von pflegerischen Expertenstandards geschaffen. Hierzu gibt es klare gesetzliche Regelungen.
3. Derzeit geht der Trend in Richtung einer Leistungsdifferenzierung, der Leis- tungsflexibilisierung und der Erhöhung des Wahlrechts der Versicherten; ebenfalls auf gesetzlicher Grundlage.
Die Bestimmung des individuellen Pflegebedarfs eines Menschen und die Reaktion der beruflich sowie nicht beruflich Tätigen auf diesen Bedarf - das pflegerische Han- deln also - stehen in direkter Abhängigkeit zu den persönlichen Werteorientierungen des zu Pflegenden. Die Definition bestimmter Standards und des „states of the art“ in diesem Feld hängen von gesellschaftlichen Grundlagen und vom (Zu-)Stand der zu- ständigen Wissenschaften ab. Darum ist es dringend erforderlich bei der Normierung betroffene Menschen und besonders ihre Angehörigen in irgendeiner Form einzube- ziehen. Mehrere pflegerische Expertenstandards wurden durch das DNQP erarbeitet und konsentiert. Dieses Vorgehen entspricht in etwa ihren angedachten Vorstellun- gen, bringt aber mehrere Probleme mit sich:
· Beim DNQP handelt sich um einen bundesweiten Zusammenschluss von Fachexperten aus der Pflegewissenschaft und Pflegeberufsorganisationen, die sich mit dem Thema Qualitätsentwicklung auseinandersetzen.
· Es fehlen die Vertreter der Pflege-Selbstverwaltung und die Experten in eige- ner Sache/ die Betroffenengruppen.
· Bei den vorgelegten Standards handelt es sich um wissenschaftlich erarbeite- te Standards der Pflege zu Pflegephänomenen mit gesellschaftspolitischer Bedeutung.
· Jedoch handelt es sich dabei nicht um eine Rechtsnorm oder um antizipierte
Sachverständigengutachten mit verbindlicher Außenwirkung
· Dennoch werden Expertenstandards in Gerichtsverfahren teilweise als fachli- cher Standard für die Altenhilfe herangezogen und in Ermangelung anderer Expertisen anerkannt.
· Die erstellten Expertenstandards beruhen oft auf der (gut erforschten) Situati- on in Krankenhäusern. Sie sind nicht ohne Weiteres auf die Altenpflege über- tragbar, da die Bedarfe an pflegerischen Leistungen zu einen individuell unterschiedlich. Langzeitpflege (long-term care) ist im Unterschied zur Kran- kenpflege nicht auf das Krankheitsgeschehen im engeren Sinn konzentriert und beschränkt, sondern hat die gesamten Lebensumstände während einer längeren Phase des Lebens in das pflegerische Handeln einzubeziehen. Be- sondere Probleme gibt es bei der Übertragbarkeit auf den ambulanten Be- reich.
· Die Expertenstandards erlangen ihre Gültigkeit durch eine fachwissenschaftli- che Konsentierung. Ihre Umsetzung in die Praxis muss aber in die Leistungs-
vergütungen einfließen; die pflegerischen Expertenstandards sind weder in
der häuslichen Krankenpflege noch im SGB XI/XII leistungsrechtlich hinterlegt.
· Die Vertragspartner waren an der Expertenstandarderstellung nicht beteiligt.
Der Gesetzgeber hat die Problematik erkannt und über §113a SGB XI die Möglich- keit für die Selbstverwaltung geschaffen, praxisrelevante pflegerische Expertenstan- dards wissenschaftlich erarbeiten zu lassen. Sie werden über das Vertragsrecht in Kraft gesetzt. Auch hierbei wird die Fragestellung, wie die Experten in eigener Sache beteiligt werden können.
Auf europäischer Ebene halten wir eine Etablierung von pflegerischen Expertenstan- dards für schwierig. Die Länder mit hohen professionellen Anteilen werden hierzu bereits Regelungen haben. In Länder mit einer familienbasierten Pflege stellt sich die Frage, wie Expertenstandards in der Laienpflege umgesetzt und in der Folge kontrol- liert werden sollen.
Bereich Gesundheit:
Auch hier wird der aktuelle Prozess einer Normierung von Gesundheitsdienstleistun- gen sehr kritisch gesehen. Die BAGFW wendet sich nicht grundsätzlich gegen Be- strebungen, Qualität in der Gesundheitsversorgung fest zu verankern. Im Gegenteil, die Entwicklung von Standards und Qualitätskriterien wird ausdrücklich begrüßt und gefördert. In den aktuellen Bemühungen um Versorgungsqualität und insbesondere auch Patientensicherheit auf nationaler Ebene sind die Wohlfahrtsverbände und ihre Einrichtungen wichtige Akteure und Impulsgeber.
Den nationalen Entwicklungen der Definition und Sicherung von Qualitätsstandards die Etablierung von Parallelprozessen auf EU-Ebene entgegenzustellen, halten wir aus Sicht von Patientinnen und Patienten und aller an der Erbringung von Gesund- heitsleistungen Beteiligter für äußerst problematisch. Wir befürchten, dass die weit entwickelten fachlichen Diskurse in Normungsverfahren nicht abgebildet werden können. Fraglich ist auch die ausreichende fachliche Kompetenz der handelnden Akteure und die Transparenz des Verfahrens.
Gesundheitsdienstleistungen werden im Rahmen von nationalen Gesundheitssyste- men erbracht, in denen sowohl die Organisation des Gesundheitswesens (private Vorsorge, staatliches Gesundheitssystem, Sozialversicherungssystem) als auch die Beziehungen zwischen den handelnden Akteuren - Krankenkassen und Versicherte, Leistungserbringer und Kostenträger, den verschiedenen beteiligten Berufsgruppen sowie der Sektoren - jeweils unterschiedlich ausgestaltet sind. Im deutschen Ge- sundheitssystem sind es maßgeblich die Organe der Selbstverwaltung, die die Moda- litäten der Erbringung von Gesundheitsdienstleistungen miteinander verhandeln.
Die Ministerinnen und Minister, Senatorinnen und Senatoren für die Gesundheit der Länder lehnten auf der 87. Gesundheitsministerkonferenz die Entwicklung von Nor- men durch die internationale Normungsorganisation ab, weil sie darin die Gefahr se- hen, dass innerstaatliches Recht und Regelungsspielraum der Selbstverwaltung dadurch umgangen werden könnten. Wir verstehen das öffentliche Gesundheitswe- sen als zentrales Teilsystem der sozialen Sicherung, dessen Ausgestaltung auf nati- onaler Ebene zu leisten ist.
Gesundheitsdienstleistungen stellen kein Produkt wie jedes andere dar. Sie entste- hen im Kontext einer professionellen Beziehung zwischen Patient oder Patientin und dem Erbringer der Dienstleistung, beispielsweise einem Arzt oder einer Ärztin. Sie sind somit immer auch Ergebnis eines individuellen Aushandlungsprozesses. Die Auswahl einer Therapie, die Gewichtung der Patientinnen und Patienten, welche Therapie ihnen in ihrer konkreten Lebenssituation am meisten zuträglich und am we- nigsten belastend erscheint, entzieht sich einer vereinfachenden Normierung.
Während sich der Bereich der Gesundheitsdienstleistungen kaum für die Normierung durch die CEN eignet, könnte das für den Bereich der Medizinprodukte durchaus sinnvoll sein.
Hier fehlt es nach unserer Auffassung an einem geeigneten Prüfungs- und Zulas- sungsverfahren. Anders als beispielsweise die Zulassung von Medikamenten, die ein strenges Prüfverfahren beinhaltet, fehlt es an Qualitätsvorgaben zum Schutz von Pa- tienten und Patientinnen. Dies belegen Beispiele aus der jüngsten Vergangenheit (Industriesilikon in den Brustimplantaten der Firma PIP, fehlerhafte Herzschrittma- cher und Abrieb bei künstlichen Kniegelenken).
Ein streng geregeltes staatliches Zulassungsverfahren für Medizinprodukte, wie es beispielsweise für die USA gilt, ist auch eine Forderung, die der Sachverständigenrat für die Begutachtung der Entwicklungen im Gesundheitswesen erhebt.
Bisher werden Medizinprodukte in der EU von privaten Einrichtungen zugelassen, die als sog. benannte Stellen lediglich prüfen, ob technische Normen eingehalten wer- den. Eine Nutzenbewertung – wie bei den Arzneimitteln – erfolgt jedoch nicht. Zudem kann sich der Hersteller, sollte er mit der Beurteilung durch diese Stelle nicht zufrie- den sein, problemlos an eine andere wenden. Daher sollten in den klinischen Studien zu Medizinprodukten Mindestanforderungen gelten sowie der Nachweis von Nutzen und Wirksamkeit gefordert werden. Da weder auf nationaler Ebene noch auf der Ebene der EU-Richtlinien Besserung in Sicht ist, könnten Normen in diesem Bereich ein erster Schritt sein.
Zu 3.:
Nach den auf Bundesebene zusammengetragenen Informationen arbeiten keine Ver- treter/innen der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege in einem Normierungs- ausschuss auf nationaler oder europäischer Ebene mit.
]]>Die in der BAGFW kooperierenden Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege bedanken sich für die Möglichkeit der Stellungnahme zum Entwurf des 5. SGB XI- ÄndG und machen davon zu folgenden Themen gemeinsam Gebrauch:
1. Neuer Pflegebedürftigkeitsbegriff
2. Zusätzliche Betreuungs- und Entlastungsleistungen – Umwidmung des halben
Sachleistungsbudgets / Entlastungsbetrag
3. Zeitvergütung in der ambulanten Pflege
4. Qualitätsprüfungen
Zu 1.: Neuer Pflegebedürftigkeitsbegriff
Seit Einführung der Pflegeversicherung wird der Begriff der Pflegebedürftigkeit als zu eng und zu verrichtungsbezogen kritisiert. Besonders der Bedarf an allgemeiner Be- treuung, Beaufsichtigung und Anleitung, den etwa Menschen mit Demenz häufig ha- ben, wird bisher zu wenig berücksichtigt. Deshalb wurde im November 2006 der Bei- rat zur Überprüfung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs beauftragt, konkrete und wis- senschaftlich fundierte Vorschläge für einen neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff und
ein darauf aufbauendes Begutachtungsverfahren zu erarbeiten. Am 29. Januar 2009 wurde der Bericht des Beirats an die damalige Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt übergeben. Ergänzend hat der Beirat im Mai 2009 Vorschläge zur Umset- zung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs vorgelegt. In der letzten Legislaturperio- de wurde dann erneut ein Beirat beauftragt, Umsetzungsvorschläge vorzulegen. Dessen Abschlussbericht ist am 27. Juni 2013 an den damaligen Bundesgesund- heitsminister Daniel Bahr übergeben worden.
Seit mehr als sieben Jahren gibt es einen breiten gesellschaftlichen Konsens, den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff in der Pflegeversicherung einzuführen. Die zwei