Gastreden

Gastrede 2009 der Intendantin des Rundfunk Berlin-Brandenburg Frau Dagmar Reim

Es gilt das gesprochene Wort.

Sehr geehrte Frau von Schenck,
liebe Preisträgerinnen und Preisträger,
liebe Gäste,

„Hosianna!“ haben sie gerufen und „Kreuzige ihn!“ Angezeigt haben sie ihn wegen Volksverhetzung, aus der SPD wollen sie ihn werfen. Endlich, endlich traut sich mal einer, hört man; es ist die Wahrheit und nichts als die Wahrheit, was er sagt. Sie wissen: Die Rede ist von Thilo Sarrazin, dem Bundesbanker mit frisch kastriertem Aufgabenbereich.

Ihre Sorge kann ich zerstreuen: Ich habe nicht vor, Wochen nach seinem „Lettres“- Interview über die Stichhaltigkeit, den Aberwitz, die Idiotie und die Plausibilität seiner Äußerungen zu sprechen. Mir geht es um etwas anderes.

Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege e. V. verleiht heute den Deutschen Sozialpreis für journalistische Arbeiten. Schimmeck über junge Koma-Trinker, die Blasbergs über Jugendamtsmitarbeiter, Grabs über Kinder mit todkranken Geschwistern. Sie zeichnet also Menschen aus, die genauer hingesehen, intensiver hingehört, sich nicht mit einfachen Antworten begnügt haben. Das aber sollten alle Journalistinnen und Journalisten in ihrem Arbeitsalltag tun. Tun sie aber nicht. Sonst wären solche Ergebnisse wie die hier ausgezeichneten alltäglich und nicht eigens preiswürdig…

Was die Preisträger des heutigen Abends aufgegriffen haben, unterscheidet sich diametral von einem Medientrend, der mir Sorgen macht. Wussten Sie, dass in Berlin mehr als doppelt so viele Menschen von öffentlichen Transferleistungen leben wie im Bundesschnitt? Wussten Sie, dass das Problem der durch Armut abgekoppelten Unterschichten in Deutschland wächst? Ich höre Sie nicken. Warum nicken Sie? Sie sind informiert, gut informiert, besser informiert als weite Kreise der Öffentlichkeit. Warum ist das so? Jeder weiß, dass wir uns heute in einem Mahlstrom von Informationen bewegen. Verteilte die Deutsche Presseagentur, das Flaggschiff der Nachrichtengrundversorgung, vor fünfundzwanzig Jahren noch 700 Meldungen pro Tag, so spuckt sie heute 5.100 auf die Bildschirme. Vor dreißig Jahren gab es die Hauptausgabe der Tagesschau um 20 Uhr (mit Schweigepflicht in deutschen Wohnzimmern), heute liefert die Redaktion ARD-aktuell allein 23 Ausgaben der Tagesschau, die im Digitalkanal Einsextra jede Viertelstunde aktualisiert wird. Unser rbb-Inforadio schaufelt die Nachrichtenlage im Zwanzig-Minuten-Takt um, und viele andere Angebote von Spiegelonline bis faz.net tun ähnliches. Wer dies alles konsumiert, dazu Zeitungen liest, ist blendend informiert. Auf der anderen Seite der vielbeschworenen digital divide verharren jene, die gar nichts mitbekommen, die außerhalb des immer hektischeren Informations-Kosmos leben. Auch sie sollte man wenigstens kurz erwähnen.

Wenn immer mehr Meldungen in immer kürzeren Zeitabständen miteinander um Aufmerksamkeit konkurrieren, setzen sich immer weniger Themen durch. Es gibt eine Ökonomie der Aufmerksamkeit. Was sperrig ist, unwegsame Gedanken herausfordert oder gar voraussetzt, fällt durch den Filter. Heiß, schnell, grob, laut sind die Parameter. Kein Journalist wird Aufmerksamkeit erregen mit der 873. braven Geschichte über Schwierigkeiten und Chancen von Integration. Wer allerdings die ganz große Tröte nimmt, die Übertreibung nicht als Stilmittel sondern als Selbstzweck einsetzt, wer brüllt, wo andere reden, wer schwarz malt ohne jeden Grauton, der darf sich umfassender medialer Resonanz gewiss sein. Bei Thilo Sarrazin kommen zwei Faktoren zusammen: dass er einerseits ein kluger Kopf ist mit der Fähigkeit zu messerscharfer Analyse und großen Verdiensten um Berlin und dessen Haushalt, ist bekannt. Dass er andererseits – vorzugsweise in Interviews - ganz gezielt kein Fettnäpfchen auslässt, ebenfalls. Im jüngsten, dem von „Lettres“ abgedruckten, geriet er, fortgerissen von Selbstbegeisterung, in eine Art verbalen Blutrausch. Dafür wurde er zwar von seinem Arbeitgeber diszipliniert, aber mit einem über Deutschland weit hinausreichenden Medienecho wie Donnerhall belohnt. Was mich daran stört? Ganz einfach: Meines Erachtens werden die Schlüsselreize, die überhaupt noch in der Lage sind, öffentliche Debatten auslösen, immer greller, immer härter.

Der Ertrag der Aufregung, des gesamten „Hosianna!“ und „Kreuzige ihn“ ist gering. Man könnte ja immerhin anerkennen, dass völlig überzogene, ja beleidigende Äußerungen ihr Gutes haben könnten, wenn sie dazu führten, dass substantieller, ehrlich und am Ende folgenreich gesprochen wird. Das aber vermag ich in der Sarrazin-Debatte nicht zu erkennen. Ja, die Zeitungen waren voll mit dem Thema Integration. Ja, er bekam heftigen Gegenwind und lautstarke Unterstützung. Und danach? Es herrscht Ruhe im Land. Diejenigen, die alte Multikultiträume träumen von einer spannungsfreien multiethnischen Gesellschaft bleiben ebenso in ihrer gemütlichen Gedankenwelt wie jene, deren latentes Unbehagen Sarrazin mit größtem Kaliber bedient. Spätestens in dem Moment, als Sarrazin Beifall aus der rechtsextremen Ecke bekam - und dieser Beifall kam zwangsläufig - waren denkbare Ansätze einer ernsthaften Auseinandersetzung verschüttet. Es ist aber doch gut, dass das Thema öffentlich und intensiv diskutiert wurde, sagen manche. Ich halte dagegen: Folgenlose Debatten sind unfruchtbar. Von einem schönen Feuerwerk nehme ich zumindest eine Erinnerung an glühende Farben im Nachthimmel mit. Von einem rhetorischen Extrem-Feuerwerk bleiben nicht einmal die Worthülsen am Boden. Es verpufft. Rückstandsfrei.

Ich möchte zwei andere Beispiele anführen für aggressive Aussagen in der Öffentlichkeit, die zu einer vehementen Auseinandersetzung geführt haben. Brandenburgs damaliger Innenminister Jörg Schönbohm gab im Jahr 2005 ein Interview. In einer Garage im märkischen Dorf Brieskow-Finkenheerd waren die sterblichen Überreste von neun Säuglingen in Blumentöpfen gefunden worden. Die Mutter hatte die Neugeborenen getötet, und Schönbohm sagte, „dass die von der SED erzwungene Proletarisierung eine der wesentlichen Ursachen für Verwahrlosung und Gewaltbereitschaft“ im Osten sei. Vielleicht erinnern sich einige im Saal, welche Empörung losbrach. Die Wogen schlugen hoch, so hoch, dass noch nicht einmal in ihren Ausläufern zu diskutieren gewesen wäre, ob es vielleicht Unterströmungen des Bewusstseins, der kulturellen Sozialisation geben könnte, die gewisse Bedenken rechtfertigten. Nein, man hatte den Eindruck, dass manche Menschen erleichtert waren, als das nächste, von seinen Eltern grob vernachlässigte und deshalb verhungerte Kind im Westen der Republik aktenkundig wurde. Gesellschaftlicher Nutzen der hoch emotionalen Debatte: Null.

Im Jahre 1994 brachte der Deutsche Bank-Chef Hilmar Kopper die Öffentlichkeit gegen sich auf. Man erregte sich landauf landab über den Immobilienbetrüger Jürgen Schneider. In Folge seiner Gesamtpleite waren kleine und mittelständische Handwerkerbetriebe in Leipzig, aber nicht allein dort, um 50 Millionen Mark geschädigt worden. Peanuts seien das, befand Kopper. Nicht der Rede wert. Ein Sturm der Entrüstung brach los. Hat irgendwer irgendwo die Konsequenzen aus derlei zynischem Gerede gezogen? Ist gar einer auf die Idee gekommen, das Gehabe der masters of the universe, wie viele Top-Banker sich selbst gern bezeichneten, könne Vorbote einer weitaus größeren Gefahr sein? Mitnichten. Die internationale Finanzkrise traf die Menschheit weithin unvorbereitet, und es scheint so, als sähen die Hauptakteure und Hauptschuldigen, also jene, die nicht wie Bernie Madoff im Knast sitzen, keinerlei Anlass, in Sack und Asche zu gehen. Selbst die Kanzlerin bescheinigt ihnen, schon wieder eine dicke Lippe zu riskieren, was sie vermutlich nicht interessiert. Ertrag der Kopper-Peanuts-Aufregung: Null.

Was mir Sorge bereitet, ist der Trend, immer wilder, immer härter, immer –ja auch – skrupelloser Aufmerksamkeit in der Medienwelt zu fordern – das wäre ja noch kein Problem. Sie auch zu bekommen, das ist das Problem. Wir Journalisten verursachen es mit.

Das kann ganz harmlos daherkommen: Henryk M. Broder gibt seine Kandidatur als Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland bekannt. Eine Provokation. Alle Empörungsprofis zwischen Flensburg und Freilassing treten auf: Das sei doch völlig unmöglich und überhaupt. Kurze Zeit später sagt Broder vergnügt: Mission erfüllt, Präsident will ich gar nicht werden, wollte lediglich die Diskussion um Leistung und Funktion des Zentralrats auslösen und schärfen. Was hat er im öffentlichen Diskurs erreicht? Hat kräftig mit den Schellen an seiner Narrenkappe geklingelt, laute Töne produziert, sonst nichts. Gar nichts. Eine ernsthafte, substantielle Debatte darüber, ob der Zentralrat eine gute, eine schlagkräftige Interessenvertretung ist, hat er jedenfalls nicht ausgelöst.

Wie also müssten wichtige öffentliche Debatten, für die ja Journalistinnen und Journalisten durchaus zuständig sind, zustande kommen? Auf leisen Pfoten wird es nicht gehen. Unmöglich ist es auch dann, wenn Sprache als Verhinderer auftritt, wenn Klarheit und Wahrheit verborgen bleiben hinter einem Sums aus fachchinesisch, Bürokratendeutsch und Wort gewordener Feigheit. Wer wie ich Analysen von Fachleuten zur Lebenswirklichkeit in problematischen Stadtvierteln gelesen hat, weiß, wovon ich spreche. Das Gut gemeinte, das Veredelte, das Beschweigend Gutwillige ist keine Alternative zur großmäuligen, laut herausgebrüllten Pauschalanklage.

Mir wäre es wichtig, dass Journalisten versuchten, das Eine vom Anderen zu unterscheiden. Dass sie – wie die Preisträger des Deutschen Sozialpreises - sich der Mühe unterzögen, genau hinzuschauen. Zwischentöne registrierten, Widersprüche ertrügen, unterschiedliche Wahrnehmungen gegeneinander setzten, Konflikte schilderten, ohne einfache Lösungen zu feiern, die keine sind.

Heinz Buschkowsky, Bezirksbürgermeister von Berlin-Neukölln, hat sich kürzlich in der für ihn typischen Art und Weise aufgeregt über die sogenannte Herdprämie, die die neue Bundesregierung beschlossen hat. Wer sein Kind zuhause lässt, wer es nicht in die Kita bringt, wo es
z. B. Deutsch, aber auch soziales Verhalten lernt, bekommt Geld als Belohnung. Da hat er aufgeschrien und gesagt: „Wenn ihr den Eltern mehr Geld gebt, versaufen sie’s.“ Sofort ging die Debatte los. Wütend, emotionalisiert, aggressiv. Indes: Heinz Buschkowsky hatte genau dies vorausgesehen. Er wusste, dass, wie er sagt, „die Selters hochgehen“ würde. Hätte Buschkowsky in den Medien Gehör gefunden, wenn er gesagt hätte, dass weitere staatliche Transferleistungen in Familien, die ohnehin auf solche angewiesen sind, in der Regel eher nicht beim Kind ankommen, für das sie gedacht sind. Hätte er damit ein breites Echo gefunden? Wir müssen Nein antworten, wenn wir ehrlich sind. Deswegen gibt es ein dauerhaftes Reiz-Reaktionsverhalten zwischen Informationsgebern (hier: Buschkowsky) und Informationsverwertern (hier: Journalisten). Buschkowsky hat gelernt, was er sagen muss, um seine Botschaften gedruckt und gesendet zu sehen. Er sagt in schöner Offenheit, er habe auf den Pawlowschen Reflex der Öffentlichkeit gesetzt. Hat gut geklappt. Mir wäre es wichtig, dass die Debatte weitergeht, dass nicht die schöne, große Aufregung in sich zusammenfällt wie ein falsch erhitztes Soufflee. Und ich würde mir Journalistinnen und Journalisten wünschen, die generell nicht über jedes Stöckchen springen, das man ihnen hinhält. Das tut nämlich nicht mal der Hund von Herrn Pawlow.