Stellungnahme der BAGFW zum Entwurf des Nationalen Reformprogramms 2016 (NRP)

Die BAGFW begrüßt, dass das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) die partnerschaftliche Einbeziehung der Wohlfahrtsverbände im Rahmen des Europäischen Semesters kontinuierlich fortsetzt.

Vorbemerkung

 

Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege e. V. (BAGFW) begrüßt, dass das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) die partnerschaftliche Einbeziehung der Wohlfahrtsverbände im Rahmen des Europäischen Semesters kontinuierlich fortsetzt. Gerne nutzt die BAGFW die Gelegenheit für eine gemeinsame Stellungnahme zum vorgelegten NRP-Entwurf 2016. Sie weist jedoch erneut und nachdrücklich darauf hin, dass die Fristsetzung im Hinblick auf eine ausreichende Beteiligung der Zivilgesellschaft, von der in Ziffer 127 des NRP-Entwurfes die Rede ist, zu knapp bemessen ist. Der Entwurf des NRP wurde vom BMAS am 4. März 2016 mit Rückmeldefrist bis zum 11. März 2016 versandt.

 

Zur inhaltlichen Ergänzung verweist die BAGFW in diesem Zusammenhang sowohl auf ihre Stellungnahmen zum Entwurf des Nationalen Reformprogramms 2015 und zum Entwurf des Nationalen Sozialberichts 2016 als auch auf die Anmerkungen und Hinweise der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege e.V. (BAGFW) zur Fortschreibung des Nationalen Sozialberichts 2016.

 

Im Folgenden nimmt die BAGFW zur Umsetzung der sozialpolitischen Ziele der Strategie Europa 2020 im Entwurf des Nationalen Reformprogramms 2016 Stellung.

 

Wir gehen dabei insbesondere auf „II. Maßnahmen zur Bewältigung wesentlicher gesamtwirtschaftlicher Herausforderungen, Punkt B. „Flüchtlinge bestmöglich in den Arbeitsmarkt integrieren“ ein.

 

Ferner widmen wir uns insbesondere den drei sozialpolitischen Kernzielen

 

  • A. Beschäftigung fördern
  • D. Bildungsniveau verbessern
  • E. Soziale Eingliederung vor allem durch die Verringerung von Armut fördern

 

und den länderspezifischen Empfehlungen des Rates zum NRP Deutschlands 2015.

Da die Ausführungen im Entwurf des NRP 2016 unter Punkt C. „Wettbewerb stärken“ insbesondere die öffentliche Auftragsvergabe und den Wettbewerb im Dienstleistungssektor betreffen, nimmt die BAGFW ebenfalls dazu Stellung.

 

 

1.         „II. B. Erwerbsbeteiligung erhöhen, Flüchtlinge bestmöglich integrieren“

 

Kapitel "Flüchtlinge bestmöglich in den Arbeitsmarkt integrieren" S. 29ff.

 

Der Bericht widmet sich in einem gesonderten Teil dem Thema „Flüchtlinge bestmöglich in den Arbeitsmarkt integrieren“. In den Blick genommen wird dabei neben der Ausbildung auch die aktive Arbeitsmarktpolitik. Es wird die hohe Bedeutung des Spracherwerbs hervorgehoben und die Bereitstellung von Bundesmitteln für BAMF Sprachkurse betont. Vernachlässigt wird hierbei, dass für eine erfolgreiche Integration in Arbeit und Ausbildung auch eine stärkere Förderung von berufsorientierten Sprachkursen dringend notwendig ist. Problematisch ist auch, dass die Bleiberechtsperspektive an das Kriterium Staatsangehörigkeit (konkret sichere Herkunftsstaaten) gekoppelt wird. Darüber hinaus gibt es noch eine Reihe von ausländerrechtlichen Hürden, die eine schnelle Integration in die Gesellschaft durch Ausbildung, Studium und Arbeit verhindern, in dem Nationalen Reformprogramm aber keine Berücksichtigung finden. Die BAGFW sieht es u.a. als kritisch an, dass Personen mit bestimmten Aufenthaltserlaubnissen, unter anderem solche mit nationalem subsidiären Schutz sowie Familienangehörige von anerkannten Flüchtlingen (§ 36 AufenthG), nach wie vor von einer Ausbildungsförderung und ausbildungsfördernden Instrumenten - hier den berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahmen und der Förderung einer außerbetrieblichen Berufsbildung - für lange Zeit ausgeschlossen bleiben.

 

Asylsuchende sollten unabhängig von der Unterbringung spätestens nach 3 Monaten Zugang zum Arbeitsmarkt haben. Die Nachrangigkeitsprüfung sollte entfallen. Sie führt zu unnötiger Bürokratie und häufig zu einem faktischen Ausschluss vom Arbeitsmarkt.

 

Die Bundesregierung betont, dass der Zugang von Geduldeten in Ausbildung erleichtert wurde, durch eine jährlich verlängerbare Duldung für junge Geduldete, damit diese eine begonnene Ausbildung beenden können. Sinnvoller für Geduldete sowie für Arbeitgeber wäre es, für die Dauer der Ausbildung eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen und nach Abschluss eine dauerhafte Perspektive zu eröffnen.

 

Die BAGFW begrüßt die zusätzlichen Maßnahmen zur Integration von Geflüchteten in den Arbeitsmarkt. Die BAGFW fordert dafür ebenfalls eine deutliche finanzielle Aufstockung der bereits bestehenden Instrumente. Die Ausweitung der Zielgruppe darf nicht zu Lasten der bereits bestehenden Zielgruppen erfolgen.

 

Seit Jahren steigt die Zahl der Erwerbsfähigen in Deutschland auch durch eine zunehmende Zuwanderung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern aus dem EU-Ausland, die durch das Recht auf Freizügigkeit ermöglicht wird.

 

Die BAGFW zählt die Mobilität der EU-Bürger/innen zu den großen Errungenschaften der EU. Dieses Recht darf nicht einfach in Frage gestellt werden, wenn Bürgerinnen und Bürger aus EU-Mitgliedstaaten es aktiv nutzen, um ihre soziale und Erwerbsituation zu verbessern. Schließlich profitiert Deutschland erheblich von vielen Fachkräften aus EU-Ländern, wie z.B. der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration in seinem Jahresbericht 2013 bestätigt.

 

Auch wenn der Zugang zum Arbeitsmarkt für EU-Bürger gesetzlich unbeschränkt ist, gibt es dennoch viele Hürden auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Für Menschen, die beispielsweise nicht oder kaum Deutsch sprechen, die keine Berufsausbildung haben oder deren Ausbildung in Deutschland nicht anerkannt wird, ist es schwer, eine Anstellung zu finden.

 

Die konkrete Situation mancher prekär Beschäftigter oder Arbeitsuchender wird in Einrichtungen und Diensten der Wohnungslosenhilfe, der Migrationsfachdienste, in Stadtteilprojekten, in medizinischen Notdiensten und der Bahnhofsmission offenbar: Es kommen Menschen, darunter auch Familien mit Kindern, die weder Unterkunft haben noch ersichtlich krankenversichert sind. Die existentielle Notlage der Betroffenen kann durch deutsche Unternehmen leicht ausgenutzt werden. Nicht selten geraten arbeitsuchende EU-Bürgerinnen und EU-Bürger dadurch in ausbeuterische Arbeitsverhältnisse, die bisweilen in schwere Formen von Arbeitsausbeutung bis hin zu Menschenhandel eskalieren.

 

Insgesamt zeigt sich, dass Menschen mit Migrationshintergrund am deutschen Arbeitsmarkt immer noch benachteiligt sind. Sie partizipieren an der positiven Entwicklungsdynamik des Arbeitsmarktes nach wie vor nicht in gleichem Maße wie Menschen ohne Migrationshintergrund. Auch die Einkommenssituation ist deutlich prekärer. Personen mit Migrationshintergrund sind überdurchschnittlich oft von Erwerbslosigkeit betroffen (siehe 9. Bericht der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration über die Lage der Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland, Juni 2012).

 

Die Bundesregierung ist aufgefordert, ihre Anstrengungen bei der Beseitigung migrationsspezifischer Benachteiligung am Arbeitsmarkt und im Bildungssystem zu verstärken.

 

Kapitel "Arbeitsmarkt fair und flexibel ausgestalten" S. 45 ff.

(Ziffern 90 - 93)

 

In diesem Kapitel wird ausführlich auf den Mindestlohn, das Gesetz zu Werkverträgen und Arbeitnehmerüberlassung, Gleichstellung und Entgeltstruktur eingegangen. Nicht erwähnt wird hier, dass es eine große Zahl an Langzeitarbeitslosen gibt, denen der Zugang zum Arbeitsmarkt versperrt bleibt. Im Kapitel werden die beiden Bundeskonzepte des BMAS erwähnt. Die beiden befristeten Konzepte sind für eine kleine Zahl von Personen ausgelegt. Im Rahmen des Programms „Chancen eröffnen - soziale Teilhabe sichern" sollen 10.000 Menschen befristet gefördert werden, im ESF-Programm bis zu 33.000. Ein umfassendes Arbeitsmarktkonzept, welches eine passgenaue und langfristige Förderstrategie beinhaltet, fehlt weiterhin. Langzeitarbeitslose mit schweren Vermittlungshemmnissen sind allerdings weiterhin nicht im Fokus der Arbeitsmarktintegration.

 

Kapitel "Wohnraum bezahlbar halten"

 

Erstmalig wird im NRP das Thema bezahlbarer Wohnraum aufgegriffen, die BAGFW begrüßt das. Der Bericht hebt die Bedeutung des Wohngelds zur Entlastung der Haushalte mit niedrigem Einkommen hervor. Die durch die Bundesregierung vorgenommene Wohngelderhöhung zum Januar 2016 war dringend erforderlich, da die letzte Erhöhung sechs Jahre zurücklag. Die BAGFW kritisiert jedoch, dass die Reform erneut nicht nachhaltig ist, da versäumt wurde, einen Dynamisierungsfaktor einzubauen, der eine regelmäßige Anpassung des Wohngelds gesetzlich normiert. Damit besteht die Gefahr, dass tausende Haushalte bald wieder ins SGB II fallen werden und bei den Jobcentern Grundsicherungsleistungen beantragen müssen. Die BAGFW verweist in diesem Zusammenhang auch auf ihre Forderung der Wiedereinführung einer Heizkostenpauschale

 

 

2.         „III. Europa 2020-Kernziele: Erzielte Fortschritte und Maßnahmen

 

„A. Beschäftigung fördern“

(Ziffern 79 - 93)

 

Bewertung:

Deutschland (DE) hat sich in seinem NRP zu den drei sozialpolitischen EU 2020-Kernzielen mit den folgenden nationalen Zielen (abweichend von den EU-weiten Zielen) verpflichtet:

 

-           Erwerbstätigenquote für 20- bis 64-Jährige: 77%

-           Erwerbstätigenquote für Ältere zwischen 55 und 64 Jahren: 60%

-           Erwerbstätigenquote für Frauen: 73%

 

Alle drei Ziele hat DE im 3. Quartal 2015 (über-)erfüllt.

Die Sozialwirtschaft kann aufgrund des demografischen Wandels und des zusätzlichen Bedarfs an Personal einen signifikanten Beitrag zur Stabilisierung der Erwerbstätigenquote erbringen. Für die weitere Steigerung der Erwerbstätigenquote der Frauen ist es wichtig, dass die Ganztagsangebote zur Bildung, Erziehung und Betreuung für Kinder in der Fläche ausreichend und qualitativ hochwertig ausgebaut werden. 

 

Die BAGFW regt für das NRP 2016 an, perspektivisch berufliche Förderangebote für Frauen verstärkt in den Blick zu nehmen, um sie weiter zu entwickeln, indem auch das Angebot für Teilzeitqualifizierungen ausgebaut wird.

 

In den länderspezifischen Empfehlungen 2015 wird nach wie vor empfohlen, dass Deutschland „die fiskalische Behandlung von Minijobs überprüft, um den Übergang in andere Beschäftigungsformen zu erleichtern“. Die länderspezifischen Empfehlungen konstatieren bisher ebenfalls nur begrenzte Fortschritte bei der Anhebung des Bildungsniveaus benachteiligter Gruppen (COM(2015) 256 final vom 13.05.2015)

 

Rund 1 Mio. oder 38,6% der offiziell gemeldeten Arbeitslosen in Deutschland im September 2015 waren nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit langzeitarbeitslos und hatten damit deutlich geringere Chancen auf eine dauerhafte Integration in den Arbeitsmarkt als kurzzeitig Arbeitslose. Aufgrund der insgesamt sinkenden Arbeitslosenzahlen steigt damit der prozentuale Anteil der Langzeitarbeitslosen. In absoluten Zahlen ist nur ein geringer Rückgang der Zahl der Langzeitarbeitslosen zu verzeichnen, wobei der Anteil der Arbeitslosen, die seit 24 Monaten oder länger arbeitslos sind, signifikant steigt. Besondere Risikofaktoren sind insbesondere höheres Alter (55+), eine fehlende Berufsausbildung und eine Frau zu sein mit einem Kind unter drei Jahren. Langzeitarbeitslose mit vier und mehr sogenannten Vermittlungshemmnissen haben derzeit kaum eine Chance auf eine Arbeitsmarktintegration. Langzeitarbeitslose sind vom rückläufigen Einsatz arbeitsmarktpolitischer Instrumente besonders betroffen. Nach Angaben aus dem Eingliederungsbericht 2014 der Bundesagentur für Arbeit waren sie nur mit einem Anteil von 19% an Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik beteiligt.

 

Die Problematik des Ausmaßes des verfestigten Langzeitleistungsbezugs in der Grundsicherung für Arbeitsuchende bleibt im NRP weitgehend unerwähnt, obwohl die damit verbundenen Probleme im Berichtszeitraum bundespolitisch und in der Öffentlichkeit intensiv diskutiert worden sind. Im Arbeitsdokument der Europäischen Kommission zum Länderbericht Deutschland 2015 wird auf das besorgniserregende Problem der Langzeitarbeitslosigkeit in Deutschland verwiesen:

 

„While the unemployment rate is overall low (5.0 % in 2014), it exceeds 10 % in several federal states and long-term unemployment is an increasing concern.“ (s. SWD (2015) 25 final, S. 63) … „Long-term unemployment is an increasing concern and it is still at a high level.“ (s. SWD(2015) 25 final, S. 64)

 

Als erwerbsfähig gelten derzeit über 3 Mio. Langzeitleistungsbeziehende. Die Hälfte von diesen lebt mit weiteren Personen, die nicht erwerbsfähig sind (zu 95 Prozent Kinder), in Bedarfsgemeinschaften. Besonders kritisch ist auch der Umstand zu werten, dass Ende 2012 zwei Drittel der mehr als 4 Mio. erwerbsfähigen Leistungsberechtigten bereits über zwei Jahre im Leistungsbezug waren; jede(r) vierte sogar durchgängig seit 2005. Zudem gibt es nach wie vor eine strukturelle Arbeitslosigkeit.

 

Die BAGFW spricht sich dafür aus, die schwerpunktmäßige Ausrichtung der Arbeitsmarktförderung auf Personen und Förderleistungen mit großer Arbeitsmarktnähe aufzugeben und Langzeitleistungsbeziehenden und ihren Familien deutlich mehr Förderung anzubieten.

 

Um langfristige Arbeitslosigkeit und Armut zu überwinden, müssen Eingliederungsinstrumente zur Verfügung stehen, die für die Förderung der Beschäftigung arbeitsmarktferner Menschen auch wirksam genutzt werden können. Die BAGFW regt langfristige, gezielte und kleinschrittige Hilfen für Menschen mit mehrfachen Vermittlungshemmnissen an. Die BAGFW betont erneut, dass es über das ESF-Programm zur Wiedereingliederung von 33.000 Langzeitarbeitslosen in den Arbeitsmarkt weiterer nationaler Anstrengungen bedarf.

 

Für einen Teil derjenigen Menschen, die trotz intensiver Förderung ohne Chance auf Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt sind, sollen über öffentlich geförderte sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsangebote Möglichkeiten der sozialen Teilhabe eröffnet werden (s. dazu auch die Ausführungen zum Thema “Soziale Eingliederung vor allem durch Armutsbekämpfung fördern“). Vor dem Hintergrund der verfestigten und hohen Langzeitarbeitslosigkeit und des andauernden Hilfebezugs im SGB II sieht die BAGFW die Initiative der Bundesarbeitsministerin „Chancen eröffnen – soziale Teilhabe sichern“ positiv. Die Verbände loben ausdrücklich das Vorhaben, ein Angebot zur sozialen Teilhabe durch Erwerbsarbeit für ansonsten vom Arbeitsmarkt ausgeschlossene Personen mit öffentlich geförderter sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung zu unterbreiten. Das Programm kann dazu ein erster wichtiger Schritt sein. Da die tatsächlichen Unterstützungsbedarfe weit über die angedachte Förderung von 10.000 Personen hinausgehen, fordert die BAGFW zusätzliche Mittel bereitzustellen und das Programm mit einer Erprobung des sog. Passiv- Aktiv-Transfers (PAT) zu verknüpfen.

 

Im Zuge der Rechtsvereinfachung des SGB II soll mit dem § 16h SGB II ein neuer Fördertatbestand in das SGB II aufgenommen werden, der sich an die Zielgruppe der schwer zu erreichenden jungen Menschen unter 25 Jahren richtet. Diesen jungen Menschen, die von den Angeboten der Sozialleistungssysteme derzeit mindestens zeitweise nicht erreicht werden, können passgenaue Betreuungs- und Unterstützungsleistungen in Abstimmung mit dem Träger der öffentlichen Jugendhilfe angeboten werden.

 

Die BAGFW begrüßt, dass sich das SGB II endlich der Zielgruppe der schwer erreichbaren, vom System entkoppelten Jugendlichen und jungen Erwachsenen in enger Abstimmung mit der Kinder- und Jugendhilfe zuwendet. Der neue § 16h SGB II ist jedoch lediglich als Kann-Regelung ausgestaltet. Damit die Zielgruppe tatsächlich gezielt in ihrer schwierigen Lebenssituation unterstützt wird, ist die Regelung sowohl in Absatz 1 als auch in Absatz 2 verbindlicher als Soll-Vorschrift auszugestalten. 

 

In den länderspezifischen Empfehlungen 2015 hat der Europäische Rat erneut empfohlen, die Umwandlung von Minijobs in voll sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsformen zu erleichtern. Die BAGFW empfiehlt, sich im NRP 2016 gezielter mit dem Thema atypische Beschäftigung insgesamt auseinanderzusetzen und dabei insbesondere Auswirkungen für die Beschäftigten in den Blick zu nehmen.

 

 

4.      „D. Bildungsniveau verbessern“

(Ziffern 113 - 118)

 

Bewertung:

Deutschland hat sich in seinem NRP zum Erreichen des folgenden EU-weiten Kernziels verpflichtet:

 

-      Bildungsniveau verbessern, insbesondere den Anteil der frühzeitigen Schul- und Ausbildungsabgänger auf unter 10% senken

 

Obwohl der Anteil der frühzeitigen Schul- und Ausbildungsabgänger 2014 mit 9,5 Prozent insgesamt unter der Zielmarke von 10 Prozent lag, gibt es signifikante regionale Unterschiede. Außerdem stellt die Europäische Kommission fest: „Bei der Verbesserung der Bildungsergebnisse benachteiligter Gruppen wurden begrenzte Fortschritte erzielt. Die Wahrscheinlichkeit eines frühen Schulabgangs verdoppelt sich bei jungen Menschen mit Migrationshintergrund.“ (COM(2015) 256 final vom 13.05.2015).

 

Die BAGFW verweist auf ihre kritischen Anmerkungen zum NRP 2015.

In den Erhebungen der Statistischen Ämter des Bundes und der Länder auf Basis des Mikrozensus 2013 wird festgestellt, dass der Anteil der Jugendlichen ohne Hauptschulabschluss in Ostdeutschland fast doppelt so hoch ausfällt wie in Westdeutschland. Hier besucht auch ein weitaus höherer Anteil der Schüler/innen als in Westdeutschland eine Förderschule und erwirbt dort häufig höchstens einen Förderabschluss. Betrachtet man hingegen den Anteil der frühen Schul- und Ausbildungsabgänger/innen, also das EU-2020 Kernziel im Bildungsbereich, zeigt sich das umgekehrte Bild. Dies liegt vor allem daran, dass in Westdeutschland weniger junge Menschen einen beruflichen Abschluss erwerben als in Ostdeutschland. Der Caritas-Studie “Bildungschancen vor Ort“ aus dem Jahr 2014 zufolge ist die Quote der Schulabgänger/innen ohne Hauptschulabschluss zwar deutschlandweit von rund 7% im Jahr 2009 auf rund 6% im Jahr 2012 gesunken. Es bestehen aber starke regionale Streuungen der Quoten: zwischen 4,6 % in Bayern und 11,1 % in Sachsen-Anhalt (s. dazu <link http: www.caritas.de bildungschancen>www.caritas.de/bildungschancen), s. auch „Bildung in Deutschland 2014“).

 

Außerdem besteht nach wie vor ein negativer Zusammenhang zwischen der sozialen Herkunft und dem Bildungserfolg: je geringer die sozialen Ressourcen eines Kindes oder Jugendlichen sind, desto höher ist das Risiko des Scheiterns im Bildungssystem.

 

Die BAGFW sieht hier weiterhin großen Handlungsbedarf. Kinder und Jugendliche brauchen eine gezielte Förderung in einer chancengerechten Schule, die flexibel, individuell, inklusiv und ganzheitlich Kinder begleitet und die Kooperation mit Eltern und Bezugspersonen pflegt. Kinder und Jugendliche mit multiplen Problemlagen brauchen eine niedrigschwellige Förderung, in deren Rahmen Angebote zur Förderung von Lern- und Leistungskompetenzen mit Maßnahmen zur Überwindung persönlicher und sozialer Problemlagen kombiniert werden. Hier haben sich Angebote der Schulsozialarbeit als besonders wirksam erwiesen, um insbesondere junge Menschen in sozial benachteiligten Lebenslagen frühzeitig zu erreichen.

 

Auch in diesem Zusammenhang betont die BAGFW die Notwendigkeit des weiteren Ausbaus einer qualitativ hochwertigen Ganztagsbetreuung für Kinder.

 

Die BAGFW erachtet noch stärkere Anstrengungen für notwendig, um den Zusammenhang von Bildung und sozialer Herkunft zu durchbrechen.

 

 

5.      „Soziale Eingliederung vor allem durch die Verringerung von Armut fördern“

(Ziffern 119 – 125)

 

Bewertung:

Deutschland hat sich in seinem NRP dem folgenden nationalen Indikator zur Bemessung des Erfolgs bei der Armutsbekämpfung verpflichtet:

 

-      Anzahl der Langzeitarbeitslosen bis 2020 um 20% gegenüber 2008 verringern

 

Laut dem NRP-Entwurf 2016 hat sich die Zahl der Langzeitarbeitslosen zwischen 2008 und 2014 um 43,5 % verringert, d.h. Deutschland hat sein Europa-2020

Armutsziel erreicht.

 

Der absolute Rückgang der Langzeiterwerbslosigkeit ist zwar positiv zu sehen, jedoch nicht deckungsgleich mit der Reduzierung von Armutsrisiken in Deutschland.

 

Sorge bereitet die Entwicklung des Armutsrisikos. Gesamtwirtschaftlicher Erfolg und die Zunahme privaten Reichtums führen nicht mehr dazu, dass das Armutsrisiko in Deutschland geringer wird, sondern das Armutsrisiko und Ungleichheit nehmen zu.

 

Der Ausschuss für Sozialschutz hat den Nationalstaaten zur Erstellung ihrer Strategischen Sozialberichterstattung empfohlen, Daten zur sozialen Situation heranzuziehen, die aktueller als die der EU-SILC sind. Nach der Auswertung des Mikrozensus ergibt sich dieses Bild: Die Armutsrisikoquote ist seit dem Jahr 2006 – mit Unterbrechungen in den Jahren 2010 und 2012 – auf einen Wert von 15,5 Prozent im Jahr 2013 angestiegen. Rund 12,5 Millionen Menschen waren damit in diesem Jahr in Deutschland vom Risiko der Einkommensarmut betroffen. Dabei haben sich die Arbeitslosenzahlen und Armutsrisikoquoten in ihrer Entwicklung nicht nur abgekoppelt, sondern sich entgegengesetzt entwickelt. Während die Armutsrisikoquote seit 2006 relativ kontinuierlich um 10,7 Prozent angestiegen ist – von 14 Prozent auf 15,5 Prozent – ist die Arbeitslosenquote mit Ausnahme des Krisenjahres 2009 ebenso kontinuierlich um 36,1 Prozent (von 10,8 Prozent auf 6,9 Prozent) gesunken.

 

Die Bundesregierung erklärt, dass die Altersarmut trotz eines leichten Anstiegs in den letzten Jahren nach wie vor klein sei und kein verbreitetes Problem darstellt. Die BAGFW weist dagegen darauf hin, dass die 65-jährigen und Älteren in 2014 mit einer Quote von 14,4 Prozent zwar unterdurchschnittlich vom Armutsrisiko betroffen waren, die Gruppe der Rentner/innen und Pensionär/innen mit einer Armutsrisikoquote von 15,6 Prozent allerdings bereits ein überdurchschnittliches Armutsrisiko hatte. Zudem gibt es starke Zuwächse seit 2006. Seitdem nahm das Armutsrisiko unter den 65-jährigen und Älteren um 37,6 Prozent und das der Rentner und Pensionäre um sogar 51,5 Prozent zu. Dabei ist die Armutsrisikoquote von Frauen im Seniorenalter um einige Prozentpunkte höher als die von Männern. Sie sind besonders von Armut bedroht. Es gibt derzeit keinerlei Anzeichen dafür, dass dieser Trend gestoppt wird. Die BAGFW merkt kritisch an, dass im vorliegenden Bericht keine Pläne der Bundesregierung zur Bekämpfung von Altersarmut dargestellt werden.

 

Angesichts dieser Lagebeschreibung fordert die BAGFW die deutsche Bundesregierung dazu auf, im Bereich der Armutsbekämpfung ihre Aktivitäten neu auszurichten, um eine umfassende Bekämpfung der zunehmenden Armutsgefährdung von Personen zu gewährleisten.

 

Die BAGFW regt erneut an, dass neben dem national gewählten Armutsindikator: niedrige Erwerbsbeteiligung (gemessen am Prozentsatz von Menschen, die in einem Haushalt mit sehr geringer Erwerbsbeteiligung leben) die beiden anderen Indikatoren: die relative Einkommensarmut (gemessen wie bisher an der sog. Armutsgefährdungsrate) und die materielle Armut (gemessen am Index der materiellen Deprivation) bei der Ausrichtung einer umfassenden Armutsbekämpfungsstrategie berücksichtigt werden.

 

Die Armutsbekämpfung sollte sich nicht primär an kurzfristigen arbeitsmarktpolitischen Zielen orientieren. Der langfristige Bezug von SGB-II-Leistungen erklärt sich nicht allein aus Arbeitslosigkeit, sondern auch aus Sachverhalten wie Teilzeitarbeit, prekäre Soloselbständigkeit und niedrigen Löhnen trotz der Einführung des Mindestlohnes (rund 1,2 Millionen Aufstockende im SGB II). Das Arbeitseinkommen und/oder dem SGB II vorgelagerte familienpolitische und andere Leistungen reichen oft nicht aus, um den Leistungsbezug zu verhindern (600.000 Alleinerziehende und über 1,5 Millionen Kinder beziehen SGB-II-Leistungen).

 

Nach Berechnungen der Bundesagentur für Arbeit im Methodenbericht aus dem Juni 2013 bezogen 18,5 % der erwerbsfähigen Bevölkerung in den Jahren 2008 bis 2011 dauerhaft oder zeitweilig Leistungen nach dem SGB II. Trotzdem galten nur 1/3 der Leistungsbeziehenden im SGB II als arbeitslos. Teilnehmende an Maßnahmen, Zuverdienende, ältere Erwerbslose und weitere Personengruppen werden in der Arbeitslosenstatistik nicht mitgezählt. Maßnahmen zur nachhaltigen Verbesserung der sozialen Situation von Langzeit-Leistungsbeziehenden müssen mit einer Stärkung der dem Grundsicherungsbezug vorgelagerten Systeme einhergehen. Die BAGFW schlägt vor, weitere sozialpolitische Schwerpunkte zu setzen.

 

Die Wohlfahrtsverbände begrüßen die Einrichtung des Europäischen Hilfsfonds für die am stärksten benachteiligten Personen (EHAP) und die partnerschaftliche Zusammenarbeit mit der Freien Wohlfahrtspflege bei seiner Ausgestaltung. Der Hilfsfonds ist auf die Zielgruppen EU-Zuwanderer, deren Kinder im Vorschulalter sowie auf Wohnungslose fokussiert. Die BAGFW setzt sich für den Ausbau dieses Hilfsfonds und weiterer Maßnahmen zur Bekämpfung der Armut der am stärksten benachteiligten Personen mit dem Ziel der sozialen Inklusion ein.

 

Die BAGFW spricht sich dafür aus, dass die Armutspolitik im NRP weiter behandelt wird und Ansätze einer umfassenden Strategie der Armutsverringerung für betroffene Zielgruppen entwickelt werden. Sie verweist ihrerseits auf die Stellungnahme der BAGFW zum Entwurf des NSB 2016.

 

 

6.      „Wettbewerb im Dienstleistungssektor weiter beleben“

          (Ziffern 73 – 75)

 

Die Bundesregierung bekennt sich zu dem Anliegen, den Binnenmarkt für Dienstleistungen zu stärken und sie betont darüber hinaus die Notwendigkeit, gerechtfertigte und verhältnismäßige Regulierungen zu ergreifen, die z.B. die Qualität einer Dienstleistung, die Bereitstellung von Ausbildungsplätzen oder soziale und gesundheitspolitische Zwecke sichern.

 

Die BAGFW verweist auf ihre kritischen Anmerkungen zur „Vereinheitlichung der Ausbildung für Krankenpfleger/-schwestern, Gesundheits- und Kinderkrankenpflegerinnen und -pfleger sowie für Altenpflegerinnen und -pfleger“.