Geschichte der Freien Wohlfahrtspflege in Deutschland
Die Freie Wohlfahrtspflege lässt sich geschichtlich weit zurückverfolgen. Dabei war es stets der Wandel gesellschaftlicher und staatlicher Verhältnisse, der Formen und Inhalte ihrer Arbeit nachhaltig beeinflusste.
Sehr stark wurzelte die Freie Wohlfahrtspflege im Gedanken jüdischer und christlicher Nächstenliebe. Schon in den ersten christlichen Jahrhunderten bildeten sich Hilfen und Organisationsformen für Arme, Kranke und andere Notleidende heraus.
Im Mittelalter waren neben Klöstern vor allem religiöse Bruderschaften und Zünfte Träger einer organisierten Nächstenliebe. Die Spitäler sind wesentliches Zeichen dieser Organisation. Mit dem Wachsen der Städte und dem erwachenden Bürgersinn - im wesentlichen als Folgeerscheinung der Reformation und Renaissance - gewannen zunehmend auch freie Initiativen an Bedeutung. Schließlich entwickelten Städte- und Gebietsherrschaften Regelungen des Armenwesens.
Die spezifische Entwicklung der Freien Wohlfahrtspflege
Ab Mitte des 19. Jahrhunderts erfolgte die Gründung der Spitzenverbände, die auch heute noch die Strukturen der Freien Wohlfahrtspflege bestimmen. Von 1848 bis 1925 entstanden:
- Central-Ausschuß für die Innere Mission der Deutschen Evangelischen Kirche (1848) als Vorläufer des Diakonischen Werks der EKD (1957, heute Diakonie Deutschland
- Deutscher Caritasverband (1897)
- Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden (1917)
- Arbeiterwohlfahrt (1919)
- Die "Vaterländischen Frauenvereine vom Roten Kreuz" (1866) als Vorläufer des Deutschen Roten Kreuzes (1921)
- Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband (1924)
Diese organisatorische Zusammenfassung von privaten Einzelhilfen geschah in einer Zeit, die auch geprägt war durch Massennotstände und Kriege, vor allem aber durch die negativen sozialen Folgen der ersten Industrialisierungsphase. In dieser Zeit entwickelte sich die staatliche Armenpflege (kein Rechtsanspruch) hin zur Fürsorge (gesetzlich geregelt). Auch die Freie Wohlfahrtspflege wurde nunmehr nachhaltig geprägt durch Impulse aus den sozialen Reformbewegungen jener Zeit: Arbeiterbewegung - beginnende Frauenbewegung - Jugendbewegung - Reformpädagogik - Erneuerungsbewegungen in den Kirchen.
Die Freie Wohlfahrtspflege trug in erheblichem Maße zur Herausbildung eines demokratischen Gesellschaftsbewusstseins bei. In der Weimarer Verfassungswirklichkeit ist folgerichtig die Freie Wohlfahrtspflege Grundbestandteil freiheitlicher Sozialordnung.
Der Zeitraum von 1933 - 1945 war auch für die Spitzenverbände mit schweren Repressionen verbunden. Die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten führte dazu, dass die "Nationalsozialistische Volkswohlfahrt" in der Liga der Freien Wohlfahrtspflege die führende Stellung übernahm. Leitende Persönlichkeiten des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes legten von sich aus ihre Ämter nieder oder wurden gezwungen, aus ihren Positionen in den Verbandsorganen auszuscheiden. 1934 blieb der damaligen Mitgliederversammlung keine andere Wahl, als den Verband aufzulösen.
Kontrolliert und überwacht, in seinen Tätigkeitsbereichen eingeengt, durch Verhaftungen von Mitarbeitern in der Zentrale und im Lande eingeschüchtert, blieb der Deutsche Caritasverband während der NS-Diktatur dennoch am Leben: als arbeitsfähige und nicht gleichgeschaltete Institution.
Die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden wurde 1939 in die "Reichsvereinigung der Juden" eingegliedert, als deren "Abteilung Fürsorge" sie 1943 ihre Tätigkeit einstellen musste.
Versuche, das Deutsche Rote Kreuz in eine NS-Organisation umzuwandeln, konnten zwar vereitelt werden. Es musste aber in seinen Arbeitsbereichen empfindliche Einbußen durch staatliche Eingriffe hinnehmen.
Die Arbeiterwohlfahrt wurde als einziger Wohlfahrtsverband 1933 verboten, viele Mitglieder und Funktionsträger waren der Verfolgung ausgesetzt.
Die Theologie und Praxis des "Dritten Reichs" brachten die Innere Mission (heute Diakonie Deutschland) in tödliche Gefahr. Das Menschenbild des Nationalsozialismus gestattete nur die Fürsorge für vermeintlich wertvolle gesunde Menschen, die aber wollte man selbst wahrnehmen. So kam es zum schweren Kampf mit der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt um Kindergärten, Kindererholungsheime und Gemeindepflegestationen; manche Anstalten wurden beschlagnahmt.
Schließlich griff das Regime nach den Behinderten und unheilbar Kranken, die es der Inneren Mission zunächst noch zugestanden hatte; viele wurden aus deren Einrichtungen entfernt und getötet. Materielle Verluste brachten die Änderung des Sammlungs- und Steuerrechts und die Zerstörung von Anstalten durch Kriegsereignisse.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs führen die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege ihre Arbeit fort bzw. gründen sich neu. Die drängenden Probleme der Flüchtlinge, Vertriebenen, Heimkehrer und Obdachlosen bestimmen die Arbeit der Wohlfahrtsverbände.
Mit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland 1949 und dem nachfolgenden wirtschaftlichen Wiederaufbau können sich die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege wieder ihrem breiten Aufgabenspektrum zuwenden.
Quelle: erschienen im "journalist" (1988)