Gastreden

Gastrede 2015 der Bundesministerin Andrea Nahles anlässlich des BAGFW-Politikforums - Verleihung des Deutschen Sozialpreises

Es sind Zeiten, meine sehr geehrten Damen und Herren, wo ja Aufmerksamkeit ganz woanders hingelenkt wird. Auf Straßen, Schauplätze, blitzendes Blaulicht, auf Gesichter, auf Tränen, Kerzen, Blumen, Gebäude in blau-weiß-rot. Unsere Gedanken und Gefühle sind bei den Menschen und den Opfern und Angehörigen und ihren Helfern in Paris.

Vielen Dank, lieber Prof. Cremer für Ihre herzliche Begrüßung, herzlichen Dank Ihnen lieber Prof. Rosenbrock und Ihnen Herr Dr. Timm für ihre Einladung, heute das Grußwort halten zu dürfen. Es sind Zeiten, meine sehr geehrten Damen und Herren, wo ja Aufmerksamkeit ganz woanders hingelenkt wird. Auf Straßen, Schauplätze, blitzendes Blaulicht, auf Gesichter, auf Tränen, Kerzen, Blumen, Gebäude in blau-weiß-rot. Unsere Gedanken und Gefühle sind bei den Menschen und den Opfern und Angehörigen und ihren Helfern in Paris.

 

Die Medien lenken die Aufmerksamkeit aber auch auf Fragen der Sicherheit, auf Ängste, auf Sorgen. Gibt es was zu tun? Was kann ich tun? Es ist also sehr schwer in diesen Tagen Aufmerksamkeit auf etwas anderes zu lenken, Aufmerksamkeit zu teilen und der Deutsche Sozialpreis ist ein Versuch. Mit ihm will die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege auf etwas zielen, das aus meiner Sicht Aufmerksamkeit verdient hat.

 

Aufmerksamkeit ist ein hohes Gut in einer digitalen Medienwelt, in der Informationen allgegenwärtig sind, die Takte immer schneller werden, Klicks und Quoten Geld bringen. Der Sozialpreis schafft Aufmerksamkeit für investigativen Journalismus, für intensivste Recherchearbeit und für eine faire Kommentierung besonderer Lebenslagen, denn die sind, das ist meine feste Überzeugung, dringend nötig, wenn über sozial benachteiligte Menschen berichtet wird. Leider gibt es auch Beispiele, wo das reißerisch abschätzig und - was ich besonders fies finde - mitleidig geschieht. Das tut weh. Ja, weil es immer an die Würde der Menschen geht und das geschieht gar nicht so selten.

 

Durch die Digitalisierung verändert sich auch die Finanzierung der Medien. Und das ist etwas, was ich in den letzten Monaten in der Diskussion gemerkt habe, wenn wir über Arbeiten 4.0, Digitalisierung und ihre Folgen geredet haben. Hauptbetroffene saßen meistens im Raum und waren Journalisten selbst. Klassische Medien erleben hier einen nie gekannten wirtschaftlichen Druck. So erklärt sich vielleicht, dass die Allermeisten der Preisträger für öffentlich-rechtliche Sender unterwegs waren und für die großen Printmedien. Sie haben einen längeren Atem und können mehr Geld in die Hand nehmen für teilweise monatelange und intensivere Recherchen. Und das finde ich sehr wertvoll.

 

Wir wissen doch alle, um über ein Thema wirklich informiert zu sein, genügt nicht der oberflächliche Blick, nicht der eine Klick. Da braucht es Zeit. Zeit für Recherche, zum Lesen, zum Zuhören. Manchmal glaube ich, stehlen die Journalisten sich diese Zeit einfach auch. Das ist meine Vermutung. Und auch bei denen, um die es hier heute Abend geht, sind es vielleicht eine gute Portion persönliches Engagement und überdurchschnittlicher Einsatz, die hier zum Tragen kommen. Nur so aber können sie den Bürgerinnen und Bürgern auch wirklich gerecht werden, über die berichtet wird und letztendlich können auch wir, als diejenigen, die sich das anhören und zuhören und lesen, nur so eine objektive Meinung bilden.

 

In einer demokratischen Gesellschaft mitzuwirken setzt eben auch eine gute Rechercheleistung und eine gute Berichterstattung voraus. In Zeiten von Infotainments wird es für die Medien schwieriger, dieser Verantwortung immer gerecht zu werden. Von der vierten Gewalt oder von der Rolle eines Magazins als Sturmgeschütz der Demokratie war früher mal die Rede. Da kann man heute wirklich nur noch im Kopf kramen, wann man das das letzte Mal empfunden hat. Nehmen die Medien ihre Rolle als Kontrollinstanz und Demokratiewächter an und ernst? Ich glaube die Preisträger heute zeigen, es ist ihnen damit ernst. Das verdient Respekt und Aufmerksamkeit, denn wir brauchen funktionierende Medien auch in Zeiten der Selbstinformation. Es ist ja auch ein Phänomen dieser Gesellschaft, dass man sozusagen fast schon eingeredet bekommt, man braucht ja keinen Vermittler oder jemanden, der dazwischen steht. Man kann alles selber machen. Aber dann wird man doch manipuliert. Und das ist genau der Punkt, an dem wir, glaube ich, die Medien und ihre kritische Funktion wieder sehr dringend brauchen.

 

Liebe Frau Bleuel, liebe Nataly,

liebe Frau Overath,

liebe Frau Luer und lieber Herr Goll,

Sie erhalten heute einen der wichtigsten Medienpreise Deutschlands. Dazu gratuliere ich Ihnen ganz herzlich. Sie haben sich an Themen herangewagt, die Zeit und Recherche brauchen. Sie haben Menschen in Randsituationen begleitet. Ich bin mir sicher, dass ihre Arbeit diesen Menschen und ihren Angehörigen vielleicht etwas Hoffnung und Mut gemacht hat, weil sie ihnen zugehört und ihre Geschichte erzählt haben. Unsere Demokratie braucht ihre Parteinahme und ihren eingehenden Blick. Herzlichen Dank dafür.

 

Herr Prof. Cremer wird nachher inhaltlich weiter zu ihren Beiträgen etwas sagen. Ich wurde ausdrücklich gebeten, dies jetzt hier nicht schon vorweg zu nehmen. Daran halte ich mich natürlich. Ich möchte es mir mit Herrn Prof. Cremer verscherzen. Das kann ich mir hier gar nicht leisten.

 

Also richte ich meine Aufmerksamkeit auf die Frage, warum vergibt nun die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege diesen Medienpreis. Es ist ja eigentlich auch eine interessante Sache. Der Grund liegt meines Erachtens darin: Pflege, Unterstützung, soziales Engagement, das geht ebenso wenig ohne Parteinahme wie engagierter Journalismus. Journalisten geben manchmal einem Unbehagen, manchmal einem Anliegen, meist aber Menschen und ihrem Schicksal eine Stimme. Das will auch die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege. Sie lenkt den Blick auf die Menschen in Not und gibt Betroffenen eine Stimme.

 

Ich verstehe das nicht als Gegenüber zur Politik, sondern als partnerschaftliches Miteinander. Dieses Zusammenwirken von öffentlicher und Freier Wohlfahrtspflege in Deutschland ist einmalig in der Welt. Die Freie Wohlfahrtspflege ist konstitutiver Bestandteil unseres Sozialstaates. Politik und Freie Wohlfahrtspflege greifen wie Zahnräder ineinander. Die Sozialpolitik sichert Rechte und Ansprüche benachteiligter Menschen und schützt, wo es sein muss.

 

Aber die Wahrheit ist auch, dass viele dieser Menschen ihre Rechte gar nicht in Anspruch nehmen könnten, wenn es nicht Menschen vor Ort gäbe, die sich kümmern und die das Recht auch einklagbar und realisierbar machen. Sie bieten Hilfen, Beratung, Unterstützung, und sie haben dafür das Ohr ganz nah bei den Menschen. Und auch dafür möchte ich mich an dieser Stelle bei ihnen allen ganz herzlich bedanken.

 

Denn ehrlich gesagt, ich bin selber mal wieder an solch einen Punkt gekommen: Ich habe mich mit 36 auszubildenden Menschen mit Behinderungen getroffen bei dem Unternehmen Böhringer Ingelheim, die den Sprung in den ersten Ausbildungsmarkt geschafft haben. Und ich habe mir dann wieder angehört, wie viel Entmutigung ihnen zu Teil wurde, auch durch Institutionen, die meine Nachgeordneten sind. Das hat mich beschämt. Da wurde gehandelt nach dem Motto: Den Sprung in den ersten Ausbildungsmarkt wirst du nicht schaffen. Das ist aussichtslos. Anstatt zu sagen: Na gut, dann probieren wir es mal. Dann gucken wir mal, wie weit wir kommen. Wir können Ihnen diese Unterstützung anbieten. Genau dann ist es wichtig, dass es diese Kümmerer gibt und dass es eben diese Zahnräder gibt, die dann auch greifen können. Oft genug ist das leider nötig, auch wenn wir es uns vielleicht anders wünschen würden. Ich fege natürlich auch gerne hinterher, wenn ich so was höre, aber das ändert die Sache häufig auch nur bedingt.

 

Ich will hier nicht verschweigen, dass sich die Zahnräder auch mal verhaken können und es knirscht im Getriebe. Man tauscht sich aus, man hat unterschiedliche Meinungen oder Ansichten. Natürlich haben sich ihre Spitzenverbände mehr erhofft beim IX. SGB II Änderungsgesetz. Mehr Geld für Langzeitarbeitslose sowieso. Nicht, dass ich da anderer Meinung wäre, nur habe ich eine andere Rolle und kann es nicht anders darlegen.

 

Und so geht es oft, dass wir in der Analyse gar nicht so, sagen wir mal, weit auseinanderliegen, auch vieles gemeinsam vorantreiben. Aber dann doch auch feststellen, dass es schwierig ist, im Wettbewerb der Prioritäten immer als Sieger hervorzugehen. Doch trotzdem gelingt vieles. Und gerade die Freie Wohlfahrtspflege ist für mich, auch mit ihrer besonderen Aufmerksamkeit auf Langzeitarbeitslose, Vorbild gegenüber anderen Arbeitgebern, weil auch reale Chancen von ihnen angeboten werden und das ist wichtig.

 

Der letzte Aspekt den ich ansprechen möchte: „Neustart in Deutschland“ - das wagen viele, die zu uns kommen und wir sollten alles tun, dass das gelingt. Einen Neustart verdienen aber auch die, die schon lange suchen.

 

Ich möchte eigentlich nicht, dass wir das eine gegen das andere ausspielen. Doch ich höre jeden Tag beunruhigende Stellungnahmen, die genau in diese Kerbe reinhauen. Wo nachgerecht wird, wer in welcher Situation 5 Euro mehr oder weniger bekommt. Es ist im Übrigen in diesem Sozialstaat hoch kompliziert und vom Einzelfall abhängig und auch noch davon, wo man wohnt. Es ist also mit anderen Worten ein Maßanzug, den wir versuchen und nicht nur einfach breit streuen. Und wenn man dann anfängt, wo unser System auf eine individuelle Eingliederungsvereinbarung z. B. basiert, Gruppen zu identifizieren und die dann schlechter zu stellen. Dann wird’s schwierig. Denn in Wahrheit dürfen wir die Perspektive des Individuums hier nicht aufgeben. Ein individueller Integrationsplan führt dann zu konkreten passgenauen Hilfen.

 

Das muss der Maßstab sein. Und nicht, die Gruppe mit den roten Haaren bekommt jetzt pauschal weniger. Ich will das nur mal als Denkmodell darlegen. Das ist ja angesichts der Masse von Leuten, die jetzt zu uns kommen, ein hoher Anspruch und es gelingt auch nicht jeden Tag, an jeder Stelle immer allen individuell gerecht zu werden. Aber der Anspruch ist richtig und der darf nicht aufgegeben werden. Das ist meine feste Überzeugung. Deswegen sage ich, sie alle sollen die Chance zum Neustart bekommen: Die, die schon länger suchen und die, die neu hinzukommen. Und dafür müssen wir eben auch die nötigen Mittel zur Verfügung stellen. Wenn wir diesen Anspruch aufgeben, kommen wir auf eine komische Bahn des wechselseitigen Aufrechnens. Und das ist etwas, was ich nicht möchte. Insoweit wird es spannend und anspruchsvoll bleiben.

 

Zum Schluss möchte ich die Aufmerksamkeit auf ein Thema in Deutschland lenken, was nächstes Jahr hoffentlich wieder zu breiten gesellschaftlichen Debatten führt. Wir werden nämlich den neuen Armuts- und Reichtumsbericht vorlegen. Was für die soziale und politische Teilhabe notwendig ist, das geht über die reinen Hartz-IV-Regelsätze weit hinaus. Und das ist eben auch Teil dieses Berichtes.

 

Wir haben uns mit jungen Wissenschaftlern ausgetauscht. Und ich möchte Ihnen auch sagen, wir haben keine Angst davor, unsere Zahlen, die unsere Arbeitsgrundlage sind, öffentlich zu machen. Wir stellen alles ins Netz. Jeder kann das einsehen. Es gibt kein Grund mehr für Verschwörungstheorien, die es ja auch im Hinblick auf diesen Armuts- und Reichtumsbericht oft gegeben hat.

 

Armut ist immer im Fokus und wird bis auf den letzten Cent ausgerechnet. Aber was eine große Blackbox in diesem Land ist, ist der Reichtum. Deswegen werden wir uns in diesem Armuts- und Reichtumsbericht auch dem Reichtum widmen. Wir haben dazu einige sehr interessante Recherchen und Forschungsaufträge auf den Weg gebracht, um umfassend auszuleuchten: Was verschafft der Reichtum eigentlich dem, der reich ist? Was für Möglichkeiten hat er gegenüber jemandem, der nicht reich sondern arm ist? Das ist sehr vielfältig und das ist sehr breit angelegt.

Menschen, die aktuell unsere Hilfe brauchen, sind das eine. Auf der anderen Seite brauchen wir aber auch eine Debatte darüber, warum wir in diesem Land immer noch so wenig über Reichtum wissen. Das erste, was einem auffällt ist, es gibt überhaupt keine vernünftigen Daten. Und das ist nicht akzeptabel. Und das hat nichts mit einer Neiddebatte zu tun, sondern mit Transparenz und mit einem Ausleuchten aller gesellschaftlichen Bereiche. Der eine muss die Hosen ausziehen, der andere kommt gar nicht auf den Radar. Das ist im Grunde genommen nicht gut. Wir konnten das auch dadurch auflösen, dass wir eine Befragung auch von Menschen mit hohem Vermögen gemacht haben. Sehr ausführlich, sehr breit und wir werden zu sehr interessanten Erkenntnissen kommen, hoffe ich.

 

Wir werden das im nächsten Jahr bündeln und ich weiß, dass es besonderes Interesse bei Ihnen hervorruft. Es ist aber auch interessant für Journalistinnen und Journalisten. Ich rege an, sich auch an dieser Stelle wieder einzumischen, engagiert zu sein und die Debatte mit uns zu führen über die Bedeutung und die Teilhabemöglichkeiten von Menschen mit unterschiedlichen Einkommen und Vermögen in diesem Land. Das wird mit Sicherheit eine teilweise bekannte aber teilweise auch überraschende Debatte werden können. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen noch einen wunderbaren Abend, eine wunderbare Preisverleihung, alles Gute!