Gastreden

Gastrede 2004 des Intendanten des Westdeutschen Rundfunk Köln, Herrn Fritz Pleitgen

Frau Ministerin Schmidt, Herr Dr. Ragati, Herr Meinen, liebe Preisträgerinnen, meine sehr verehrten Damen und Herren,

seit der Umbau unserer Sozialsysteme in vollem Gang ist, wird auch heftig darüber gestritten. Das Besondere dabei ist: Wir alle sind davon betroffen, nicht nur professionell als Fachleute, als Politiker oder als Medienmacher, sondern auch als potentielle Patienten, Arbeitslose oder künftige Rentner.

Außerdem: In kaum einer anderen, derzeit aktuellen Debatte existieren so viele unterschiedliche Blickwinkel neben- und gegeneinander.

Wenn ich zu einem "Presseclub" zu diesem Thema einlade, können Sie sicher sein, dass fünf Gäste zu mindestens fünf unterschiedlichen Meinungen kommen.
Das macht die Sache auch für das Publikum nicht unbedingt einfacher. Von den Eigenarten der Fachterminologie in diesem Bereich einmal ganz abgesehen.

Aber wem erzähle ich das! Hier im Publikum ist so viel an Fachwissen in Sachen Sozialpolitik versammelt, wie heute Abend nirgendwo sonst in der Republik. Das bedeutet: Ihnen ist ebenso wie mir bewusst, dass wir uns hier in einem regelrechten Dschungel befinden, in einem undurchsichtigen Wust an Zahlen, Paragrafen und Kompetenzen. Wo bleibt da der Mensch, könnte man bisweilen fragen.

Ich will versuchen, einige Schneisen in diesen Dschungel zu schlagen. Dabei erlaube ich mir auch, einige Aussagen zuzuspitzen – Journalisten handhaben das bisweilen so, und als solcher fühle ich mich ja nach wie vor. Außerdem soll ich hier ja keine Vorlesung halten.

Dennoch muss ich zunächst den großen, weiten Bogen aufspannen. Der reicht von den Hartz-Reformen I bis IV über die nach wie vor heiße Debatte "Kopfpauschale versus Bürgerversicherung" bis hin zum Problem der sinkenden Renten. Erst zu Beginn dieser Woche geisterte die Meldung durch die Presselandschaft: "BfA-Chef fordert Kürzung der Renten". Diese Aussage wurde zwar mittlerweile dementiert, doch sie wirft ein Schlaglicht auf die mehr als angespannte Lage der Sozialkassen.

Oder anders gesagt: Unser soziales Netz in Deutschland weist erkennbare Risse auf. Flicken oder komplett neu Stricken, dazwischen bewegen sich die Vorschläge und Reformansätze. Wobei es den komplett neuen und gleichzeitig großen Wurf vermutlich gar nicht gibt. Der Trend jedoch ist eindeutig. Alt-Bundespräsident Roman Herzog formulierte dies neulich in einem Interview mit folgendem provozierenden Satz: "Soviel Sozialstaat ist unsozial!" Er meinte damit die vielen Regeln und Vorschriften, die letztendlich die Bürger entmündigten.

Ich meine: So eine Aussage ist zwar plakativ, doch in der Realität befinden wir uns auf einer Gratwanderung zwischen der (berechtigten) Forderung nach mehr persönlicher Verantwortung der Bürgerinnen und Bürger und den sozialen Pflichten, denen sich unser Gemeinwesen nicht entziehen darf.

Dabei liegt es auf der Hand, dass sich die Versorgung unserer schwachen, kranken, älteren Mitbürger drastisch verändern wird, und das passiert nicht erst übermorgen, das geschieht schon jetzt. Wir Medienmacher dokumentieren dies tagtäglich in teils aufwendig recherchierten Reportagen, in denen wir an die Menschen und ihre Schicksale nah herangehen – wie zum Beispiel die Preisträgerin Karla Krause mit ihrem Feature über Alzheimer-Kranke. Wirschildern Einzelfälle, decken die Härten des Systems auf.

Sozial ist deshalb, wer genau hinschaut!

Was aber passiert generell mit dem sozialen Netz? Wird es reißen oder werden sich seine Maschen "nur" weiten – mit der Folge, dass mehr Bedürftige durchrutschen werden?

Oder muss dieses Netz doch von einer angeblich bequemen Hängematte zur Wäscheleine werden, die nur noch absolute Basisbedürfnisse abdeckt? Mir fehlt eine engagierte Debatte hierüber. Welchen Weg soll der Reformprozess in unserer Gesellschaft denn nehmen, und was genau steht am Ende als Ziel da?!

Einzelfragen sind dabei natürlich wichtig, doch mein Eindruck ist, dass wir uns darin verzetteln und das Ganze dabei aus dem Blick verlieren.

Die Ursache für die Schieflage unserer Sozialsysteme ist hingegen wohl bekannt: die sinkende Geburtenrate. Dadurch gerät die Solidarität der Generationen mehr und mehr aus dem Ruder, die komplette soziale Absicherung bricht wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Eine aktuelle Studie der Universität Köln stellte jetzt fest: 1965 geborene Frauen bringen durchschnittlich 1,5 Kinder zur Welt. Tatsächlich aber wären 2,1 Kinder erforderlich, um ein Absinken der Bevölkerungszahl zu verhindern.
Deshalb, so die Schlussfolgerung der Wissenschaftler, werde sich - ohne gegensteuernde Maßnahmen – die Schrumpftendenz fortsetzen! Ein Effekt, der sich noch dadurch verstärke, dass Frauen heutzutage sehr viel älter sind, wenn sie Kinder bekommen.

Das Interessante dabei ist: Wir wissen ziemlich genau, warum die Geburtenrate in Deutschland das Schlusslicht Europas darstellt. Eine Studie aus Allensbach hat das vor kurzem noch einmal mit Zahlen belegt: Die Generation zwischen 18 und 44 hat Angst vorm Kinderkriegen! Entweder, weil der Nachwuchs eine zu große finanzielle Belastung darstellen könnte, oder weil sich berufliche Karriere und Kinder ausschließen. Armes Deutschland!

Dass trotz sinkender Kinderzahl in Deutschland die Armut von Kindern gleichzeitig zunimmt, hört sich zunächst fast widersprüchlich an. Doch beim genauen Hinsehen zeigt sich, dass dieses Phänomen offensichtlich der Ausdruck einer, lassen Sie es mich so hart sagen, kinderfeindlichen Gesellschaft ist. Das stimmt mich traurig und zornig zugleich.

Frau Ministerin (Schmidt), Sie sagen zu Recht: "Unsere Gesellschaft muss kinder– und familienfreundlicher werden". Und sie weisen auf die Verantwortung der Medien dabei hin - akzeptiert. Ich bin daher auch neugierig, was eine von Ihrem Ministerium beim Adolf-Grimme-Institut in Auftrag gegebene Studie zutage bringt, die das Bild von Familie im deutschen Fernsehen untersuchen soll.

Wie können wir uns nun aus der demographischen Falle befreien?
Wie Familie mit unseren Ansprüchen und dem Leistungsdenken unter einen Hut bringen, wie mit dem Drang nach Selbstverwirklichung und Konsum?
Ist das Herunterschneiden sozialer Leistungen da der richtige Weg? Oder müssen wir einfach mutig anpacken – wie es Bundespräsident Köhler vorschlägt?

Es gibt durchaus innovative Beispiele, etwa von Kommunen, die sich am eigenen Schopf aus der Misere ziehen. Wolfsburg beispielsweise hat es mit kreativen Ideen geschafft, binnen weniger Jahre seine Arbeitslosigkeit nahezu zu halbieren. Ein Public-Private-Partnership von Volkswagen und der Stadt Wolfsburg, das eine Sogwirkung auslöste. Gesamtwirtschaftlich gesehen scheint der Wirtschaftsaufschwung aber schon wieder abzuflachen. Zumindest legen das die sechs führenden Wirtschaftsforschungsinstitute in ihrem aktuellen Herbstgutachten nahe. Da ist von gerade mal 1,5 Prozent Wachstum die Rede. Zu wenig, um die Jobmaschine anzukurbeln. Die Vergangenheit hat aber gezeigt, dass auch die Wirtschaftsweisen in ihren Prognosen nicht immer unfehlbar sind und sie die Aussichten schwärzer malen, als sich die Konjunktur dann entwickelt. Sollte allerdings ihr Blick in die Zukunft dieses Mal zutreffen, stecken wir neben der demographischen auch noch in der Job-Falle. Darf jedoch der Faktor "Wirtschaftswachstum" das Maß aller Dinge sein? Immerhin gilt der folgende Slogan als recht populär: Sozial ist, was Arbeit schafft!

Der Arbeitsmarkt also als ein oder gar der Schlüssel zur erfolgreichen Sanierung der Sozialsysteme?

Fünf Millionen Menschen werden im kommenden Frühjahr als arbeitslos registriert sein, sagt die Bundesagentur für Arbeit voraus, das ist Nachkriegsrekord. Alles Einzahler, die den Sozialkassen fehlen. Kein Wunder, dass die Neuverschuldung des Staatshaushaltes ebenfalls eine Rekordhöhe erreicht hat. Ein Etat im Übrigen, von dem ein Drittel nur für die Renten ausgegeben wird!

Allerdings, und das geht beim Streit um den ver-Hartz’ten Arbeitsmarkt ziemlich unter: Das Wesen von Arbeit hat sich grundlegend verändert, und zwar ohne dass wir diese Änderung richtig wahrnehmen und anfangen, daraus Konsequenzen zu ziehen. So sind zerrissene Erwerbsbiografien zur Normalität geworden und gleichzeitig dürfte uns ein hoher Sockel an Arbeitslosigkeit in Zukunft erhalten bleiben. Wie gehen wir damit um? Ist etwa Auswandern eine Antwort? – Ein Thema, das Heike Raab in ihrem preiswürdigen Beitrag anschneidet.

Oder wie wär’s mit weniger Lohn und dafür länger arbeiten?
Eine schlechte Variante, die Massenarbeitslosigkeit zu bekämpfen, solange, Zitat, "die Abkassiermentalität von Managern die Gesellschaft spaltet" – das sagte unlängst Karl-Josef Laumann, der arbeitsmarktpolitische Sprecher der Unionsfraktion im Bundestag. Und er hat Recht, denn gerade in schlechten Zeiten zählen Vorbilder enorm viel.
Sozial dagegen ist, wenn alle am gleichen Strang ziehen, und das auch noch in die gleiche Richtung. Keine Extratouren auf Kosten anderer. Ein besonders heikles Kapitel ist dabei der ganze Gesundheitsbereich. Auch hier kippt das System der solidarischen Finanzierung. Zu hohe Kosten stehen zu wenigen Einzahlern in die Krankenkassen gegenüber.

Sozial ist deshalb, was bezahlbar ist. Mit der Folge, dass alle gleich sind, nur manche sind gleicher. Sprich: Gesetzlich Krankenversicherte sehen sich massiv zusammengestrichenen Leistungskatalogen gegenüber. Schon jetzt existiert eine knallharte Zweiklassen-Medizin, wo privat Versicherte sofort einen Untersuchungstermin und mitunter bessere, aber teurere Medikamente verschrieben bekommen – und Kassenpatienten wochenlang warten und sich tendenziell mit billigeren Produkten begnügen dürfen.

Nicht nur der WDR begleitet diese besorgniserregende Entwicklung mit seiner Berichterstattung. Und da ich um diese Nöte weiß, werde ich auch hier nicht das Klagelied der Gebührenfinanzierung anstimmen – immerhin haben wir eine Angleichung um 88 Cent in Aussicht. Wenngleich 21 Cent weniger an Rundfunkgebühr sicher keine soziale Entlastung bringen, wie von einigen Ministerpräsidenten argumentiert wurde. Im Gegenteil – manch wichtiges Engagement für die Gesellschaft wird nicht mehr in vollen Umfang möglich sein. Und unabhängigen Journalismus gibt es nun halt auch nicht zum Spartarif, vor allem, wenn er gegen gut organisierte Lobbyinteressen anzutreten hat.

Und damit sind wir wieder zurück bei der Sozialpolitik. Lobbyisten vertreten Interessen und die haben sehr oft mit Geld zu tun. Der Verteilungskampf um die knapper werdenden Finanzmittel im Sozialbereich hat längst begonnen. Leider dominiert dieser Kostenaspekt die ganze Debatte: Was kostet ein Pflegeplatz, was eine ärztliche Untersuchung, was die Umschulung eines Arbeitslosen?

Es fehlt dagegen eine öffentliche und ehrliche Debatte darüber, was wir hierzulande qualitativ wollen:
Wollen wir, dass es z.B. nur für etwa 15 Prozent aller Schwerstkranken eine adäquate Pflege gibt und die Selbstmordrate bei diesen Menschen sehr hoch liegt?

Die Preisträgerin Beate Lakotta hat einen Teilaspekt dieser Frage beleuchtet.

Oder: Wollen wir, dass Kranken nur noch solche Leistungen finanziert werden, die je gerettetes Lebensjahr weniger als 50.000 Euro kosten? Diese Grenze gilt beispielsweise schon heute im staatlichen Gesundheitssystem in Großbritannien.

Es ist dennoch nicht ganz fair, in der Diskussion das deutsche System immer als Schlusslicht in Europa darzustellen. Wer sich einmal jenseits unserer Grenzen umgeschaut hat, wird schnell feststellen, dass viele Länder in Europa ein solches Schlusslicht noch nicht einmal an der Spitze haben.

Trotzdem: Wollen wir, dass in Deutschland die soziale Ungleichheit weiter zunimmt, dass ganze Bevölkerungsschichten abgekoppelt werden vom Gesellschaftsleben, von politischer Mitsprache, vom beruflichem Aufstieg – und stattdessen in Armut leben und diese auch an die nächste Generation weitergeben!? Der Deutsche Soziologentag hat diesen Sachverhalt jüngst sehr klar festgestellt.

Ich meine: Das wollen wir nicht und diesen Trend dürfen wir deshalb auch nicht weiter sich verfestigen lassen.

Wir müssen deshalb mehr über das streiten, was wir inhaltlich wollen. Und erst in einem zweiten Schritt darüber, was dies kosten könnte, müsste oder dürfte!

Zur inhaltlichen Diskussion gehört aber auch die Frage, wie die Lasten der laufenden und künftigen Reformen verteilt werden sollen.
Anders gesagt: Sozial ist, was gerecht ist!
Und gerecht bedeutet solidarisch. Darüber müssen wir viel offener reden. Natürlich nicht abgehoben, nicht weltfremd. So dürfen sich Gerechtigkeit und Wettbewerbsfähigkeit gerade in unserer globalisierten Welt nicht ausschließen. Ich bin überzeugt davon, dass hier noch jede Menge Ideen in den Köpfen schlummern, die man nur aufwecken muss. Die Medien haben daran einen großen Anteil.
Meine Damen und Herren, heute werden mit dem Deutschen Sozialpreis drei Journalistinnen ausgezeichnet, die Teilaspekte unseres sozialen Lebens eindrücklich beleuchtet haben.

Ich wünsche mir, dass wir auch für die überfällige Diskussion rund um den gerechten Umbau unserer Sozialsysteme ebenso kreative Journalistinnen und Journalisten finden, die diese Thematikherunterbrechen können in den Alltag unserer Leser, Hörer und Zuschauer.

Auch wenn die Zusammenhänge sehr komplex und teils hochtheoretisch sind - nur so erreichen wir eine breite Öffentlichkeit. Und nur so stoßen wir die wichtige Diskussion darüber an, was in unserer Gesellschaft "sozial" wirklich heißt.

Danke für Ihre Aufmerksamkeit!