Bedarfsermittlung für die psychosoziale Beratung und Begleitung sowie psychotherapeutische Behandlung und Therapie von geflüchteten Menschen in Deutschland

Die Koalition für die Bundesregierung hat für die 20. Legislaturperiode vereinbart, „die psychosoziale Hilfe für geflüchtete Menschen zu verstetigen" sowie „vulnerable Grup-pen […] von Anfang an identifizieren und besonders unterstützen".[1]

Zuvor hatte im Herbst 2021 ein breites Bündnis zivilgesellschaftlicher Organisationen gefordert: „Damit alle, die Bedarf haben und psychosoziale Unterstützung und Therapie benötigen, versorgt werden können, muss die Finanzierung sichergestellt und bedarfsgerecht aufgestockt werden.“[2]

Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege legen im Folgenden den psychosozialen Bedarf der Schutzsuchenden, das Angebot der Psychosozialen Zentren (PSZ) und den zusätzlichen (Finanzierungs-)bedarf zur Umsetzung dar.

Diese Berechnung bezieht sich auf die durchschnittliche Anzahl der Schutzsuchenden in Deutschland der letzten fünf Jahre. Die Bedarfe derzeit aus der Ukraine flüchtender Menschen sind dabei noch nicht berücksichtigt. Wie sich ihre Anzahl entwickeln wird, ist derzeit kaum seriös zu schätzen, wird voraussichtlich jedoch eine erhebliche Bedeutung haben. Anfang April 2022 waren bereits knapp 300.000 geflüchtete Menschen aus der Ukraine in Deutschland offiziell registriert.

 

Zusammenfassung

 

  • Besondere Schutzbedarfe von Geflüchteten werden in Deutschland nicht systematisch erfasst. Laut Studien sind zwischen 25% und 50% der nach Deutschland geflüchteten Menschen psychisch stark belastet, traumatisiert oder leiden an einer psychischen Erkrankung wie Depressionen oder Angstzuständen. Rückmeldungen aus den Verbänden vor Ort zeigen, dass es einen großen ungedeckten Bedarf bei der Unterstützung und Versorgung von Geflüchteten mit besonderen Schutzbedarfen gibt.
  • Die Verbände schätzen, dass ca. 60.000 geflüchtete Menschen, die jedes Jahr nach Deutschland kommen, psychosoziale Versorgung (Beratung, Stabilisierung, Begleitung und Behandlung/Therapie) benötigen. Dabei wird von einer durchschnittlichen Zuwanderung von 150.000 Asylsuchenden[3] und einem Unterstützungsbedarf bei ca. einem Drittel der Asylsuchenden ausgegangen. Weitere etwa 30.000 Personen kommen im Rahmen des Familiennachzuges, humanitärer Aufnahmeprogramme oder des Resettlements nach Deutschland. Hier wird von 10.000 Geflüchteten mit einem entsprechenden Bedarf an Unterstützung ausgegangen.
  • Psychosoziale Zentren (PSZ) leisten mit ihrem multimodalen Komplexangebot therapeutische Behandlung sowie psychosoziale Beratung und Begleitung. Sie ergänzen das gesundheitliche Regelsystem, da die Bedarfe hier häufig nicht gedeckt werden können. Die meisten PSZ befinden sich in Trägerschaft der Wohlfahrtsverbände und sind Mitglied in der Bundesarbeitsgemeinschaft der Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer e.V. (BAfF).
  • Entsprechend einer Erhebung der BAfF e.V. und Hochrechnungen der Verbände erhalten 65 PSZ insgesamt etwa 50 Mio. Euro pro Jahr aus unterschiedlichen Quellen, mit denen ca. 30.000 Klient:innen versorgt werden können.[4] Somit kann lediglich die Hälfte der Personen mit einem Bedarf versorgt werden. Nach Schätzung der Verbände ergibt sich ein Gesamtfinanzierungsbedarf in Höhe von 100 Mio. Euro für 60.000 Klient:innen bzw. ein zusätzlicher Finanzierungsbedarf von ca. 50 Mio. Euro. Dieser Bedarf erhöht sich zudem durch die Aufnahme von geflüchteten Menschen aus der Ukraine. Eine fundierte Einschätzung zur Entwicklung der Fluchtbewegungen und damit eine Konkretisierung der Bedarfe ist derzeit noch nicht möglich.

 

1. Bedarf an psychosozialer Beratung und psychotherapeutischer Behandlung

Viele der nach Deutschland einreisenden Schutzsuchenden sind psychisch schwer belastet oder traumatisiert. Auch weil es bisher in Deutschland an einer systematischen Identifizierung besonders Schutzbedürftiger[5] im Zuge des Aufnahme- bzw. Asylverfahrens fehlt, gibt es zu ihrer Anzahl keine exakten Daten. In Deutschland durchgeführte Studien weisen darauf hin, dass etwa ein Drittel der erwachsenen Schutzsuchenden an einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) leidet bzw. Unterstützungsbedarf aufgrund erlittener Traumata hat.[6]

Zum Krankheitsbild von Traumafolgestörungen gehört, Erinnerungen an traumatische Erlebnisse so weit wie möglich zu vermeiden, da sie als besonders belastend empfunden werden. Die individuelle Bereitschaft und Fähigkeit, sich mit eigenen Traumata auseinanderzusetzen, entsteht deshalb teilweise erst dann, wenn die betroffene Person zur Ruhe kommt, zum Beispiel, nachdem Schutz gewährt oder eine eigene Wohnung bezogen wurde, teilweise auch erst mehrere Jahre nach Einreise. Andere psychisch belastete, geflüchtete Menschen suchen erst eine Behandlung, wenn körperliche Symptome wie anhaltende Schlafstörungen oder Schmerzen auftreten. Unbearbeitete Traumata können mit großem Leid verbunden sein und zu Selbst- und Fremdgefährdung führen. Durch Chronifizierung drohen auch hohe Folgekosten bei der Gesundheitsversorgung. Auch in vielen anderen relevanten gesellschaftlichen Bereichen zeigen sich schwerwiegende Folgen. Die Eingliederung in Schule, Ausbildung oder den Arbeitsmarkt wird erschwert, so dass unbehandelte Traumafolgestörungen oder andere psychische Erkrankungen oftmals ein erhebliches Integrationshindernis darstellen.[7]

Daher ist es sinnvoll, in die frühzeitige Identifizierung und Versorgung von psychischen Erkrankungen bei Geflüchteten zu investieren.[8] Durch therapeutische Interventionen ist es möglich, körperliche, emotionale und kognitive Beeinträchtigungen von psychisch belasteten Geflüchteten zu behandeln und langfristige negative Folgen zu verhindern bzw. abzumildern.

Psychisch belastete Geflüchtete treffen in Deutschland jedoch auf ein Versorgungssystem, in dem vielerorts bereits der bestehende Bedarf an psychosozialer und psychotherapeutischer Unterstützung nicht gedeckt werden kann. Die Folge sind häufig fehlende, zu späte oder wenig wirksame Behandlungen.

 

2. Angebote der PSZ

Die PSZ leisten bundesweit psychosoziale Unterstützung und Psychotherapie von traumatisierten Flüchtlingen. Sie arbeiten mit einem ganzheitlichen Ansatz und halten bedarfsorientiert eine Vielzahl von Angeboten vor: niedrigschwellige psychosoziale Beratung und Begleitung, Psychoedukation, psychotherapeutische Angebote, psychiatrische Angebote, Krisenintervention, sozialpädagogische Angebote sowie Rechtsberatung. Diese Angebote ermöglichen individuelle Unterstützung und sind mit unterschiedlichem zeitlichem Aufwand verbunden. In niedrigschwelligen Angeboten findet unter Umständen schon allein durch die Schaffung sicherer Lebensumstände durch Begleitung und Beratung (sicheres Wohnumfeld, soziale Kontakte, Aufenthalt, Familiennachzug) eine psychische Stabilisierung vieler Menschen statt. Schnell verfügbare, niedrigschwellige psychosoziale Angebote, wie die aktive Einbindung in soziale Netzwerke oder gezielte Verhaltensaktivierungen, können bereits eine wichtige Hilfestellung sein. Einem Teil der Betroffenen kann jedoch nur mit professioneller, langfristiger Psychotherapie geholfen werden.

Psychotherapie mit Geflüchteten wird deutlich geprägt durch migrationsspezifische Umstände. Die persönliche Lebenslage und die möglicherweise nicht vorhandene externe Stabilität und Sicherheit müssen - ebenso wie zumeist fehlende deutsche Sprachkenntnisse - im Kontext einer Therapie beachtet werden. Für eine erfolgreiche Behandlung ist ein multimodaler Ansatz, wie ihn die PSZ verfolgen, daher unabdingbar. Das heißt, dass neben Psychotherapie auch psychosoziale Beratung, kreative und soziale Aktivitäten angeboten werden, die kulturelle Prägungen, krankmachende Erfahrungen und den rechtlichen Status der geflüchteten Menschen berücksichtigen. Darüber hinaus ist eine gute Vernetzung zu Sozialarbeiter:innen, Sprachmittler:innen und Ehrenamtlichen vorhanden.

Die Praxis der PSZ zeigt, dass gerade diese Breite des Angebotes den Bedarfen vieler Betroffener entspricht und anderweitige Behandlung gezielt eingesetzt oder auch vermieden werden kann. Als Koordinations- oder Kompetenzzentren wirken die PSZ darüber hinaus auch unterstützend und vermittelnd für andere Leistungserbringer im Gesundheits- und Sozialbereich.

Zu den Aufgaben der PSZ gehört insbesondere auch, die mit geflüchteten Menschen arbeitenden Akteure zu sensibilisieren und damit die Versorgung von psychisch belasteten und traumatisierten Asylsuchenden und geflüchteten Menschen in Einrichtungen der Flüchtlingssozialarbeit und in Regelinstitutionen zu verbessern. Dazu leisten sie Multiplikator:innenarbeit, um Netzwerk- und Unterstützungsstrukturen vor Ort aufzubauen oder zu stärken, ebnen Zugänge, qualifizieren niedergelassene Psychotherapeut:innen und sonstige medizinische Regelstrukturen. Oftmals werden PSZ auch von staatlichen Institutionen um Gutachten gebeten, um die besonderen Bedarfe, zum Beispiel im Asylverfahren, berücksichtigen zu können. Dies ist notwendig, um gerade für psychisch belastete und traumatisierte Flüchtlinge ein faires Asylverfahren gewährleisten zu können

 

3. Verhältnis zu anderen Angeboten und Leistungen

Niedrigschwellig erreichbare, passgenaue und wirksame psychosoziale als auch psychotherapeutische Angebote für geflüchtete Menschen sind bislang nicht in ausreichendem Maße vorhanden. Für die Versorgung psychisch belasteter Geflüchteter sind grundsätzlich Regeldienste wie psychiatrische Einrichtungen und niedergelassene Psychotherapeut:innen zuständig. Eine Versorgung durch diese Regeldienste kann häufig nicht erfolgen, da sie - zumindest nach bisheriger Erfahrung - den Bedarfen geflüchteter Menschen mit psychischer Erkrankung oft nicht gerecht werden können. Sie hängt auch maßgeblich davon ab, ob die betreffende Person bereits über eine Krankenversicherung versichert ist. Die Gesundheitsversorgung geflüchteter Menschen, die sich noch im Asylverfahren befinden und von Personen, die lediglich geduldet werden, ist in den ersten 18 Monaten ihres Aufenthaltes in Deutschland grundsätzlich auf eine Versorgung gem. §§ 4 und 6 AsylbLG beschränkt. Es besteht kein Anspruch auf den vollen Umfang notwendiger medizinischer Leistungen, wie ihn die Krankenkassen definieren. So besteht u.a. kein Anspruch auf Psychotherapie, obwohl psychische Erkrankungen – wie die meisten körperlichen Erkrankungen auch – meist dringend behandlungsbedürftig sind.

Oftmals ist auch das Arbeiten mit Dolmetschenden für Mitarbeitende der Regeldienste ungewohnt oder wird sogar abgelehnt. Gründe dafür sind, neben dem hohen Aufwand, Unsicherheiten bezüglich der Finanzierung der Gesundheits- und Dolmetschleistungen, da beispielsweise die Psychotherapie nach SGB V und die Dolmetscherleistungen separat nach SGB XII beantragt werden müssen. Eine Vermittlung von psychisch belasteten Geflüchteten in die Regeldienste stellt sich daher noch immer als sehr schwierig dar. Die Neuregelung in der Ärztezulassungsverordnung, nach der sich Psychotherapeut:innen, die keinen Kassensitz haben, für die Behandlung von Flüchtlingen berechtigen lassen und mit den Krankenkassen abrechnen können, führte hinsichtlich der Situation der Unterversorgung psychisch kranker Flüchtlinge bisher kaum zu einer Verbesserung.[9]

Die aufenthaltsrechtliche Situation der Klient:innen in den PSZ unterscheidet sich deutlich von der aller geflüchteten Menschen, die in Deutschland leben. Während 2019 in Deutschland insgesamt 74% aller geflüchteten Menschen einen relativ gesicherten Aufenthalt hatten, traf dies nur auf durchschnittlich 25 % der PSZ-Klient:innen zu. Dies ist vor allem darauf zurückzuführen, dass viele PSZ prioritär Klient:innen mit einem unsicheren Aufenthaltsstatus und entsprechend schlechteren Chancen auf eine Behandlung durch die gesetzlich verankerte gesundheitliche Regelversorgung aufnehmen.[10]

Die über die Krankenkassen abrechenbaren sog. Richtlinientherapien (nach den Psychotherapie-Richtlinien von 1967; tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie, Psychoanalyse und Verhaltenstherapie) dienen der Bearbeitung des Traumas selbst, wobei dazu zum Beispiel ein sicheres Lebensumfeld Voraussetzung ist, da die Konfrontation mit dem Trauma emotional sehr belastend ist. Über ein entsprechendes Lebensumfeld verfügen viele geflüchtete Menschen nicht. Sie benötigen dringend ganzheitliche Unterstützung zur psychischen Stabilisierung, die auch sozialpädagogische Unterstützung für einen gelingenden Alltag umfasst und können sich vorerst jedoch nicht mit ihrem Trauma selbst auseinandersetzen. Dieses interdisziplinäre, bedarfsgerechte Komplexangebot für geflüchtete Menschen bieten die Psychosozialen Zentren an, die darüber hinaus über ein hohes Maß an interkulturellen Kompetenzen verfügen und so als ergänzend, bzw. vorbereitend für die therapeutischen Angebote des Regelsystems wirken.

So stellen die PSZ ein sinnvolles, ergänzendes Angebot des Regelsystems dar. Jedoch werden derzeit nur 4 % der Leistungen der PSZ von den Leistungsträgern des Regelsystems (Krankenkassen, Sozialämtern, Jugendamt) finanziert.

 

4. Derzeitige Versorgungssituation

Die PSZ erleben eine ungebrochen hohe Nachfrage. Auf Grundlage einer Erhebung der BAfF im Jahr 2019 und ergänzenden Berechnungen der Verbände werden derzeit im Jahr etwa 30.000 Klient:innen versorgt.[11]

Im Jahr 2019 haben diese Klient:innen je nach Bedarf unterschiedliche Teile des multimodalen Leistungsspektrums wahrgenommen:

 

  • 69% stabilisierende Beratung
  • 43% psychotherapeutische Behandlung sowie weitere Angebote
  • 15% waren ausschließlich in Psychotherapie
  • 18% weitere psychosoziale Angebote[12]

 

Aufgrund der unzureichenden Finanzierung können die PSZ der großen Nachfrage nach therapeutischer und psychosozialer Unterstützung der Zielgruppe nach wie vor nicht adäquat gerecht werden. Bislang werden die PSZ nur durch eine unzureichende, stark diversifizierte und nicht nachhaltig angelegte Finanzierungsstruktur getragen. So ist zwar das Angebot von ca. 30 PSZ in 2015/2016 auf mittlerweile auf 65 PSZ gestiegen, Klient:innen nehmen aber weiterhin vor allem im ländlichen Raum oft mehrstündige Anfahrtswege in Kauf, um Beratung und Therapie zu erhalten.

Die Wartelisten der einzelnen Zentren sind seit Jahren lang. Immer wieder müssen PSZ ihre Wartelisten schließen, da sie eine Behandlung aus Kapazitätsgründen nicht in Aussicht stellen können. Laut Datenerhebung der BAfF wurden in 2019 bei 40 PSZ ca. 12.000 Menschen registriert, denen aufgrund fehlender Kapazitäten in den Psychosozialen Zentren keine Versorgung angeboten werden konnte.[13] Dies ist nur ein Hinweis auf die Unterversorgung. Die Zahl derer, die nicht versorgt wurden, ist vermutlich deutlich höher, da sich viele aufgrund der fehlenden Versorgungsstrukturen vor Ort gar nicht erst an ein Psychosoziales Zentrum wenden.

 

5. Derzeitige Finanzierung der PSZ

Psychosoziale Zentren finanzieren sich häufig aus mehreren Quellen mit jeweiligen Antrags- und Nachweisverfahren. Entsprechend einer Erhebung der BAfF und einer Hochrechnung der Verbände erhalten die 65 PSZ etwa 50 Mio. Euro pro Jahr. Sie stammen zu etwa 40% aus Landesmitteln, ca. 10% aus kommunalen Mitteln und 8% aus Bundesmitteln. Nur etwa 4% der Leistungen der Psychosozialen Zentren können über das Asylbewerberleistungsgesetz mit dem Sozialamt, über das SGB V mit den gesetzlichen Krankenversicherungen oder über das SGB VIII mit den Jugendämtern abgerechnet werden.[14] Die übrigen Kosten werden über private Mittel von Stiftungen oder aus Spenden getragen.

Die genannten Bundesmittel erhielten die PSZ aus dem „Programm zur Beratung und Betreuung ausländischer Flüchtlinge“ (Kapitel 1710, Titel 684 05) des BMFSFJ. Seit 2016 werden jährlich ca. 3,8 Mio. Euro an Psychosoziale Zentren über die Verbände weitergeleitet. Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege als Zuwendungsempfänger haben die Mittel so eingesetzt, dass in jedem Bundesland mindestens ein Psychosoziales Zentrum gefördert wird.

 

6. Tatsächlicher Bedarf

Da Studien davon ausgehen, dass zwischen 25% und 50% der Asylsuchenden an einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) leiden bzw. Unterstützungsbedarf aufgrund erlittener Traumata haben[15], gehen die Wohlfahrtsverbände bei ihrer Kalkulation des Gesamtbedarfs von einem Drittel der Asylerstanträge aus. Dies entspricht 50.000 Menschen. Weitere etwa 30.000 Personen kommen im Rahmen des Familiennachzuges, humanitärer Aufnahmeprogramme oder des Resettlements nach Deutschland. Hier wird von 10.000 Geflüchteten mit einem entsprechenden Bedarf an Unterstützung ausgegangen. Insgesamt ist davon auszugehen, dass jährlich ca. 60.000 geflüchtete Menschen psychosoziale Versorgung (Beratung, Stabilisierung, Begleitung und Behandlung/Therapie) benötigen.

Da im Rahmen der bisherigen Kapazitäten ca. 30.000 Klient:innen jährlich versorgt werden können, fehlt die Kapazität für weitere ca. 30.000 Klient:innen. Da einige Geflüchtete Leistungen der PSZ nicht nur in einem Jahr in Anspruch nehmen, handelt es sich um eine eher konservative Schätzung. Daraus ergibt sich nach Schätzung der Verbände ein Gesamtfinanzierungsbedarf in Höhe von 100 Mio. Euro für 60.000 Klient:innen bzw. ein zusätzlicher Finanzierungsbedarf von 50 Mio. Euro.

Diese Berechnung bezieht sich auf die durchschnittliche Anzahl der Schutzsuchenden in Deutschland der letzten fünf Jahre. Die Bedarfe derzeit aus der Ukraine flüchtender Menschen sind dabei noch nicht berücksichtigt. Wie sich ihre Anzahl entwickeln wird, ist derzeit kaum seriös zu schätzen, wird voraussichtlich jedoch eine erhebliche Bedeutung haben. Anfang April 2022 waren bereits knapp 300.000 Personen/ Geflüchtete aus der Ukraine in Deutschland offiziell registriert.  Für diese Gruppe der Schutzsuchenden sind vor allen Dingen zunächst schnell verfügbare, niedrigschwellige psychosoziale Angebote, wie eine erste Stabilisierung, eine aktive Einbindung in soziale Netzwerke oder gezielte Verhaltensaktivierungen, hilfreich und notwendig. Auch hier können niedrigschwellige Angebote der PSZ greifen.

Wichtig ist, dass die Fördermittel längerfristig zur Verfügung stehen, um die kontinuierliche Arbeit der PSZ gewährleisten zu können und den Abbruch von Therapien sowie den Verlust von qualifiziertem Fachpersonal zu vermeiden. Vielerorts ist es aufgrund des Fachkräftemangels schwierig, insbesondere Psychotherapeut:innen, aber auch Sozialpädagog:innen, für diese verantwortungsvolle Aufgabe zu gewinnen.

Die PSZ sind fast alle Mitglied in einem der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrpflege. Die Verbände übernehmen die Koordinierung und fachliche Unterstützung und leiten die entsprechenden Fördergelder an die PSZ weiter. Sie engagieren sich in der Qualifizierung der Fachkräfte, der Qualitätssicherung, fördern die Vernetzung und stimmen sich hinsichtlich der Förderung der PSZ ab.

Die BAfF als Dachverband der Psychosozialen Zentren ist seit 25 Jahren zentraler Akteur für die Bündelung der Kompetenzen in den Bereichen psychosoziale Versorgung und Trauma nach kollektiver Gewalterfahrung, Folter und Flucht die Begleitung, die Qualitätssicherung und Weiterentwicklung der Arbeit der Psychosozialen Zentren im gesamten Bundesgebiet. Mit den steigenden Anforderungen in der strukturellen Weiterentwicklung der PSZ wachsen auch die Anforderungen an die Verbände und die BAfF.

Für die fachliche Begleitung der PSZ und die Koordinierung im Rahmen der Flüchtlingssozialarbeit braucht es ebenfalls eine angemessene öffentliche Förderung.

 


[1]    „Mehr Fortschritt wagen. Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit. Koalitionsvertrag zwischen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP 2021, S. 140, Link: https://www.spd.de/fileadmin/Dokumente/Koalitionsvertrag/Koalitionsvertrag_2021-2025.pdf, weiter heißt es dort: „Dazu gehört auch weiterhin eine Beteiligung des Bundes an den Kosten der Flüchtlingsunterbringung, -versorgung und –integration”, S. 128

[2]    Vgl. Link: https://www.baff-zentren.org/aktuelles/appell-an-die-bundesregierung/

[3]    Durchschnittliche Zahl der Erstasylanträge von 2017 bis 2021 (keine Folgeanträge), dabei bedingt durch die Corona-Pandemie deutlicher Rückgang in 2020

[4]    Die Finanzierung ist jedoch nicht bedarfsdeckend. 40 PSZ meldeten im Jahr 2019, dass sie ca. 12.000 behandlungs- oder unterstützungsbedürftigen Menschen, aufgrund fehlender Kapazitäten kein Angebot machen konnten. Darüber hinaus gibt es zahlreiche Menschen, die einen entsprechenden Bedarf haben, aber nicht bei einem PSZ registriert sind. Dies ergibt sich bereits daraus, dass mehrere Regionen in Deutschland nicht über das Angebot eines PSZ verfügen.

[5]    Entsprechend Art. 22 Richtlinie 2013/33/EU (Aufnahmerichtlinie)

[6]    Vgl. Gäbel, U., Ruf, M., Schauer, M., Odenwald, M. & Neuner, F. (2006). Prävalenz der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTSD) und Möglichkeiten der Ermittlung in der Asylverfahrenspraxis. Zeitschrift für Klinische Psychologie und Psychotherapie, 35 (1), S. 12–20, siehe auch Referenzen in: Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina (2018). Stellungnahme. Traumatisierte Flüchtlinge – schnelle Hilfe ist jetzt nötig, S. 8. Die AOK hat im Jahr 2018 eine Studie zur subjektiven Einschätzung des (mentalen) Gesundheitszustands von Geflüchteten aus den damaligen Hauptherkunftsländern Syrien, dem Irak und AFG durchgeführt. Ca. 30 bis 40% beklagen klassische Symptome, die mit PTBS und Trauma in Verbindung gebracht werden, siehe Gesundheit von Geflüchteten in Deutschland – Ergebnisse einer Befragung von Schutzsuchenden aus Syrien, Irak und Afghanistan (aok-bv.de)

[7]    Vgl. Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina (2018): Stellungnahme. Traumatisierte Flüchtlinge – schnelle Hilfe ist jetzt nötig, S. 18f, Link: 2018_Stellungnahme_traumatisierte_Fluechtlinge.pdf (leopoldina.org)

[8]    Vgl. Leopoldina, ebd. S 8.

[9]    Vgl. https://www.baff-zentren.org/aktuelles/keine-behandlung-mit-der-ermaechtigung/

[10]   Siehe Bundesweite Arbeitsgemeinschaft der Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer e. V. (2020). Datenbericht. Datenlage zur psychosozialen Versorgung von Überlebenden von Krieg, Folter und Flucht in Deutschland, S. 4 Link: https://www.baff-zentren.org/wp-content/uploads/2022/01/Datenbericht-Versorgung-BAfF-2019.pdf

[11]   Ebd.

[12]   Ebd.

[13]   Ebd., S. 8

[14]   Siehe Bundesweite Arbeitsgemeinschaft der Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer e. V. (2020). Datenbericht. Datenlage zur psychosozialen Versorgung von Überlebenden von Krieg, Folter und Flucht in Deutschland, URL: Datenbericht-Versorgung-BAfF-2019.pdf (baff-zentren.org)

[15]   siehe Abschnitt 1, Fußnote 6